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Leseprobe Adam Tooze Sintflut Die Neuordnung der Welt 1916-1931 »Eine brillante Studie über die globale Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg. (...) Ihre erzählerische Kraft und ihre analytische Stringenz machen diese Studie zu einem Meisterwerk.« Neue Zürcher Zeitung Bestellen Sie mit einem Klick für 16,99 € Seiten: 720 Erscheinungstermin: 15. Mai 2017 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

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Leseprobe

Adam Tooze

Sintflut Die Neuordnung der Welt 1916-1931

raquoEine brillante Studie uumlber die globale Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg

() Ihre erzaumlhlerische Kraft und ihre analytische Stringenz machen diese Studie zu einem Meisterwerklaquo Neue Zuumlrcher

Zeitung

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 1699 euro

Seiten 720

Erscheinungstermin 15 Mai 2017

Mehr Informationen zum Buch gibt es auf

wwwpenguinrandomhousede

AdAm Tooze

Si n t f lu tDie neuordnung der Welt 1916 ndash 1931

Aus dem amerikanischen englisch von Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer

Pantheon

Fuumlr Edie

raquodie heikelsten Fragen werden somit fruumlher oder spaumlter dem Histo-riker anvertraut es ist sein Problem dass sie deshalb nicht aufhoumlren heikel zu sein weil sie von den Staatsmaumlnnern bereits erledigt und als pragmatisch geregelt ad acta gelegt worden sind hellip es ist ein Wunder dass Historiker die ihre Arbeit ernst nehmen bei Nacht ruhig schlafen koumlnnenlaquo

WoodroW Wilson1

raquodie Chronik ist abgeschlossen mit welchen Gefuumlhlen blaumlttert man Herrn Churchills zweitausendste Seite um dankbarkeit hellip Bewun-derung hellip ein wenig Neid vielleicht um seine unerschuumltterliche Uumlberzeugung dass Grenzen Rassen patriotische Gesinnungen not-falls sogar Kriege letzte Wahrheiten fuumlr die menschheit sind die in seinen Augen den ereignissen eine Art Wuumlrde und selbst Vornehm-heit verleihen fuumlr andere hingegen lediglich ein alptraumartiges zwischenspiel sind etwas das konsequent vermieden werden musslaquo

John Maynard Keynes in einer Rezension von Winston Churchills Buch The Aftermath 2

inhalt

einleitung 11 Sintflut eine neue Weltordnung entsteht

teil i Die Krise Eurasiens

47 ein Krieg in der Schwebe 69 Frieden ohne Sieg 91 die Totenglocke der russischen demokratie 115 China in den Kriegswirren 139 Brest-Litowsk 159 ein brutaler Frieden 181 ein Riss geht durch die Welt 199 Intervention

teil ii fuumlr einen Sieg der Demokratie

219 Neuer Schwung fuumlr die entente 251 die Arsenale der demokratie 273 Waffenstillstand die Buumlhne fuumlr Wilsons drehbuch 291 demokratie unter druck

teil iii Der unvollendete frieden

317 ein weltweiter Flickenteppich 335 raquodie Wahrheit uumlber den Vertraglaquo 357 Reparationen 377 Vertragserfuumlllung in europa 397 Vertragserfuumlllung in Asien 413 das Fiasko des Wilsonianismus

teil iV Die Suche nach einer Ordnung

439 die groszlige deflation 465 das empire in der Krise 491 eine Konferenz in Washington 509 die Neuerfindung des Kommunismus 529 Genua das Scheitern der britischen Hegemonie 549 europa am Abgrund 577 die neue Kriegs- und Friedenspolitik 607 die Weltwirtschaftskrise

schluss 633 der einsatz wird erhoumlht

anhang 645 dank 649 Anmerkungen 706 Verzeichnis der Abbildungen 707 Verzeichnis der Grafiken und Tabellen 709 Personenregister

EinlEitungSintflut Eine neue Weltordnung entsteht

ende 1915 am morgen des ersten Weihnachtstags stellte sich der einstige Radikalliberale david Lloyd George nun britischer munitionsminister einer aufgebrachten menge von Gewerkschaftern in Glasgow er war ge-kommen um weitere einberufungen an die Front zu fordern und begruumln-dete das mit apokalyptischen Worten der Krieg warnte er seine zuhoumlrer werde die Welt voumlllig umgestalten raquoer ist die Sintflut er ist ein Aufbaumlumen der Natur hellip und bringt beispiellose Veraumlnderungen im gesellschaftlichen und industriellen Gefuumlge mit sich er ist ein zyklon der die zierpflanzen der modernen Gesellschaft samt Wurzel ausreiszligt hellip er ist ein erdbeben das selbst die Felsen des europaumlischen Lebens noch emporhebt er ist eine jener seismischen Stoumlrungen in deren Verlauf Nationen auf einen Schlag um Generationen nach vorn katapultiert oder zuruumlckgeworfen werdenlaquo1 Wie ein echo dieser Rede klangen die nicht einmal vier monate spaumlter auf der anderen Seite der Schuumltzengraumlben gesprochenen Worte des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg Am 5 April 1916 sechs Wo-chen nach Beginn der entsetzlichen Schlacht um Verdun erklaumlrte er im Reichstag ohne jede Beschoumlnigung raquoNun muss der Friede europas aus einer Flut von Blut und Traumlnen aus den Graumlbern von millionen erstehen zu unserer Verteidigung sind wir ausgezogen Aber das was war ist nicht mehr die Geschichte ist mit ehernen Schritten vorwaumlrts gegangen es gibt kein zuruumlcklaquo2 die Gewalt dieses Krieges war zu einer weltveraumlndernden Kraft geworden 1918 hatte der erste Weltkrieg die alten Reiche eurasiens zerschlagen das zarenreich das Habsburgerreich und das osmanische Reich In China tobte ein Buumlrgerkrieg Anfang der 1920er Jahre waren die Grenzen osteuropas und des Nahen ostens neu gezogen worden So dra-matisch und umstritten diese Veraumlnderungen schon fuumlr sich genommen waren erlangten sie ihre volle Bedeutung doch erst weil sie mit einem tieferen aber nicht so offensichtlichen Umbruch gekoppelt waren eine neue Weltordnung ging aus diesem Krieg hervor die trotz allem Gezaumlnk und nationalistischen Brimborium der neuen Staaten die Hoffnung auf

12 EinlEitung

eine grundlegende Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Groszlig-maumlchten ndash Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland Russ-land und den Vereinigten Staaten ndash weckte es bedurfte einiger geostrate-gischer und historischer Vorstellungskraft um das Ausmaszlig und die Bedeutung dieser Veraumlnderung des machtgefuumlges zu erkennen die entste-hende neue ordnung wurde zu einem groszligen Teil bestimmt durch die raquoeigenartige mischung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwe-senheitlaquo3 ihres praumlgendsten Bestandteils der neuen macht der Vereinigten Staaten von Amerika doch auf diejenigen die die Gabe hatten diese tek-tonische Verschiebung wahrzunehmen uumlbte diese Aussicht eine sie gera-dezu gefangen nehmende Faszination aus

Im Winter 192829 gut zehn Jahre nach dem ende des Weltkriegs blickten drei mit solchem Gespuumlr fuumlr die Veraumlnderungen ausgestattete zeitgenossen zuruumlck auf das was geschehen war ndash Winston Churchill Adolf Hitler und Leo Trotzki Am Neujahrstag 1929 schloss Churchill damals Schatzkanzler unter dem konservativen Premierminister Stanley Baldwin den letzten Band seiner monumentalen Geschichte des ersten Weltkriegs ab The World Crisis ist der Titel des fuumlnfbaumlndigen Werkes The Aftermath der des letzten Bandes Wer die Buumlcher Churchills zum zwei-ten Weltkrieg kennt erlebt in diesem Band zur zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Uumlberraschung Churchill der nach 1945 vom raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Krieglaquo sprach um die langjaumlhrige Auseinandersetzung mit deutschland als eine historische einheit zu beschreiben schlug 1929 noch einen ganz anderen Ton an4 damals blickte er nicht mit grimmiger Resignation sondern mit einigem optimismus in die zukunft Aus den Graumlueln des Weltkriegs waren so schien es eine neue internationale ord-nung hervorgegangen und ein weltweiter Frieden der auf zwei groszligen Vertraumlgen ruhte dem europaumlischen Sicherheitspakt der im oktober 1925 in Locarno ausgehandelt (und im dezember in London unterzeichnet) worden war und dem im Winter 192122 auf der Washingtoner Konferenz geschlossenen Flottenabkommen der Seemaumlchte Groszligbritannien USA Japan Frankreich und Italien diese beiden Vertraumlge seien so Churchill raquozwillingspyramiden des Friedens die massiv und unerschuumltterlich auf-ragen hellip die Buumlndnistreue der fuumlhrenden Nationen der Welt und all ihrer Flotten und Heere einfordernlaquo Sie erst haumltten dem 1919 in Versailles un-vollendeten Frieden zu Substanz verholfen Sie erst haumltten dem Voumllker-bund der zunaumlchst nur ein weiszliges Blatt gewesen sei Konturen verliehen

13sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

man muumlsse in der Geschichte lange nach einer Parallele fuumlr ein solches Unterfangen suchen raquodie Hoffnunglaquo schrieb Churchill raquoruht nunmehr auf einer sichereren Grundlage hellip die Phase des zuruumlckschreckens vor den Graumlueln eines Krieges wird lange anhalten und in diesem gesegneten zeitraum koumlnnen die groszligen Nationen ihre Schritte in Richtung einer Weltorganisation in der Uumlberzeugung tun dass die Schwierigkeiten die ihnen noch bevorstehen nicht groumlszliger sein werden als jene die sie bereits uumlberwunden habenlaquo5

Weder Hitler noch Trotzki haumltten ihre Sicht auf die zukunft zehn Jahre nach dem Krieg in diese Begriffe gefasst der Kriegsveteran und gescheiterte Putschist Adolf Hitler der sich nun als Politiker versuchte aber gerade eine Reichstagswahl verloren hatte verhandelte 1928 mit sei-nen Verlegern uumlber einen Folgeband seines ersten Buches Mein Kampf dieser sollte seine Reden und Schriften seit 1924 enthalten da die Ver-kaufszahlen des erstlings 1928 jedoch ebenso enttaumluschend waren wie das Wahlergebnis ging dieses manuskript nie in den druck der Forschung ist es unter dem Titel raquoHitlers zweites Buchlaquo bekannt6 Auch Leo Trotzki hatte damals zeit zum Schreiben und Nachdenken denn er war nachdem er den machtkampf mit Stalin verloren hatte zunaumlchst nach Kasachstan und im Februar 1929 in die Tuumlrkei deportiert worden Von dort aus schrieb er weiterhin seinen fortlaufenden Kommentar zur Revolution die seit Lenins Tod im Jahr 1924 eine verheerende Wendung genommen hatte7 Churchill Trotzki und Hitler sind ein schlecht zusammenpassen-des um nicht zu sagen feindseliges dreigespann Schon allein sie in ei-nem Atemzug zu nennen mag manchem als Provokation erscheinen Sie sind nicht miteinander vergleichbar weder als Schriftsteller noch als Po-litiker noch als Intellektuelle und schon gar nicht in ihren moralischen Persoumlnlichkeiten desto mehr erstaunt es wie sehr sich ende der 1920er Jahre ihre Interpretationen der Weltpolitik wechselseitig ergaumlnzen

Hitler und Trotzki sahen denselben Tatsachen ins Auge wie Churchill Auch sie waren uumlberzeugt dass der erste Weltkrieg eine neue Phase der raquoordnung der Weltlaquo eingelaumlutet hatte Aber waumlhrend Churchill diese ent-wicklung freudig begruumlszligte bedrohte sie den kommunistischen Revolu-tionaumlr Trotzki wie den Nationalsozialisten Hitler mit nichts weniger als dem ende all ihrer Hoffnungen oberflaumlchlich mochten die Bestimmun-gen des Versailler Vertrags von 1919 die souveraumlne Selbstbestimmung foumlr-dern eine Vorstellung die im europaumlischen Spaumltmittelalter aufgekommen

14 EinlEitung

war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

15sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

16 EinlEitung

lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

18 EinlEitung

Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

20 EinlEitung

gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

21sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

24 EinlEitung

hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

25sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

26 EinlEitung

Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

28 EinlEitung

Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

29sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

30 EinlEitung

die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

31sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

33sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

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der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

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Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

52 i DiE KrisE EurasiEns

gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

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Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

67ein Krieg in der schWebe

Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

70 i DiE KrisE EurasiEns

I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

Page 2: AdAm Tooze

AdAm Tooze

Si n t f lu tDie neuordnung der Welt 1916 ndash 1931

Aus dem amerikanischen englisch von Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer

Pantheon

Fuumlr Edie

raquodie heikelsten Fragen werden somit fruumlher oder spaumlter dem Histo-riker anvertraut es ist sein Problem dass sie deshalb nicht aufhoumlren heikel zu sein weil sie von den Staatsmaumlnnern bereits erledigt und als pragmatisch geregelt ad acta gelegt worden sind hellip es ist ein Wunder dass Historiker die ihre Arbeit ernst nehmen bei Nacht ruhig schlafen koumlnnenlaquo

WoodroW Wilson1

raquodie Chronik ist abgeschlossen mit welchen Gefuumlhlen blaumlttert man Herrn Churchills zweitausendste Seite um dankbarkeit hellip Bewun-derung hellip ein wenig Neid vielleicht um seine unerschuumltterliche Uumlberzeugung dass Grenzen Rassen patriotische Gesinnungen not-falls sogar Kriege letzte Wahrheiten fuumlr die menschheit sind die in seinen Augen den ereignissen eine Art Wuumlrde und selbst Vornehm-heit verleihen fuumlr andere hingegen lediglich ein alptraumartiges zwischenspiel sind etwas das konsequent vermieden werden musslaquo

John Maynard Keynes in einer Rezension von Winston Churchills Buch The Aftermath 2

inhalt

einleitung 11 Sintflut eine neue Weltordnung entsteht

teil i Die Krise Eurasiens

47 ein Krieg in der Schwebe 69 Frieden ohne Sieg 91 die Totenglocke der russischen demokratie 115 China in den Kriegswirren 139 Brest-Litowsk 159 ein brutaler Frieden 181 ein Riss geht durch die Welt 199 Intervention

teil ii fuumlr einen Sieg der Demokratie

219 Neuer Schwung fuumlr die entente 251 die Arsenale der demokratie 273 Waffenstillstand die Buumlhne fuumlr Wilsons drehbuch 291 demokratie unter druck

teil iii Der unvollendete frieden

317 ein weltweiter Flickenteppich 335 raquodie Wahrheit uumlber den Vertraglaquo 357 Reparationen 377 Vertragserfuumlllung in europa 397 Vertragserfuumlllung in Asien 413 das Fiasko des Wilsonianismus

teil iV Die Suche nach einer Ordnung

439 die groszlige deflation 465 das empire in der Krise 491 eine Konferenz in Washington 509 die Neuerfindung des Kommunismus 529 Genua das Scheitern der britischen Hegemonie 549 europa am Abgrund 577 die neue Kriegs- und Friedenspolitik 607 die Weltwirtschaftskrise

schluss 633 der einsatz wird erhoumlht

anhang 645 dank 649 Anmerkungen 706 Verzeichnis der Abbildungen 707 Verzeichnis der Grafiken und Tabellen 709 Personenregister

EinlEitungSintflut Eine neue Weltordnung entsteht

ende 1915 am morgen des ersten Weihnachtstags stellte sich der einstige Radikalliberale david Lloyd George nun britischer munitionsminister einer aufgebrachten menge von Gewerkschaftern in Glasgow er war ge-kommen um weitere einberufungen an die Front zu fordern und begruumln-dete das mit apokalyptischen Worten der Krieg warnte er seine zuhoumlrer werde die Welt voumlllig umgestalten raquoer ist die Sintflut er ist ein Aufbaumlumen der Natur hellip und bringt beispiellose Veraumlnderungen im gesellschaftlichen und industriellen Gefuumlge mit sich er ist ein zyklon der die zierpflanzen der modernen Gesellschaft samt Wurzel ausreiszligt hellip er ist ein erdbeben das selbst die Felsen des europaumlischen Lebens noch emporhebt er ist eine jener seismischen Stoumlrungen in deren Verlauf Nationen auf einen Schlag um Generationen nach vorn katapultiert oder zuruumlckgeworfen werdenlaquo1 Wie ein echo dieser Rede klangen die nicht einmal vier monate spaumlter auf der anderen Seite der Schuumltzengraumlben gesprochenen Worte des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg Am 5 April 1916 sechs Wo-chen nach Beginn der entsetzlichen Schlacht um Verdun erklaumlrte er im Reichstag ohne jede Beschoumlnigung raquoNun muss der Friede europas aus einer Flut von Blut und Traumlnen aus den Graumlbern von millionen erstehen zu unserer Verteidigung sind wir ausgezogen Aber das was war ist nicht mehr die Geschichte ist mit ehernen Schritten vorwaumlrts gegangen es gibt kein zuruumlcklaquo2 die Gewalt dieses Krieges war zu einer weltveraumlndernden Kraft geworden 1918 hatte der erste Weltkrieg die alten Reiche eurasiens zerschlagen das zarenreich das Habsburgerreich und das osmanische Reich In China tobte ein Buumlrgerkrieg Anfang der 1920er Jahre waren die Grenzen osteuropas und des Nahen ostens neu gezogen worden So dra-matisch und umstritten diese Veraumlnderungen schon fuumlr sich genommen waren erlangten sie ihre volle Bedeutung doch erst weil sie mit einem tieferen aber nicht so offensichtlichen Umbruch gekoppelt waren eine neue Weltordnung ging aus diesem Krieg hervor die trotz allem Gezaumlnk und nationalistischen Brimborium der neuen Staaten die Hoffnung auf

12 EinlEitung

eine grundlegende Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Groszlig-maumlchten ndash Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland Russ-land und den Vereinigten Staaten ndash weckte es bedurfte einiger geostrate-gischer und historischer Vorstellungskraft um das Ausmaszlig und die Bedeutung dieser Veraumlnderung des machtgefuumlges zu erkennen die entste-hende neue ordnung wurde zu einem groszligen Teil bestimmt durch die raquoeigenartige mischung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwe-senheitlaquo3 ihres praumlgendsten Bestandteils der neuen macht der Vereinigten Staaten von Amerika doch auf diejenigen die die Gabe hatten diese tek-tonische Verschiebung wahrzunehmen uumlbte diese Aussicht eine sie gera-dezu gefangen nehmende Faszination aus

Im Winter 192829 gut zehn Jahre nach dem ende des Weltkriegs blickten drei mit solchem Gespuumlr fuumlr die Veraumlnderungen ausgestattete zeitgenossen zuruumlck auf das was geschehen war ndash Winston Churchill Adolf Hitler und Leo Trotzki Am Neujahrstag 1929 schloss Churchill damals Schatzkanzler unter dem konservativen Premierminister Stanley Baldwin den letzten Band seiner monumentalen Geschichte des ersten Weltkriegs ab The World Crisis ist der Titel des fuumlnfbaumlndigen Werkes The Aftermath der des letzten Bandes Wer die Buumlcher Churchills zum zwei-ten Weltkrieg kennt erlebt in diesem Band zur zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Uumlberraschung Churchill der nach 1945 vom raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Krieglaquo sprach um die langjaumlhrige Auseinandersetzung mit deutschland als eine historische einheit zu beschreiben schlug 1929 noch einen ganz anderen Ton an4 damals blickte er nicht mit grimmiger Resignation sondern mit einigem optimismus in die zukunft Aus den Graumlueln des Weltkriegs waren so schien es eine neue internationale ord-nung hervorgegangen und ein weltweiter Frieden der auf zwei groszligen Vertraumlgen ruhte dem europaumlischen Sicherheitspakt der im oktober 1925 in Locarno ausgehandelt (und im dezember in London unterzeichnet) worden war und dem im Winter 192122 auf der Washingtoner Konferenz geschlossenen Flottenabkommen der Seemaumlchte Groszligbritannien USA Japan Frankreich und Italien diese beiden Vertraumlge seien so Churchill raquozwillingspyramiden des Friedens die massiv und unerschuumltterlich auf-ragen hellip die Buumlndnistreue der fuumlhrenden Nationen der Welt und all ihrer Flotten und Heere einfordernlaquo Sie erst haumltten dem 1919 in Versailles un-vollendeten Frieden zu Substanz verholfen Sie erst haumltten dem Voumllker-bund der zunaumlchst nur ein weiszliges Blatt gewesen sei Konturen verliehen

13sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

man muumlsse in der Geschichte lange nach einer Parallele fuumlr ein solches Unterfangen suchen raquodie Hoffnunglaquo schrieb Churchill raquoruht nunmehr auf einer sichereren Grundlage hellip die Phase des zuruumlckschreckens vor den Graumlueln eines Krieges wird lange anhalten und in diesem gesegneten zeitraum koumlnnen die groszligen Nationen ihre Schritte in Richtung einer Weltorganisation in der Uumlberzeugung tun dass die Schwierigkeiten die ihnen noch bevorstehen nicht groumlszliger sein werden als jene die sie bereits uumlberwunden habenlaquo5

Weder Hitler noch Trotzki haumltten ihre Sicht auf die zukunft zehn Jahre nach dem Krieg in diese Begriffe gefasst der Kriegsveteran und gescheiterte Putschist Adolf Hitler der sich nun als Politiker versuchte aber gerade eine Reichstagswahl verloren hatte verhandelte 1928 mit sei-nen Verlegern uumlber einen Folgeband seines ersten Buches Mein Kampf dieser sollte seine Reden und Schriften seit 1924 enthalten da die Ver-kaufszahlen des erstlings 1928 jedoch ebenso enttaumluschend waren wie das Wahlergebnis ging dieses manuskript nie in den druck der Forschung ist es unter dem Titel raquoHitlers zweites Buchlaquo bekannt6 Auch Leo Trotzki hatte damals zeit zum Schreiben und Nachdenken denn er war nachdem er den machtkampf mit Stalin verloren hatte zunaumlchst nach Kasachstan und im Februar 1929 in die Tuumlrkei deportiert worden Von dort aus schrieb er weiterhin seinen fortlaufenden Kommentar zur Revolution die seit Lenins Tod im Jahr 1924 eine verheerende Wendung genommen hatte7 Churchill Trotzki und Hitler sind ein schlecht zusammenpassen-des um nicht zu sagen feindseliges dreigespann Schon allein sie in ei-nem Atemzug zu nennen mag manchem als Provokation erscheinen Sie sind nicht miteinander vergleichbar weder als Schriftsteller noch als Po-litiker noch als Intellektuelle und schon gar nicht in ihren moralischen Persoumlnlichkeiten desto mehr erstaunt es wie sehr sich ende der 1920er Jahre ihre Interpretationen der Weltpolitik wechselseitig ergaumlnzen

Hitler und Trotzki sahen denselben Tatsachen ins Auge wie Churchill Auch sie waren uumlberzeugt dass der erste Weltkrieg eine neue Phase der raquoordnung der Weltlaquo eingelaumlutet hatte Aber waumlhrend Churchill diese ent-wicklung freudig begruumlszligte bedrohte sie den kommunistischen Revolu-tionaumlr Trotzki wie den Nationalsozialisten Hitler mit nichts weniger als dem ende all ihrer Hoffnungen oberflaumlchlich mochten die Bestimmun-gen des Versailler Vertrags von 1919 die souveraumlne Selbstbestimmung foumlr-dern eine Vorstellung die im europaumlischen Spaumltmittelalter aufgekommen

14 EinlEitung

war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

15sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

16 EinlEitung

lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

18 EinlEitung

Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

20 EinlEitung

gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

21sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

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hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

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wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

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und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

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Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

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der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

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Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

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Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

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gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

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Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

63ein Krieg in der schWebe

Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

67ein Krieg in der schWebe

Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

70 i DiE KrisE EurasiEns

I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

Page 3: AdAm Tooze

Fuumlr Edie

raquodie heikelsten Fragen werden somit fruumlher oder spaumlter dem Histo-riker anvertraut es ist sein Problem dass sie deshalb nicht aufhoumlren heikel zu sein weil sie von den Staatsmaumlnnern bereits erledigt und als pragmatisch geregelt ad acta gelegt worden sind hellip es ist ein Wunder dass Historiker die ihre Arbeit ernst nehmen bei Nacht ruhig schlafen koumlnnenlaquo

WoodroW Wilson1

raquodie Chronik ist abgeschlossen mit welchen Gefuumlhlen blaumlttert man Herrn Churchills zweitausendste Seite um dankbarkeit hellip Bewun-derung hellip ein wenig Neid vielleicht um seine unerschuumltterliche Uumlberzeugung dass Grenzen Rassen patriotische Gesinnungen not-falls sogar Kriege letzte Wahrheiten fuumlr die menschheit sind die in seinen Augen den ereignissen eine Art Wuumlrde und selbst Vornehm-heit verleihen fuumlr andere hingegen lediglich ein alptraumartiges zwischenspiel sind etwas das konsequent vermieden werden musslaquo

John Maynard Keynes in einer Rezension von Winston Churchills Buch The Aftermath 2

inhalt

einleitung 11 Sintflut eine neue Weltordnung entsteht

teil i Die Krise Eurasiens

47 ein Krieg in der Schwebe 69 Frieden ohne Sieg 91 die Totenglocke der russischen demokratie 115 China in den Kriegswirren 139 Brest-Litowsk 159 ein brutaler Frieden 181 ein Riss geht durch die Welt 199 Intervention

teil ii fuumlr einen Sieg der Demokratie

219 Neuer Schwung fuumlr die entente 251 die Arsenale der demokratie 273 Waffenstillstand die Buumlhne fuumlr Wilsons drehbuch 291 demokratie unter druck

teil iii Der unvollendete frieden

317 ein weltweiter Flickenteppich 335 raquodie Wahrheit uumlber den Vertraglaquo 357 Reparationen 377 Vertragserfuumlllung in europa 397 Vertragserfuumlllung in Asien 413 das Fiasko des Wilsonianismus

teil iV Die Suche nach einer Ordnung

439 die groszlige deflation 465 das empire in der Krise 491 eine Konferenz in Washington 509 die Neuerfindung des Kommunismus 529 Genua das Scheitern der britischen Hegemonie 549 europa am Abgrund 577 die neue Kriegs- und Friedenspolitik 607 die Weltwirtschaftskrise

schluss 633 der einsatz wird erhoumlht

anhang 645 dank 649 Anmerkungen 706 Verzeichnis der Abbildungen 707 Verzeichnis der Grafiken und Tabellen 709 Personenregister

EinlEitungSintflut Eine neue Weltordnung entsteht

ende 1915 am morgen des ersten Weihnachtstags stellte sich der einstige Radikalliberale david Lloyd George nun britischer munitionsminister einer aufgebrachten menge von Gewerkschaftern in Glasgow er war ge-kommen um weitere einberufungen an die Front zu fordern und begruumln-dete das mit apokalyptischen Worten der Krieg warnte er seine zuhoumlrer werde die Welt voumlllig umgestalten raquoer ist die Sintflut er ist ein Aufbaumlumen der Natur hellip und bringt beispiellose Veraumlnderungen im gesellschaftlichen und industriellen Gefuumlge mit sich er ist ein zyklon der die zierpflanzen der modernen Gesellschaft samt Wurzel ausreiszligt hellip er ist ein erdbeben das selbst die Felsen des europaumlischen Lebens noch emporhebt er ist eine jener seismischen Stoumlrungen in deren Verlauf Nationen auf einen Schlag um Generationen nach vorn katapultiert oder zuruumlckgeworfen werdenlaquo1 Wie ein echo dieser Rede klangen die nicht einmal vier monate spaumlter auf der anderen Seite der Schuumltzengraumlben gesprochenen Worte des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg Am 5 April 1916 sechs Wo-chen nach Beginn der entsetzlichen Schlacht um Verdun erklaumlrte er im Reichstag ohne jede Beschoumlnigung raquoNun muss der Friede europas aus einer Flut von Blut und Traumlnen aus den Graumlbern von millionen erstehen zu unserer Verteidigung sind wir ausgezogen Aber das was war ist nicht mehr die Geschichte ist mit ehernen Schritten vorwaumlrts gegangen es gibt kein zuruumlcklaquo2 die Gewalt dieses Krieges war zu einer weltveraumlndernden Kraft geworden 1918 hatte der erste Weltkrieg die alten Reiche eurasiens zerschlagen das zarenreich das Habsburgerreich und das osmanische Reich In China tobte ein Buumlrgerkrieg Anfang der 1920er Jahre waren die Grenzen osteuropas und des Nahen ostens neu gezogen worden So dra-matisch und umstritten diese Veraumlnderungen schon fuumlr sich genommen waren erlangten sie ihre volle Bedeutung doch erst weil sie mit einem tieferen aber nicht so offensichtlichen Umbruch gekoppelt waren eine neue Weltordnung ging aus diesem Krieg hervor die trotz allem Gezaumlnk und nationalistischen Brimborium der neuen Staaten die Hoffnung auf

12 EinlEitung

eine grundlegende Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Groszlig-maumlchten ndash Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland Russ-land und den Vereinigten Staaten ndash weckte es bedurfte einiger geostrate-gischer und historischer Vorstellungskraft um das Ausmaszlig und die Bedeutung dieser Veraumlnderung des machtgefuumlges zu erkennen die entste-hende neue ordnung wurde zu einem groszligen Teil bestimmt durch die raquoeigenartige mischung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwe-senheitlaquo3 ihres praumlgendsten Bestandteils der neuen macht der Vereinigten Staaten von Amerika doch auf diejenigen die die Gabe hatten diese tek-tonische Verschiebung wahrzunehmen uumlbte diese Aussicht eine sie gera-dezu gefangen nehmende Faszination aus

Im Winter 192829 gut zehn Jahre nach dem ende des Weltkriegs blickten drei mit solchem Gespuumlr fuumlr die Veraumlnderungen ausgestattete zeitgenossen zuruumlck auf das was geschehen war ndash Winston Churchill Adolf Hitler und Leo Trotzki Am Neujahrstag 1929 schloss Churchill damals Schatzkanzler unter dem konservativen Premierminister Stanley Baldwin den letzten Band seiner monumentalen Geschichte des ersten Weltkriegs ab The World Crisis ist der Titel des fuumlnfbaumlndigen Werkes The Aftermath der des letzten Bandes Wer die Buumlcher Churchills zum zwei-ten Weltkrieg kennt erlebt in diesem Band zur zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Uumlberraschung Churchill der nach 1945 vom raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Krieglaquo sprach um die langjaumlhrige Auseinandersetzung mit deutschland als eine historische einheit zu beschreiben schlug 1929 noch einen ganz anderen Ton an4 damals blickte er nicht mit grimmiger Resignation sondern mit einigem optimismus in die zukunft Aus den Graumlueln des Weltkriegs waren so schien es eine neue internationale ord-nung hervorgegangen und ein weltweiter Frieden der auf zwei groszligen Vertraumlgen ruhte dem europaumlischen Sicherheitspakt der im oktober 1925 in Locarno ausgehandelt (und im dezember in London unterzeichnet) worden war und dem im Winter 192122 auf der Washingtoner Konferenz geschlossenen Flottenabkommen der Seemaumlchte Groszligbritannien USA Japan Frankreich und Italien diese beiden Vertraumlge seien so Churchill raquozwillingspyramiden des Friedens die massiv und unerschuumltterlich auf-ragen hellip die Buumlndnistreue der fuumlhrenden Nationen der Welt und all ihrer Flotten und Heere einfordernlaquo Sie erst haumltten dem 1919 in Versailles un-vollendeten Frieden zu Substanz verholfen Sie erst haumltten dem Voumllker-bund der zunaumlchst nur ein weiszliges Blatt gewesen sei Konturen verliehen

13sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

man muumlsse in der Geschichte lange nach einer Parallele fuumlr ein solches Unterfangen suchen raquodie Hoffnunglaquo schrieb Churchill raquoruht nunmehr auf einer sichereren Grundlage hellip die Phase des zuruumlckschreckens vor den Graumlueln eines Krieges wird lange anhalten und in diesem gesegneten zeitraum koumlnnen die groszligen Nationen ihre Schritte in Richtung einer Weltorganisation in der Uumlberzeugung tun dass die Schwierigkeiten die ihnen noch bevorstehen nicht groumlszliger sein werden als jene die sie bereits uumlberwunden habenlaquo5

Weder Hitler noch Trotzki haumltten ihre Sicht auf die zukunft zehn Jahre nach dem Krieg in diese Begriffe gefasst der Kriegsveteran und gescheiterte Putschist Adolf Hitler der sich nun als Politiker versuchte aber gerade eine Reichstagswahl verloren hatte verhandelte 1928 mit sei-nen Verlegern uumlber einen Folgeband seines ersten Buches Mein Kampf dieser sollte seine Reden und Schriften seit 1924 enthalten da die Ver-kaufszahlen des erstlings 1928 jedoch ebenso enttaumluschend waren wie das Wahlergebnis ging dieses manuskript nie in den druck der Forschung ist es unter dem Titel raquoHitlers zweites Buchlaquo bekannt6 Auch Leo Trotzki hatte damals zeit zum Schreiben und Nachdenken denn er war nachdem er den machtkampf mit Stalin verloren hatte zunaumlchst nach Kasachstan und im Februar 1929 in die Tuumlrkei deportiert worden Von dort aus schrieb er weiterhin seinen fortlaufenden Kommentar zur Revolution die seit Lenins Tod im Jahr 1924 eine verheerende Wendung genommen hatte7 Churchill Trotzki und Hitler sind ein schlecht zusammenpassen-des um nicht zu sagen feindseliges dreigespann Schon allein sie in ei-nem Atemzug zu nennen mag manchem als Provokation erscheinen Sie sind nicht miteinander vergleichbar weder als Schriftsteller noch als Po-litiker noch als Intellektuelle und schon gar nicht in ihren moralischen Persoumlnlichkeiten desto mehr erstaunt es wie sehr sich ende der 1920er Jahre ihre Interpretationen der Weltpolitik wechselseitig ergaumlnzen

Hitler und Trotzki sahen denselben Tatsachen ins Auge wie Churchill Auch sie waren uumlberzeugt dass der erste Weltkrieg eine neue Phase der raquoordnung der Weltlaquo eingelaumlutet hatte Aber waumlhrend Churchill diese ent-wicklung freudig begruumlszligte bedrohte sie den kommunistischen Revolu-tionaumlr Trotzki wie den Nationalsozialisten Hitler mit nichts weniger als dem ende all ihrer Hoffnungen oberflaumlchlich mochten die Bestimmun-gen des Versailler Vertrags von 1919 die souveraumlne Selbstbestimmung foumlr-dern eine Vorstellung die im europaumlischen Spaumltmittelalter aufgekommen

14 EinlEitung

war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

15sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

16 EinlEitung

lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

18 EinlEitung

Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

20 EinlEitung

gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

21sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

24 EinlEitung

hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

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wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

42 EinlEitung

beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

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Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

52 i DiE KrisE EurasiEns

gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

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Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

59ein Krieg in der schWebe

werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

61ein Krieg in der schWebe

gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

70 i DiE KrisE EurasiEns

I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

Page 4: AdAm Tooze

raquodie heikelsten Fragen werden somit fruumlher oder spaumlter dem Histo-riker anvertraut es ist sein Problem dass sie deshalb nicht aufhoumlren heikel zu sein weil sie von den Staatsmaumlnnern bereits erledigt und als pragmatisch geregelt ad acta gelegt worden sind hellip es ist ein Wunder dass Historiker die ihre Arbeit ernst nehmen bei Nacht ruhig schlafen koumlnnenlaquo

WoodroW Wilson1

raquodie Chronik ist abgeschlossen mit welchen Gefuumlhlen blaumlttert man Herrn Churchills zweitausendste Seite um dankbarkeit hellip Bewun-derung hellip ein wenig Neid vielleicht um seine unerschuumltterliche Uumlberzeugung dass Grenzen Rassen patriotische Gesinnungen not-falls sogar Kriege letzte Wahrheiten fuumlr die menschheit sind die in seinen Augen den ereignissen eine Art Wuumlrde und selbst Vornehm-heit verleihen fuumlr andere hingegen lediglich ein alptraumartiges zwischenspiel sind etwas das konsequent vermieden werden musslaquo

John Maynard Keynes in einer Rezension von Winston Churchills Buch The Aftermath 2

inhalt

einleitung 11 Sintflut eine neue Weltordnung entsteht

teil i Die Krise Eurasiens

47 ein Krieg in der Schwebe 69 Frieden ohne Sieg 91 die Totenglocke der russischen demokratie 115 China in den Kriegswirren 139 Brest-Litowsk 159 ein brutaler Frieden 181 ein Riss geht durch die Welt 199 Intervention

teil ii fuumlr einen Sieg der Demokratie

219 Neuer Schwung fuumlr die entente 251 die Arsenale der demokratie 273 Waffenstillstand die Buumlhne fuumlr Wilsons drehbuch 291 demokratie unter druck

teil iii Der unvollendete frieden

317 ein weltweiter Flickenteppich 335 raquodie Wahrheit uumlber den Vertraglaquo 357 Reparationen 377 Vertragserfuumlllung in europa 397 Vertragserfuumlllung in Asien 413 das Fiasko des Wilsonianismus

teil iV Die Suche nach einer Ordnung

439 die groszlige deflation 465 das empire in der Krise 491 eine Konferenz in Washington 509 die Neuerfindung des Kommunismus 529 Genua das Scheitern der britischen Hegemonie 549 europa am Abgrund 577 die neue Kriegs- und Friedenspolitik 607 die Weltwirtschaftskrise

schluss 633 der einsatz wird erhoumlht

anhang 645 dank 649 Anmerkungen 706 Verzeichnis der Abbildungen 707 Verzeichnis der Grafiken und Tabellen 709 Personenregister

EinlEitungSintflut Eine neue Weltordnung entsteht

ende 1915 am morgen des ersten Weihnachtstags stellte sich der einstige Radikalliberale david Lloyd George nun britischer munitionsminister einer aufgebrachten menge von Gewerkschaftern in Glasgow er war ge-kommen um weitere einberufungen an die Front zu fordern und begruumln-dete das mit apokalyptischen Worten der Krieg warnte er seine zuhoumlrer werde die Welt voumlllig umgestalten raquoer ist die Sintflut er ist ein Aufbaumlumen der Natur hellip und bringt beispiellose Veraumlnderungen im gesellschaftlichen und industriellen Gefuumlge mit sich er ist ein zyklon der die zierpflanzen der modernen Gesellschaft samt Wurzel ausreiszligt hellip er ist ein erdbeben das selbst die Felsen des europaumlischen Lebens noch emporhebt er ist eine jener seismischen Stoumlrungen in deren Verlauf Nationen auf einen Schlag um Generationen nach vorn katapultiert oder zuruumlckgeworfen werdenlaquo1 Wie ein echo dieser Rede klangen die nicht einmal vier monate spaumlter auf der anderen Seite der Schuumltzengraumlben gesprochenen Worte des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg Am 5 April 1916 sechs Wo-chen nach Beginn der entsetzlichen Schlacht um Verdun erklaumlrte er im Reichstag ohne jede Beschoumlnigung raquoNun muss der Friede europas aus einer Flut von Blut und Traumlnen aus den Graumlbern von millionen erstehen zu unserer Verteidigung sind wir ausgezogen Aber das was war ist nicht mehr die Geschichte ist mit ehernen Schritten vorwaumlrts gegangen es gibt kein zuruumlcklaquo2 die Gewalt dieses Krieges war zu einer weltveraumlndernden Kraft geworden 1918 hatte der erste Weltkrieg die alten Reiche eurasiens zerschlagen das zarenreich das Habsburgerreich und das osmanische Reich In China tobte ein Buumlrgerkrieg Anfang der 1920er Jahre waren die Grenzen osteuropas und des Nahen ostens neu gezogen worden So dra-matisch und umstritten diese Veraumlnderungen schon fuumlr sich genommen waren erlangten sie ihre volle Bedeutung doch erst weil sie mit einem tieferen aber nicht so offensichtlichen Umbruch gekoppelt waren eine neue Weltordnung ging aus diesem Krieg hervor die trotz allem Gezaumlnk und nationalistischen Brimborium der neuen Staaten die Hoffnung auf

12 EinlEitung

eine grundlegende Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Groszlig-maumlchten ndash Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland Russ-land und den Vereinigten Staaten ndash weckte es bedurfte einiger geostrate-gischer und historischer Vorstellungskraft um das Ausmaszlig und die Bedeutung dieser Veraumlnderung des machtgefuumlges zu erkennen die entste-hende neue ordnung wurde zu einem groszligen Teil bestimmt durch die raquoeigenartige mischung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwe-senheitlaquo3 ihres praumlgendsten Bestandteils der neuen macht der Vereinigten Staaten von Amerika doch auf diejenigen die die Gabe hatten diese tek-tonische Verschiebung wahrzunehmen uumlbte diese Aussicht eine sie gera-dezu gefangen nehmende Faszination aus

Im Winter 192829 gut zehn Jahre nach dem ende des Weltkriegs blickten drei mit solchem Gespuumlr fuumlr die Veraumlnderungen ausgestattete zeitgenossen zuruumlck auf das was geschehen war ndash Winston Churchill Adolf Hitler und Leo Trotzki Am Neujahrstag 1929 schloss Churchill damals Schatzkanzler unter dem konservativen Premierminister Stanley Baldwin den letzten Band seiner monumentalen Geschichte des ersten Weltkriegs ab The World Crisis ist der Titel des fuumlnfbaumlndigen Werkes The Aftermath der des letzten Bandes Wer die Buumlcher Churchills zum zwei-ten Weltkrieg kennt erlebt in diesem Band zur zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Uumlberraschung Churchill der nach 1945 vom raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Krieglaquo sprach um die langjaumlhrige Auseinandersetzung mit deutschland als eine historische einheit zu beschreiben schlug 1929 noch einen ganz anderen Ton an4 damals blickte er nicht mit grimmiger Resignation sondern mit einigem optimismus in die zukunft Aus den Graumlueln des Weltkriegs waren so schien es eine neue internationale ord-nung hervorgegangen und ein weltweiter Frieden der auf zwei groszligen Vertraumlgen ruhte dem europaumlischen Sicherheitspakt der im oktober 1925 in Locarno ausgehandelt (und im dezember in London unterzeichnet) worden war und dem im Winter 192122 auf der Washingtoner Konferenz geschlossenen Flottenabkommen der Seemaumlchte Groszligbritannien USA Japan Frankreich und Italien diese beiden Vertraumlge seien so Churchill raquozwillingspyramiden des Friedens die massiv und unerschuumltterlich auf-ragen hellip die Buumlndnistreue der fuumlhrenden Nationen der Welt und all ihrer Flotten und Heere einfordernlaquo Sie erst haumltten dem 1919 in Versailles un-vollendeten Frieden zu Substanz verholfen Sie erst haumltten dem Voumllker-bund der zunaumlchst nur ein weiszliges Blatt gewesen sei Konturen verliehen

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man muumlsse in der Geschichte lange nach einer Parallele fuumlr ein solches Unterfangen suchen raquodie Hoffnunglaquo schrieb Churchill raquoruht nunmehr auf einer sichereren Grundlage hellip die Phase des zuruumlckschreckens vor den Graumlueln eines Krieges wird lange anhalten und in diesem gesegneten zeitraum koumlnnen die groszligen Nationen ihre Schritte in Richtung einer Weltorganisation in der Uumlberzeugung tun dass die Schwierigkeiten die ihnen noch bevorstehen nicht groumlszliger sein werden als jene die sie bereits uumlberwunden habenlaquo5

Weder Hitler noch Trotzki haumltten ihre Sicht auf die zukunft zehn Jahre nach dem Krieg in diese Begriffe gefasst der Kriegsveteran und gescheiterte Putschist Adolf Hitler der sich nun als Politiker versuchte aber gerade eine Reichstagswahl verloren hatte verhandelte 1928 mit sei-nen Verlegern uumlber einen Folgeband seines ersten Buches Mein Kampf dieser sollte seine Reden und Schriften seit 1924 enthalten da die Ver-kaufszahlen des erstlings 1928 jedoch ebenso enttaumluschend waren wie das Wahlergebnis ging dieses manuskript nie in den druck der Forschung ist es unter dem Titel raquoHitlers zweites Buchlaquo bekannt6 Auch Leo Trotzki hatte damals zeit zum Schreiben und Nachdenken denn er war nachdem er den machtkampf mit Stalin verloren hatte zunaumlchst nach Kasachstan und im Februar 1929 in die Tuumlrkei deportiert worden Von dort aus schrieb er weiterhin seinen fortlaufenden Kommentar zur Revolution die seit Lenins Tod im Jahr 1924 eine verheerende Wendung genommen hatte7 Churchill Trotzki und Hitler sind ein schlecht zusammenpassen-des um nicht zu sagen feindseliges dreigespann Schon allein sie in ei-nem Atemzug zu nennen mag manchem als Provokation erscheinen Sie sind nicht miteinander vergleichbar weder als Schriftsteller noch als Po-litiker noch als Intellektuelle und schon gar nicht in ihren moralischen Persoumlnlichkeiten desto mehr erstaunt es wie sehr sich ende der 1920er Jahre ihre Interpretationen der Weltpolitik wechselseitig ergaumlnzen

Hitler und Trotzki sahen denselben Tatsachen ins Auge wie Churchill Auch sie waren uumlberzeugt dass der erste Weltkrieg eine neue Phase der raquoordnung der Weltlaquo eingelaumlutet hatte Aber waumlhrend Churchill diese ent-wicklung freudig begruumlszligte bedrohte sie den kommunistischen Revolu-tionaumlr Trotzki wie den Nationalsozialisten Hitler mit nichts weniger als dem ende all ihrer Hoffnungen oberflaumlchlich mochten die Bestimmun-gen des Versailler Vertrags von 1919 die souveraumlne Selbstbestimmung foumlr-dern eine Vorstellung die im europaumlischen Spaumltmittelalter aufgekommen

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war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

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Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

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lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

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I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

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Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

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moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

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gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

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kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

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sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

24 EinlEitung

hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

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wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

35sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

37sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

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gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

55ein Krieg in der schWebe

Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

Page 5: AdAm Tooze

inhalt

einleitung 11 Sintflut eine neue Weltordnung entsteht

teil i Die Krise Eurasiens

47 ein Krieg in der Schwebe 69 Frieden ohne Sieg 91 die Totenglocke der russischen demokratie 115 China in den Kriegswirren 139 Brest-Litowsk 159 ein brutaler Frieden 181 ein Riss geht durch die Welt 199 Intervention

teil ii fuumlr einen Sieg der Demokratie

219 Neuer Schwung fuumlr die entente 251 die Arsenale der demokratie 273 Waffenstillstand die Buumlhne fuumlr Wilsons drehbuch 291 demokratie unter druck

teil iii Der unvollendete frieden

317 ein weltweiter Flickenteppich 335 raquodie Wahrheit uumlber den Vertraglaquo 357 Reparationen 377 Vertragserfuumlllung in europa 397 Vertragserfuumlllung in Asien 413 das Fiasko des Wilsonianismus

teil iV Die Suche nach einer Ordnung

439 die groszlige deflation 465 das empire in der Krise 491 eine Konferenz in Washington 509 die Neuerfindung des Kommunismus 529 Genua das Scheitern der britischen Hegemonie 549 europa am Abgrund 577 die neue Kriegs- und Friedenspolitik 607 die Weltwirtschaftskrise

schluss 633 der einsatz wird erhoumlht

anhang 645 dank 649 Anmerkungen 706 Verzeichnis der Abbildungen 707 Verzeichnis der Grafiken und Tabellen 709 Personenregister

EinlEitungSintflut Eine neue Weltordnung entsteht

ende 1915 am morgen des ersten Weihnachtstags stellte sich der einstige Radikalliberale david Lloyd George nun britischer munitionsminister einer aufgebrachten menge von Gewerkschaftern in Glasgow er war ge-kommen um weitere einberufungen an die Front zu fordern und begruumln-dete das mit apokalyptischen Worten der Krieg warnte er seine zuhoumlrer werde die Welt voumlllig umgestalten raquoer ist die Sintflut er ist ein Aufbaumlumen der Natur hellip und bringt beispiellose Veraumlnderungen im gesellschaftlichen und industriellen Gefuumlge mit sich er ist ein zyklon der die zierpflanzen der modernen Gesellschaft samt Wurzel ausreiszligt hellip er ist ein erdbeben das selbst die Felsen des europaumlischen Lebens noch emporhebt er ist eine jener seismischen Stoumlrungen in deren Verlauf Nationen auf einen Schlag um Generationen nach vorn katapultiert oder zuruumlckgeworfen werdenlaquo1 Wie ein echo dieser Rede klangen die nicht einmal vier monate spaumlter auf der anderen Seite der Schuumltzengraumlben gesprochenen Worte des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg Am 5 April 1916 sechs Wo-chen nach Beginn der entsetzlichen Schlacht um Verdun erklaumlrte er im Reichstag ohne jede Beschoumlnigung raquoNun muss der Friede europas aus einer Flut von Blut und Traumlnen aus den Graumlbern von millionen erstehen zu unserer Verteidigung sind wir ausgezogen Aber das was war ist nicht mehr die Geschichte ist mit ehernen Schritten vorwaumlrts gegangen es gibt kein zuruumlcklaquo2 die Gewalt dieses Krieges war zu einer weltveraumlndernden Kraft geworden 1918 hatte der erste Weltkrieg die alten Reiche eurasiens zerschlagen das zarenreich das Habsburgerreich und das osmanische Reich In China tobte ein Buumlrgerkrieg Anfang der 1920er Jahre waren die Grenzen osteuropas und des Nahen ostens neu gezogen worden So dra-matisch und umstritten diese Veraumlnderungen schon fuumlr sich genommen waren erlangten sie ihre volle Bedeutung doch erst weil sie mit einem tieferen aber nicht so offensichtlichen Umbruch gekoppelt waren eine neue Weltordnung ging aus diesem Krieg hervor die trotz allem Gezaumlnk und nationalistischen Brimborium der neuen Staaten die Hoffnung auf

12 EinlEitung

eine grundlegende Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Groszlig-maumlchten ndash Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland Russ-land und den Vereinigten Staaten ndash weckte es bedurfte einiger geostrate-gischer und historischer Vorstellungskraft um das Ausmaszlig und die Bedeutung dieser Veraumlnderung des machtgefuumlges zu erkennen die entste-hende neue ordnung wurde zu einem groszligen Teil bestimmt durch die raquoeigenartige mischung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwe-senheitlaquo3 ihres praumlgendsten Bestandteils der neuen macht der Vereinigten Staaten von Amerika doch auf diejenigen die die Gabe hatten diese tek-tonische Verschiebung wahrzunehmen uumlbte diese Aussicht eine sie gera-dezu gefangen nehmende Faszination aus

Im Winter 192829 gut zehn Jahre nach dem ende des Weltkriegs blickten drei mit solchem Gespuumlr fuumlr die Veraumlnderungen ausgestattete zeitgenossen zuruumlck auf das was geschehen war ndash Winston Churchill Adolf Hitler und Leo Trotzki Am Neujahrstag 1929 schloss Churchill damals Schatzkanzler unter dem konservativen Premierminister Stanley Baldwin den letzten Band seiner monumentalen Geschichte des ersten Weltkriegs ab The World Crisis ist der Titel des fuumlnfbaumlndigen Werkes The Aftermath der des letzten Bandes Wer die Buumlcher Churchills zum zwei-ten Weltkrieg kennt erlebt in diesem Band zur zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Uumlberraschung Churchill der nach 1945 vom raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Krieglaquo sprach um die langjaumlhrige Auseinandersetzung mit deutschland als eine historische einheit zu beschreiben schlug 1929 noch einen ganz anderen Ton an4 damals blickte er nicht mit grimmiger Resignation sondern mit einigem optimismus in die zukunft Aus den Graumlueln des Weltkriegs waren so schien es eine neue internationale ord-nung hervorgegangen und ein weltweiter Frieden der auf zwei groszligen Vertraumlgen ruhte dem europaumlischen Sicherheitspakt der im oktober 1925 in Locarno ausgehandelt (und im dezember in London unterzeichnet) worden war und dem im Winter 192122 auf der Washingtoner Konferenz geschlossenen Flottenabkommen der Seemaumlchte Groszligbritannien USA Japan Frankreich und Italien diese beiden Vertraumlge seien so Churchill raquozwillingspyramiden des Friedens die massiv und unerschuumltterlich auf-ragen hellip die Buumlndnistreue der fuumlhrenden Nationen der Welt und all ihrer Flotten und Heere einfordernlaquo Sie erst haumltten dem 1919 in Versailles un-vollendeten Frieden zu Substanz verholfen Sie erst haumltten dem Voumllker-bund der zunaumlchst nur ein weiszliges Blatt gewesen sei Konturen verliehen

13sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

man muumlsse in der Geschichte lange nach einer Parallele fuumlr ein solches Unterfangen suchen raquodie Hoffnunglaquo schrieb Churchill raquoruht nunmehr auf einer sichereren Grundlage hellip die Phase des zuruumlckschreckens vor den Graumlueln eines Krieges wird lange anhalten und in diesem gesegneten zeitraum koumlnnen die groszligen Nationen ihre Schritte in Richtung einer Weltorganisation in der Uumlberzeugung tun dass die Schwierigkeiten die ihnen noch bevorstehen nicht groumlszliger sein werden als jene die sie bereits uumlberwunden habenlaquo5

Weder Hitler noch Trotzki haumltten ihre Sicht auf die zukunft zehn Jahre nach dem Krieg in diese Begriffe gefasst der Kriegsveteran und gescheiterte Putschist Adolf Hitler der sich nun als Politiker versuchte aber gerade eine Reichstagswahl verloren hatte verhandelte 1928 mit sei-nen Verlegern uumlber einen Folgeband seines ersten Buches Mein Kampf dieser sollte seine Reden und Schriften seit 1924 enthalten da die Ver-kaufszahlen des erstlings 1928 jedoch ebenso enttaumluschend waren wie das Wahlergebnis ging dieses manuskript nie in den druck der Forschung ist es unter dem Titel raquoHitlers zweites Buchlaquo bekannt6 Auch Leo Trotzki hatte damals zeit zum Schreiben und Nachdenken denn er war nachdem er den machtkampf mit Stalin verloren hatte zunaumlchst nach Kasachstan und im Februar 1929 in die Tuumlrkei deportiert worden Von dort aus schrieb er weiterhin seinen fortlaufenden Kommentar zur Revolution die seit Lenins Tod im Jahr 1924 eine verheerende Wendung genommen hatte7 Churchill Trotzki und Hitler sind ein schlecht zusammenpassen-des um nicht zu sagen feindseliges dreigespann Schon allein sie in ei-nem Atemzug zu nennen mag manchem als Provokation erscheinen Sie sind nicht miteinander vergleichbar weder als Schriftsteller noch als Po-litiker noch als Intellektuelle und schon gar nicht in ihren moralischen Persoumlnlichkeiten desto mehr erstaunt es wie sehr sich ende der 1920er Jahre ihre Interpretationen der Weltpolitik wechselseitig ergaumlnzen

Hitler und Trotzki sahen denselben Tatsachen ins Auge wie Churchill Auch sie waren uumlberzeugt dass der erste Weltkrieg eine neue Phase der raquoordnung der Weltlaquo eingelaumlutet hatte Aber waumlhrend Churchill diese ent-wicklung freudig begruumlszligte bedrohte sie den kommunistischen Revolu-tionaumlr Trotzki wie den Nationalsozialisten Hitler mit nichts weniger als dem ende all ihrer Hoffnungen oberflaumlchlich mochten die Bestimmun-gen des Versailler Vertrags von 1919 die souveraumlne Selbstbestimmung foumlr-dern eine Vorstellung die im europaumlischen Spaumltmittelalter aufgekommen

14 EinlEitung

war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

15sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

16 EinlEitung

lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

18 EinlEitung

Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

20 EinlEitung

gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

21sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

24 EinlEitung

hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

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wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

29sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

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der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

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gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

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Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

66 i DiE KrisE EurasiEns

erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

67ein Krieg in der schWebe

Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

70 i DiE KrisE EurasiEns

I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

Page 6: AdAm Tooze

teil iV Die Suche nach einer Ordnung

439 die groszlige deflation 465 das empire in der Krise 491 eine Konferenz in Washington 509 die Neuerfindung des Kommunismus 529 Genua das Scheitern der britischen Hegemonie 549 europa am Abgrund 577 die neue Kriegs- und Friedenspolitik 607 die Weltwirtschaftskrise

schluss 633 der einsatz wird erhoumlht

anhang 645 dank 649 Anmerkungen 706 Verzeichnis der Abbildungen 707 Verzeichnis der Grafiken und Tabellen 709 Personenregister

EinlEitungSintflut Eine neue Weltordnung entsteht

ende 1915 am morgen des ersten Weihnachtstags stellte sich der einstige Radikalliberale david Lloyd George nun britischer munitionsminister einer aufgebrachten menge von Gewerkschaftern in Glasgow er war ge-kommen um weitere einberufungen an die Front zu fordern und begruumln-dete das mit apokalyptischen Worten der Krieg warnte er seine zuhoumlrer werde die Welt voumlllig umgestalten raquoer ist die Sintflut er ist ein Aufbaumlumen der Natur hellip und bringt beispiellose Veraumlnderungen im gesellschaftlichen und industriellen Gefuumlge mit sich er ist ein zyklon der die zierpflanzen der modernen Gesellschaft samt Wurzel ausreiszligt hellip er ist ein erdbeben das selbst die Felsen des europaumlischen Lebens noch emporhebt er ist eine jener seismischen Stoumlrungen in deren Verlauf Nationen auf einen Schlag um Generationen nach vorn katapultiert oder zuruumlckgeworfen werdenlaquo1 Wie ein echo dieser Rede klangen die nicht einmal vier monate spaumlter auf der anderen Seite der Schuumltzengraumlben gesprochenen Worte des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg Am 5 April 1916 sechs Wo-chen nach Beginn der entsetzlichen Schlacht um Verdun erklaumlrte er im Reichstag ohne jede Beschoumlnigung raquoNun muss der Friede europas aus einer Flut von Blut und Traumlnen aus den Graumlbern von millionen erstehen zu unserer Verteidigung sind wir ausgezogen Aber das was war ist nicht mehr die Geschichte ist mit ehernen Schritten vorwaumlrts gegangen es gibt kein zuruumlcklaquo2 die Gewalt dieses Krieges war zu einer weltveraumlndernden Kraft geworden 1918 hatte der erste Weltkrieg die alten Reiche eurasiens zerschlagen das zarenreich das Habsburgerreich und das osmanische Reich In China tobte ein Buumlrgerkrieg Anfang der 1920er Jahre waren die Grenzen osteuropas und des Nahen ostens neu gezogen worden So dra-matisch und umstritten diese Veraumlnderungen schon fuumlr sich genommen waren erlangten sie ihre volle Bedeutung doch erst weil sie mit einem tieferen aber nicht so offensichtlichen Umbruch gekoppelt waren eine neue Weltordnung ging aus diesem Krieg hervor die trotz allem Gezaumlnk und nationalistischen Brimborium der neuen Staaten die Hoffnung auf

12 EinlEitung

eine grundlegende Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Groszlig-maumlchten ndash Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland Russ-land und den Vereinigten Staaten ndash weckte es bedurfte einiger geostrate-gischer und historischer Vorstellungskraft um das Ausmaszlig und die Bedeutung dieser Veraumlnderung des machtgefuumlges zu erkennen die entste-hende neue ordnung wurde zu einem groszligen Teil bestimmt durch die raquoeigenartige mischung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwe-senheitlaquo3 ihres praumlgendsten Bestandteils der neuen macht der Vereinigten Staaten von Amerika doch auf diejenigen die die Gabe hatten diese tek-tonische Verschiebung wahrzunehmen uumlbte diese Aussicht eine sie gera-dezu gefangen nehmende Faszination aus

Im Winter 192829 gut zehn Jahre nach dem ende des Weltkriegs blickten drei mit solchem Gespuumlr fuumlr die Veraumlnderungen ausgestattete zeitgenossen zuruumlck auf das was geschehen war ndash Winston Churchill Adolf Hitler und Leo Trotzki Am Neujahrstag 1929 schloss Churchill damals Schatzkanzler unter dem konservativen Premierminister Stanley Baldwin den letzten Band seiner monumentalen Geschichte des ersten Weltkriegs ab The World Crisis ist der Titel des fuumlnfbaumlndigen Werkes The Aftermath der des letzten Bandes Wer die Buumlcher Churchills zum zwei-ten Weltkrieg kennt erlebt in diesem Band zur zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Uumlberraschung Churchill der nach 1945 vom raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Krieglaquo sprach um die langjaumlhrige Auseinandersetzung mit deutschland als eine historische einheit zu beschreiben schlug 1929 noch einen ganz anderen Ton an4 damals blickte er nicht mit grimmiger Resignation sondern mit einigem optimismus in die zukunft Aus den Graumlueln des Weltkriegs waren so schien es eine neue internationale ord-nung hervorgegangen und ein weltweiter Frieden der auf zwei groszligen Vertraumlgen ruhte dem europaumlischen Sicherheitspakt der im oktober 1925 in Locarno ausgehandelt (und im dezember in London unterzeichnet) worden war und dem im Winter 192122 auf der Washingtoner Konferenz geschlossenen Flottenabkommen der Seemaumlchte Groszligbritannien USA Japan Frankreich und Italien diese beiden Vertraumlge seien so Churchill raquozwillingspyramiden des Friedens die massiv und unerschuumltterlich auf-ragen hellip die Buumlndnistreue der fuumlhrenden Nationen der Welt und all ihrer Flotten und Heere einfordernlaquo Sie erst haumltten dem 1919 in Versailles un-vollendeten Frieden zu Substanz verholfen Sie erst haumltten dem Voumllker-bund der zunaumlchst nur ein weiszliges Blatt gewesen sei Konturen verliehen

13sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

man muumlsse in der Geschichte lange nach einer Parallele fuumlr ein solches Unterfangen suchen raquodie Hoffnunglaquo schrieb Churchill raquoruht nunmehr auf einer sichereren Grundlage hellip die Phase des zuruumlckschreckens vor den Graumlueln eines Krieges wird lange anhalten und in diesem gesegneten zeitraum koumlnnen die groszligen Nationen ihre Schritte in Richtung einer Weltorganisation in der Uumlberzeugung tun dass die Schwierigkeiten die ihnen noch bevorstehen nicht groumlszliger sein werden als jene die sie bereits uumlberwunden habenlaquo5

Weder Hitler noch Trotzki haumltten ihre Sicht auf die zukunft zehn Jahre nach dem Krieg in diese Begriffe gefasst der Kriegsveteran und gescheiterte Putschist Adolf Hitler der sich nun als Politiker versuchte aber gerade eine Reichstagswahl verloren hatte verhandelte 1928 mit sei-nen Verlegern uumlber einen Folgeband seines ersten Buches Mein Kampf dieser sollte seine Reden und Schriften seit 1924 enthalten da die Ver-kaufszahlen des erstlings 1928 jedoch ebenso enttaumluschend waren wie das Wahlergebnis ging dieses manuskript nie in den druck der Forschung ist es unter dem Titel raquoHitlers zweites Buchlaquo bekannt6 Auch Leo Trotzki hatte damals zeit zum Schreiben und Nachdenken denn er war nachdem er den machtkampf mit Stalin verloren hatte zunaumlchst nach Kasachstan und im Februar 1929 in die Tuumlrkei deportiert worden Von dort aus schrieb er weiterhin seinen fortlaufenden Kommentar zur Revolution die seit Lenins Tod im Jahr 1924 eine verheerende Wendung genommen hatte7 Churchill Trotzki und Hitler sind ein schlecht zusammenpassen-des um nicht zu sagen feindseliges dreigespann Schon allein sie in ei-nem Atemzug zu nennen mag manchem als Provokation erscheinen Sie sind nicht miteinander vergleichbar weder als Schriftsteller noch als Po-litiker noch als Intellektuelle und schon gar nicht in ihren moralischen Persoumlnlichkeiten desto mehr erstaunt es wie sehr sich ende der 1920er Jahre ihre Interpretationen der Weltpolitik wechselseitig ergaumlnzen

Hitler und Trotzki sahen denselben Tatsachen ins Auge wie Churchill Auch sie waren uumlberzeugt dass der erste Weltkrieg eine neue Phase der raquoordnung der Weltlaquo eingelaumlutet hatte Aber waumlhrend Churchill diese ent-wicklung freudig begruumlszligte bedrohte sie den kommunistischen Revolu-tionaumlr Trotzki wie den Nationalsozialisten Hitler mit nichts weniger als dem ende all ihrer Hoffnungen oberflaumlchlich mochten die Bestimmun-gen des Versailler Vertrags von 1919 die souveraumlne Selbstbestimmung foumlr-dern eine Vorstellung die im europaumlischen Spaumltmittelalter aufgekommen

14 EinlEitung

war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

15sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

16 EinlEitung

lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

18 EinlEitung

Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

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gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

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kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

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hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

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sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

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hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

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wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

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und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

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Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

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Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

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gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

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Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

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EinlEitungSintflut Eine neue Weltordnung entsteht

ende 1915 am morgen des ersten Weihnachtstags stellte sich der einstige Radikalliberale david Lloyd George nun britischer munitionsminister einer aufgebrachten menge von Gewerkschaftern in Glasgow er war ge-kommen um weitere einberufungen an die Front zu fordern und begruumln-dete das mit apokalyptischen Worten der Krieg warnte er seine zuhoumlrer werde die Welt voumlllig umgestalten raquoer ist die Sintflut er ist ein Aufbaumlumen der Natur hellip und bringt beispiellose Veraumlnderungen im gesellschaftlichen und industriellen Gefuumlge mit sich er ist ein zyklon der die zierpflanzen der modernen Gesellschaft samt Wurzel ausreiszligt hellip er ist ein erdbeben das selbst die Felsen des europaumlischen Lebens noch emporhebt er ist eine jener seismischen Stoumlrungen in deren Verlauf Nationen auf einen Schlag um Generationen nach vorn katapultiert oder zuruumlckgeworfen werdenlaquo1 Wie ein echo dieser Rede klangen die nicht einmal vier monate spaumlter auf der anderen Seite der Schuumltzengraumlben gesprochenen Worte des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg Am 5 April 1916 sechs Wo-chen nach Beginn der entsetzlichen Schlacht um Verdun erklaumlrte er im Reichstag ohne jede Beschoumlnigung raquoNun muss der Friede europas aus einer Flut von Blut und Traumlnen aus den Graumlbern von millionen erstehen zu unserer Verteidigung sind wir ausgezogen Aber das was war ist nicht mehr die Geschichte ist mit ehernen Schritten vorwaumlrts gegangen es gibt kein zuruumlcklaquo2 die Gewalt dieses Krieges war zu einer weltveraumlndernden Kraft geworden 1918 hatte der erste Weltkrieg die alten Reiche eurasiens zerschlagen das zarenreich das Habsburgerreich und das osmanische Reich In China tobte ein Buumlrgerkrieg Anfang der 1920er Jahre waren die Grenzen osteuropas und des Nahen ostens neu gezogen worden So dra-matisch und umstritten diese Veraumlnderungen schon fuumlr sich genommen waren erlangten sie ihre volle Bedeutung doch erst weil sie mit einem tieferen aber nicht so offensichtlichen Umbruch gekoppelt waren eine neue Weltordnung ging aus diesem Krieg hervor die trotz allem Gezaumlnk und nationalistischen Brimborium der neuen Staaten die Hoffnung auf

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eine grundlegende Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Groszlig-maumlchten ndash Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland Russ-land und den Vereinigten Staaten ndash weckte es bedurfte einiger geostrate-gischer und historischer Vorstellungskraft um das Ausmaszlig und die Bedeutung dieser Veraumlnderung des machtgefuumlges zu erkennen die entste-hende neue ordnung wurde zu einem groszligen Teil bestimmt durch die raquoeigenartige mischung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwe-senheitlaquo3 ihres praumlgendsten Bestandteils der neuen macht der Vereinigten Staaten von Amerika doch auf diejenigen die die Gabe hatten diese tek-tonische Verschiebung wahrzunehmen uumlbte diese Aussicht eine sie gera-dezu gefangen nehmende Faszination aus

Im Winter 192829 gut zehn Jahre nach dem ende des Weltkriegs blickten drei mit solchem Gespuumlr fuumlr die Veraumlnderungen ausgestattete zeitgenossen zuruumlck auf das was geschehen war ndash Winston Churchill Adolf Hitler und Leo Trotzki Am Neujahrstag 1929 schloss Churchill damals Schatzkanzler unter dem konservativen Premierminister Stanley Baldwin den letzten Band seiner monumentalen Geschichte des ersten Weltkriegs ab The World Crisis ist der Titel des fuumlnfbaumlndigen Werkes The Aftermath der des letzten Bandes Wer die Buumlcher Churchills zum zwei-ten Weltkrieg kennt erlebt in diesem Band zur zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Uumlberraschung Churchill der nach 1945 vom raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Krieglaquo sprach um die langjaumlhrige Auseinandersetzung mit deutschland als eine historische einheit zu beschreiben schlug 1929 noch einen ganz anderen Ton an4 damals blickte er nicht mit grimmiger Resignation sondern mit einigem optimismus in die zukunft Aus den Graumlueln des Weltkriegs waren so schien es eine neue internationale ord-nung hervorgegangen und ein weltweiter Frieden der auf zwei groszligen Vertraumlgen ruhte dem europaumlischen Sicherheitspakt der im oktober 1925 in Locarno ausgehandelt (und im dezember in London unterzeichnet) worden war und dem im Winter 192122 auf der Washingtoner Konferenz geschlossenen Flottenabkommen der Seemaumlchte Groszligbritannien USA Japan Frankreich und Italien diese beiden Vertraumlge seien so Churchill raquozwillingspyramiden des Friedens die massiv und unerschuumltterlich auf-ragen hellip die Buumlndnistreue der fuumlhrenden Nationen der Welt und all ihrer Flotten und Heere einfordernlaquo Sie erst haumltten dem 1919 in Versailles un-vollendeten Frieden zu Substanz verholfen Sie erst haumltten dem Voumllker-bund der zunaumlchst nur ein weiszliges Blatt gewesen sei Konturen verliehen

13sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

man muumlsse in der Geschichte lange nach einer Parallele fuumlr ein solches Unterfangen suchen raquodie Hoffnunglaquo schrieb Churchill raquoruht nunmehr auf einer sichereren Grundlage hellip die Phase des zuruumlckschreckens vor den Graumlueln eines Krieges wird lange anhalten und in diesem gesegneten zeitraum koumlnnen die groszligen Nationen ihre Schritte in Richtung einer Weltorganisation in der Uumlberzeugung tun dass die Schwierigkeiten die ihnen noch bevorstehen nicht groumlszliger sein werden als jene die sie bereits uumlberwunden habenlaquo5

Weder Hitler noch Trotzki haumltten ihre Sicht auf die zukunft zehn Jahre nach dem Krieg in diese Begriffe gefasst der Kriegsveteran und gescheiterte Putschist Adolf Hitler der sich nun als Politiker versuchte aber gerade eine Reichstagswahl verloren hatte verhandelte 1928 mit sei-nen Verlegern uumlber einen Folgeband seines ersten Buches Mein Kampf dieser sollte seine Reden und Schriften seit 1924 enthalten da die Ver-kaufszahlen des erstlings 1928 jedoch ebenso enttaumluschend waren wie das Wahlergebnis ging dieses manuskript nie in den druck der Forschung ist es unter dem Titel raquoHitlers zweites Buchlaquo bekannt6 Auch Leo Trotzki hatte damals zeit zum Schreiben und Nachdenken denn er war nachdem er den machtkampf mit Stalin verloren hatte zunaumlchst nach Kasachstan und im Februar 1929 in die Tuumlrkei deportiert worden Von dort aus schrieb er weiterhin seinen fortlaufenden Kommentar zur Revolution die seit Lenins Tod im Jahr 1924 eine verheerende Wendung genommen hatte7 Churchill Trotzki und Hitler sind ein schlecht zusammenpassen-des um nicht zu sagen feindseliges dreigespann Schon allein sie in ei-nem Atemzug zu nennen mag manchem als Provokation erscheinen Sie sind nicht miteinander vergleichbar weder als Schriftsteller noch als Po-litiker noch als Intellektuelle und schon gar nicht in ihren moralischen Persoumlnlichkeiten desto mehr erstaunt es wie sehr sich ende der 1920er Jahre ihre Interpretationen der Weltpolitik wechselseitig ergaumlnzen

Hitler und Trotzki sahen denselben Tatsachen ins Auge wie Churchill Auch sie waren uumlberzeugt dass der erste Weltkrieg eine neue Phase der raquoordnung der Weltlaquo eingelaumlutet hatte Aber waumlhrend Churchill diese ent-wicklung freudig begruumlszligte bedrohte sie den kommunistischen Revolu-tionaumlr Trotzki wie den Nationalsozialisten Hitler mit nichts weniger als dem ende all ihrer Hoffnungen oberflaumlchlich mochten die Bestimmun-gen des Versailler Vertrags von 1919 die souveraumlne Selbstbestimmung foumlr-dern eine Vorstellung die im europaumlischen Spaumltmittelalter aufgekommen

14 EinlEitung

war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

15sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

16 EinlEitung

lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

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I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

18 EinlEitung

Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

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gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

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kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

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sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

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hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

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wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

42 EinlEitung

beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

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Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

52 i DiE KrisE EurasiEns

gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

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Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

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eine grundlegende Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Groszlig-maumlchten ndash Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland Russ-land und den Vereinigten Staaten ndash weckte es bedurfte einiger geostrate-gischer und historischer Vorstellungskraft um das Ausmaszlig und die Bedeutung dieser Veraumlnderung des machtgefuumlges zu erkennen die entste-hende neue ordnung wurde zu einem groszligen Teil bestimmt durch die raquoeigenartige mischung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwe-senheitlaquo3 ihres praumlgendsten Bestandteils der neuen macht der Vereinigten Staaten von Amerika doch auf diejenigen die die Gabe hatten diese tek-tonische Verschiebung wahrzunehmen uumlbte diese Aussicht eine sie gera-dezu gefangen nehmende Faszination aus

Im Winter 192829 gut zehn Jahre nach dem ende des Weltkriegs blickten drei mit solchem Gespuumlr fuumlr die Veraumlnderungen ausgestattete zeitgenossen zuruumlck auf das was geschehen war ndash Winston Churchill Adolf Hitler und Leo Trotzki Am Neujahrstag 1929 schloss Churchill damals Schatzkanzler unter dem konservativen Premierminister Stanley Baldwin den letzten Band seiner monumentalen Geschichte des ersten Weltkriegs ab The World Crisis ist der Titel des fuumlnfbaumlndigen Werkes The Aftermath der des letzten Bandes Wer die Buumlcher Churchills zum zwei-ten Weltkrieg kennt erlebt in diesem Band zur zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Uumlberraschung Churchill der nach 1945 vom raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Krieglaquo sprach um die langjaumlhrige Auseinandersetzung mit deutschland als eine historische einheit zu beschreiben schlug 1929 noch einen ganz anderen Ton an4 damals blickte er nicht mit grimmiger Resignation sondern mit einigem optimismus in die zukunft Aus den Graumlueln des Weltkriegs waren so schien es eine neue internationale ord-nung hervorgegangen und ein weltweiter Frieden der auf zwei groszligen Vertraumlgen ruhte dem europaumlischen Sicherheitspakt der im oktober 1925 in Locarno ausgehandelt (und im dezember in London unterzeichnet) worden war und dem im Winter 192122 auf der Washingtoner Konferenz geschlossenen Flottenabkommen der Seemaumlchte Groszligbritannien USA Japan Frankreich und Italien diese beiden Vertraumlge seien so Churchill raquozwillingspyramiden des Friedens die massiv und unerschuumltterlich auf-ragen hellip die Buumlndnistreue der fuumlhrenden Nationen der Welt und all ihrer Flotten und Heere einfordernlaquo Sie erst haumltten dem 1919 in Versailles un-vollendeten Frieden zu Substanz verholfen Sie erst haumltten dem Voumllker-bund der zunaumlchst nur ein weiszliges Blatt gewesen sei Konturen verliehen

13sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

man muumlsse in der Geschichte lange nach einer Parallele fuumlr ein solches Unterfangen suchen raquodie Hoffnunglaquo schrieb Churchill raquoruht nunmehr auf einer sichereren Grundlage hellip die Phase des zuruumlckschreckens vor den Graumlueln eines Krieges wird lange anhalten und in diesem gesegneten zeitraum koumlnnen die groszligen Nationen ihre Schritte in Richtung einer Weltorganisation in der Uumlberzeugung tun dass die Schwierigkeiten die ihnen noch bevorstehen nicht groumlszliger sein werden als jene die sie bereits uumlberwunden habenlaquo5

Weder Hitler noch Trotzki haumltten ihre Sicht auf die zukunft zehn Jahre nach dem Krieg in diese Begriffe gefasst der Kriegsveteran und gescheiterte Putschist Adolf Hitler der sich nun als Politiker versuchte aber gerade eine Reichstagswahl verloren hatte verhandelte 1928 mit sei-nen Verlegern uumlber einen Folgeband seines ersten Buches Mein Kampf dieser sollte seine Reden und Schriften seit 1924 enthalten da die Ver-kaufszahlen des erstlings 1928 jedoch ebenso enttaumluschend waren wie das Wahlergebnis ging dieses manuskript nie in den druck der Forschung ist es unter dem Titel raquoHitlers zweites Buchlaquo bekannt6 Auch Leo Trotzki hatte damals zeit zum Schreiben und Nachdenken denn er war nachdem er den machtkampf mit Stalin verloren hatte zunaumlchst nach Kasachstan und im Februar 1929 in die Tuumlrkei deportiert worden Von dort aus schrieb er weiterhin seinen fortlaufenden Kommentar zur Revolution die seit Lenins Tod im Jahr 1924 eine verheerende Wendung genommen hatte7 Churchill Trotzki und Hitler sind ein schlecht zusammenpassen-des um nicht zu sagen feindseliges dreigespann Schon allein sie in ei-nem Atemzug zu nennen mag manchem als Provokation erscheinen Sie sind nicht miteinander vergleichbar weder als Schriftsteller noch als Po-litiker noch als Intellektuelle und schon gar nicht in ihren moralischen Persoumlnlichkeiten desto mehr erstaunt es wie sehr sich ende der 1920er Jahre ihre Interpretationen der Weltpolitik wechselseitig ergaumlnzen

Hitler und Trotzki sahen denselben Tatsachen ins Auge wie Churchill Auch sie waren uumlberzeugt dass der erste Weltkrieg eine neue Phase der raquoordnung der Weltlaquo eingelaumlutet hatte Aber waumlhrend Churchill diese ent-wicklung freudig begruumlszligte bedrohte sie den kommunistischen Revolu-tionaumlr Trotzki wie den Nationalsozialisten Hitler mit nichts weniger als dem ende all ihrer Hoffnungen oberflaumlchlich mochten die Bestimmun-gen des Versailler Vertrags von 1919 die souveraumlne Selbstbestimmung foumlr-dern eine Vorstellung die im europaumlischen Spaumltmittelalter aufgekommen

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war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

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Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

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lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

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Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

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moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

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gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

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kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

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hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

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sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

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hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

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wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

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gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

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Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

59ein Krieg in der schWebe

werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

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13sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

man muumlsse in der Geschichte lange nach einer Parallele fuumlr ein solches Unterfangen suchen raquodie Hoffnunglaquo schrieb Churchill raquoruht nunmehr auf einer sichereren Grundlage hellip die Phase des zuruumlckschreckens vor den Graumlueln eines Krieges wird lange anhalten und in diesem gesegneten zeitraum koumlnnen die groszligen Nationen ihre Schritte in Richtung einer Weltorganisation in der Uumlberzeugung tun dass die Schwierigkeiten die ihnen noch bevorstehen nicht groumlszliger sein werden als jene die sie bereits uumlberwunden habenlaquo5

Weder Hitler noch Trotzki haumltten ihre Sicht auf die zukunft zehn Jahre nach dem Krieg in diese Begriffe gefasst der Kriegsveteran und gescheiterte Putschist Adolf Hitler der sich nun als Politiker versuchte aber gerade eine Reichstagswahl verloren hatte verhandelte 1928 mit sei-nen Verlegern uumlber einen Folgeband seines ersten Buches Mein Kampf dieser sollte seine Reden und Schriften seit 1924 enthalten da die Ver-kaufszahlen des erstlings 1928 jedoch ebenso enttaumluschend waren wie das Wahlergebnis ging dieses manuskript nie in den druck der Forschung ist es unter dem Titel raquoHitlers zweites Buchlaquo bekannt6 Auch Leo Trotzki hatte damals zeit zum Schreiben und Nachdenken denn er war nachdem er den machtkampf mit Stalin verloren hatte zunaumlchst nach Kasachstan und im Februar 1929 in die Tuumlrkei deportiert worden Von dort aus schrieb er weiterhin seinen fortlaufenden Kommentar zur Revolution die seit Lenins Tod im Jahr 1924 eine verheerende Wendung genommen hatte7 Churchill Trotzki und Hitler sind ein schlecht zusammenpassen-des um nicht zu sagen feindseliges dreigespann Schon allein sie in ei-nem Atemzug zu nennen mag manchem als Provokation erscheinen Sie sind nicht miteinander vergleichbar weder als Schriftsteller noch als Po-litiker noch als Intellektuelle und schon gar nicht in ihren moralischen Persoumlnlichkeiten desto mehr erstaunt es wie sehr sich ende der 1920er Jahre ihre Interpretationen der Weltpolitik wechselseitig ergaumlnzen

Hitler und Trotzki sahen denselben Tatsachen ins Auge wie Churchill Auch sie waren uumlberzeugt dass der erste Weltkrieg eine neue Phase der raquoordnung der Weltlaquo eingelaumlutet hatte Aber waumlhrend Churchill diese ent-wicklung freudig begruumlszligte bedrohte sie den kommunistischen Revolu-tionaumlr Trotzki wie den Nationalsozialisten Hitler mit nichts weniger als dem ende all ihrer Hoffnungen oberflaumlchlich mochten die Bestimmun-gen des Versailler Vertrags von 1919 die souveraumlne Selbstbestimmung foumlr-dern eine Vorstellung die im europaumlischen Spaumltmittelalter aufgekommen

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war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

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Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

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lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

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I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

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Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

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moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

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gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

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kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

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hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

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sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

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hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

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wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

29sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

40 EinlEitung

Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

41sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

42 EinlEitung

beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

48 i DiE KrisE EurasiEns

dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

52 i DiE KrisE EurasiEns

gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

55ein Krieg in der schWebe

Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

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14 EinlEitung

war Im 19 Jahrhundert hatte diese Idee Pate gestanden bei der Gruumln-dung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vereinigung Italiens sowie deutschlands Nun hatte diese Souveraumlnitaumltsvorstellung sogar die Auf loumlsung des osmanischen Reiches des Russischen Reiches und des Habsburgerreichs bewirkt Aber obwohl die zahl der Souveraumlne kraumlftig wuchs wurde der Inhalt der Idee ausgehoumlhlt8 Unwiderruflich hatte der Weltkrieg alle kriegfuumlhrenden Laumlnder europas geschwaumlcht auch die staumlrksten und selbst die Siegermaumlchte dass die franzoumlsische Republik ihren Triumph uumlber deutschland 1919 in Versailles dem Palast des Son-nenkoumlnigs feierte konnte nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass Frank-reich nicht laumlnger den Rang einer Weltmacht beanspruchen konnte der Kriegsverlauf hatte das bestaumltigt Und die kleineren Nationalstaaten die im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts entstanden waren verban-den mit dem Krieg noch traumatischere erlebnisse Belgien Bulgarien Rumauml nien Ungarn und Serbien drohte zwischen 1914 und 1919 als das Kriegsgluumlck sich mal der einen mal der anderen Seite zuneigte mehrfach die Ausloumlschung Anno 1900 hatte der deutsche Kaiser groszligspurig einen Platz auf der Buumlhne der Weltpolitik beansprucht zwanzig Jahre danach bedeutete deutsche Auszligenpolitik zank mit Polen um die Grenzen Schle-siens ndash ein Streit der von einem japanischen Grafen geschlichtet wurde Statt zum Akteur war deutschland zum Gegenstand der Weltpolitik ge-worden Italien war auf der Seite der Sieger in den Krieg einge treten aber trotz der feierlichen Versprechungen seiner Verbuumlndeten bestaumltigte der Frieden nur das Gefuumlhl der zweitrangigkeit Wenn es in europa einen Sieger gab so war es Groszligbritannien deshalb auch Churchills relativ ro-sige einschaumltzung Allerdings hatte es sich nicht als europaumlische macht behauptet sondern an der Spitze eines weltumspannenden Imperiums Fuumlr die zeitgenossen bestaumltigte der eindruck dass das Britische empire noch vergleichsweise glimpflich davongekommen war lediglich die Schlussfolgerung dass das europaumlische zeitalter zu ende war In einem zeitalter der Weltmacht war europa in politischer militaumlrischer und wirtschaftlicher Hinsicht unwiderruflich zur Provinzialitaumlt herabgestuft worden9

die einzige Nation die augenscheinlich unbeschadet und um ein Vielfaches maumlchtiger aus dem Krieg hervorging waren die Vereinigten Staaten Ihre dominanz war in der Tat so uumlberwaumlltigend dass man mei-nen konnte es stelle sich die Frage die im 17 Jahrhundert aus der

15sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

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lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

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Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

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gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

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kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

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0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

24 EinlEitung

hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

25sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

35sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

37sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

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gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

55ein Krieg in der schWebe

Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

Page 11: AdAm Tooze

15sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Geschichte europas verdraumlngt worden war wieder Waren die Vereinigten Staaten ein universales weltumspannendes Reich vergleichbar dem das die katholischen Habsburger einst zu errichten drohten diese Frage uumlberschattete das ganze folgende Jahrhundert10 Bereits mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki den eindruck dass sich das raquobalkanisierte europalaquo gegenuumlber den Vereinigten Staaten in der gleichen Lage befinde wie in der Vorkriegszeit die Laumlnder Suumldosteuropas gegenuumlber Paris und London11 Sie besaszligen zwar die Insignien der Souveraumlnitaumlt aber nicht die Sache selbst Sofern es den politischen Fuumlhrern europas nicht gelinge ihre Be-voumllkerungen aus der uumlblichen raquopolitischen Gedankenlosigkeitlaquo zu reiszligen warnte Hitler im Jahr 1928 werde es nicht gelingen raquoeiner drohenden Welthegemonie des nordamerikanischen Kontinents vorzubeugenlaquo was die europaumlischen Staaten allesamt auf den Status der Schweiz oder der Niederlande degradieren wuumlrde12 Von Whitehall aus betrachtet hatte Churchill die Kraft dieser Uumlberzeugung nicht als spekulative zukunfts-vision sondern ganz konkret als praktische Realitaumlt der macht gespuumlrt die britischen Regierungen der 1920er Jahre mussten sich wie wir sehen werden immer wieder mit der schmerzlichen Tatsache auseinanderset-zen dass die Vereinigten Staaten eine macht ganz neuen Ausmaszliges wa-ren Sie hatten sich auf einmal als ein neuartiger raquoUumlberstaatlaquo entpuppt der ein Vetorecht uumlber die finan ziellen und sicherheitspolitischen Inter-essen der anderen maumlchte ausuumlbte

die entstehung dieser neuen Weltordnung nachzuzeichnen ist das zentrale Anliegen dieses Buches es verlangt eine besondere Vorgehens-weise weil sich Amerikas macht auf eine merkwuumlrdige Weise aumluszligerte zu Beginn des 20 Jahrhunderts legte die amerikanische Fuumlhrung keinen son-derlichen Wert darauf sich jenseits der groszligen Schifffahrtsrouten als mi-litaumlrmacht zu praumlsentieren Ihr einfluss machte sich haumlufig indirekt und in Form latenter Kraft bemerkbar statt durch unmittelbare und offen-sichtliche Praumlsenz Nichtsdestotrotz war diese Kraft real Im mittelpunkt dieses Buches steht die Frage wie die Welt sich mit der neuen Schluumlssel-rolle der USA arrangierte einer Schluumlsselrolle die ihren Ausdruck fand im Kampf um die etablierung einer neuen ordnung dieser Kampf wurde stets auf mehreren ebenen gefuumlhrt auf der wirtschaftlichen der militaumlri-schen und der politischen Begonnen hatte diese Auseinandersetzung schon mitten im Krieg und sie erstreckte sich bis weit hinein in die 1920er Jahre es ist wichtig sich ein korrektes Bild dieser historischen entwick-

16 EinlEitung

lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

18 EinlEitung

Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

20 EinlEitung

gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

21sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

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0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

24 EinlEitung

hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

25sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

29sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

40 EinlEitung

Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

41sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

42 EinlEitung

beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

48 i DiE KrisE EurasiEns

dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

52 i DiE KrisE EurasiEns

gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

55ein Krieg in der schWebe

Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

Page 12: AdAm Tooze

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lung zu verschaffen um die Urspruumlnge der sogenannten Pax Americana zu verstehen die noch heute die Welt definiert Auch die gewaltige zweite Phase des raquozweiten dreiszligigjaumlhrigen Kriegeslaquo auf den Churchill 1945 zu-ruumlckblickte ist nur vor diesem Hintergrund zu begreifen13 die spektaku-laumlre eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren zeugt von dem Glauben derer die den neuen Status quo nicht akzeptierten dass sie es mit einer neuartigen bedrohlichen Kraft zu tun hatten ndash mit der be-fuumlrchteten kuumlnftigen dominanz der amerikanischen kapitalistischen de-mokratie eben diese war es die Hitler Stalin die italienischen Faschisten und ihr japanisches Pendant zu so radikalen Taten veranlasste Ihren haumlu-fig unsichtbaren nicht zu greifenden Gegnern schrieben sie konspirative Absichten zu und witterten ein die ganze Welt umspannendes boumlsartigen Netz der einflussnahme das waren zum groszligen Teil Wahnvorstellungen doch um zu begreifen wie die ultra gewalttaumltige Politik der zwischen-kriegszeit auf dem Boden des ersten Weltkriegs und seinen Folgen ent-standen ist muss diese dialektische Beziehung zwischen ordnung und Auflehnung ernst nehmen man erfasst Bewegungen wie den Faschismus oder den Sowjetkommunismus nur sehr unzureichend wenn man sie als bekannte Aumluszligerungen der rassistisch-imperialistischen Stroumlmungen der modernen europaumlischen Geschichte verbucht oder ihre Geschichte vom Houmlhepunkt der eskalation in den Jahren 1940 bis 1942 aus ruumlckwaumlrts er-zaumlhlt als sie in ganz europa und Asien siegreich wuumlteten und ihnen die zukunft zu gehoumlren schien Welch anheimelnde Wunschbilder ihre An-haumlnger auf sie auch projiziert haben moumlgen die Fuumlhrer des faschistischen Italien des nationalsozialistischen deutschland des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt fuumlr radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung Trotz all ihres Groszligsprecher-tums in den 1930er Jahren hielten sie die Westmaumlchte im Grunde nicht fuumlr schwach sondern fuumlr faul und scheinheilig Hinter einer Fassade aus mo-ral und grenzenlosem optimismus verbargen die Westmaumlchte die massive Staumlrke dank derer sie das deutsche Kaiserreich zerschlagen hatten und eine dauerhafte Hegemonie zu errichten drohten Gegen die laumlhmende Vorstellung vom ende der Geschichte half nur eine beispiellose Anstren-gung die zudem mit ungeheuren Risiken verbunden war14 das war die furchteinfloumlszligende Lektion die die Rebellen gegen den Status quo aus dem Gang der Weltgeschichte von 1916 bis 1931 zogen ndash aus der Geschichte von der dieses Buch erzaumlhlt

17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

18 EinlEitung

Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

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gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

21sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

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400 000

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0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

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hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

25sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

27sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

41sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

42 EinlEitung

beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

52 i DiE KrisE EurasiEns

gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

55ein Krieg in der schWebe

Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

56 i DiE KrisE EurasiEns

dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

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17sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

I

Was waren die wesentlichen Bausteine dieser neuen ordnung die ihren potenziellen Gegnern so beaumlngstigend vorkam Nach allgemeiner mei-nung waren dies drei elemente moralische Autoritaumlt gestuumltzt auf militauml-rische macht und wirtschaftliche Uumlberlegenheit

der erste Weltkrieg der in den Augen vieler Teilnehmer als ein Auf-einanderprallen von Reichen also als ein klassischer Krieg zwischen Groszligmaumlchten begonnen hatte endete als ein moralisch wie politisch viel staumlrker aufgeladenes Unterfangen als ein historischer Sieg einer Koali-tion die sich selbst zur Verfechterin einer neuen Weltordnung ausgerufen hatte15 mit einem amerikanischen Praumlsidenten an der Spitze fuumlhrte sie raquoKrieg um alle Kriege zu beendenlaquo und gewann diesen Krieg um die Herrschaft des Voumllkerrechts zu wahren und Autokratie und militarismus zu stuumlrzen ein japanischer Augenzeuge bemerkte dazu raquodie Kapitula-tion deutschlands hat den militarismus und den Buumlrokratismus von Grund auf in Frage gestellt Als natuumlrliche Konsequenz hat die Politik die sich auf das Volk stuumltzt die den Willen des Volkes wiedergibt naumlmlich die demokratie (minponshugi) wie ein Himmelsstuumlrmer das denken der ganzen Welt erobertlaquo16 Churchill waumlhlte folgendes Bild um die neue ordnung zu beschreiben raquodie zwillingspyramiden des Friedens ragen fest und unerschuumltterlich auflaquo Pyramiden sind vor allem eins Stein ge-wordene zeugnisse der Vereinigung von spiritueller und materieller macht Sie versinnbildlichten fuumlr Churchill auf schlagende Weise die hee-ren Vorstellungen die seine zeitgenossen mit diesem Projekt der zivili-sierung zwischenstaatlicher Gewalt verbanden Trotzki beschrieb die Welt wie immer deutlich nuumlchterner Wenn Innenpolitik und interna tionale Beziehungen tatsaumlchlich nicht laumlnger voneinander zu trennen waren so lieszligen sich beide zumindest in seinen Augen auf eine einzige Logik re-duzieren das raquoganze politische Lebenlaquo selbst von Staaten wie Frank-reich Italien und deutschland bis hin zum raquoWechsel der Parteien und Regierungen wird letzten endes durch den Willen des amerikanischen Kapitals bestimmt werden helliplaquo17 mit dem ihm eigenen sarkastischen Hu-mor beschwor Trotzki nicht die ehrfurcht gebietenden Pyramiden herauf sondern eine Komoumldie in der Chicagoer Fleischhaumlndler Provinzsenato-ren und Hersteller von Kondensmilch einem Regierungschef Frankreichs einem britischen Auszligenminister oder einem italienischen diktator einen

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Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

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gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

21sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

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hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

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hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

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wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

48 i DiE KrisE EurasiEns

dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

52 i DiE KrisE EurasiEns

gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

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Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

67ein Krieg in der schWebe

Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

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18 EinlEitung

Vortrag uumlber die Tugenden der Abruumlstung und des Weltfriedens hielten das waren die ungehobelten Herolde des amerikanischen Strebens nach raquoWeltherrschaftlaquo mit seinem internationalistischen ethos von Frieden Fortschritt und Profit18

So unpassend sie auch in der Form gewesen sein moumlgen diese mora-lisierung und Politisierung der internationalen Beziehungen waren ein hochriskantes Spiel Seit den Religionskriegen im 17 Jahrhundert hatte sich die Auffassung durchgesetzt in der internationalen Politik und dem Voumllkerrecht streng zwischen Auszligen- und Innenpolitik zu trennen mora-lische Bewertungen und nationale Rechtsvorstellungen hatten keinen Platz in der Welt der Groszligmachtdiplomatie und der Kriege Indem die Architekten der neuen raquoWeltordnunglaquo diese Grenze uumlberschritten spiel-ten sie ganz bewusst das Spiel von Revolutionaumlren Genaugenommen war seit 1917 die revolutionaumlre Absicht immer deutlicher zum Ausdruck ge-bracht worden ein Regimewechsel war zur Voraussetzung fuumlr Waffen-stillstandsverhandlungen geworden der Versailler Vertrag schrieb die Kriegsschuld fest und stempelte den Kaiser zum Verbrecher Und die Rei-che der osmanen und der Habsburger waren von Woodrow Wilson und der entente laumlngst zum Tod verurteilt worden ende der 1920er Jahre war wie wir sehen werden der raquoAggressionskrieglaquo ganz generell geaumlchtet wor-den Aber so ansprechend diese liberalen Grundsaumltze gewesen sein moch-ten sie warfen grundlegende Fragen auf Was gab den Siegermaumlchten das Recht das Gesetz in dieser Form festzulegen Gestaltete macht das Recht Wie hoch war ihr einsatz gewesen damit sie recht bekamen Konnten Anspruumlche dieser Art ein dauerhaftes Fundament fuumlr eine internationale ordnung sein So schrecklich auch die Vorstellung war einen weiteren Krieg in erwaumlgung zu ziehen bedeutete die Aus rufung eines ewigen Frie-dens nicht eine zutiefst konservative Festlegung auf die Bewahrung des Status quo ganz unabhaumlngig von dessen Recht maumlszligigkeit Churchill konnte sich seinen optimismus leisten Sein Land zaumlhlte seit langem zu den erfolgreichsten Verfechtern einer internationalen moral und des Voumll-kerrechts Aber was wenn man sich wie ein deutscher Historiker in den 1920er Jahren schrieb unter den entrechteten und raquoGeschlagenenlaquo wie-derfindet unter den niederen Spezies in der neuen ordnung als raquoFella-chenstaatlaquo im Schatten der Friedenspyramiden19

Fuumlr wahre Konservative lautete die einzig befriedigende Antwort die zeit zuruumlckdrehen Nach ihrer Auffassung sollte der liberale Trend zum

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

20 EinlEitung

gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

21sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

24 EinlEitung

hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

25sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

26 EinlEitung

Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

27sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

28 EinlEitung

Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

29sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

31sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

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Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

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kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

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und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

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der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

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Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

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Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

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gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

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Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

63ein Krieg in der schWebe

Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

64 i DiE KrisE EurasiEns

Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

66 i DiE KrisE EurasiEns

erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

67ein Krieg in der schWebe

Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

70 i DiE KrisE EurasiEns

I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

Page 15: AdAm Tooze

19sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

moralisch aufgeladenen uumlberstaatlichen zusammenschluss umgekehrt werden die internationale Politik sollte wieder fuszligen auf dem in ideali-sierten Farben gemalten Bild des Jus Publicum Europaeum in dem die europaumlischen Herrscherhaumluser in einer wertfreien nicht hierarchischen Anarchie Seite an Seite lebten20 doch das war nicht nur eine Geschichts-verklaumlrung die wenig mit der Realitaumlt der internationalen Politik im 18 und 19 Jahrhundert zu tun hatte es lieszlig auch die Kraumlfte auszliger Acht von denen Bethmann Hollweg im Fruumlhjahr 1916 vor dem Reichstag gespro-chen hatte Nach diesem Krieg gab es kein zuruumlck21 die wahren Alterna-tiven waren weit radikaler entweder eine neue Form des Konformismus oder ein Aufstand in der Art wie ihn Benito mussolini unmittelbar nach dem Krieg anzettelte In mailand rief er im maumlrz 1919 die Faschistische Bewegung ins Leben die sich gegen die entstehende neue ordnung rich-tete mussolini diffamierte diese als raquoeinen pathetischen rsaquoBetruglsaquo der Rei-chenlaquo ndash damit meinte er Groszligbritannien Frankreich und die Vereinigten Staaten ndash raquoan den proletarischen Nationenlaquo ndash sprich Italien ndash raquoum die jetzigen Bedingungen des weltweiten Gleichgewichts fuumlr immer und ewig festzuschreiben helliplaquo22 Anstelle einer Ruumlckkehr zu einem imaginaumlren an-cien reacutegime versprach er eine weitere Stufe der eskalation mit dieser Art der Politisierung der internationalen Beziehungen zeigte sich auch wieder das haumlssliche Gesicht unversoumlhnlicher Wertkonflikte das sowohl die Re-ligionskriege des 17 Jahrhunderts als auch die revolutionaumlren Kriege ende des 18 Jahrhunderts so toumldlich hatte werden lassen Angesichts der Schre-cken des ersten Weltkriegs gab es nur zwei moumlglichkeiten entweder ein dauerhafter Frieden oder ein noch radikalerer Krieg als der letzte

die Gefahr einer solchen Konfrontation war eindeutig gegeben aber das damit verbundene Risiko hing nicht allein von der geschuumlrten Ver-bitterung oder den sich bekaumlmpfenden Ideologien ab Letztlich hingen die Risiken die mit dem Versuch verbunden waren eine neue internati-onale ordnung zu schaffen und zu bewahren von der Glaubwuumlrdigkeit der ethischen Prinzipien ab die eingefuumlhrt werden sollten und davon ob diese Prinzipien aus sich selbst heraus allgemein akzeptiert wuumlrden sowie von der Kraft die zu ihrer Unterstuumltzung aufgeboten wurde Nach 1945 als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich im Kalten Krieg feindlich gegenuumlberstanden wurde die Welt zeugin einer bis zum Aumluszligersten getriebenen Logik der Auseinandersetzung zwei globale Buumlndnissysteme mit selbstbewusst widerstreitenden Ideologien und

20 EinlEitung

gigantischen Atomwaffenarsenalen bedrohten die menschheit mit dem Gleichgewicht des Schreckens die Jahre 191819 erscheinen vielen His-torikern als ein Vorlaumlufer des Kalten Krieges wobei sich Wilson angeblich Lenin entgegenstellte Aber diese Analogie so plausibel sie klingen mag fuumlhrt in die Irre weil nichts an der Situation des Jahres 1919 mit der Sym-metrie von 1945 vergleichbar gewesen waumlre23 Im November 1918 lag nicht nur deutschland am Boden sondern auch Russland das Kraumlfteverhaumllt-nis von 1919 aumlhnelte viel staumlrker dem einseitigen zustand von 1989 als der geteilten Welt von 1945 Wenn die Idee die Welt um einen einzigen machtblock und eine Reihe liberaler raquowestlicherlaquo Werte neu zu ordnen wie eine radikale Neuerung erschien so macht gerade das den Ausgang des ersten Weltkriegs so dramatisch

die Niederlage von 1918 war fuumlr die mittelmaumlchte desto bitterer weil die militaumlrische Initiative im Verlauf des Krieges mehrfach gewechselt hatte durch eine bemerkenswerte Stabsarbeit war es den Generaumllen des Kaisers wiederholt gelungen vor ort eine Uumlberlegenheit herzustellen und mit einem entscheidenden durchbruch zu drohen im Jahr 1915 in Polen bei Verdun 1916 an der italienischen Front im Herbst 1917 an der West-front selbst noch im Fruumlhjahr 1918 doch diese dramatischen momentauf-nahmen duumlrfen nicht davon ablenken dass sich die mittelmaumlchte nur gegen Russland tatsaumlchlich durchsetzten An der Westfront erlebten sie vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1918 eine enttaumluschung nach der an-deren ndash nicht zuletzt aufgrund der Groumlszlige des einsatzes militaumlrischen ma-terials Seit dem Sommer 1916 als die britische Armee eine gigantische transatlantische Nachschublinie auf den europaumlischen Schlachtfeldern einsetzte war es nur eine Frage der zeit bis jede von den mittelmaumlchten errichtete Uumlberlegenheit vor ort in ihr Gegenteil umschlug Sie wurden in einem zermuumlrbungskrieg aufgerieben obwohl noch in den letzten Tagen des Krieges im oktober 1918 eine duumlnne Kruste des Widerstands existierte war dann der zusammenbruch fast total Als die Groszligmaumlchte sich in Versailles zu einer Weltkonferenz von noch nie dagewesenen Aus-maszligen trafen waren deutschland und seine Verbuumlndeten am Boden zer-stoumlrt In den kommenden monaten wurden ihre einst stolzen Heere auf-geloumlst Frankreich und seine Verbuumlndeten in mittel- und osteuropa waren nun die Herren der europaumlischen Buumlhne aber damit hatte wie den Franzosen schmerzlich bewusst war der Prozess der Neuordnung erst begonnen Am dritten Jahrestag des Waffenstillstands im November 1921

21sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kam in Washington zum ersten mal ein exklusiver Klub von Regierungs-chefs zusammen und akzeptierte eine auf beispiellose Weise von Amerika bestimmte Weltordnung die Waumlhrung mit der auf dieser Flottenkonfe-renz in Washington macht gemessen wurde war die Anzahl der Schlacht-schiffe die wie Trotzki spoumlttisch kommentierte in raquoRationenlaquo zugeteilt wurden24 Hier war von der doppeldeutigkeit des Versailler Friedens nichts zu sehen geschweige denn von den nebuloumlsen Bestimmungen der Voumllkerbundakte die Anteile an der geostrategischen macht wurden nach folgendem Schluumlssel festgelegt 10 10 6 3 3 An der Spitze standen gleichgewichtig Groszligbritannien und die Vereinigten Staaten die einzigen maumlchte mit Flottenpraumlsenz auf allen Weltmeeren Japan als eine auf den Pazifik also nur auf einen ozean beschraumlnkte macht folge auf Platz drei Und die machtsphaumlre Frankreichs und Italiens wurde auf die Atlantik-kuumlste und das mittelmeer begrenzt deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen das also war das ergebnis des ersten Weltkriegs eine alles umfassende Weltordnung in der strategische macht strenger uumlberwacht wurde als heutzutage die Verbreitung von Atomwaffen es handle sich um eine Wende in den internationalen Beziehungen merkte Trotzki an die man durchaus mit der Kopernikanischen Wende im mittelalter vergleichen koumlnne25

die Washingtoner Flottenkonferenz war eine krasse manifestation jener Kraft welche die neue internationale ordnung garantieren sollte aber schon im Jahr 1921 fragten sich manche ob die groszligen raquoBurgen aus Stahllaquo der Schlachtschiffaumlra wirklich die Waffen der zukunft seien Solche Uumlberlegungen waren jedoch unerheblich Welchen militaumlrischen Nutzen Schlachtschiffe auch haben mochten sie waren die teuersten und techno-logisch houmlchstentwickelten Instrumente der globalen machtausuumlbung Nur die reichsten Laumlnder konnten sich eigene Schlachtschiffflotten leis-ten dabei baute Amerika nicht einmal die volle ihm zustehende zahl an Schiffen es genuumlgte schon dass alle wussten dass es dazu imstande war die Wirtschaft war das dominierende medium des amerikanischen ein-flusses militaumlrische Staumlrke war ein Nebenprodukt das erkannte Trotzki nicht nur sondern legte auch groszligen Wert darauf die dominanz an kon-kreten zahlen festzumachen In einem zeitalter des verschaumlrften interna-tionalen Wettbewerbs war die dunkle Kunst der vergleichenden Wirt-schaftsstatistik eine charakteristische Hauptbeschaumlftigung Im Jahr 1872

22 EinlEitung

hatten Trotzki zufolge die Volkseinkommen der Vereinigten Staaten Groszligbritanniens deutschlands und Frankreichs in etwa gleichauf gele-gen sie alle hatten uumlber ein einkommen von 30 bis 40 milliarden dollar verfuumlgt 50 Jahre danach herrschte eine gewaltige diskrepanz Nach-kriegsdeutschland war verarmt laut Trotzki gar aumlrmer als im Jahr 1872 Im Gegensatz dazu sei raquoFrankreich ndash etwa doppelt so reich (68 milliar-den) england ndash ebenfalls (etwa 89 milliarden) waumlhrend das Volksvermouml-gen [der] USA jetzt nach vorsichtiger Schaumltzung 320 milliarden dollar betraumlgtlaquo26 diese zahlen waren zwar reine Spekulation aber niemand be-stritt dass die britische Regierung zur zeit der Flottenkonferenz den ame-rikanischen Steuerzahlern 45 milliarden dollar schuldete die Franzosen 35 milliarden und Italien 18 milliarden die japanische zahlungsbilanz hatte sich dramatisch verschlechtert und das Land wartete angstvoll auf Unterstuumltzung der US-Bank J P morgan Um die gleiche zeit wurden zehn millionen Sowjetbuumlrger durch die amerikanische Hungerhilfe vor dem sicheren Tod bewahrt Keine macht hatte jemals eine so weltum-spannende wirtschaftliche dominanz ausgeuumlbt

Wenn wir die entwicklung der Weltwirtschaft seit dem 19 Jahrhun-dert mithilfe heutiger statistischer methoden veranschaulichen wird deutlich dass die Geschichte zweigeteilt ist (Grafik 1)27 Seit Beginn des 19 Jahrhunderts war das Britische empire die groumlszligte Wirtschaftseinheit auf der Welt gewesen Im Laufe des Jahres 1916 dem Jahr der Schlachten bei Verdun und an der Somme wurde die gesamte Produktion des Bri-tischen empire von der der Vereinigten Staaten von Amerika uumlberholt Von da an bis zum Beginn des 21 Jahrhunderts blieb die amerikanische Wirtschaftsmacht der entscheidende Faktor fuumlr die Gestaltung der Welt-ordnung

Insbesondere fuumlr britische Autoren bestand stets die Versuchung die Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts als eine Geschichte der Nachfolge zu praumlsentieren der zufolge die Vereinigten Staaten das zepter der briti-schen Vormachtstellung erbten28 das schmeichelt zwar Groszligbritannien fuumlhrt aber in die Irre weil damit eine Kontinuitaumlt der Probleme der inter-nationalen Staatenordnung und der methoden diese zu loumlsen angedeutet wird die Probleme der Weltordnung die sich durch den ersten Weltkrieg stellten waren aber nicht vergleichbar mit vorangegangenen internatio-nalen Herausforderungen sei es der Briten der Amerikaner oder einer anderen macht Und zugleich war die amerikanische Wirtschaftsmacht

23sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr viel groumlszliger als diejenige uumlber die Groszligbritannien jemals verfuumlgt hatte die wirtschaftliche Vorherr-schaft Groszligbritanniens hatte sich innerhalb des von ihm geschaffenen raquoWeltsystemslaquo entfaltet das sich von der Karibik bis zum Pazifik er-streckte und sich mit den mitteln des Freihandels der Bevoumllkerungswan-derung und des Kapitalexports raquoinformelllaquo noch sehr viel weiter aus-dehnte29 Und im Rahmen dieses Weltsystems entwickelten sich auch all die anderen Volkswirtschaften die im spaumlten 19 Jahrhundert die fort-schreitende Globalisierung des Handels und der Wirtschaft voran trieben In Anbetracht des Aufstiegs anderer Nationen zu bedeutenden Wettbe-werbern sprachen sich einige Verfechter des empire Fuumlrsprecher eines raquogreater Britainlaquo nachdruumlcklich dafuumlr aus aus diesem heterogenen Kon-glomerat einen in sich geschlossenen Wirtschaftsblock zu schmieden30 Aber dank der im britischen Bewusstsein verankerten Kultur des Freihan-dels wurden Schutzzoumllle fuumlr den Handel zwischen Groszligbritannien seinen Kolonien und uumlberseeischen Herrschaftsgebieten nur waumlhrend der ver-heerenden Weltwirtschaftskrise eingefuumlhrt Nicht das britische Weltreich sondern die Vereinigten Staaten verkoumlrperten all das wonach die Fuumlr-sprecher eines wirtschaftlichen Groszligraums strebten Was als eine An-sammlung verschiedenartiger kolonialer Siedlungen begonnen hatte hatte sich bereits Anfang des 19 Jahrhunderts zu einem expandierenden

DeutschlandBritisches EmpireGesamte ehemalige UdSSRFranzoumlsisches ReichJapanisches ReichVereinigte Staaten

1800 000

1600 000

1400 000

1200 000

1000 000

800 000

600 000

400 000

200 000

0196019401920190018801860184018201800

Grafik 1 Das BIP der Reiche (nach dem Wert des Dollar von 1990)

24 EinlEitung

hochgradig integrativen Reich entwickelt Im Gegensatz zum britischen empire gliederte die amerikanische Republik die neuen Territorien im Westen und Suumlden uneingeschraumlnkt in die foumlderale Verfassung ein Be-denkt man die schon bei der Staatsgruumlndung bestehende Kluft zwischen dem auf Sklavenarbeit basierenden Suumlden und dem die Sklaverei ableh-nenden Norden war dieser zusammenschluss mit Gefahren verbunden Im Jahr 1861 nicht einmal 100 Jahre nach seiner Gruumlndung wurde das sich rasant ausdehnende Gemeinwesen von einem furchtbaren Buumlrger-krieg erschuumlttert Vier Jahre danach war der Bundesstaat zwar gerettet worden aber zu einem vergleichbar schrecklichen Preis wie dem den die Hauptakteure des ersten Weltkriegs zahlten die politische Klasse der Vereinigten Staaten bestand 1914 fuumlnfzig Jahre nach dem ende des ame-rikanischen Buumlrgerkriegs also aus durch die blutigen Kriegserfahrungen ihrer Kindheit traumatisierten maumlnnern Um die Friedenspolitik des Wei-szligen Hauses unter Woodrow Wilson zu verstehen muss man sich vor Augen fuumlhren dass der 28 Praumlsident der Vereinigten Staaten das erste Kabinett aus demokraten der Suumldstaaten anfuumlhrte das seit dem Sezessi-onskrieg regierte In ihrem eigenen Aufstieg sahen diese maumlnner die Ver-soumlhnung des weiszligen Amerika und die Neugruumlndung des amerikanischen Nationalstaats bestaumltigt31 Unter furchtbaren Kosten war aus Amerika ein historisch beispielloses Staatswesen geworden das war nicht mehr das landhungrige nach Westen expandierende Reich Aber es war auch nicht Thomas Jeffersons neoklassisches Ideal einer raquoStadt auf einem Huumlgellaquo ein Gemeinwesen war entstanden das nach der klassischen politischen Theorie als nicht realisierbar gegolten hatte es war ein stabiler Bundes-staat von kontinentaler Groumlszlige ein gigantischer Nationalstaat zwischen 1865 und 1914 wuchs die amerikanische Volkswirtschaft die von den maumlrkten Verkehrs- und Kommunikationsnetzen des britischen Weltsys-tems profitierte schneller als irgendeine Volkswirtschaft jemals zuvor Al-lein durch die beherrschende Stellung entlang der Kuumlsten der beiden groumlszlig-ten Weltmeere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten einfluss und verfuumlgte auch uumlber die dazu noumltigen mittel Wer die Vereinigten Staaten als erbe der britischen Vorherrschaft beschreibt verhaumllt sich aumlhnlich wie diejenigen die noch 1908 hartnaumlckig daran fest-hielten Henry Fords raquomodel Tlaquo als raquopferdelose Kutschelaquo zu bezeichnen diese Formulierung war zwar nicht falsch aber sie war anachronistisch es handelte sich nicht um eine erbfolge sondern um einen Paradigmen-

25sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

wechsel der einherging mit dem eintreten der Vereinigten Staaten fuumlr eine neuartige Vorstellung einer Weltordnung

In diesem Buch wird noch oft von Woodrow Wilson und seinen Nachfolgern die Rede sein doch ein absolut elementarer Punkt laumlsst sich schon ohne weiteres festhalten Nachdem sich die USA durch einen aggressiven expansionsprozess kontinentalen Ausmaszliges der jedoch je-den Konflikt mit anderen Groszligmaumlchten mied zu einem Nationalstaat von globalem einfluss entwickelt hatten verfuumlgten sie uumlber eine ganz an-dere strategische Ausrichtung als die alten maumlchte Groszligbritannien und Frankreich oder deren unlaumlngst aufgetauchte Rivalen deutschland Japan und Italien die Vereinigten Staaten erkannten als sie ende des 19 Jahr-hunderts die Weltbuumlhne betraten dass es in ihrem Interesse lag die hef-tige internationale Konkurrenz zu beenden die seit den 1870er Jahren das neue zeitalter des weltweiten Imperialismus gepraumlgt hatte Gewiss im Jahr 1898 im Spanisch-amerikanischen Krieg begeisterte sich auch die politische Klasse Amerikas fuumlr eine expansion nach Uumlbersee doch ange-sichts der tatsaumlchlichen erfahrung der Kolonialherrschaft auf den Philip-pinen verpuffte die Begeisterung rasch und eine grundlegende strategi-sche einsicht setzte sich durch Amerika konnte nicht von der Welt des 20 Jahrhunderts losgeloumlst bleiben der Aufbau einer groszligen Flotte war bis zum Auftreten der strategischen Luftwaffe die Hauptachse der amerika-nischen militaumlrstrategie Amerika achtete auf das Wohlverhalten seiner Nachbarn in der Karibik und mittelamerika und auf die einhaltung der monroe-doktrin der Schranke gegen externe Intervention in der west-lichen Hemisphaumlre Anderen maumlchten musste der zugang verwehrt wer-den Amerika legte zahlreiche militaumlrbasen und Stuumltzpunkte zur Ausuumlbung seiner macht an doch auf ein Sammelsurium zusammengewuumlrfelter ko-lonialer Besitztuumlmer konnten die Vereinigten Staaten gut und gerne ver-zichten In diesem Punkt bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den auf ihrem eigenen Groszligraum basierenden Vereinigten Staaten und dem raquoliberalen Imperialismuslaquo Groszligbritanniens32

die wahre Logik der amerikanischen macht wurde zwischen 1899 und 1902 in drei Noten artikuliert in denen Auszligenminister John Hey zum ersten mal die sogenannte Politik der offenen Tuumlr skizzierte Als Ba-sis fuumlr eine neue internationale ordnung schlugen diese Noten ein taumlu-schend einfaches aber weitreichendes Prinzip vor gleichen zugang fuumlr Waren und Kapital33 Um missverstaumlndnissen vorzubeugen diese raquooffene

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Tuumlrlaquo war kein Aufruf zum Freihandel Unter den groszligen Volkswirtschaf-ten setzten die Vereinigten Staaten am staumlrksten auf Protektionismus Und sie begruumlszligten auch keineswegs jeden Wettbewerb um seiner selbst willen Sobald weltweit die Tuumlren geoumlffnet waren wuumlrden so die zuversichtliche Annahme der US-Strategen amerikanische exporteure und Bankiers alle Rivalen aus dem Feld schlagen Langfristig sollte die Politik der offenen Tuumlr somit die exklusive Herrschaft der europaumler in deren Besitzungen untergraben es ging den USA ebensowenig darum an der imperialisti-schen Rassenhierarchie oder der Trennung der Hautfarben zu ruumltteln Handel und Investitionen verlangten ordnung nicht Revolution Nicht gegen Imperialismus im Sinne einer ertragreichen kolonialen expansion oder der Herrschaft der Weiszligen uumlber farbige Voumllker richtete sich also die amerikanische Strategie sondern gegen Imperialismus im Sinne der raquoselbstsuumlchtigenlaquo gewaltsamen Rivalitaumlt zwischen Frankreich Groszligbri-tannien deutschland Italien Russland und Japan denn diese drohte die ganze Welt in abgeschlossene Interessensphaumlren aufzuteilen

der Krieg machte Woodrow Wilson zu einer internationalen Be-ruumlhmtheit seither wurde der amerikanische Praumlsident als bahnbrechen-der Prophet des liberalen Internationalismus gefeiert dabei waren die Grundelemente seines Programms nichts weiter als vorhersehbare erwei-terungen der auf der amerikanischen macht basierenden Politik der offe-nen Tuumlr Wilson wollte internationale Schlichtung freie Schifffahrt auf den Weltmeeren und die Gleichbehandlung in der Handelspolitik Und dem Wettstreit der imperialistischen maumlchte sollte der Voumllkerbund ein ende setzen das war die antimilitaristische postimperialistische Agenda eines Landes das sich seines weltweiten einflusses sicher war ndash eines ein-flusses den es aus der entfernung und uumlber raquoweichelaquo machtmittel aus-uumlben wollte Wirtschaft und Ideologie34 Bislang ist allerdings nicht hin-reichend bedacht worden inwieweit Wilson uumlberhaupt bereit war diese Agenda der amerikanischen Hegemonie gegen saumlmtliche Spielarten des europaumlischen und japanischen Imperialismus durchzusetzen die ersten Kapitel dieses Buches werden zeigen dass Wilson Amerika 1916 keines-wegs mit dem ziel an die vorderste Front der Weltpolitik gefuumlhrt hatte dafuumlr zu sorgen dass die raquorichtigelaquo Seite diesen Krieg gewann sondern dass keine Seite gewann er lehnte jede offene Verbindung mit der entente ab und tat alles in seiner macht Stehende um die von London und Paris angestrebte eskalation des Krieges zu verhindern mit der diese hofften

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Amerika auf ihre Seite zu ziehen Nur ein Frieden ohne Sieg ndash das ziel das er im Januar 1917 in einer wegweisenden Rede vor dem Senat verkuumln-dete ndash konnte die Vereinigten Staaten zum unumstrittenen Schiedsrichter der Weltpolitik machen Trotz des Scheiterns dieser Politik schon im Fruumlhjahr 1917 und trotz des widerwilligen eintritts der USA in den ersten Weltkrieg blieb dies wie wir sehen werden das Hauptziel Wilsons und seiner Nachfolger bis in die 1930er Jahre Und genau hier liegt auch der Schluumlssel zur Beantwortung der daraus folgenden Frage Wenn die Verei-nigten Staaten tatsaumlchlich eine Welt der offenen Tuumlr etablieren wollten und ihnen dafuumlr so eindrucksvolle Ressourcen zur Verfuumlgung standen warum ging dann alles so furchtbar schief

II

die Frage nach dem Scheitern des Liberalismus ist die Standardfrage der Historiographie zur zwischenkriegszeit35 diese Frage erscheint in einem anderen Licht und genau da setzt deshalb dieses Buch an wenn man sich vor Augen fuumlhrt wie dominant die Sieger des ersten Weltkriegs mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten an der Spitze wirklich wa-ren In Anbetracht der ereignisse der 1930er Jahre wird dies allzu leicht vergessen Auch lieszlig die unmittelbare Antwort die die Verfechter des Wilsonianismus gaben das Gegenteil vermuten also dass von einer do-minanz keine Rede sein konnte36 Schon bevor es dazu kam ahnten sie bereits das Scheitern der Versailler Friedenskonferenz und stilisierten Wilson zum tragischen Helden der vergeblich versuchte sich aus den machenschaften der Alten Welt herauszuhalten dieses Narrativ fuszligte auf der Unterscheidung zwischen dem amerikanischen Propheten einer libe-ralen zukunft und der korrupten Alten Welt der er seine Botschaft ver-kuumlndete37 Letzten endes fuumlgte sich Wilson den Kraumlften der Alten Welt allen voran den britischen und franzoumlsischen Imperialisten das ergebnis war ein raquoschlechterlaquo Frieden der vom amerikanischen Senat und einem groszligen Teil der Bevoumllkerung abgelehnt wurde nicht nur in Amerika son-dern in der ganzen englischsprachigen Welt38 es kam noch schlimmer die von Verfechtern der alten ordnung in Gang gesetzten Nachhutge-fechte blockierten nicht nur den Weg zu einer neuen Welt sondern oumlff-neten zudem noch weit gewalttaumltigeren politischen daumlmonen Tuumlr und

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Tor39 Waumlhrend europa von Revolutionen und gewaltsamen Konterrevo-lutionen erschuumlttert wurde fand sich Wilson mit Lenin konfrontiert eine erste Andeutung des Kalten Krieges zugleich belebte das Schreckge-spenst des Kommunismus die extreme Rechte zunaumlchst in Italien und dann auf dem ganzen europaumlischen Kontinent trat der Faschismus in den Vordergrund am toumldlichsten in deutschland die Gewalt und der zuneh-mend rassistisch und antisemitisch gepraumlgte politische diskurs der Kri-senjahre 1917 bis 1921 kuumlndigten auf beklemmende Weise die noch groumlszlige-ren Schrecken der 1940er Jahre an Fuumlr diese Katastrophe konnte die Alte Welt keinem anderen als sich selbst die Schuld geben europa war mit Japan als seinem tuumlchtigen Schuumller wirklich der raquodunkle Kontinentlaquo40

So erzaumlhlt hat die Geschichte eine hohe dramatische Wirkung und auch eine bemerkenswert reichhaltige historische Literatur hervorge-bracht Aber auch uumlber den Nutzen fuumlr die Geschichtsdarstellung hinaus ist dieses Narrativ wichtig weil es tatsaumlchlich die transatlantischen diskus-sionen uumlber die Ausgestaltung der Politik seit der Jahrhundertwende ge-praumlgt hat Wie wir sehen werden wurden sowohl die Haltung der Regie-rung Wilson als auch die ihrer republikanischen Nachfolger bis hin zu Herbert Hoover von dieser Wahrnehmung der europaumlischen und japani-schen Geschichte gepraumlgt41 zudem hatte diese Version nicht nur fuumlr Ame-rikaner sondern auch fuumlr europaumler ihren Reiz den Linksliberalen Sozia-listen und Sozialdemokraten in Groszligbritannien Frankreich Italien und Japan lieferte Wilson Argumente die sie gegen ihre politischen Gegner im eigenen Land einsetzen konnten Tatsaumlchlich gewann europa waumlhrend des ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit im Spiegel der amerikani-schen macht und Propaganda einen neuen Begriff von der eigenen raquoRuumlck-staumlndigkeitlaquo ndash eine Selbsteinschaumltzung die nach 1945 noch staumlrker zum Tragen kam42 doch gerade weil diese historische Wahrnehmung europas als eines dunklen Kontinents der sich hartnaumlckig dem historischen Fort-schritt widersetzt tatsaumlchlich einfluss auf die Geschichte hatte birgt dieses Narrativ zugleich Gefahren fuumlr die Historiker das totale Fiasko des Wil-sonianismus hat einen langen Schatten geworfen Sein Konstrukt der Ge-schichte der zwischenkriegszeit durchdringt die Quellen so sehr dass eine bewusste Anstrengung noumltig ist will man es sich vom Leib halten eben deshalb kommt dem ungewoumlhnlichen Trio zu Beginn dieser einleitung ndash Churchill Hitler und Trotzki ndash eine so hohe korrektive Bedeutung zu Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war ein voumlllig anderer Sie waren uumlberzeugt

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dass sich tatsaumlchlich ein grundlegender Wandel in der Weltpolitik voll-zogen hatte Sie waren sich ferner einig dass die Bedingungen dieses Um-bruchs von den Vereinigten Staaten diktiert wurden mit Groszligbritannien als bereitwilligem Gehilfen Angenommen es gab eine dialektik der Ra-dikalisierung die hinter den Kulissen wirkte und extremistischen Aufstaumln-den Tuumlr und Tor oumlffnete so war diese im Jahr 1929 weder Trotzki noch Hitler ersichtlich eine zweite dramatische Krise die Weltwirtschaftskrise war erforderlich um die Lawine des Aufstands auszuloumlsen Sobald die ex-tremisten ihre Chance bekamen naumlhrte eben dieses Gefuumlhl es mit einem maumlchtigen Gegner zu tun zu haben die Gewalt und die toumldliche energie mit der sie gegen die Nachkriegsordnung aufbegehrten

das fuumlhrt zum zweiten wichtigen Interpretationsmuster der Katastro-phe der zwischenkriegszeit der These von der Hegemoniekrise43 diese deutung beginnt an exakt dem gleichen Punkt an dem wir hier ansetzen naumlmlich mit dem vernichtenden Sieg der entente und der Vereinigten Staaten im ersten Weltkrieg und fragt nicht warum man sich diesem Schwergewicht der amerikanischen macht widersetzte sondern warum die Sieger die doch infolge des Groszligen Krieges ein so groszliges machtuumlber-gewicht hatten nicht die oberhand behielten Immerhin war ihre Uumlber-legenheit nicht eingebildet Ihr Sieg im Jahr 1918 war kein zufall 1945 brachte eine aumlhnliche Koalition Italien deutschland und Japan eine noch verheerendere Niederlage bei daruumlber hinaus hatten die Vereinigten Staaten nach 1945 in ihrer machtsphaumlre eine aumluszligerst erfolgreiche politi-sche und wirtschaftliche Neuordnung in Angriff genommen44 Was ist also nach 1918 schiefgelaufen Warum ist die amerikanische Politik in Versailles fehlgeschlagen Warum ist die Weltwirtschaft im Jahr 1929 zusammen gebrochen das sind die Fragen von denen dieses Buch seinen Ausgang nimmt und die bis heute nachwirken Warum spielt raquoder Wes-tenlaquo seine Truumlmpfe nicht besser aus Wie steht es um die organisations- und Fuumlhrungsfaumlhigkeit des Westens45 mit Blick auf den Aufstieg Chinas gewinnen diese Fragen offensichtlich an Bedeutung doch nach welchem maszligstab soll man dieses Scheitern beurteilen und woher nimmt man eine uumlberzeugende erklaumlrung fuumlr den fehlenden Willen und das man-gelnde Urteilsvermoumlgen die immer wieder die reichen maumlchtigen demo-kratien heimsuchen

Konfrontiert mit diesen beiden grundlegenden erklaumlrungsmustern ndash raquodunkler Kontinentlaquo versus raquoScheitern der liberalen Hegemonielaquo ndash strebt

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die vorliegende Studie eine Synthese an das kann jedoch nicht durch einfache Kombination der beiden gelingen Vielmehr moumlchte dieses Buch die beiden historischen deutungsmuster fuumlr eine dritte Frage oumlffnen eine die den blinden Fleck aufzeigt den sie gemeinsam haben Beide Interpre-tationen lassen die radikale Neuartigkeit der Situation auszliger Acht der sich die politischen Fuumlhrer der Welt zu Beginn des 20 Jahrhunderts kon-frontiert sahen46 der blinde Fleck steckt in dem primitiven raquoNeue Welt alte Weltlaquo-deutungsmuster der raquodunkler Kontinentlaquo-Schule dieses muster schreibt Innovation offenheit und Fortschritt den raquoexternen Kraumlftenlaquo zu seien es die Vereinigten Staaten oder die revolutionaumlre So-wjetunion Gleichzeitig wird die zerstoumlrerische Kraft des Imperialismus vage mit einer raquoalten Weltlaquo oder einem raquoancien reacutegimelaquo identifiziert ei-ner epoche die nach Ansicht mancher Historiker bis in das zeitalter des Absolutismus oder gar noch weiter in die Tiefen der blutgetraumlnkten euro-paumlischen und ostasiatischen Geschichte zuruumlckreicht damit werden die Katastrophen des 20 Jahrhunderts der Last der Vergangenheit zuge-schrieben mag sein dass das modell einer Hegemoniekrise die zwi-schenkriegsjahre anders deutet Aber diese Schule holt noch weiter in der Geschichte aus und schert sich noch weniger darum dass im fruumlhen 20 Jahrhundert womoumlglich tatsaumlchlich ein neuartiges zeitalter begann die Hegemonietheorie in Reinkultur betont ausdruumlcklich dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft seit ihren Anfaumlngen im 16 Jahrhundert stets auf eine zentrale stabilisierende macht gestuumltzt habe ndash seien es die italie-nischen Stadtstaaten die Habsburgermonarchie die Republik der Nieder-lande oder die viktorianische Royal Navy die Intervalle zwischen der einen und der naumlchsten Hegemonialmacht seien typische Krisenzeiten gewesen die Krise der zwischenkriegszeit sei lediglich die letzte der-artige zaumlsur gewissermaszligen das Intervall zwischen der britischen und der amerikanischen Hegemonie

Was jedoch keine dieser beiden Sichtweisen erfasst sind das beispiel-lose Tempo und Ausmaszlig sowie die Gewaltsamkeit des Wandels der sich in der Weltpolitik seit dem spaumlten 19 Jahrhundert vollzog Rasch erkann-ten schon die zeitgenossen dass der intensive raquoweltpolitischelaquo Wettbe-werb in den die Groszligmaumlchte im spaumlten 19 Jahrhundert eintraten kein bestaumlndiges System mit einem langen raquoStammbaumlaquo war47 es wurde we-der durch die dynastische Tradition noch durch eine ihm innewohnende raquonatuumlrlichelaquo Stabilitaumlt legitimiert sondern war explosiv gefaumlhrlich alles

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verschlingend aufreibend und im Jahr 1914 erst wenige Jahrzehnte alt48 der Begriff raquoImperialismuslaquo entstammte keineswegs dem Woumlrterbuch ei-nes ehrwuumlrdigen aber korrupten ancien reacutegime sondern war ein Neolo-gismus der erst um 1900 weite Verwendung fand er bezeichnete eine neu-artige Sicht auf ein ganz neues Phaumlnomen die Umgestaltung der politischen Struktur des gesamten erdballs unter den Bedingungen eines ungehinderten militaumlrischen wirtschaftlichen politischen und kulturellen Wettbewerbs Sowohl das modell des dunklen Kontinents als auch das der Hegemoniekrise beruhen deshalb auf einer unzulaumlnglichen Praumlmisse der moderne weltweite Imperialismus war eine radikale neuartige Kraft nicht ein Uumlberbleibsel der Alten Welt Und auch die Aufgabe eine nach-imperialistische hegemoniale Weltordnung zu errichten war neu das volle Ausmaszlig des Problems eine Weltordnung in ihrer modernen Form zu schaffen bekam Groszligbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19 Jahr-hunderts zu spuumlren als sein weitlaumlufiges Reich uumlberall auf der Welt heraus-gefordert wurde in europa im mittelmeer im Nahen osten auf dem indischen Subkontinent von Russland mit seinen riesigen Landmassen in zentral- und in ostasien erst das britische Weltsystem hatte all diese Schauplaumltze miteinander verknuumlpft und ihre Krisen in eine weltweite Gleichzeitigkeit gebracht Statt triumphierend die Faumlden zu ziehen hatte Groszligbritannien in Anbetracht dieser uumlbermaumlszligig groszligen Herausforde-rung notgedrungen improvisiert und eine Reihe strategischer maszlignah-men ergriffen Wegen der Bedrohung die von den aufstrebenden maumlch-ten deutschland und Japan ausging gab Groszligbritannien gleichsam seine Insellage auf und ging mit Frankreich Russland und Japan Buumlndnisver-pflichtungen in europa und Asien ein Am ende errang die von den Bri-ten gefuumlhrte entente im ersten Weltkrieg die oberhand aber das gelang nur durch die Intensivierung der strategischen Verflechtungen die sie mithilfe der britischen und franzoumlsischen Kolonialreiche rund um die Welt und uumlber den Atlantik bis zu den Vereinigten Staaten ausdehnte der Krieg hinterlieszlig also die bislang unbekannte Aufgabe einer wirt-schaftlichen und politischen ordnung der Welt aber kein historisches modell einer weltweiten Hegemonie auf das man zuruumlckgreifen konnte Von 1916 an betaumltigten die Briten sich in groszligem Stil als Interventions- Koordinations- und Stabili sierungsmacht Aktivitaumlten zu denen sie sich in der viktorianischen Bluumltezeit des empire niemals haumltten hinreiszligen lassen die Geschichte des Britischen empire war nie enger mit der Welt-

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geschichte verknuumlpft als im Krieg und umgekehrt ndash eine Verflechtung die zwangslaumlufig auch in der Nachkriegszeit Bestand hatte Wie wir se-hen werden uumlbte die von Lloyd George gefuumlhrte Regierung trotz der begrenzten Ressourcen die ihr zur Verfuumlgung standen eine ungewohnte Rolle als dreh- und Angelpunkt der europaumlischen Finanzwelt und diplo-matie aus Aber das fuumlhrte auch zu seinem Sturz die dicht aufeinander-fol genden Krisen die im Jahr 1923 ihren Houmlhepunkt erreichten beende-ten die Regierungszeit von Lloyd George und deckten unuumlbersehbar die Grenzen der britischen Faumlhig keiten Hegemonie auszuuumlben auf es gab wenn uumlberhaupt nur eine macht die diese Rolle ausfuumlllen konnte ndash eine neue Rolle die zuvor kein Staat ernsthaft angestrebt hatte die Vereinigten Staaten von Amerika

Als Praumlsident Wilson im dezember 1918 nach europa reiste nahm er ein Team von Geographen Historikern Politologen und Oumlkonomen mit um die neue Weltkarte sinnvoll zu gestalten49 das Chaos mit dem die maumlchte in der zeit nach dem Krieg konfrontiert wurden war gigantisch In der gesamten Laumlnge und Breite eurasiens hatte der Krieg ein noch nie dagewesenes machtvakuum geschaffen Von den alten Reichen uumlberlebten nur China und Russland der sowjetische Staat erholte sich als erster doch die Versuchung das raquoPattlaquo zwischen Wilson und Lenin im Jahr 1918 als eine Vorwegnahme des Kalten Krieges zu interpretieren ist ein weiteres Beispiel fuumlr die Weigerung die Ausnahmesituation zu erkennen die durch den Krieg entstanden war die Gefahr einer bolschewistischen Revolution war nach 1918 in den Koumlpfen der Konservativen auf der ganzen Welt prauml-sent doch es war die Angst vor einem Buumlrgerkrieg und anarchischen zu-staumlnden und es war zum groszligen Teil nur ein Phantom das konnte man auf keinen Fall mit der furchterregenden militaumlrpraumlsenz der Roten Armee im Jahr 1945 vergleichen nicht einmal mit dem strategischen Gewicht des zarenreichs vor 1914 Lenins Regime uumlberstand die revolutionaumlren Unru-hen die Niederlage gegen die deutschen und den Buumlrgerkrieg ndash aber nur um Haaresbreite die ganzen 1920er Jahre uumlber befand sich der kommu-nistische Staat in der defensive es ist fraglich ob die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Jahr 1945 einander auf Augenhoumlhe begegneten Wenn man aber eine Generation zuvor Wilson und Lenin auf eine Stufe stellt so verkennt man ein absolut bestimmendes moment der damaligen Situation den dramatischen zusammenbruch der russischen macht Im Jahr 1920 erschien Russland so schwach dass die polnische Republik die

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ihrerseits kaum zwei Jahre alt war einen guumlnstigen zeitpunkt fuumlr eine In-vasion gekommen sah die Rote Armee war stark genug um die Bedro-hung abzuwehren Aber als die Sowjets dann nach Westen marschierten erlitten sie vor Warschau eine vernichtende Niederlage der Gegensatz zur Aumlra des Kalten Kriegs konnte kaum groumlszliger sein

In Anbetracht des erstaunlichen machtvakuums in eurasien von Pe-king bis ins Baltikum ist es kein Wunder dass die aggressivsten exponen-ten des Imperialismus in Japan deutschland Groszligbritannien und Italien eine vom Himmel geschickte Gelegenheit zur Bereicherung wahr nahmen die ungehemmten Ambitionen der erzimperialisten in Lloyd Georges Kabinett oder etwa von General Ludendorff in deutschland oder Goto Shinpei in Japan liefern reichlich material fuumlr das Narrativ vom dunklen Kontinent Aber so aggressiv ihre Visionen eindeutig waren muumlssen wir sorgsam auf die feinen Unterschiede achten eine Persoumlnlichkeit wie Lu-dendorff machte sich keine Illusionen dass seine groszligartigen Visionen einer grundlegenden Umgestaltung eurasiens Ausdruck der traditionel-len Staatskunst seien50 er rechtfertigte das Ausmaszlig seiner Ambitionen mit eben diesem Hinweis dass die Welt in eine neue radikale Phase ein-trete in die letzte oder vorletzte Phase eines finalen globalen macht-kampfes maumlnner wie er waren keine exponenten irgendeines raquoancien reacutegimelaquo Sie uumlbten haumlufig scharfe Kritik an den Traditionalisten die im Namen des Gleichgewichts und der Legiti mitaumlt davor zuruumlckschreckten die historische Chance beim Schopf zu packen die schaumlrfsten Gegner der neuen liberalen Weltordnung waren alles andere als Vertreter der Alten Welt vielmehr ihrerseits futuristische Innovatoren Sie waren allerdings keine Realisten die uumlbliche Unterscheidung zwischen Idealisten und Re-alisten kommt den Widersachern Wilsons viel zu sehr entgegen Wilson musste sich geschlagen geben aber den Imperialisten ging es nicht viel besser Bereits waumlhrend des Krieges waren die Probleme uumlberdeutlich zu-tage getreten die jedem wahrhaft groszlig angelegten expansionsprogramm innewohnten Schon wenige Wochen nach der Ratifizierung im maumlrz 1918 wurde der Frieden von Brest-Litowsk ndash der imperialistische Friedensver-trag par excellence ndash von seinen eigenen Autoren infrage gestellt die auf einmal Probleme hatten die Widerspruumlche ihrer eigenen Politik aufzu-loumlsen Japanische Imperialisten zogen ohnmaumlchtig gegen die Weigerung ihrer Regierung ins Feld entscheidende maszlignahmen zur Unterwerfung ganz Chinas zu ergreifen die erfolgreichsten Imperialisten waren die Bri-

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ten mit ihrer Hauptexpansionszone im Nahen osten Aber das war in der Tat die Ausnahme die die Regel bestaumltigt Unter der Rivalitaumlt der briti-schen und franzoumlsischen kolonialen Ambitionen wurde die gesamte Re-gion ins Chaos gestuumlrzt der erste Weltkrieg und sein Nachspiel machten aus dem Nahen und mittleren osten die strategische Hypothek die er bis heute geblieben ist51 Auf den besser etablierten Achsen der britischen Kolonialmacht zu den weiszligen dominions nach Irland und Indien wies die Politik tendenziell in Richtung Ruumlckzug und Autonomie diese Linie wurde inkonsequent und mit betraumlchtlichem Widerwillen verfolgt aber die Richtung war dennoch unmissverstaumlndlich vorgegeben

die vertraute Version des Scheiterns Wilsons praumlsentiert den ameri-kanischen Praumlsidenten in einer Weise als sei er in der unbezaumlhmbaren Aggression des alten Kriegsimperialismus gefangen gewesen dabei war es in Wirklichkeit so dass die ehemaligen Imperialisten von sich aus zu der Schlussfolgerung gelangten dass sie nach neuen Strategien Ausschau hal-ten mussten die einer neuen Aumlra nach dem zeitalter des Imperialismus angemessen waren52 eine ganze Reihe von Schluumlsselfiguren verkoumlrperte diese neue Staatsraumlson Gustav Stresemann fuumlhrte deutschland in eine ko-operative Beziehung sowohl zu den entente-maumlchten als auch zu den Ver-einigten Staaten der britische Auszligenminister Austen Chamberlain der aumllteste Sohn des imperialistischen Hitzkopfs Joseph Chamberlain teilte sich mit dem deutschen Auszligenminister Stresemann den Friedensnobel-preis fuumlr ihre unermuumldlichen Anstrengungen um eine europaumlische eini-gung der dritte der fuumlr den Vertrag von Locarno den Nobelpreis bekam war Aristide Briand der franzoumlsische Auszligenminister und ehemalige So-zialist nach dem der Pakt von 1928 zur Aumlchtung saumlmtlicher Aggressions-kriege benannt wurde Kijuro Shidehara Japans Auszligenminister verkoumlr-perte den neuen Ansatz in der ostasiatischen Sicherheitspolitik Sie alle orientierten sich an den Vereinigten Staaten als dem Schluumlssel zur er-richtung einer neuen ordnung es waumlre jedoch falsch diesen Politik-wechsel allzu eng mit einzelpersonen zu identifizieren so wichtig sie auch waren die Individuen waren haumlufig zweideutige exponenten des Wandels die hin- und hergerissen waren zwischen ihrer persoumlnlichen Bindung zu aumllteren Politikmodellen und dem was sie fuumlr die kategori-schen Imperative des neuen zeitalters hielten Was Churchill und seines-gleichen so zuversichtlich machte dass die neue ordnung stabil sein werde und was Hitler und Trotzki so mutlos machte war genau der

35sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

Umstand dass sie sich scheinbar auf ein solideres Fundament als die Kraft des einzelnen stuumltzte

die Versuchung ist groszlig diese neue Atmosphaumlre der 1920er Jahre mit der raquozivilgesellschaftlaquo und der Vielfalt an internationalistischen und pa-zifistischen NGos zu identifizieren die im Nachspiel des ersten Weltkrie-ges aus dem Boden schossen53 die Tendenz eine innovative moralische Aktivitaumlt mit internationalen Friedensgesellschaften kosmopolitischen expertenkongressen der leidenschaftlichen Solidaritaumlt der internationa-len Frauenbewegung oder der weitreichenden Taumltigkeit antikolonialer Aktivisten zu identifizieren fuumlhrt jedoch gewissermaszligen durch die Hin-tertuumlr wieder die abgedroschenen Klischees von den widerspenstigen imperialistischen Tendenzen im Herzen der macht ein Umgekehrt ge-stattet es die ohnmacht der Friedensbewegung den zynischen Realisten hartnaumlckig daran festzuhalten dass letztlich allein die macht den Aus-schlag gibt das vorliegende Buch waumlhlt einen anderen Ansatz es trachtet danach eine dramatische Verschiebung beim machtkalkuumll zu verorten keine externe Veraumlnderung sondern innerhalb des Regierungsapparats selbst im Wechselspiel zwischen militaumlrischer Gewalt Wirtschaft und diplomatie Wie wir sehen werden war dies am deutlichsten in Frank-reich zu beobachten der am staumlrksten geschmaumlhten raquomacht der alten Weltlaquo Statt sich wegen alter Geschichten in verhaumlrtete Ressentiments zu versteigen verfolgte Paris nach 1916 in erster Linie das ziel eine neuar-tige westlich orientierte atlantische Allianz mit Groszligbritannien und den Vereinigten Staaten zu schmieden Auf diese Weise sollte es sich selbst von der anruumlchigen Verbindung mit der zaristischen Autokratie befreien auf die sich Frankreich seit den 1890er Jahren wegen einer zweifelhaften Sicherheitsgarantie gestuumltzt hatte die franzoumlsische Auszligenpolitik wuumlrde kuumlnftig im einklang mit der republikanischen Verfassung stehen das Anstreben einer atlantischen Allianz war die neue Tendenz der franzoumlsi-schen Politik die nach 1917 so verschiedene Persoumlnlichkeiten wie Georges Clemenceau und Raymond Poincareacute vereinte

In deutschland wird die politische Buumlhne von der Person Gustav Stresemanns dominiert dem groszligen Staatsmann der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Von dem Houmlhepunkt der Ruhrkrise im Jahr 1923 an hatte Stresemann zweifellos federfuumlhrend Anteil daran dass sich deutschland nach Westen orientierte54 Aber als Nationalist vom Schlage Bismarcks lieszlig er sich erst spaumlt und nach langem zoumlgern zur neuen inter-

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nationalen Politik bekehren die politische Kraft die jede einzelne seiner beruumlhmten Initiativen unterstuumltzte war eine breite parlamentarische Koalition mit der Stresemann nach ihrem zustandekommen zunaumlchst seine liebe Not gehabt hatte die drei wichtigsten mitglieder dieser Koa-lition die Sozial demokraten die christdemokratische zentrumspartei und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei waren die fuumlhrenden demokratischen Kraumlfte des Vorkriegsreichstags gewesen Alle drei konn-ten sich ruumlhmen einst erbitterte Gegner Bismarcks gewesen zu sein Was sie schon im Juni 1917 damals unter der Fuumlhrung matthias erzbergers eines populistischen zentrumspolitikers vereint hatte waren die katas-trophalen Folgen des U-Boot-Kriegs gegen die Vereinigten Staaten Wie wir sehen werden wurde die neue politische Linie bereits im Winter 191718 erstmals auf die Probe gestellt Als Lenin um Frieden bat bemuumlhte sich die Regierungskoalition im Reichstag nach Kraumlften den leichtferti-gen expansionismus Ludendorffs abzuwehren und eine wie sie hoffte legitime und deshalb nachhaltige Hegemonie in osteuropa aufzubauen der beruumlchtigte Frieden von Brest-Litowsk wird sich hier als durchaus vergleichbar mit Versailles erweisen nicht in seiner Rachsucht sondern in dem Sinn dass auch dieser Vertragsschluss raquoein guter Frieden war der sich zum Nachteil entwickeltelaquo Was die diskussion innerhalb deutsch-lands um den siegreichen Frieden von Brest-Litowsk als ein bemerkens-wertes Vorspiel zur neuen Aumlra der internationalen Politik kennzeichnete ist der Umstand dass sie sich stets ebenso sehr um die innenpolitische ordnung deutschlands wie um auswaumlrtige Angelegenheiten drehte die Weigerung des kaiserlichen Regimes die Versprechen innenpolitischer Reformen zu erfuumlllen oder eine tragfaumlhige neue diplomatie zu entwickeln bereitete den Boden fuumlr die revolutionaumlren Veraumlnderungen des Herbstes 1918 Als deutschland im Westen die Niederlage drohte wagte es eben diese Reichstagsmehrheit nicht nur ein sondern drei mal zwischen No-vember 1918 und September 1923 die zukunft ihres Landes von der Un-terordnung unter die Westmaumlchte abhaumlngig zu machen Von 1949 bis zum heutigen Tag sind die direkten Nachfolger der Reichstagsmehrheit also die CdU die SPd und die FdP immer noch die Hauptstuumltzen sowohl der demokratie in der Bundesrepublik als auch der Bindung ihres Landes an das Projekt der europaumlischen Vereinigung

Was die Verknuumlpfung von Innen- und Auszligenpolitik angeht und die Wahl zwischen radikaler Aufzehrung und Nachgeben bestehen bemer-

37sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

kenswerte Parallelen zwischen deutschland und Japan im fruumlhen 20 Jahr-hundert Als Japan in den 1850er Jahren eine voumlllige Unterwerfung unter eine auslaumlndische macht drohte wobei Russland Groszligbritannien China und die Vereinigten Staaten als potenzielle Gegner infrage kamen ergriff die Regierung als Antwort die Initiative und leitete ein Programm innen-politischer Reformen und auszligenpolitischer Aggression ein eben dieser Kurs der auszligerordentlich effektiv und wagemutig verfolgt wurde trug Japan den Beinamen raquoPreuszligen des ostenslaquo ein Allerdings wird dabei allzu leicht vergessen dass diese Linie stets durch eine andere Tendenz ausbalanciert wurde das Streben nach Sicherheit durch Nachahmung Buumlndnisse und Kooperation die japanische Tradition einer neuen Kasu-migaseki-diplomatie55 dies wurde von 1902 an zunaumlchst durch die Part-nerschaft mit Groszligbritannien erreicht dann durch einen strategischen modus vivendi mit den Vereinigten Staaten Parallel dazu machte Japan jedoch einen innenpolitischen Wandel durch die demokratisierung und eine friedlichen Auszligenpolitik miteinander in einklang zu bringen war in Japan nicht einfacher als anderswo Aber waumlhrend und nach dem ersten Weltkrieg fungierte das sich entwickelnde mehrparteiensystem als wich-tiges Gegengewicht zur militaumlrischen Fuumlhrung diese Verknuumlpfung er-houmlhte wiederum den einsatz ende der 1920er Jahre forderten all jene die fuumlr eine aggressive Auszligenpolitik plaumldierten auch einen innenpolitischen Umbruch Im Japan der Taisho-Aumlra zeigte sich die bipolare Ausrichtung der zwischenkriegspolitik am klarsten Solange die Westmaumlchte in der Weltwirtschaft das Sagen hatten und den Frieden in ostasien sicherten behielten die japanischen Liberalen die oberhand Als dieser militaumlrische wirtschaftliche und politische Rahmen auseinanderbrach waren es die Fuumlrsprecher imperialistischer Aggressionen die die Gelegenheit zu nut-zen wussten

die Gewalt des Groszligen Krieges ging entgegen der Version vom dunk-len Kontinent nicht in erster Linie im dualismus rivalisierender ameri-kanischer und sowjetischer Projekte auf geschweige denn ndash das ist eine ebenso anachronistische Sichtweise ndash im dreigliedrigen Wettbewerb zwischen der amerikanischen demokratie dem Faschismus und dem Kommunismus Was nach dem ersten Weltkrieg aufkam war eine mul-tipolare polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung Und bei dieser Suche stuumltzte sich das Kalkuumll aller Groszligmaumlchte auf einen zentralen Faktor die Vereinigten Staaten eben dieser Konformismus verdross

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Hitler und Trotzki so sehr Beide hatten gehofft dass das Britische empire als Herausforderer der Vereinigten Staaten auftreten wuumlrde Trotzki sah einen neuen innerimperialistischen Krieg voraus56 Hitler hatte schon in Mein Kampf seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Buumlndnis ge-gen Amerika und die finsteren Kraumlfte der juumldischen Weltverschwoumlrung geaumluszligert57 Aber trotz der groszligen Worte seitens der Tory-Regierungen der 1920er Jahre standen die Aussichten auf eine Konfrontation zwischen eng-land und Amerika schlecht In einem entscheidenden strategischen zuge-staumlndnis trat Groszligbritannien die Vorrangstellung an die Vereinigten Staa-ten ab die Oumlffnung der britischen demokratie fuumlr eine Regierung durch die Labour Party verstaumlrkte diesen Impuls nur noch Beide Labour-Kabi-nette unter Ramsay macdonald das von 1924 wie das von 1929 bis 1931 waren entschiedene Befuumlrworter einer transatlantischen orientierung

Aber trotz dieser allgemeinen Konformitaumlt bekamen die Aufstaumlndi-schen ihre Chance Und das fuumlhrt uns zu der Frage zuruumlck die schon die Anhaumlnger der Hegemoniekrise gestellt haben Warum verloren die West-maumlchte auf so spektakulaumlre Weise die Kontrolle Unter dem Strich duumlrfte die Antwort wohl in dem Scheitern der Vereinigten Staaten liegen mit den Franzosen Briten deutschen und Japanern im Bemuumlhen um die Sta-bilisierung einer lebensfaumlhigen Weltwirtschaft und den Aufbau neuer einrichtungen der kollektiven Sicherheit zusammenzuarbeiten eine ge-meinsame Loumlsung der Wirtschafts- und Sicherheitsfragen war erforder-lich um der imperialistischen Rivalitaumlt ein ende zu setzen Angesichts der Gewalt die sie bereits erlebt hatten und des Risikos einer noch groumlszligeren Verwuumlstung in der zukunft erkannten Frankreich deutschland Japan und Groszligbritannien diese Gefahr durchaus ebenso offensichtlich war jedoch dass nur die Vereinigten Staaten eine solche neue ordnung ver-ankern konnten Wenn hier die amerikanische Verantwortung so sehr hervorgehoben wird so geht es nicht um ein Wiederaufleben der allzu vereinfachenden These vom amerikanischen Isolationismus sondern es geht darum zu zeigen warum man bei dieser Frage unablaumlssig auf die Vereinigten Staaten zuruumlckkommen muss58 Wie laumlsst sich Amerikas zouml-gern erklaumlren sich den Herausforderungen in der zeit nach dem ersten Weltkrieg zu stellen das ist der Punkt an dem die Synthese der Interpre-tationslinien vom dunklen Kontinent und dem Scheitern der Hegemonie vollendet werden muss der Weg zu einer echten Synthese fuumlhrt nicht allein uumlber die erkenntnis dass die Probleme der globalen Fuumlhrungsrolle

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die sich den Vereinigten Staaten nach dem ersten Weltkrieg stellten voumll-lig neuartig waren und dass die anderen maumlchte ebenfalls nach einer neuen ordnung jenseits des Imperialismus suchten Als drittes muss man sich vor Augen fuumlhren dass Amerikas eigener eintritt in die moderne der von den meisten darstellungen der internationalen Politik des 20 Jahrhunderts als problemlos dargestellt wird genauso gewaltsam verwir-rend und zwiespaumlltig verlief wie der aller anderen Staaten im Weltsystem In Anbetracht der zwiespaumllte einer ehemaligen Kolonialgesellschaft die aus dem atlantischen Sklavenhandel hervorgegangen war sich mit gewalt-samen methoden nach Westen ausgedehnt hatte durch eine massenein-wanderung aus europa haumlufig unter traumatischen Umstaumlnden bevoumllkert wurde und anschlieszligend dank der aufkommenden Kraft der kapitalisti-schen entwicklung staumlndig in Bewegung blieb hatte Amerika in der Tat tiefgreifende Probleme mit der moderne Aus der Anstrengung heraus diese qualvolle erfahrung des 19 Jahrhunderts zu verarbeiten entstand eine Ideologie die beide Lager der amerikanischen Parteienlandschaft teilten naumlmlich der exzeptionalismus59 In einem zeitalter des unge-bremsten Nationalismus war das Ungewoumlhnliche nicht dass die Ameri-kaner uumlberzeugt waren das Schicksal ihrer Nation sei etwas ganz Beson-deres Jede selbstbewusste Nation im 19 Jahrhundert hatte das Gefuumlhl die Vorsehung habe eine besondere mission fuumlr sie doch das Bemerkens-werte in der Nachkriegszeit war in welchem Ausmaszlig der amerikanische exzeptionalismus selbstbewusster und lautstaumlrker als je zuvor auftrat ge-nau in dem moment als alle anderen groszligen Staaten allmaumlhlich erkann-ten dass sie aufeinander angewiesen waren Wenn man sich die Reden Wilsons und anderer amerikanischer Politiker jener zeit naumlher ansieht stellt man fest dass raquodie erste Quelle des progressiven Internationalismus hellip der Nationalismuslaquo ist60 Ihre Auffassung Amerika habe eine von Gott vorgegebene vorbildliche mission zu erfuumlllen versuchten sie der ganzen Welt zu vermitteln Als dieses amerikanische Gefuumlhl der Auserwaumlhltheit gepaart wurde mit massiver macht wie es nach 1945 der Fall war wurde daraus eine wahrhaft weltveraumlndernde Kraft Im Jahr 1918 waren die Grundbausteine dieser macht bereits gegeben aber das wurde weder von der Regierung Wilson noch von ihren Nachfolgern ausgesprochen Somit stellt sich die Frage auf eine andere Weise Warum wurde die Ideologie der einzigartigkeit im angehenden 20 Jahrhundert nicht von einer effek-tiven groszlig angelegten Strategie unterstuumltzt

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Wir werden zu einer Schlussfolgerung gedraumlngt die auf beklem-mende Weise an eine Frage erinnert die uns noch heute beschaumlftigt es ist insbesondere in der europaumlischen Geschichte gang und gaumlbe das fruumlhe 20 Jahrhundert so zu erzaumlhlen als habe die amerikanische moderne schlagartig die Weltbuumlhne betreten61 Aber Neuartigkeit und dynamik behaupteten sich wie hier immer wieder betont wird Seite an Seite mit einem tiefen dauerhaften Konservatismus62 Angesichts wahrhaft radika-ler Veraumlnderungen klammerten sich die Amerikaner an eine Verfassung die schon ende des 19 Jahrhunderts das aumllteste republikanische modell war das noch Bestand hatte es war wie einheimische Kritiker aufzeigten als Verfassung in vieler Hinsicht schlecht fuumlr die Anforderungen der mo-dernen Welt geeignet Trotz der nationalen Konsolidierung nach dem Buumlrgerkrieg trotz all des oumlkonomischen Potenzials des Landes waren die Bundesbehoumlrden der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20 Jahrhunderts erst rudimentaumlr entwickelt auf jeden Fall verglichen mit dem raquobig govern-mentlaquo das nach 1945 so wirkungsvoll als Anker der globalen Hegemonie diente63 der Aufbau eines effektiveren Staatsapparats fuumlr Amerika war eine Aufgabe die sich Progressive aller politischen Lager infolge des Buumlr-gerkriegs auf die Fahne geschrieben hatten die dringlichkeit dieser Auf-gabe wurde durch den beunruhigenden Aufschwung populistischer Strouml-mungen lediglich bestaumltigt der auf die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre folgte64 es musste etwas unternommen werden um Washington gegen den alarmierenden Anstieg der Protestbewegungen zu isolieren der nicht nur die innere ordnung bedrohte sondern auch Amerikas internatio-nales Ansehen das war eine der Hauptaufgaben sowohl fuumlr Wilsons Re-gierung als auch fuumlr seine republikanischen Nachfolger zu Beginn des 20 Jahrhunderts65 Aber waumlhrend Theodore Roosevelt und Konsorten militaumlrische macht und Krieg als starke Vektoren eines fortschrittlichen Staatsaufbaus betrachteten wehrte sich Wilson gegen diesen ausgetrete-nen Pfad der Alten Welt die Friedenspolitik die er bis zum Fruumlhjahr 1917 verfolgte war ein verzweifelter Versuch sein innenpolitisches Reformpro-gramm gegen die heftigen politischen Leidenschaften und schmerzlichen sozialen und wirtschaftlichen Verschiebungen des Krieges abzuschirmen es war vergebliche muumlhe das verhaumlngnisvolle ende von Wilsons zweiter Amtszeit in den Jahren 1919 bis 1921 brachte das Scheitern dieses ersten groszligen Versuchs im 20 Jahrhundert mit sich das amerikanische Staats-gebilde neu zu formieren Als Folge wurde nicht nur der Versailler Ver-

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trag ausgehebelt sondern auch ein wahrhaft aufsehenerregender oumlkono-mischer Schock ausgeloumlst die weltweite depression von 1920 das wohl am meisten unterschaumltzte ereignis in der Geschichte des 20 Jahrhunderts

Wenn man sich diese strukturellen merkmale der amerikanischen Verfassung vor Augen fuumlhrt dann erscheint die Ideologie des exzeptio-nalismus womoumlglich in einem etwas guumlnstigeren Licht Bei allem Lob und Preis fuumlr die einzigartige Tugend und schicksalhafte Bedeutung der ame-rikanischen Geschichte enthielt sie doch eine konservative Weisheit ein fundiertes Verstaumlndnis seitens der politischen Klasse der Vereinigten Staaten dass zwischen den beispiellosen internationalen Herausforderun-gen zu Beginn des 20 Jahrhunderts und den beschraumlnkten Kapazitaumlten des amerikanischen Staatswesens ein fundamentales missverhaumlltnis klaffte die Ideologie von der einzigartigkeit beinhaltete die erinnerung daran wie das Land vor nicht allzu langer zeit von einem Buumlrgerkrieg erschuumlttert worden war wie heterogen seine ethnische und kulturelle zu-sammensetzung war und wie leicht sich die inhaumlrenten Schwaumlchen einer republikanischen Verfassung zur Selbstblockade oder einer regelrechten Krise auswachsen konnten Hinter dem Wunsch sich von den gewalt-samen Kraumlften die in europa und Asien tobten fernzuhalten verbarg sich die erkenntnis der Grenzen dessen was das amerikanische Gemein-wesen ungeachtet seines sagenhaften Reichtums wirklich zu leisten ver-mochte66 Bei all Ihrer visionaumlren zukunftsorientierung waren die Pro-gressiven aus Wilsons wie aus Hoovers Generation im Grunde nicht darauf erpicht diese Beschraumlnkungen radikal zu uumlberwinden vielmehr wollten sie die Kontinuitaumlt der amerikanischen Geschichte wahren und sie mit der neuen nationalen ordnung versoumlhnen die sich bis zur Jahrhun-dertwende allmaumlhlich herauskristallisierte Hierin liegt die eigentliche Iro-nie des fruumlhen 20 Jahrhunderts Im zen trum des rasch sich entwickeln-den auf Amerika ausgerichteten Welt systems stand ein Staatswesen das einer konservativen Vision der eigenen zukunft verhaftet war Nicht um-sonst umschrieb Wilson sein ziel mit den sehr zuruumlckhaltenden Worten er wolle die Welt sicher fuumlr die demokratie machen Nicht umsonst war raquoNormalitaumltlaquo das praumlgende Schlagwort der 1920er Jahre Inwiefern dies wiederum all jene unter druck setzte die versuchten einen Beitrag zum Projekt der raquoWeltorganisationlaquo zu leisten ist der rote Faden des vorliegen-den Buches er verbindet den moment im Januar 1917 als Wilson ver-suchte den groumlszligten Krieg aller zeiten mit einem Frieden ohne Sieger zu

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beenden mit dem tiefen Abgrund der Weltwirtschaftskrise 14 Jahre da-nach als die alles verzehrende Krise des fruumlhen 20 Jahrhunderts ihr letztes opfer forderte die Vereinigten Staaten

die tumultartigen blutigen ereignisse die auf diesen Seiten erzaumlhlt werden stellten die stolzen Nationalgeschichten des 19 Jahrhunderts auf den Kopf Tod und zerstoumlrung fuumlhrten jede optimistische viktorianische Geschichtsphilosophie ad absurdum ebenso wie jede liberale konserva-tive nationale oder marxistische deutung Aber was sollte man mit dieser Katastrophe anfangen Fuumlr manche kuumlndigte sie das ende jeden Sinns in der historischen entwicklung an das Scheitern einer beliebigen Vorstel-lung von Fortschritt das konnte man fatalistisch auffassen ndash oder als Freibrief fuumlr die wildesten spontanen Aktionen Andere zogen nuumlchter-nere Schluumlsse es gab eine entwicklung ndash womoumlglich auch einen Fort-schritt bei all seiner zweideutigkeit ndash aber sie war komplexer gewaltsa-mer als irgendjemand geahnt hatte Anstelle der huumlbschen Theorien mit entwicklungsstufen die von Theoretikern des 19 Jahrhunderts praumlsen-tiert worden waren nahm Geschichte die Gestalt einer raquoungleichen und kombinierten entwicklunglaquo an wie Trotzki es nannte ein lose definiertes Geflecht von ereignissen Akteuren und Prozessen die sich mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und deren individuelle Ver-laumlufe labyrinthartig miteinander verknuumlpft waren67 raquoUngleiche und kom-binierte entwicklunglaquo ist nicht gerade eine elegante Formulierung Aber sie fasst trefflich die Geschichte zusammen die im Folgenden erzaumlhlt wird die Geschichte der internationalen Beziehungen und die der mit-einander verflochtenen nationalen politischen entwicklung die sich von den Vereinigten Staaten uumlber eurasien bis nach China um die ganze noumlrd-liche Hemisphaumlre erstreckt Fuumlr Trotzki definierte die Wendung eine me-thode der historischen Analyse und der politischen Aktion darin aumluszligerte sich seine feste Uumlberzeugung dass Geschichte zwar keinerlei Garantien biete aber doch eine gewisse Logik enthalte erfolg haumlngt von der Schaumlr-fung der eigenen historischen erkenntnis ab um die einzigartigen Chan-cen die sie einem bietet zu erkennen und zu nutzen Fuumlr Lenin bestand ganz aumlhnlich die Hauptaufgabe des revolutionaumlren Theoretikers darin die schwaumlchsten Glieder in der raquoKettelaquo der imperialistischen maumlchte auszu-machen und anzugreifen68 der Politologe Stanley Hoffmann stellte sich in den 1960er Jahren nicht auf die Seite der Revolu tionaumlre sondern der Regierungen und praumlsentierte ein anschaulicheres Bild der raquoungleichen

43sintflu t eine neue Weltordnung entsteht

und kombinierten entwicklunglaquo er beschrieb die maumlchte groszlige wie kleine als mitglieder einer raquoChain Ganglaquo einer durch die Welt taumeln-den aneinander geketteten Straumlflingsgruppe69 die Gefangenen waren unterschiedlich gebaut einige waren gewalttaumltiger als andere einige wa-ren zielstrebig andere multiple Persoumlnlichkeiten Sie kaumlmpften mit sich selbst und einer mit dem anderen Sie konnten ver suchen die ganze Kette zu dominieren oder miteinander zu kooperieren Soweit die Kette es zu-lieszlig genossen die einzelnen Glieder ein gewisses maszlig an Autonomie aber letztlich waren sie alle aneinander gekettet Welches Bild wir auch uumlbernehmen die Bedeutung ist dieselbe ein so eng miteinander ver-knuumlpftes dynamisches System laumlsst sich nur begreifen indem man es in seiner Gesamtheit unter die Lupe nimmt und seine Bewegung in der zeit zuruumlckverfolgt Um diese entwicklung zu verstehen muumlssen wir sie er-zaumlhlen das ist die Aufgabe des vorliegenden Buches

tEil i

Die Krise Eurasiens

Ein Krieg in der Schwebe

Von den Schuumltzengraumlben an der Westfront aus konnte einem der Groszlige Krieg durchaus statisch vorkommen ein Ringen um ein paar Kilometer Gelaumlndegewinn auf Kosten Hunderttausender menschenleben doch diese Perspektive taumluscht1 An der ostfront und im Kampf gegen das os-manische Reich waren die Schlachtlinien staumlndig in Bewegung Im Wes-ten hingegen veraumlnderte sich die Front kaum der Stillstand war darauf zuruumlckzufuumlhren dass sich hier gewaltige Kraumlfte in einem fragilen Gleich-gewicht gegenseitig neutralisierten und nicht voneinander loumlsen konnten Von einem monat auf den naumlchsten wechselte die Initiative von der einen auf die andere Seite zu Beginn des Jahres 1916 plante die entente die mittelmaumlchte durch eine Reihe konzentrischer Angriffe aufzureiben die nacheinander von franzoumlsischen britischen italienischen und russischen Armeen eingeleitet werden sollten In einer Vorahnung dieses Ansturms rissen die deutschen am 21 Februar die Initiative an sich indem sie die Belagerung von Verdun begannen Sie hofften die entente mit dem An-griff auf eine Schluumlsselstellung in der franzoumlsischen Kette von Befesti-gungsanlagen auszubluten die Folge war ein Kampf auf Leben und Tod durch den zu Beginn des Sommers bereits mehr als 70 Prozent der fran-zoumlsischen Armee gebunden waren und der die konzentrische Strategie der entente zu einer Folge spontaner entlastungsoperationen zu degra-dieren drohte Um die Initiative zuruumlckzugewinnen willigten die Briten ende mai 1916 ein ihre erste groszlige Landoffensive des Krieges an der Somme zu starten

Waumlhrend die Streitkraumlfte bis ans Aumluszligerste ihrer moumlglichkeiten gin-gen bemuumlhten sich die diplomaten fieberhaft darum weitere Laumlnder in den mahlstrom des Krieges hineinzuziehen 1914 hatten Oumlsterreich-Un-garn und deutschland Bulgarien und das osmanische Reich auf ihre Seite gezogen ein Jahr spaumlter trat Italien auf der Seite der entente in den Krieg ein Japan hatte sich bereits 1914 angeschlossen und riss sich das deutsche Pachtgebiet in China auf der Halbinsel Shandong unter den Nagel ende 1916 lockten Groszligbritannien und Frankreich die japanische Flotte aus

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dem Pazifik bis ins oumlstliche mittelmeer um dort den Begleitschutz gegen oumlsterreichische und deutsche U-Boote mitzutragen mit hohen Geldsum-men und allen erdenklichen diplomatischen mitteln wirkte die entente auf Rumaumlnien ein den letzten neutralen Staat in mitteleuropa An der Seite der entente konnte es zu einer toumldlichen Gefahr fuumlr die Grenze Oumlsterreich-Ungarns werden doch schon im Jahr 1916 vermochte nur eine macht das Kraumlftegleichgewicht wirklich entscheidend zu veraumlndern die Vereinigten Staaten ndash und zwar in wirtschaftlicher militaumlrischer und po-litischer Hinsicht erst im Jahr 1893 hatte Groszligbritannien seine Gesandt-schaft in der amerikanischen Hauptstadt zu einer richtigen Botschaft aufgewertet Nicht einmal dreiszligig Jahre spaumlter schien die europaumlische Geschichte von Washingtons Haltung im Krieg abzuhaumlngen

I

der erfolg der Strategie der entente hing davon ab eine Folge konzentri-scher Angriffe mit der langsamen wirtschaftlichen Strangulierung der mittelmaumlchte zu kombinieren Vor dem Krieg hatte die britische Admira-litaumlt nicht nur Plaumlne fuumlr eine Seeblockade ausgearbeitet sondern auch fuumlr einen den mitteleuropaumlischen Handel vernichtenden Finanzboykott Im August 1914 schreckten sie angesichts heftiger Proteste aus Amerika je-doch davor zuruumlck diese Plaumlne konsequent umzusetzen2 So entstand eine fuumlr alle Seiten unbefriedigende Pattsituation Groszligbritannien und Frankreich schraumlnkten die Wirkung ihrer ultimativen Seekriegswaffe ein Aber selbst die Teilblockade sorgte in den Vereinigten Staaten fuumlr Unmut die amerikanische marine hielt diese fuumlr raquonicht vereinbar mit dem bis-lang bekannten Recht oder Brauch der Seekriegfuumlhrung helliplaquo3 Allerdings war die deutsche Reaktion auf die Blockade eine noch staumlrkere politische Belastung Um das Kriegsgluumlck zu wenden setzte die deutsche Kriegsma-rine im Februar 1915 bei ihrem ersten massiven Angriff auf die transatlan-tische Schifffahrt Unterseeboote ein Sie versenkte fast zwei Schiffe pro Tag und eine Tonnage von durchschnittlich 100 000 Bruttoregistertonnen im monat doch Groszligbritannien verfuumlgte uumlber ein groszliges Schiffspoten-zial und sollte diese Form der Kriegfuumlhrung uumlber einen laumlngeren zeit-raum andauern wuumlrde das mit hoher Wahrscheinlichkeit fruumlher oder spaumlter Amerikas Kriegseintritt zur Folge haben die Lusitania und die

49ein Krieg in der schWebe

Arabic versenkt im mai und im August 1915 waren nur die bekanntesten opfer Um eine weitere eskalation zu verhindern machte die zivile deut-sche Regierung ende August einen Ruumlckzieher mit der Un terstuumltzung der katholischen zentrumspartei der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten gab Reichskanzler Bethmann Hollweg den Befehl den U-Boot-Krieg einzuschraumlnken Wie die Blo-ckade die die entente aus Angst sich Amerika zum Feind zu machen nicht konsequent durchgezogen hatte scheiterte auch deutschlands Ge-genschlag aus diesem Grund Stattdessen versuchte die deutsche Kriegs-marine im Fruumlhjahr 1916 das Patt auf See zu uumlberwinden indem sie die britische Seeflotte in der Nordsee in eine Falle lockte Am 31 mai 1916 prallten in der Schlacht von Juumltland 33 britische und 27 deutsche Groszlig-kampfschiffe aufeinander ndash die groumlszligte Seeschlacht des gesamten Krieges das ergebnis war keines die Flotten schlichen zum Stuumltzpunkt zuruumlck um kuumlnftig nur vom Rand des Geschehens als riesige stille Reserven maritimer macht einfluss auszuuumlben

Im Sommer 1916 als sich die entente bemuumlhte die Initiative an der Westfront zuruumlckzugewinnen war die Frage der Atlantikblockade immer noch ungeloumlst Als die Franzosen und Briten den druck verstaumlrkten in-dem sie amerikanische Firmen die angeblich raquomit dem Feind Handel triebenlaquo auf eine schwarze Liste setzten konnte Praumlsident Wilson seinen zorn kaum zuumlgeln4 das sei raquoder letzte Tropfenlaquo gewesen bekannte er gegenuumlber seinem engsten Vertrauten dem weltmaumlnnischen Texaner oberst House raquoIch bin das muss ich zugeben fast am ende meiner Ge-duld mit Groszligbritannien und den Verbuumlndetenlaquo5 Wilson beschraumlnkte sich nicht auf Proteste die amerikanische Armee mochte klein sein aber bereits im Jahr 1914 war die amerikanische Flotte eine Streitmacht mit der man rechnen musste es war die viertgroumlszligte Flotte der Welt und im Ge-gensatz zur japanischen und zur deutschen Flotte konnten die Amerika-ner stolz darauf verweisen dass sie schon anno 1812 erfolgreich der Royal Navy die Stirn geboten hatten Fuumlr die Anhaumlnger Admiral mahans des groszligen amerikanischen Theoretikers der Seemacht bot der Krieg eine unschaumltzbare Gelegenheit die europaumler beim Schiffbau zu uumlbertreffen und eine unumstrittene Kontrolle uumlber die Seewege zu errichten Im Fe-bruar 1916 gab Praumlsident Wilson ihren Forderungen nach und startete eine Kampagne um die zustimmung des Kongresses zum Bau der wie er stolz verkuumlndete raquounvergleichlich groumlszligten Flotte der Weltlaquo zu erhalten6

51ein Krieg in der schWebe

Als oberst House mit dem Praumlsidenten im September 1916 uumlber die zu erwartenden Folgen einer Aufstockung der Flotte fuumlr die anglo-ame-rikanischen Beziehungen diskutierte aumluszligerte Wilson ganz unverbluumlmt seine meinung raquoBauen wir doch einfach eine groumlszligere Flotte als ihre und schalten und walten dann nach Beliebenlaquo8 diese Aussage war fuumlr Groszlig-britannien deshalb eine reale Bedrohung weil die Vereinigten Staaten fingen sie einmal damit an im Gegensatz zum deutschen Reich oder zu Japan eindeutig die mittel hatten die drohung wahr zu machen Binnen fuumlnf Jahren erreichten die USA den Status einer Groszligbritannien ebenbuumlr-tigen Seemacht das fuumlgte dem Krieg aus britischer Sicht im Jahr 1916 eine grundlegend neue dimension hinzu Hatte zu Beginn des 20 Jahrhun-derts die eindaumlmmung Japans Russlands und deutschlands in den stra-tegischen Uumlberlegungen des empire oberste Prioritaumlt gehabt zaumlhlte seit August 1914 nur noch die Niederlage des deutschen Reiches und seiner Buumlndnispartner Nun eroumlffnete Wilsons offensichtlicher Wunsch eine amerikanische Flotte zu bauen die ebenso stark wie die britische war eine alarmierende neue Aussicht War schon in guten zeiten eine Herausfor-derung durch die Vereinigten Staaten beaumlngstigend so war sie in Anbe-tracht der Anforderungen des Groszligen Krieges geradezu ein Alptraum Und Amerikas Ambitionen zur See waren nicht die einzige grundlegende Herausforderung mit der die europaumler im Jahr 1916 konfrontiert waren9 die wachsende Wirtschaftsmacht Amerikas hatte sich seit den 1890er Jah-ren deutlich abgezeichnet aber erst waumlhrend des Krieges zwischen der entente und den mittelmaumlchten verlagerte sich das zentrum der Fi-nanzwelt schlagartig auf die andere Seite des Atlantiks10 dieser Wechsel war aber nicht nur ein ortswechsel sondern auch eine Neudefinition des-sen was die finanzielle Fuumlhrungsmacht tatsaumlchlich bedeutete

die europaumlischen Staaten begannen den Krieg allesamt auf einer nach heutigem Standard bemerkenswert starken finanziellen Grundlage mit einem soliden oumlffentlichen Haushalt und mit hohen auslaumlndischen Gut-haben 1914 machten private Auslandsinvestitionen ein volles drittel des britischen Vermoumlgens aus Als der Krieg ausbrach multiplizierte ein rie-siges transatlantisches Finanzgeschaumlft diese einheimischen und imperia-len Ressourcen die europaumlischen Regierungen engagierten sich auf einem neuen internationalen Terrain vor allem jedoch die britische und zwar uumlber eine voumlllig neuartige internationale Transaktion Vor 1914 war Londons fuumlhrende Rolle auf dem Finanzsektor allgemein anerkannt

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gewesen Aber das internationale Finanzwesen war damals eine rein pri-vatwirtschaftliche Angelegenheit der dirigent des Goldstandard-or-chesters die Bank of england war keine Regierungsbehoumlrde sondern ein privates Unternehmen der einfluss des britischen Staates machte sich in der internationalen Finanzwelt lediglich indirekt geltend das britische Finanzministerium hielt sich im Hintergrund Unter den auszligerordentli-chen zwaumlngen des Krieges verfestigten sich diese unsichtbaren informel-len Vernetzungen von Geld und einfluss schlagartig zu einem viel kon-kreteren und offen politischen Hegemonial anspruch Von oktober 1914 an schoben die britische und die franzoumlsische Regierung mit Staatskredi-ten in Houmlhe von Hunderten millionen Pfund die raquorussische dampfwalzelaquo an die von osten her die mittelmaumlchte zermalmen sollte11 Nach dem Abkommen von Boulogne vom August 1915 wurden die Goldreserven aller drei groszligen entente-maumlchte zusammengelegt und stuumltzten den Wert des britischen Pfundes und des franzoumlsischen Franc in New York12 Im Gegenzug uumlbernahmen Groszligbritannien und Frankreich die Verantwor-tung fuumlr das Aushandeln von darlehen im Namen der ganzen entente Aufgrund der gigantischen Kosten der Schlacht von Verdun hatte Frank-reichs Kreditwuumlrdigkeit im August 1916 einen so tiefen Stand erreicht dass es London uumlberlassen blieb das gesamte Kreditgeschaumlft in New York gegenzuzeichnen13 ein neues Netz politischer Kreditvergabe mit London im zentrum war in europa entstanden Aber das war nur die eine Seite dieses Vorgangs

Bilanztechnisch betrachtet beinhaltete die Finanzierung der Kriegs-anstrengungen der entente eine gigantische Umstrukturierung der na-tionalen Vermoumlgen und Verbindlichkeiten14 Als Sicherheit organisierte das britische Schatzamt fuumlr private Aktionaumlre einen zwangskauf erstklas-siger nordamerikanischer und lateinamerikanischer Wertpapiere die ge-gen britische Staatsanleihen eingetauscht wurden die auslaumlndischen Wertpapiere dienten sobald sie in den Truhen des britischen Fiskus wa-ren als Sicherheit fuumlr darlehen in Houmlhe von milliarden dollar die sich die entente von der Wall Street beschafft hatte die Verbindlichkeiten die der britische Fiskus in Amerika einging wurden in der britischen zah-lungsbilanz wiederum durch gewaltige Forderungen an die russische und die franzoumlsische Regierung ausgeglichen Stellt man sich diese gigan-tische mobilisierung von Ressourcen jedoch lediglich als die reibungslose Neuausrichtung eines bestehenden Netzwerks vor so wird das der histo-

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rischen Bedeutung der Verlagerung und der extremen Sensibilitaumlt der Finanzarchitektur die daraus hervorging nicht gerecht denn die Kriegs-anleihen der entente stellten die politische Geometrie des alten Londoner Finanzsystems auf den Kopf

Vor dem Krieg floss das Geld von privaten Investoren in London und Paris den reichen zentren des imperialen europa an private und oumlffent-liche Kreditnehmer in Randgebieten15 1915 hatte sich nicht nur die Geld-quelle an die Wall Street verlagert es waren auch nicht mehr die eisen-bahngesellschaften in Russland oder diamantensucher in Suumldafrika die um Kredite Schlange standen Nun liehen sich die maumlchtigsten Staaten europas von privaten Anlegern in den Vereinigten Staaten Geld ndash oder von wem auch immer der ihnen Kredit gewaumlhrte eine derartige Kreditver-gabe von privaten Investoren in einem reichen Land an die Regierungen anderer reicher entwickelter Laumlnder in einer Waumlhrung auf die der staat-liche Kreditnehmer keinen einfluss hatte war nicht vergleichbar mit den Transaktionen die in der Bluumlte der spaumltviktorianischen Globalisierung ge-taumltigt worden waren die Hyperinflationen nach dem ersten Weltkrieg zeigten dass sich eine Regierung die in der eigenen Waumlhrung Geld ge-liehen hatte einfach uumlber die druckerpresse ihrer Schulden entledigen konnte eine Flut neuer Banknoten wuumlrde den eigentlichen Wert der Kriegsschulden abstuumlrzen lassen das galt jedoch nicht fuumlr Geld das sich Groszligbritannien oder Frankreich in dollar von der Wall Street lieh die maumlchtigsten Staaten in europa wurden somit von auslaumlndischen Geldge-bern abhaumlngig diese Geldgeber wiederum gaben der entente einen Ver-trauensvorschuss Gegen ende 1916 hatten amerikanische Investoren zwei milliarden dollar auf einen Sieg der entente gesetzt Abgewickelt wurde diese transatlantische Transaktion sobald London 1915 die Verantwortung uumlbernommen hatte von einer einzigen Privatbank dem maumlchtigen Wall-Street-Bankhaus J P morgan das weit zuruumlckreichende Verbindungen zum Finanzplatz London hatte16 Gewiss handelte es sich hier um ein Ge-schaumlft Aber das ging vonseiten morgans einher mit einer unverhohlen antideutschen Pro-entente-Haltung und im eigenen Land mit einer Un-terstuumltzung fuumlr die lautstaumlrksten Kritiker Praumlsident Wilsons die inter-ventionistischen Kraumlfte unter den Republikanern das ergebnis war eine einzigartige internationale Verflechtung von staatlicher und privater macht Im Laufe der gigantischen Somme-offensive im Sommer 1916 gab J P morgan in Amerika uumlber eine milliarde dollar im Namen der briti-

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schen Regierung aus sage und schreibe 45 Prozent der britischen Kriegs-ausgaben in diesen entscheidenden monaten17 1916 war die einkaufsab-teilung der Bank zustaumlndig fuumlr Liefervertraumlge der entente die einen houmlheren Wert hatten als der gesamte exporthandel der Ver einigten Staa-ten in den Jahren vor dem Krieg Uumlber die privaten Geschaumlftsverbindun-gen J P morgans unterstuumltzt von der wirtschaftlichen und politischen elite des amerikanischen Nordostens gelang der entente die mobilisie-rung eines Groszligteils der amerikanischen Wirtschaft und das ganz ohne das einverstaumlndnis der Wilson-Administration Potenziell verlieh die Abhaumlngigkeit der entente von darlehen aus Amerika dem amerika-nischen Praumlsidenten ein starkes druckmittel auf die Alliierten Aber wuumlrde Wilson diese macht tatsaumlchlich ausuumlben koumlnnen War die Wall Street womoumlglich zu unabhaumlngig Verfuumlgte die amerikanische Bundes-regierung uumlberhaupt uumlber mittel die Taumltigkeit von J P morgan zu beauf-sichtigen

die Fragen der Kriegsfinanzierung und der amerikanischen Bezie-hungen zur entente verbanden sich 1916 mit einer diskussion die seit mehr als einer Generation um die Beherrschbarkeit des amerikanischen Kapitalismus gefuumlhrt wurde Noch im Jahr 1912 vierzig Jahre nach der neuerlichen Bindung an den Goldstandard nach dem ende des Buumlrger-kriegs existierte in den Vereinigten Staaten kein Pendant zur Bank of england zur franzoumlsischen Banque de France oder zur deutschen Reichs-bank18 die Wall Street hatte schon seit langem fuumlr die Gruumlndung einer zentralbank plaumldiert die als Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz fungieren sollte doch die Interessengruppen waren alles andere als gluumlcklich als Wilson im Jahr 1913 den Federal Reserve Board ins Leben rief Fuumlr den Geschmack der Wall Street allen voran J P morgan war Wilsons Fed viel zu stark politisch ausgerichtet19 es war keine wirklich raquounabhaumlngigelaquo einrichtung nach dem Vorbild der im Privatbesitz befind-lichen Bank of england 1914 als in europa der Krieg ausbrach bestand das neue System seine erste Nagelprobe die Fed und das Finanzministe-rium hatten interveniert um zu verhindern dass die Schlieszligung der europaumlischen Finanzmaumlrkte einen Kollaps an der Wall Street nach sich zog20 191516 wurde die amerikanische Wirtschaft von einem enormen durch den export geschuumlrten industriellen Boom angetrieben Um die Nachfrage in europa zu decken saugten die Fabrikstaumldte im Nordosten und um die Groszligen Seen Arbeitskraumlfte und Kapital von uumlberall aus den

55ein Krieg in der schWebe

Vereinigten Staaten foumlrmlich auf doch das erhoumlhte nur den druck auf Wilson Wenn man zulieszlig dass der Boom ungesteuert weiter anhielt wuumlrden Amerikas Investitionen in die Kriegsanstrengungen der entente schon bald ein solches Ausmaszlig annehmen dass die entente auf keinen Fall scheitern durfte dann verloumlre die amerikanische Regierung eben die Bewegungsfreiheit die ihr 1916 solche macht in Aussicht stellte

Haumltte sich die entente womoumlglich nicht ganz so stark auf die Ressour-cen aus den Vereinigten Staaten stuumltzen sollen Immerhin fuumlhrte deutsch-land den Krieg ohne das Privileg einer so groszligzuumlgigen Unterstuumltzung21 Aber gerade dieser Vergleich fuumlhrt vor Augen wie wichtig die amerika-nischen Importe wirklich waren (Tabelle 1) Nach den kraumlftezehrenden Schlachten um Verdun und an der Somme im Sommer 1916 blieb deutschland fast zwei Jahre lang an der Westfront in der defensive die mittelmaumlchte beschraumlnkten sich auf weniger kostspielige operationen an der oumlstlichen und italienischen Front Unterdessen forderte die Seeblo-ckade von der zivilbevoumllkerung der mittelmaumlchte schweren Tribut Seit dem Winter 191617 wurden die Stadtbewohner in deutschland und Oumls-terreich langsam aber sicher ausgehungert die Sicherung der Versor-gung mit Lebensmitteln und Kohle der Heimatfront war im ersten Welt-krieg keine Nebensache sondern ein wesentlicher Faktor der den Ausgang entscheidend beeinflusste22 Als die deutschen Truppen im Fruumlhjahr 1918 ihre letzte groszlige offensive starteten war ein groszliger Teil der kaiserlichen Armee zu ausgehungert um den Vormarsch laumlngere zeit durchzuhalten Umgekehrt waumlren die unablaumlssige offensivkraft der en-tente im Jahr 1917 (die franzoumlsische offensive in der Champagne im April die Kerenski-offensive im Juli im osten der britische Vorstoszlig in Flan-

Geschosshuumllsen Flugmotoren Getreide Oumll

1914 0 28 65 911915 49 42 67 921916 55 26 67 941917 33 29 62 951918 22 30 45 97

Tabelle 1 Was mit den Dollars gekauft wurde Anteil der wich tigsten Kriegsmaterialien die Groszligbritannien im Ausland kaufte 1914 ndash 1918 (in )

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dern im Juli) und der entscheidende Schlag im Sommer und Herbst 1918 ohne nordamerikanische Ruumlckendeckung weder militaumlrisch noch poli-tisch moumlglich gewesen In London forderten zumindest bis ende 1916 einflussreiche Stimmen Groszligbritannien muumlsse sich von der Abhaumlngig-keit von amerikanischen Krediten befreien Aber sie riefen aus demselben Grund auch zu einem Verhandlungsfrieden auf Sie wurden von der im dezember 1916 neu angetretenen Koalitionsregierung Lloyd Georges uumlberstimmt die entschlossen war den raquoKo-Schlaglaquo zu fuumlhren Niemand zog ernsthaft in Betracht den Krieg mit voller Kraft weiterzufuumlhren ohne sich auf die Lieferungen und Kredite aus den Vereinigten Staaten zu stuumlt-zen Von 1916 an sobald die Buumlndnispartner bei ihrem ersten groszlig an-gelegten Versuch die mittelmaumlchte durch konzentrische Angriffe zu zerschlagen die erste milliarde dollar an Schulden angehaumluft hatten stei-gerte sich der Impuls nach und nach die Praumlmisse der gesamten an-schlieszligenden offensivplanung lautete die operationen werden durch erhebliche transatlantische Lieferungen unterstuumltzt Und dies verstaumlrkte wiederum die Abhaumlngigkeit Waumlhrend sich milliarden Schulden anhaumluf-ten wurden die Aufrechterhaltung des Schuldendienstes und das Vermei-den eines demuumltigenden Bankrotts zur alles beherrschenden Sorge schon waumlhrend des Krieges und noch staumlrker unmittelbar danach

II

die transatlantische Auseinandersetzung um den kuumlnftigen Kriegskurs war nie rein wirtschaftlich oder militaumlrisch Sie war immer vor allem eine politische Angelegenheit die Bereitschaft den Krieg fortzufuumlhren hing von der Politik ab und auch das war eine transatlantische Frage Allerdings waren hier die Konturen der debatte laumlngst nicht so klar wie bei der Wirt-schafts- und Seemacht das Bild das wir von der Be ziehung zwischen der amerikanischen und der europaumlischen Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts haben ist sehr stark von der spaumlteren er fahrung des zweiten Welt-kriegs gepraumlgt 1945 traten gut genaumlhrte selbstbewusste GIs inmitten der Kriegsruinen in europa als Vorboten des Wohlstands und der demokratie auf Aber wir sollten uns davor huumlten diese Identifizierung von Amerika mit einer verfuumlhrerischen Synthese aus kapitalistischem Wohlstand und demokratie allzu weit in das fruumlhe 20 Jahrhundert zuruumlckzuprojizieren

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die Vereinigten Staaten erhoben ebenso unvermutet Anspruch auf die politische Fuumlhrungsrolle wie ihre macht zur See und in der Finanzwelt zutage trat Sie war ein Produkt des Groszligen Krieges

Vor dem Hintergrund des furchtbaren Buumlrgerkriegs hatte Amerikas demokratisches experiment wie zu erwarten in dem halben Jahrhun-dert das zwischen 1865 und dem Kriegsausbruch 1914 lag gemischte Re-aktionen ausgeloumlst23 die erst kuumlrzlich vereinigten Nationalstaaten Italien und deutschland suchten nicht in Amerika nach Anregungen fuumlr die Ver-fassung Beide Laumlnder hatten eigene Traditionen verfassungsmaumlszligiger Re-gierungsformen die Liberalen Italiens orientierten sich am britischen modell In den 1880er Jahren wurde die japanische Verfassung nach einer Kombination europaumlischer einfluumlsse ausgearbeitet24 Waumlhrend der Bluumlte-zeit eines William Gladstone und Benjamin disraeli blickte selbst in den Vereinigten Staaten die erste Generation von Politologen darunter auch der junge Woodrow Wilson uumlber den Atlantik auf das modell von West-minster25 Natuumlrlich hatte die Seite der Union ihre eigene heldenhafte Version mit Abraham Lincoln als ihrem groszligen Vorkaumlmpfer Aber erst nachdem der Schock des Buumlrgerkriegs allmaumlhlich abgeklungen war konnte eine junge Generation amerikanischer Intellektueller eine neue versoumlhnte landesweite Version gutheiszligen Sobald die Westgrenze ge-schlossen wurde war der Kontinent vereint der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 und die eroberung der Philippinen im Jahr 1902 steigerten das Selbstbewusstsein noch die industrielle dynamik der Vereinigten Staaten war beispiellos Ihre Agrarexporte brachten der Welt ein reiches Warenangebot Aber die fortschrittlichen Reformer des Gilded Age hatten ein zwiespaumlltiges Selbstbildnis von Amerika es war ebenso sehr ein Syn-onym fuumlr Korruption in den Staumldten misswirtschaft und habgierige Po-litik wie fuumlr Wachstum Produktion und Freiheit Auf der Suche nach modellen fuumlr moderne Regierungsformen pilgerten amerikanische ex-perten in die Staumldte des deutschen Kaiserreichs nicht umgekehrt26 In einem Ruumlckblick merkte Woodrow Wilson selbst 1901 an dass das 19 Jahrhundert zwar raquovor allen anderen ein Jahrhundert der demokratielaquo gewesen sei raquodie Welt am ende dieses Jahrhunderts von den Vorzuumlgen der demokratie als Regierungsform jedoch nicht uumlberzeugterlaquo gewesen sei raquoals an seinem Anfanglaquo die Stabilitaumlt demokratischer Republiken sei immer noch fraglich obwohl der raquoaus england hervorgegangenelaquo Staa-tenbund die beste Bilanz vorzuweisen habe raumlumte Wilson selbst ein

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dass raquodie Geschichte der Vereinigten Staaten hellip nicht als Beweis akzep-tiert worden ist dass sie [die demokratie] die Tendenz hat die Regierung gerecht und liberal und rein zu machenlaquo27 die Amerikaner selbst hatten vielleicht Grund ihrem System zu vertrauen aber was die weite Welt an-ging musste es sich erst noch bewaumlhren

man darf auch nicht davon ausgehen dass die Karten bei Kriegsaus-bruch sofort neu gemischt wurden Bis der Blutzoll unertraumlglich wurde betrachteten die kriegfuumlhrenden maumlchte europas die groszlige mobil-machung vom August 1914 als eine wundersame Bestaumltigung ihrer staats-bildenden Bemuumlhungen28 Keine einzige Kriegspartei war im Sinne des spaumlten 20 Jahrhunderts eine voll entwickelte demokratie aber sie waren auch keine absolutistischen monarchien oder gar totalitaumlre diktaturen die Kriegsanstrengungen wurden vielleicht nicht gerade von patrioti-scher Hochstimmung getragen aber zumindest von einem bemerkens-wert breiten Konsens Groszligbritannien Frankreich Italien Japan deutschland und Bulgarien fuumlhrten allesamt Krieg waumlhrend die Parla-mente weiter tagten das oumlsterreichische Parlament wurde 1917 in Wien wiedereroumlffnet Selbst in Russland zog die anfaumlnglich patriotische Stim-mung von 1914 ein Wiederaufleben der duma nach sich Auf beiden Sei-ten der Front hatten die Soldaten vor allen dingen das motiv ihr System der Rechtsprechung eigentumsrechte und ihre nationale Identitaumlt zu verteidigen dafuumlr lohnte es sich nach ihrer meinung zu kaumlmpfen die Franzosen zogen in den Krieg um die Republik gegen den erzfeind zu verteidigen die Briten meldeten sich freiwillig um ihren Beitrag zur Verteidigung der interna tionalen zivilisation zu leisten und die deutsche Gefahr abzuwehren die deutschen und die Oumlsterreicher kaumlmpften um sich gegen franzoumlsischen Hass italienischen Verrat herrische Forderun-gen des britischen Impe rialismus und gegen die schlimmste Gefahr von allen das zaristische Russland zu wehren offene Aufrufe zur meuterei wurden zwar unterdruumlckt und Befehlsverweigerer unter Umstaumlnden kur-zerhand inhaftiert oder an gefaumlhrliche Frontabschnitte verlegt aber uumlber einen Verhandlungsfrieden wurde unablaumlssig in einer Weise gesprochen die in der Spaumltphase des zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten undenkbar gewesen waumlre

Als die britische Regierung im dezember 1916 unter Premierminister Lloyd George umgebildet wurde sollte gerade dadurch das ultimative ziel deutschland den entscheidenden Schlag zu versetzen gewaumlhrleistet

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werden und zwar gegen die zunehmenden Rufe nach einem Verhand-lungsfrieden die meisten wichtigen Kabinettsposten wurden von den Tories beansprucht doch der Premierminister selbst war ein Linkslibera-ler mit einem sicheren Gespuumlr fuumlr die Stimmung im Volk Bereits im mai 1915 hatte sein Vorgaumlnger Asquith Gewerkschafter in das britische Kabi-nett aufgenommen die europaumlische Politik zu Beginn des 20 Jahrhun-derts war viel offener als haumlufig anerkannt wird In Frankreich bildeten die Sozialisten einen wesentlichen Bestandteil der Union Sacreacutee des par-teiuumlbergreifenden Buumlndnisses das die Republik durch die ersten beiden Kriegsjahre fuumlhrte Im deutschen Reich stellten die Sozialdemokraten die groumlszligte Fraktion im Reichstag auch wenn die Regierung in den Haumlnden der vom Kaiser berufenen Vertreter blieb Kanzler Bethmann Hollweg beriet sich nach dem August 1914 routinemaumlszligig mit ihnen Als die Gene-raumlle Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 die Kriegswirtschaft bis aufs Aumluszligerste steigerten wussten sie die zugesagte Unterstuumltzung der Ge-werkschaften hinter sich

die Reaktion der Amerikaner auf dieses oumlffentliche Schauspiel der europaumlischen mobilmachung war Theodore Roosevelt zufolge nicht ein Gefuumlhl der Uumlberlegenheit sondern das einer ehrfuumlrchtigen Bewunde-rung29 Wie Roosevelt selbst im Januar 1915 schrieb mochte der Krieg raquoschrecklich und grausam [sein] aber er ist auch groszligartig und edellaquo Amerikaner duumlrften keinesfalls eine raquoHaltung der uumlberlegenen Tugend annehmenlaquo Und sie koumlnnten auch nicht erwarten dass die europaumler die Amerikaner als raquogeistiges Vorbildlaquo betrachteten raquowenn diese untaumltig herumsaszligen billige Floskeln von sich gaben und den Handel wiederauf-nahmen waumlhrend jene fuumlr die Ideale an die sie von ganzem Herzen und Seele glauben ihr Blut wie Wasser vergossen hattenlaquo30 Fuumlr Roosevelt musste sich Amerika wenn es seinen Aufstieg zu einer legitimen Groszlig-macht rechtfertigen wollte in dem gleichen Kampf bewaumlhren indem es sein Gewicht in die Waagschale der entente warf Aber zur groszligen ent-taumluschung Roosevelts waren die Kraumlfte die den Krieg unterstuumltzten in Amerika eine minderheit selbst nach der Versenkung der Lusitania im mai 1915 millionen deutschstaumlmmige Amerikaner zogen die Neutralitaumlt vor wie auch viele irischstaumlmmige Amerikaner Juumldische Amerikaner mussten sich zuruumlckhalten um nicht den Vormarsch der kaiserlichen Ar-mee in das russische Polen 1915 zu feiern der eine erleichterung von dem zaristischen Antisemitismus brachte Weder die amerikanische Arbeiter-

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bewegung noch die Uumlberreste der agrarisch-populistischen Bewegung die sich im Jahr 1912 um Wilsons Praumlsidentschaftskampagne geschart hat-ten waren fuumlr den Krieg Wilsons erster Auszligenminister war kein anderer als William Jennings Bryan der evangelikale Fundamentalist Pazifist und entschiedene Gegner des Goldstandards der 1890er Jahre er hegte ein tiefes misstrauen gegen die Wall Street und ihre Verbindungen zum eu-ropaumlischen Imperialismus Als die Julikrise naumlher ruumlckte reiste Bryan durch ganz europa und unterzeichnete eine Reihe von Schlichtungs-abkommen welche die moumlglichkeit einer amerikanischen Beteiligung an einem Krieg ausschlieszligen sollten Bei Kriegsausbruch plaumldierte er fuumlr einen wirklich umfassenden Boykott privater darlehen auf beiden Seiten Wilson uumlberstimmte diesen Vorschlag und im Juni 1915 nach der Ver-senkung der Lusitania trat Bryan aus Protest zuruumlck als Wilson der deut-schen Regierung mit Feindseligkeiten drohte falls die U-Boot-Angriffe fortgesetzt wuumlrden Aber auch Wilson selbst war alles andere als ein Freund der Intervention

Bevor Woodrow Wilson als weltberuumlhmter liberaler Internationalist gefeiert wurde machte er sich einen Namen als groszliger dichter der ame-rikanischen Nationalgeschichte31 Als Professor an der Universitaumlt Prince-ton und Autor hervorragend verkaufter populaumlrer Geschichtswerke hatte er dazu beigetragen fuumlr eine Nation die den Buumlrgerkrieg noch nicht uumlberwunden hatte eine ausgesoumlhnte Vision der gewaltsamen Vergangen-heit zu gestalten zu den ersten erinnerungen Wilsons aus seiner Kind-heit in Virginia zaumlhlt der moment als er die Neuigkeit von Lincolns Wahl und die Geruumlchte von einem bevorstehenden Buumlrgerkrieg houmlrte Als er in den 1860er Jahren in Augusta im Bundesstaat Georgia ndash einem wie er selbst gegenuumlber Lloyd George in Versailles erklaumlrte raquoeroberten und ver-wuumlsteten Landlaquo ndash aufwuchs erlebte er auf der Seite der Besiegten die bitteren Nachwirkungen eines raquogerechten Kriegeslaquo den beide Parteien bis zum Aumluszligersten ausgekaumlmpft hatten32 danach war er aumluszligerst skeptisch gegenuumlber jeder Art von Kreuzfahrer-Rhetorik Auszligerdem hinterlieszlig nicht nur der Buumlrgerkrieg bei Wilson Narben den darauffolgenden Frie-den erlebte er sofern das moumlglich war als noch traumatischer Sein Leben lang verurteilte Wilson die anschlieszligende Aumlra der sogenannten Recon-struction ndash das Bestreben des Nordens dem Suumlden eine neue ordnung zu oktroyieren in der die befreite schwarze Bevoumllkerung das Wahlrecht hatte33 Nach Wilsons meinung hatte Amerika uumlber eine Generation

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gebraucht um sich von diesem missgluumlckten Versuch zu erholen erst in den 1890er Jahren konnte man von so etwas wie Aussoumlhnung sprechen allerdings auf Kosten der Schwarzen

Fuumlr Wilson ebenso wie fuumlr Roosevelt war der Krieg ein Pruumlfstein des neuen Selbstvertrauens und der Staumlrke Amerikas Waumlhrend Roosevelt je-doch die maumlnnlichkeit der Staaten beweisen wollte forderte in Wilsons Augen der Krieg der in europa tobte die moralische Staumlrke und Selbst-disziplin der Nation heraus durch Amerikas Weigerung sich in den Krieg hineinziehen zu lassen werde seine demokratie die neue Reife und Immunitaumlt der Nation gegen hetzerische Kriegsrhetorik beweisen die fuumlnfzig Jahre zuvor so groszligen Schaden angerichtet hatte doch dieses Be-harren auf Selbstbeschraumlnkung darf nicht als Bescheidenheit interpretiert werden Waumlhrend Fuumlrsprecher einer Intervention wie Roosevelt lediglich nach Gleichheit strebten also nach der Anerkennung Amerikas als voll-wertige Groszligmacht lautete Wilsons ziel hingegen absolute moralische Uumlberlegeneheit daruumlber hinaus missachtete seine Vision nicht die raquohar-ten machtmittellaquo Wilson hatte sich 1898 von der Begeisterung fuumlr den spanisch-amerikanischen Krieg mitreiszligen lassen Sein Flottenprogramm und sein Anspruch auf Amerikas Kontrolle der zufahrtswege zur Karibik waren aggressiver als die Plaumlne all seiner Vorgaumlnger Um den Panama-Kanal unter amerikanische Kontrolle zu bringen zoumlgerte Wilson 1915 und 1916 nicht die Besetzung der dominikanischen Republik und Haitis so-wie eine Intervention in mexiko zu befehlen34 Aber dank seiner von Gott verliehenen natuumlrlichen Schaumltze hatte Amerika keinen Bedarf an riesigen territorialen eroberungen Seine wirtschaftlichen Beduumlrfnisse waren be-reits zu Beginn des Jahrhunderts mit der Politik der offenen Tuumlr formu-liert worden die Vereinigten Staaten hatten eine territoriale Herrschaft nicht noumltig aber ihre Waren und ihr Kapital mussten sich frei auf der ganzen Welt und uumlber die Grenzen eines jeden Reiches hinweg bewegen koumlnnen Unter dessen wuumlrden sie hinter dem Schirm eines undurchdring-lichen Flottenschutzes einen unwiderstehlichen moralischen und politi-schen einfluss ausuumlben Fuumlr Wilson war der Krieg ein zeichen fuumlr raquoGottes Vorsehunglaquo die den Vereinigten Staaten eine Chance geboten hatte raquowie sie nur selten einer Nation gewaumlhrt wurde die Chance Frieden auf der Welt zu empfehlen und zu erlangen helliplaquo ndash und das nach ihren Bedingun-gen ein Frieden nach den Bedingungen Amerikas wuumlrde auf dauer die raquoGroumlszligelaquo der Vereinigten Staaten als raquowahre Streiter des Friedens und der

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Harmonielaquo etablieren35 191516 wurde Wilsons persoumlnlicher Berater oberst House zweimal in die europaumlischen Hauptstaumldte geschickt um eine Schlichtung anzubieten aber keine Seite hatte daran ein Interesse Am 27 mai 1916 wenige Wochen bevor die Briten die von der Wall Street finanzierte offensive an der Somme starteten praumlsentierte Wilson in einer Rede die er vor einer Versammlung der League to enforce Peace (Liga fuumlr den Frieden) im Hotel New Willard in Washington hielt seine Vision einer neuen ordnung36 In Uumlbereinstimmung mit den republika-nischen Internationalisten die die Versammlung veranstalteten erklaumlrte sich Wilson bereit die Vereinigten Staaten einer raquorealisierbaren Vereini-gung von Nationenlaquo beitreten zu lassen die einen kuumlnftigen Frieden ga-rantieren wuumlrde Als doppelte Basis jener neuen ordnung forderte er die Freiheit der Seewege und Ruumlstungsbegrenzungen Was Wilson jedoch von den meisten seiner republikanischen Rivalen unterschied war der Um-stand dass er seine Vision von Amerikas Rolle in einer neuen Weltord-nung an die ausdruumlckliche Weigerung koppelte in dem laufenden Krieg Partei zu ergreifen denn das hieszlige den Anspruch Amerikas auf eine absolute Vorherrschaft zu verspielen mit den raquoUrsachen und zielenlaquo des Krieges so Wilson habe Amerika nichts zu schaffen37 In der Oumlffentlich-keit beschraumlnkte er sich auf die Anmerkung dass die Urspruumlnge des Krie-ges raquotieferlaquo und raquoverborgenerlaquo seien38 In einer privaten Unterhaltung mit Walter Hines Page dem amerika nischen Botschafter in London aumluszligerte sich Wilson noch offener die U-Boote des Kaisers seien ein Skandal doch der britische raquoFlottenwahnlaquo sei ebenso verwerflich und stelle fuumlr die Vereinigten Staaten eine weit groumlszligere strategische Herausforderung dar der graumlssliche Krieg sei war Wilson uumlberzeugt kein liberaler Kreuzzug gegen die deutsche Aggression sondern raquoein Streit um die wirtschaftliche Rivalitaumlt zwischen deutschland und england beizulegenlaquo Laut Pages Ta-gebuch sprach Wilson im August 1916 davon dass raquoengland derzeit die erde besitze und deutschland sie haben wollelaquo39

Auch wenn 1916 kein Wahljahr gewesen waumlre und wenn das Bankhaus morgan nicht zu den prominentesten Unterstuumltzern der Republikaner ge-zaumlhlt haumltte haumltte die Verstrickung eines groszligen Teils der amerikanischen Wirtschaft auf der Seite der entente auf Anweisung probritischer Bankiers Wilsons Administration in groszlige Gefahr gebracht Als die endphase des Wahlkampfs begann erreichten die Spannungen die innerhalb der Verei-nigten Staaten durch den Kriegsboom entstanden waren einen kritischen

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Punkt Seit August 1914 hatte der enorme kreditfinanzierte Anstieg der exporte die Preise in die Houmlhe getrieben die viel gepriesene Kaufkraft der amerikanischen Loumlhne schmolz dahin40 die amerikanischen Arbeiter be-zahlten fuumlr die Kriegsgewinne der Unternehmer Im Laufe des Sommers billigte Wilson maszlignahmen des populistischen Fluumlgels im Kongress die auf exporte nach europa eine Steuer einfuumlhrten In den letzten Augustta-gen 1916 intervenierte er als Reaktion auf einen drohenden Generalstreik der eisenbahnarbeiter auf der Seite der Gewerkschaften und zwang den Kongress der einfuumlhrung des Achstundentags zuzustimmen41 Als Reak-tion foumlrderten die groszligen amerikanischen Unternehmen so massiv wie nie zuvor den republikanischen Wahlkampf die demokraten prangerten ih-rerseits den Republikaner Charles Hughes als den raquoKriegskandidatenlaquo im dienst der Wall-Street-Profiteure an Nach diesem schmutzigen Wahl-kampf der die houmlchste Wahlbeteiligung der amerikanischen Geschichte hervorbrachte trug der knappe Wahlsieg Wilsons nicht dazu bei das ext-rem aufgeheizte Klima abzukuumlhlen obwohl Wilson eine solide mehrheit der abgegebenen Stimmen hatte setzte er sich im Wahlmaumlnnergremium nur dank des Sieges in Kalifornien mit einem Vorsprung von lediglich 3755 Stimmen durch So wurde Wilson zum ersten wiedergewaumlhlten demokra-tischen Praumlsidenten seit Andrew Jackson in den 1830er Jahren Fuumlr die entente und ihre Unterstuumltzer in Amerika war dies ein ernuumlchterndes er-gebnis ein groszliger Teil der amerikanischen Bevoumllkerung hatte unmissver-staumlndlich den Wunsch bekundet sich aus dem Konflikt herauszuhalten

III

In Anbetracht der Wiederwahl Wilsons war es eindeutig riskant fest mit dem einverstaumlndnis Amerikas zu den wachsenden wirtschaftlichen An-spruumlchen der entente zu rechnen doch der Konflikt hatte eine eigene dynamik Als der deutsche Ansturm auf Verdun seinen schrecklichen Houmlhepunkt erreichte traf die entente am 24 mai 1916 drei Tage vor Wil-sons Rede im Hotel New Willard die entscheidung die erste groszlige briti-sche offensive an der Somme zu starten42 die britische offensive brachte zwar keinen durchbruch aber sie zwang die deutschen in die defensive Unterdessen stand die groszlige Strategie der entente an der ostfront kurz vor dem entscheidenden erfolg die volle Schlagkraft der zaristischen

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Armee unterstuumltzt von den finanziellen und industriellen Ressourcen der entente traf hier das wankende Habsburgerreich Am 5 Juni 1916 warf der charismatische Kavalleriekommandeur General Brussilow die elite der russischen Armee gegen die oumlsterreichisch-ungarischen Linien in Galizien In einem bemerkenswerten Gefecht von wenigen Tagen brach-ten die Russen die habsburgische militaumlrmacht zu Fall ohne umgehen-den Nachschub deutscher Truppen und Fuumlhrungskraumlfte waumlre die suumldliche Haumllfte der ostfront zusammengebrochen die mittelmaumlchte erlitten einen so schweren Schock dass eine Kettenreaktion drohte

Am 27 August gab Rumaumlnien endlich seine Neutralitaumlt auf und trat an der Seite der entente in den Krieg ein Anstelle der Waggons mit ru-maumlnischem Oumll und Getreide auf die die mittelmaumlchte so stark angewie-sen waren ruumlckte ein frisches feindliches Heer von 800 000 mann nach Westen in Transsylvanien ein So unwahrscheinlich es klingen mag man koumlnnte meinen dass das Schicksal der Welt im August 1916 nicht in den Haumlnden von US-Praumlsident Wilson sondern von ministerpraumlsident Brati-anu in Bukarest lag Wie Feldmarschall Hindenburg im Ruumlckblick kom-mentiert raquoWahrlich noch niemals war einem verhaumlltnismaumlszligig so kleinen Staatswesen wie Rumaumlnien eine weltgeschichtliche entscheidungsrolle von gleicher Groumlszlige in einem ebenso guumlnstigen Augenblicke in die Haumlnde gelegt Noch niemals waren starke Groszligmaumlchte wie deutschland und Oumlsterreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert das kaum ein zwanzigstel der Bevoumllkerung der beiden Groszlig-staaten zaumlhlte wie im jetzt vorliegenden Fallelaquo43 Im kaiserlichen Haupt-quartier schlug die meldung vom Kriegseintritt Rumaumlniens raquowie eine Bombe ein Wilhelm II verlor zunaumlchst voumlllig den Kopf gab den Krieg endguumlltig verloren und meinte wir muumlssten nun um Frieden bittenlaquo45 der habsburgische Botschafter in Bukarest Graf ottokar Czernin sagte mit geradezu mathematischer Sicherheit die voumlllige Niederlage der mit-telmaumlchte und ihrer Buumlndnispartner voraus fuumlr den Fall dass der Krieg noch laumlnger dauern sollte45

Am ende konnte Rumaumlnien die Gunst der Stunde aber nicht nutzen ein von den deutschen angefuumlhrter Gegenangriff machte aus der drohen-den Niederlage einen Sieg Im dezember 1916 als deutsche und bulga-rische Truppen auf Bukarest vorruumlckten fanden sich die rumaumlnische Regierung und der Rest ihrer Armee als Fluumlchtlinge in der russischen Provinz moldau wieder Aber genau diese dramatische Kette von ereig-

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erreicht allerdings unter erheblichen Kosten fuumlr die Heimatfront Unter-dessen hielt die oHL es gerade wegen dieser defensiven Ausrichtung fuumlr geboten die Kriegsmarine in ihrer Forderung die U-Boote einzusetzen zu unterstuumltzen Wenn deutschland uumlberleben wollte mussten die trans-atlantischen Nachschublinien gekappt werden Hindenburg und Luden-dorff starteten den Angriff aber nicht sofort Sie gaben Kanzler Bethmann Hollweg die Chance einen Frieden auszuhandeln die deutschen Sozial-demokraten mussten in ihrem Glauben bestaumlrkt werden dass sie einen reinen Verteidigungskrieg unterstuumltzten46 die mit einer Verschaumlrfung des U-Boot-Krieges verbundenen Risiken waren offensichtlich man wuumlrde sich die Amerikaner zum Feind machen Wenn sich deutschland weiterhin zuruumlckhielt wuumlrde das jedoch schlicht den Briten in die Haumlnde spielen Wirtschaftlich gesehen stand Nordamerika ohnehin bereits voll auf der Seite der entente

Umgekehrt war die entente die in absehbarer zukunft weitere dol-lardarlehen in milliardenhoumlhe aufnehmen musste ihrerseits laumlngst nicht so zuversichtlich bezuumlglich der Unvermeidbarkeit der amerikanischen Unterstuumltzung dennoch kam fuumlr Groszligbritannien und Frankreich ein Verhandlungsfrieden nicht infrage noch weniger als fuumlr die deutschen Nach zwei Kriegsjahren besetzten deutsche Truppen Polen Belgien einen groszligen Teil Nordfrankreichs und jetzt Rumaumlnien Serbien war von der Landkarte verschwunden In London hatte im Herbst 1916 die debatte um die strategischen Prioritaumlten im dritten Kriegsjahr letztlich die Regierung Asquith zu Fall gebracht47 Ironischerweise waren diejenigen die Wilsons Idee eines Verhandlungsfriedens am offensten gegenuumlberstanden eben jene die den langfristigen Aufstieg der amerikanischen macht mit dem groumlszligten misstrauen verfolgten das galt insbesondere fuumlr Liberale der al-ten Schule wie den britischen Schatzkanzler Reginald mcKenna er warnte das Kabinett Wenn sie ihren derzeitigen Kurs fortsetzten dann raquowage ich mit Sicherheit vorherzusagen dass der Praumlsident der amerika-nischen Republik bis zum naumlchsten Juni [1917] oder noch fruumlher in einer Position sein wird in der er uns seine Bedingungen diktieren kannlaquo48 mcKennas Wunsch eine noch staumlrkere Abhaumlngigkeit von Amerika zu vermeiden war das Gegenstuumlck zu Wilsons Abscheu gegen die europaumli-sche Politik Aus der Sicht beider Seiten bestand die geeignetste moumlglich-keit eine weitere Verstrickung zu vermeiden darin den Krieg so schnell wie moumlglich zu beenden doch im dezember 1916 nahmen mcKenna und

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Asquith ihren Hut An ihre Stelle trat Lloyd George an der Spitze einer Koalitionsregierung die entschlossen war deutschland entscheidend zu schlagen Ironie der Geschichte die Haltung der Londoner Koalition un-terschied sich zwar grundlegend von Wilsons Wunsch den Krieg rasch zu beenden aber sie war von ihren Grunduumlberzeugungen her am staumlrks-ten transatlantisch ausgerichtet49 Wie Lloyd George Wilsons Auszligenmi-nister Robert Lansing mitteilte blicke er voller Begeisterung einer dauer-haften internationalen ordnung entgegen die auf der raquoaktiven Sympathie der beiden groszligen englischsprachigen Nationenlaquo gegruumlndet sei50 Schon zu einem fruumlheren zeitpunkt im Jahr 1916 hatte er zu oberst House ge-sagt raquoWenn die Vereinigten Staaten Groszligbritannien beistaumlnden koumlnnte die ganze Welt nicht die gemeinsame Herrschaft erschuumlttern die wir uumlber die Weltmeere ausuumlbenlaquo51 Uumlberdies sei die raquowirtschaftliche Staumlrke der Vereinigten Staaten so groszlig dass keine Kriegsnation seiner macht wider-stehen koumlnnelaquo52 Aber amerikanische Kredite zementierten wie Lloyd George seit dem Sommer 1916 immer wieder argumentiert hatte nicht nur die Unterordnung Groszligbritanniens unter die Wall Street sondern einen zustand der gegenseitigen Abhaumlngigkeit Je mehr Geld sich Groszlig-britannien in Amerika lieh und je mehr es kaufte desto schwerer werde es Wilson fallen sein Land von dem Schicksal der entente zu loumlsen53

frieden ohne Sieg

Als sich das Jahr 1916 dem ende naumlherte bereiteten sich beide europaumli-schen Kriegsbuumlndnisse darauf vor groszlige Risiken einzugehen unter der Praumlmisse dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Amerika und der entente Washington fruumlher oder spaumlter zwingen wuumlrden sich auf die Seite der entente zu stellen Und das war auch kein groszliges Staats ge heim-nis diese Vermutung wurde von vielen geteilt der russische Revolutio-naumlr Wladimir Iljitsch Lenin legte im Juni 1916 in seinem exil in zuumlrich letzte Hand an eine seiner beruumlhmtesten Schriften raquoder Imperia lismus als houmlchstes Stadium des Kapitalismuslaquo54 Banale Vermutungen zur Not-wendigkeit einer amerikanischen Intervention wurden hier zu einem starren theoretischen dogma zusammengefuumlgt Laut Lenin wurden im zeitalter des Imperialismus die Staaten als Instrumente der natio nalen Wirtschaftsinteressen in den Kampf hineingezogen Nach dieser Logik lag es auf der Hand dass Washington fruumlher oder spaumlter dem deutschen Reich den Krieg erklaumlren musste Allerdings konnte keine einzige dieser Spekulationen den bemerkenswerten Lauf der ereignisse vom November 1916 bis zum Fruumlhjahr 1917 vorausahnen der amerikanische Praumlsident der mit dem mandat wiedergewaumlhlt wurde Amerika aus dem Krieg her-auszuhalten versuchte ein viel ambitionierteres ziel zu erreichen er trachtete nicht nur danach die Neutralitaumlt zu wahren sondern wollte auch den Krieg zu Bedingungen beenden die Washington eine weltweit dominierende Fuumlhrungsposition verschafft haumltten Lenin mochte den Im-perialismus zum houmlchsten Stadium des Kapitalismus erklaumlrt haben aber Wilson hatte andere Plaumlne55 Und die kriegfuumlhrenden maumlchte ebenfalls wie sich herausstellte Wenn eine Ruumlckkehr zur Vorkriegswelt des Impe-rialismus unmoumlglich war so war eine Revolution keineswegs die einzige Alternative

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I

den ganzen oktober 1916 hindurch fuumlhrte das Bankhaus J P morgan mit den Briten und Franzosen Gespraumlche uumlber die kuumlnftige Finanzierung der Alliierten Fuumlr die naumlchste Feldzugsaison schlug die entente vor Kredite in Houmlhe von mindestens 15 milliarden dollar aufzunehmen mit Blick auf die gewaltigen Summen bemuumlhte sich J P morgan um eine Ruumlckver-sicherung sowohl von der Federal Reserve als auch von Wilson persoumln-lich Beides blieb jedoch aus56 Als der Wahltag am 7 November naumlher ruumlckte arbeitete Wilson eine oumlffentliche erklaumlrung aus die der Vorsit-zende des Federal Reserve Board abgeben sollte die amerikanische Be-voumllkerung wurde darin ausdruumlcklich gewarnt weitere ersparnisse in Kredite fuumlr die entente zu investieren57 Am 27 November 1916 vier Tage bevor J P morgan den Start der emission von anglo-franzoumlsischen Anleihen geplant hatte gab der Federal Reserve Board an alle mitglieds-banken Instruktionen aus Im Interesse der Stabilitaumlt des amerikanischen Finanzsystems gab die Fed bekannt dass sie es nicht laumlnger fuumlr wuumln-schenswert halte wenn amerikanische Investoren ihre depots an briti-schen und franzoumlsischen Wertpapieren weiter aufstockten da die Kurse an der Wall Street prompt abstuumlrzten und das Pfund Sterling von Speku-lanten abgestoszligen wurde waren morgan und das britische Schatzamt gezwungen die britische Waumlhrung mit Notkaumlufen zu stuumltzen58 Gleich-zeitig musste die britische Regierung die Unterstuumltzung fuumlr franzoumlsische Kaumlufe aussetzen59 die gesamte finanzielle Basis der entente war in Ge-fahr In Russland stieg im Herbst 1916 die Veraumlrgerung uumlber die Forde-rung Groszligbritanniens und Frankreichs die Goldreserven des zaren-reichs nach London zu transportieren um die Schulden der Alliierten abzusichern ohne amerikanische Unterstuumltzung war nicht allein die Geduld der Finanzmaumlrkte fraglich sondern die entente selbst in Ge-fahr60 zum Jahresende gelangte das Kriegskomitee des britischen Kabi-netts zu dem bitteren Schluss dass man die entwicklung nur dahin-gehend deuten koumlnne dass Wilson sie in zugzwang bringen und auf diese Weise den Krieg binnen weniger Wochen beenden wolle Und diese unheilvolle Interpretation wurde noch bekraumlftigt als London von sei-nem Botschafter in Washington bestaumltigt wurde dass in der Tat der Prauml-sident persoumlnlich auf dem strengen Wortlaut der Note der Fed bestanden hatte

71frieden ohne sieg

In Anbetracht der gewaltigen Forderungen die die entente im Jahr 1916 an die Wall Street gerichtet hatte duumlrfte die Stimmung schon vor der Ankuumlndigung der Fed gegen weitere hohe darlehen fuumlr London und Paris gekippt sein61 doch das Kabinett konnte die offene Feindseligkeit des amerikanischen Praumlsidenten nicht einfach ignorieren Wilson war sogar fest entschlossen den einsatz noch houmlher zu treiben Am 12 dezember veroumlffentlichte der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg einen Aufruf zu Friedensverhandlungen ohne allerdings die Kriegsziele deutschlands naumlher zu benennen Unverdrossen lieszlig Wilson am 18 dezember darauf eine raquoFriedensnotelaquo folgen die beide Seiten aufforderte zu erklaumlren wel-che Kriegsziele die Fortsetzung des furchtbaren Blutbads rechtfertigten das war eine unverhohlene Aufforderung den Krieg zu delegitimieren die wegen des zeitlichen zusammentreffens mit der Initia tive aus Berlin umso alarmierender war die Wall Street reagierte sofort darauf Ruumls-tungsaktien stuumlrzten ab der deutsche Botschafter Graf Johann Heinrich Bernstorff und Wilsons Schwiegersohn Finanzminister William Gibbs mcAdoo mussten sich gegen den Vorwurf wehren sie haumltten millionen verdient indem sie gegen mit der entente verbundene Ruumlstungsaktien spekuliert haumltten62 In London und Paris waren die Folgen noch gra-vierender Koumlnig Georg V brach in Traumlnen aus63 Im britischen Kabinett herrschte eine sehr aufgebrachte Stimmung die Londoner Times rief zur zuruumlckhaltung auf konnte aber ihre Bestuumlrzung daruumlber nicht verber-gen dass Wilson zwischen den beiden Kriegs parteien keinen Unter-schied machte64 das sei der schwerste Schlag den Frankreich in den 29 Kriegsmonaten eingesteckt habe toumlnte die patriotische Presse in Paris65 deutsche Truppen staumlnden im osten wie im Westen tief im Territorium der entente diese muumlssten zuerst abgezogen werden ehe man Gespraumlche uumlberhaupt in Betracht ziehen koumlnne Seit dem ploumltzlichen Wechsel des Kriegsgluumlcks im Spaumltsommer 1916 schien das auch keineswegs unmoumlglich Oumlsterreich stand eindeutig kurz vor dem zusammenbruch66 Als die entente ende Januar 1917 in Petrograd zu e iner Kriegskonferenz zusam-menkam wurde uumlber eine weitere Reihe konzentrischer offensiven ge-sprochen

Wilsons einmischung war fuumlr London und Paris peinlich aber zur erleichterung der entente lehnten die mittelmaumlchte als erste das Schlich-tungsangebot des Praumlsidenten ab damit konnten die entente-maumlchte ohne Bedenken ihre eigene sorgfaumlltig formulierte erklaumlrung der Kriegs-

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