14
PHILOSOPHIE UND AKTUALITÄT PASSAGEN FORUM

Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Zwei kontroverse Denker zur ebenso zeitlosen wie drängenden Frage: Soll sich der Philosoph ins aktuelle Geschehen einmischen?

Citation preview

Page 1: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

PHILOSOPHIE UND AKTUALITÄT

PASSAGEN FORUM

02 Schmutztitel.p65 22.03.2005, 15:455

Page 2: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

02 Schmutztitel.p65 22.03.2005, 15:456

Page 3: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

15

Alain Badiou

Das Ereignis denken

Wir fragen uns heute Abend, auf welche Art sich

die Philosophie einmischt – ins Zeitgeschehen, in

historische und politische Fragen und so weiter –

und was die Natur dieser Einmischung ist. Warum

sollte sich der Philosoph in Fragen des Zeitgesche-

hens einmischen? Slavoj ̧ i&ek und ich werden dar-

über ein paar anfängliche Überlegungen anstellen

und anschließend diskutieren. In vielerlei Hinsicht

sind wir uns allerdings einig und können Ihnen

daher keine Schlacht versprechen; aber wir tun, was

wir können.

Zuerst, glaube ich, müssen wir uns von einer fal-

schen Vorstellung befreien: dass die Philosophie

über alles sprechen könne. Diese Vorstellung ge-

hört zur Figur des Fernseh-Philosophen: er spricht

über Gesellschaftsprobleme, über Probleme des

Zeitgeschehens . . . Warum diese Vorstellung falsch

ist? Weil der Philosoph seine eigenen Probleme

schafft; weil er Erfinder von Problemen ist und

nicht jemand, den das Fernsehen allabendlich nach

seiner Meinung zum Tagesgeschehen fragen kann.

Ein echter Philosoph entscheidet selbst, welche

Probleme wichtig sind. Er schlägt neue Probleme

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2915

Page 4: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

16

vor. Philosophie ist vor allem das Erfinden neuer

Probleme.

Es folgt daraus, dass der Philosoph sich dann

einmischt, wenn ihm in einer Situation – sei diese

historisch, politisch, künstlerisch, amourös, wis-

senschaftlich oder was auch immer – bestimmte

Dinge als Signal dafür gelten, dass es ein neues Pro-

blem zu erfinden gilt. Ja, der Philosoph mischt sich

ein, wenn er im Zeitgeschehen Signale für die Not-

wendigkeit eines neuen Problems und einer neu-

en Erfindung entdeckt. So ergibt sich die Frage:

Unter welchen Bedingungen findet der Philosoph

in einer bestimmten Situation Signale für ein neu-

es Problem und ein neues Denken? An diesem

Punkt möchte ich unsere Diskussion beginnen.

Führen wir zuerst den Begriff der „philosophi-

schen Situation“ ein. Es spielen sich in der Welt

alle möglichen Dinge ab, ohne dass es sich dabei

um Situationen für die Philosophie, um philoso-

phische Situationen handelt. Fragen wir uns also:

Wie sieht eine Situation aus, die tatsächlich eine

Situation für die Philosophie, eine Situation für

philosophisches Denken ist? Damit Sie in etwa

wissen, was ich meine, werde ich Ihnen drei Bei-

spiele philosophischer Situationen nennen.

Das erste Beispiel ist, wenn ich so sagen darf,

bereits philosophisch formatiert. Wir finden es in

Platons Dialog Gorgias, der den äußerst heftigen

Zusammenprall zwischen Sokrates und Kallikles

schildert. Dieser Zusammenprall schafft eine phi-

losophische Situation, die noch dazu fast dramati-

sche Züge trägt. Warum? Weil das Denken Sokra-

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2916

Page 5: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

17

tes’ und das Denken Kallikles’ keinen gemeinsa-

men Maßstab haben, das eine dem anderen fremd

ist. In seiner Beschreibung der Diskussion zwi-

schen Kallikles und Sokrates zeigt uns Platon, was

es heißt, wenn zwei Gedanken inkommensurabel

sind, so wie etwa die Diagonale und die Seite eines

Quadrats. Diese Diskussion ist das Aufeinander-

Bezogensein zweier Begriffe, die keine Beziehung

zueinander haben. Kallikles behauptet, das Recht

sei die Macht und der glückliche Mann der Tyrann,

ein Mann, der sich mit List und Gewalt über die

anderen hinwegsetzt. Sokrates meint, der wahr-

hafte Mensch, der glückliche, sei der Gerechte im

philosophischen Sinne des Wortes. Zwischen der

Gerechtigkeit als Gewalt und der Gerechtigkeit als

Denken besteht keine schlichte Opposition, die

wir mit Argumenten angehen könnten, denen eine

gemeinsame Norm zu Grunde liegt. Hier fehlt jeg-

liche Beziehung. Also ist die Diskussion gar keine

Diskussion: Sie ist eine Konfrontation. Wer den

Dialog liest, versteht, dass nicht einer den ande-

ren überzeugen, sondern es einen Sieger und ei-

nen Besiegten geben wird. Das erklärt, warum in

diesem Dialog Sokrates’ Methoden kaum anstän-

diger sind als die von Kallikles. Hier heiligt der

Zweck die Mittel: es geht darum zu gewinnen, be-

sonders vor den Augen der jungen Leute, die der

Szene als Zeugen beiwohnen.

Am Ende unterliegt Kallikles. Zwar gesteht er

seine Niederlage nicht ein, er schweigt aber und

bleibt in seiner Ecke. Er unterliegt – allerdings nur

in dieser Inszenierung Platons. Sonst ist es wohl

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2917

Page 6: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

18

eher selten, dass jemand wie Kallikles der Besieg-

te ist. Das sind eben die Freuden des Theaters.

Was lehrt uns diese Situation über die Philoso-

phie? Ihre einzige Aufgabe ist zu zeigen, dass wir

eine Wahl treffen müssen. Wir müssen uns zwi-

schen zwei Denkarten entscheiden. Wir müssen

entscheiden, ob wir auf der Seite von Sokrates oder

auf der von Kallikles stehen. In diesem Beispiel zeigt

uns die Philosophie das Denken als eine Wahl, das

Denken als Entscheidung. Uns diese Wahl zu er-

klären ist ihre eigentliche Aufgabe. Wir können also

sagen: Eine philosophische Situation ist ein Mo-

ment, in dem eine Wahl deutlich wird; eine Wahl,

in der es um das Dasein oder das Denken geht.

Als zweites Beispiel dient uns der Tod des Ma-

thematikers Archimedes. Archimedes zählt zu den

größten Geistern der Menschheitsgeschichte. Noch

für uns heute sind seine mathematischen Texte be-

eindruckend. Schon über das Unendliche hat die-

ses außergewöhnliche Genie reflektiert – und da-

bei die Infinitesimalrechnung praktisch 2000 Jah-

re vor Newton erfunden.

Archimedes war Grieche, auf Sizilien geboren.

Als die Römer auf der Insel einfielen, kämpfte Ar-

chimedes im Widerstand und entwickelte Kriegs-

maschinen. Abwenden konnte das den Sieg der

Römer aber nicht.

Zu Beginn der römischen Besatzung nimmt Ar-

chimedes seine mathematischen Arbeiten wieder

auf. Er hat die Angewohnheit, geometrische Fi-

guren im Sand zu zeichnen. Als er so einmal am

Meeresufer über komplizierten, auf den Strand

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2918

Page 7: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

19

gezeichneten Figuren brütet, tritt ein römischer

Soldat, eine Art Bote, zu ihm und sagt, der römi-

sche General Marcellus wolle ihn sehen. Die Rö-

mer hegten für die griechischen Weisen eine leb-

hafte Neugierde, vielleicht in etwa so, wie sich der

Vorstandschef eines multinationalen Kosmetik-

Konzerns für einen renommierten Philosophen

interessiert. General Marcellus will also Archime-

des sehen. Unter uns: Ich kann mir nicht vorstel-

len, dass Marcellus viel Ahnung von Mathematik

hatte. Er wollte einfach sehen – und diese Neu-

gierde macht ihm Ehre –, wie ein Widerständler

vom Schlage Archimedes’ aussieht. So schickt er

ihm seinen Boten. Archimedes aber regt sich nicht.

„Der General Marcellus will dich sehen!“, sagt der

Soldat noch einmal, bekommt aber von Archime-

des wieder keine Antwort. Der römische Soldat,

der auch nicht gerade ein großes Interesse für die

Mathematik gehabt haben wird, versteht nicht, wie

man einen Befehl des Generals Marcellus ignorie-

ren kann. „Archimedes! Der General will dich se-

hen!“ Archimedes hebt unmerklich die Augen und

sagt dem Soldaten: „Lass’ mich meinen Beweis

beenden.“ Darauf der Soldat: „Dein Beweis kann

mir gestohlen bleiben: Marcellus will dich jetzt

sehen!“ Archimedes nimmt ohne eine Antwort

seine Rechnung wieder auf. Der vor Wut schäu-

mende Soldat zieht sein Schwert und streckt Ar-

chimedes nieder. Der fallende Körper verwischt

die Figur im Sand.

Warum handelt es sich hierbei um eine philoso-

phische Situation? Weil sie uns zeigt, dass es zwi-

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2919

Page 8: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

20

schen dem Recht des Staates und dem schöpferi-

schen Denken, insbesondere dem rein ontologi-

schen Denken der Mathematik, keinen gemeinsa-

men Maßstab gibt, keine echte Diskussion. Die

Macht ist die Gewalt; das schöpferische Denken

hingegen kennt keinen anderen Zwang als den der

ihm immanenten Regeln. Archimedes folgt den

Gesetzen seines Denkens und bewegt sich damit

außerhalb des Aktionskreises der Macht. Die

Eigenzeit des Beweises kann die Dringlichkeit der

militärischen Sieger nicht berücksichtigen; die Sze-

ne schlägt um in Gewalt – was zeigt, dass es kei-

nen gemeinsamen Maßstab, kein gemeinsames

Zeitmaß gibt für die Macht auf der einen Seite und

die schöpferischen Wahrheiten auf der anderen.

Erinnern wir uns an eine andere Begebenheit:

Während die US-Armee am Ende des Zweiten

Weltkrieges die Vorstädte Wiens besetzte, erschoss

ein G.I. das größte musikalische Genie der dama-

ligen Zeit, den Komponisten Anton Webern, ohne

zu wissen, wen er vor sich hatte.

Ein Unfall, eine schiefgelaufene philosophische

Situation.

Zwischen der Macht und den Wahrheiten be-

steht eine Distanz: die Distanz zwischen Marcellus

und Archimedes. Diese Distanz kann der Bote,

zweifellos ein stumpfer, aber disziplinierter Sol-

dat, nicht überbrücken. Die Aufgabe der Philoso-

phie ist hier, diese Distanz zu verdeutlichen. Sie

muss eine Distanz in Gedanken fassen, die maß-

los ist; sie muss selbst erst das Maß für diese Dis-

tanz erfinden.

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2920

Page 9: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

51

Slavoj ¸i&ek

Philosophie ist kein Dialog

Es wird zwischen uns kaum zu einem Dialog kom-

men, da wir weitgehend einer Meinung sind.

Könnte das aber – um mit einer Provokation zu

beginnen – ein Zeichen wirklicher Philosophie

sein? Ich bin mit Badiou einer Meinung, wenn er

mit Platon betont, Philosophie sei axiomatisch,

und die Frage aufwirft, wie sich der wahre Philo-

soph überhaupt erkennen lässt. Man sitzt sich im

Café gegenüber und wird aufgefordert: „Komm,

wir diskutieren das aus!“ Der Philosoph wird so-

fort sagen, es tue ihm Leid, er müsse los, und wird

zusehen, dass er schnellstmöglich verschwindet.

Ich hielt immer die späten Dialoge Platons für

seine im eigentlichen Sinn philosophischen. In ih-

nen spricht eine Person fast ununterbrochen; die

Einwürfe der anderen, im Sophisten zum Beispiel,

würden kaum eine halbe Seite füllen. Sie lauten

etwa „Du hast ganz Recht“, „Ganz offenbar“, „So

sei es“. Wieso auch nicht? Philosophie ist kein Dia-

log. Man nenne mir auch nur ein einziges Beispiel

eines erfolgreichen philosophischen Dialoges, der

nicht ein fürchterliches Missverständnis war. Das

gilt selbst für die prominentesten Fälle: Aristoteles

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2951

Page 10: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

52

hat Platon nicht richtig verstanden, Hegel – dem

das vielleicht gefallen hätte – hat selbstverständ-

lich Kant nicht richtig verstanden, und krasser

noch hat Marx – dem es vielleicht nicht darauf

ankam – Hegel missverstanden. Und Heidegger

hat im Grunde genommen alle in allem missver-

standen. Kein Dialog also, aber gehen wir weiter.

Lassen Sie mich das Problem auf übliche Weise

angehen. Es stimmt: Wir Philosophen sind heute

angesprochen, man fragt und fordert uns; erwar-

tet, dass wir eingreifen, uns einschalten in die eu-

ropäische Öffentlichkeit und so weiter. Wie sol-

len wir auf diese Forderungen reagieren? Ich den-

ke, nicht viel anders als – freilich nicht genau wie

– ein Psychoanalytiker auf einen Patienten: denn

auch der fordert etwas. Nur ist es selten mit die-

sen Forderungen getan. Es sind falsche Forderun-

gen; sie weisen aber auf ein wirkliches Problem

hin, das sie zugleich verschleiern. Kommen wir hier

auf das von Alain Badiou erwähnte Thema der In-

kommensurabilität zurück. In seinem grandiosen

Essay über den 11. September greift er den deleu-

zeschen Begriff der „disjunktiven Synthese“ auf.

Wenn man uns Philosophen etwas fragt, geht es

meistens um mehr als nur die Frage: Die öffentli-

che Meinung sucht nach Orientierung in einer

problematischen Situation. Zum Beispiel: Heute

befinden wir uns im Krieg gegen den Terror, und

das stellt uns vor gewaltige Probleme: Sollen wir

unsere Freiheit eintauschen gegen die Sicherheit

vor dem Terror? Sollen wir die liberale Offenheit

auf die Spitze treiben – auch wenn wir dabei unse-

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2952

Page 11: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

53

re Wurzeln kappen und unsere Identität verlieren

– oder unsere Identität stärker betonen? Aufzu-

zeigen, dass diese Wahlmöglichkeiten, vor denen

wir gemeinsam stehen, eine disjunktive Synthese

bilden, also falsche Alternativen sind, muss hier

die erste Geste eines Philosophen sein: Die Be-

griffe selbst der Debatte muss er verändern – was

meines Erachtens genau das Negativ dessen dar-

stellt, was Badiou als „radikale Wahl“ bezeichnet.

Konkret heißt das in unserem Fall: „Liberalismus“,

„Krieg gegen den Terror“ und der sogenannte „fun-

damentalistische Terrorismus“ sind alles disjunk-

tive Synthesen; nicht die radikale Wahl. Die Be-

griffe der Debatte müssen wir verändern. Um ein

weiteres Beispiel zu geben: Im Sommer 2003 ha-

ben die großen europäischen Philosophen, Derri-

da, Habermas und andere, selbst einige Amerika-

ner, sich ehrwürdig in die Öffentlichkeit einge-

mischt und für ein neues Europa plädiert. Spricht

das nicht Bände über ihre philosophischen Posi-

tionen? Es ist immer so: Die politische Überein-

stimmung von Philosophen verrät etwas über ihre

Philosophie. Nehmen wir Richard Rorty, mit dem

ich zwar philosophisch in keiner Weise überein-

stimme, den ich aber als intelligenten Liberalen

achte, der sich nicht scheut, auch das Offensichtli-

che zu betonen – wofür sich stärker differenzie-

rende, aber kraftlosere Liberale stets zu fein sind.

Er erklärt uns, worum es geht, wenn Leute wie er,

Derrida, Habermas und – aus der kognitivistischen

Ecke – Daniel Dennett philosophisch debattieren.

Ein Blick auf ihre politischen Positionen zeigt uns

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2953

Page 12: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

54

ein anderes Bild: Unterschiedslos stehen sie alle ein

klein wenig links von der demokratischen Mitte.

Weiterhin Demokratie, vielleicht sogar ein bisschen

mehr, so Rortys typische pragmatische Schluss-

folgerung. Das zeigt: Philosophie ist belanglos. Ist

sie das wirklich? Betrachten wir als paradigma-

tischen Fall die politische Übereinstimmung von

Habermas und Derrida: Könnte sie nicht ein An-

zeichen dafür sein, dass auch ihre philosophischen

Positionen nicht wirklich inkommensurabel sind?

Dass auch ihre Opposition lediglich eine disjunk-

tive Synthese ist?

Schaut man sich ihre Gedankengebäude sorgfäl-

tiger an, bestätigt sich diese Vermutung: Zu Grun-

de liegt beiden gleichermaßen das Problem der

Kommunikation, genauer: einer Kommunikation,

die sich dem Anderen öffnet, ihn anerkennt und

ihm seine Andersheit lässt, statt sie zu verletzen.

Wir haben es hier, glaube ich, bloß mit zwei kom-

plementären Versionen zu tun, auch wenn Haber-

mas eine unverzerrte Kommunikation mit dem

Anderen und dessen einzigartiger Ordnung be-

hauptet, während Derrida gerade das Gegenteil

betont: Man solle sich der radikalen Kontingenz

des Anderen öffnen. Diesen sich ergänzenden Po-

sitionen gegenüber ist es Badious großes Verdienst,

wie mir scheint, mit seiner Ethik das gesamte Feld

verändert zu haben. Nicht die Andersheit ist das

Problem, sondern das Selbe.3 Das also ist für mich

die erste Geste des Philosophen, wenn man ihn

mit Forderungen bedrängt. Die Begriffe der De-

batte selbst zu verändern – jetzt zum Beispiel ist

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2954

Page 13: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

55

die virtuelle Realität ein modisches Thema; wir

leben in einem virtuellen Universum: Verlieren wir

den Kontakt zur authentischen Realität? Haben

wir uns völlig entfremdet? Hier stößt man erneut

auf die disjunktive Synthese: Man kann sich Post-

modernisten vorstellen, deren wundervolle noma-

dische Subjektivität von einer künstlichen Reali-

tät zur nächsten schalten könnte; oder nostalgi-

sche Konservative und Links-Konservative, denen

das ein Grauen wäre und die stattdessen meinen,

wir müssten – auf welche Weise auch immer – zur

authentischen Erfahrung zurückkehren. Wir soll-

ten etwas anderes machen: die Begriffe der De-

batte verwerfen und behaupten, nicht die virtuel-

le Realität sei das Problem, sondern die Realität

des Virtuellen. Wie das?

Ich meine: Virtuelle Realität – Badiou hat das

irgendwo geschrieben – ist eine ziemlich banale

Idee. Sie gibt uns nichts zu denken. Virtuelle Rea-

lität, das heißt: „Schau, wie wir mit unseren tech-

nischen Spielereien einen Schein erzeugen können,

den wir am Ende für Wirklichkeit halten.“ Die

Realität des Virtuellen halte ich da für bedenkli-

cher. Das Virtuelle ist irgendetwas, aber nichts

Ganzes; es ist – wenn man so will – der tatsächli-

che Effekt des Wirklichen. Hier liegt das eigentli-

che Problem.

Kommen wir zum nächsten Thema, das den

Journalismus bewegt, den Hedonismus. Auch zum

Hedonismus sollen wir Stellung nehmen. Was tun,

wenn die alten Werte verfallen und die Menschen

den Glauben verlieren, dem Egoismus frönen und

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2955

Page 14: Alain Badiou, Slavoj Žižek: Philosophie und Aktualität

56

ihr Leben einzig der Suche nach Vergnügungen

widmen? Wieder teilt sich das Feld in zwei Lager:

Jede starre moralische Haltung schließt einen Akt

der Gewalt ein – Judith Butler vertritt diese ty-

pisch postmoderne Haltung in ihrem letzten, bis-

her nur auf Deutsch vorliegenden Buch Zur Kri-

tik der ethischen Gewalt 4 –, wir müssen also flexi-

bel sein und so weiter, was erneut auf das Thema

der nomadischen Subjektivität hinausläuft; feste

Werte und Verbindlichkeiten braucht das Land –

ist die Antwort von drüben. Natürlich sollten wir

hier einmal mehr das Problem direkt angehen und

zuerst die Begriffe der Debatte in Frage stellen,

mit einer Art brechtscher Verfremdung*; die Sa-

che selbst würde uns dann fremd: „Aber halt! Wor-

über sprechen wir hier eigentlich?“ Über Hedo-

nismus in einer Konsumgesellschaft, deren Haupt-

merkmal ein radikales Verbot ist: direkt zu genie-

ßen. Immer heißt es: „Du sollst zwar genießen,

um aber wirklich genießen zu können, musst du

erst einmal joggen, eine Diät machen und darfst

nicht sexuell belästigend sein.“ Am Ende steht die

totale Körperdisziplin. Kommen wir aber auf den

Glauben zurück, auf das Klischee, wir hätten heut-

zutage den Glauben verloren. Nichts als eine Pseu-

do-Debatte: Wir glauben heute mehr denn je – und

hier liegt das Problem, wie Robert Pfaller gezeigt

hat. Die Begriffe der Debatte sind damit nicht

mehr dieselben. Leider ist aber die große Mehr-

heit der Philosophen der Herausforderung auf die-

ser Höhe nicht gewachsen, und so überhäufen sie

uns mit falschen Antworten.

Haupttext_2Auflage.pmd 06.03.2012, 18:2956