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Die Faszination des freiheitlich Ungewissen Alban Bergs Vier Stücke op. 5 für Klarinette und Klavier Matthias Müller (www.matthias-mueller.ch) 1. Vorbemerkungen: Eine Interpretatorische Analyse Die Vier Stücke op. 5 für Klarinette und Klavier von Alban Berg stellen einen Glücksfall für die Klarinette dar. Bereits durch Johannes Brahms mit Meisterwerken verwöhnt, wird die Klarinettenliteratur mit Bergs Stücken durch ein weiteres Opus eines höchst bedeutenden Komponisten um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert bereichert, was sogar für einmal den Neid von Streichern hervorrufen kann. Die Klarinettenstücke gehören zu den meist analysierten und beschriebenen Stücken der Klarinette, angefangen natürlich mit Adornos Kapitel in seiner Monographie über Berg 1 . Seine Musik ist von einzigartiger Dichte, inneren Bezügen und Anspielungen, die über das Werk hinausreichen, daß sie ein beliebtes Gebiet für musikalische Analysen darstellt. Für den praktischen Musiker stellt sich dabei immer die Frage, in wieweit musikalische Analysen zu besseren Interpretationen oder zu besserem Hörverständnis führen, oder lediglich interessant sind für die Spezialisten und die Komponisten, die sich an den großen Meistern schulen wollen. Die folgende Analyse will sich diesem Problem annehmen. Die Analyse wird dabei im 1. Teil vom Werk aus den Focus quasi zentrifugal aufs Umfeld richten und im 2. Teil zentripetal sich in Details der Komposition vertiefen. Die Interpretation führt die Ideen zu Ende, die durch eine Komposition gegeben sind. Es kommt dabei zu einem komplexen Zusammenwirken zwischen einem Autor, der eine chiffrierte Botschaft in Form eines Notentextes hinterläßt, und einem Interpreten, der daraus Musik schafft. Dabei gilt es zu konstatieren, daß musikalische Notation nie eine vollständige Fixierung sein kann. Die exakteste Notation läßt dem Interpreten immer einen gestalterischen Freiraum. Einen Freiraum, den der Musiker möglichst kreativ nutzen soll, denn die Komponisten wissen um die beschränkte Vorbestimmung des Notentextes und wünschen sich lebendige Wiedergaben ihrer Werke. Der Freiraum ist allerdings nicht unbeschränkt, sondern es ist für eine gute Interpretation ebenso wichtig, daß die Musik dem Autor gemäss gespielt wird. Dabei geht es als erstes darum, den Notentext umzusetzen, d. h., das Notierte muß zum Klingen gebracht werden: Angefangen von den richtigen Tönen in vorgeschriebener Dauer, über die Tempowahl, die Lautstärkenverhältnisse, bis zur Artikulation und vielem mehr. Es ist bezeichnend, daß in der Musikgeschichte der Grad der Differenzierung der Notation bis zur 2. Wiener Schule kontinuierlich zunahm. Im späteren 20. Jahrhundert gab es noch weiterführendere Exzesse, die Notation noch genauer festzulegen. Allerdings gab es auch die Tendenz, dem Interpreten wieder mehr Spielraum zu lassen. Gerade die Musik Alban Bergs stellt bereits einen kaum zu überbietenden Grad an notierter Dichte dar, die den Interpreten alles abverlangt. Die alleinige Wiedergabe des Notentextes stellt allerdings erst die Basis für eine gelungene Interpretation dar. Die Musik enthält noch viel mehr an Information, als eine Ansammlungen von Noten in richtiger Lautstärke, Klangfarbe und Dauer. Hier wird nun eine umfassendere Betrachtung eines musikalischen Werkes unumgänglich. Es ist wichtig, die inneren Zusammenhänge in der Musik zu

Alban Berg Analyse

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Die Faszination des freiheitlich Ungewissen

Alban Bergs Vier Stücke op. 5 für Klarinette undKlavier

Matthias Müller (www.matthias-mueller.ch)

1. Vorbemerkungen: Eine Interpretatorische Analyse

Die Vier Stücke op. 5 für Klarinette und Klavier von Alban Berg stellen einenGlücksfall für die Klarinette dar. Bereits durch Johannes Brahms mit Meisterwerkenverwöhnt, wird die Klarinettenliteratur mit Bergs Stücken durch ein weiteres Opuseines höchst bedeutenden Komponisten um die Jahrhundertwende zum 20.Jahrhundert bereichert, was sogar für einmal den Neid von Streichern hervorrufenkann. Die Klarinettenstücke gehören zu den meist analysierten und beschriebenenStücken der Klarinette, angefangen natürlich mit Adornos Kapitel in seinerMonographie über Berg1. Seine Musik ist von einzigartiger Dichte, inneren Bezügenund Anspielungen, die über das Werk hinausreichen, daß sie ein beliebtes Gebietfür musikalische Analysen darstellt. Für den praktischen Musiker stellt sich dabeiimmer die Frage, in wieweit musikalische Analysen zu besseren Interpretationenoder zu besserem Hörverständnis führen, oder lediglich interessant sind für dieSpezialisten und die Komponisten, die sich an den großen Meistern schulen wollen.Die folgende Analyse will sich diesem Problem annehmen.Die Analyse wird dabei im 1. Teil vom Werk aus den Focus quasi zentrifugal aufsUmfeld richten und im 2. Teil zentripetal sich in Details der Komposition vertiefen.Die Interpretation führt die Ideen zu Ende, die durch eine Komposition gegebensind. Es kommt dabei zu einem komplexen Zusammenwirken zwischen einemAutor, der eine chiffrierte Botschaft in Form eines Notentextes hinterläßt, undeinem Interpreten, der daraus Musik schafft. Dabei gilt es zu konstatieren, daßmusikalische Notation nie eine vollständige Fixierung sein kann. Die exaktesteNotation läßt dem Interpreten immer einen gestalterischen Freiraum. EinenFreiraum, den der Musiker möglichst kreativ nutzen soll, denn die Komponistenwissen um die beschränkte Vorbestimmung des Notentextes und wünschen sichlebendige Wiedergaben ihrer Werke. Der Freiraum ist allerdings nicht unbeschränkt,sondern es ist für eine gute Interpretation ebenso wichtig, daß die Musik dem Autorgemäss gespielt wird. Dabei geht es als erstes darum, den Notentext umzusetzen,d. h., das Notierte muß zum Klingen gebracht werden: Angefangen von denrichtigen Tönen in vorgeschriebener Dauer, über die Tempowahl, dieLautstärkenverhältnisse, bis zur Artikulation und vielem mehr. Es ist bezeichnend,daß in der Musikgeschichte der Grad der Differenzierung der Notation bis zur 2.Wiener Schule kontinuierlich zunahm. Im späteren 20. Jahrhundert gab es nochweiterführendere Exzesse, die Notation noch genauer festzulegen. Allerdings gab esauch die Tendenz, dem Interpreten wieder mehr Spielraum zu lassen. Gerade dieMusik Alban Bergs stellt bereits einen kaum zu überbietenden Grad an notierterDichte dar, die den Interpreten alles abverlangt.Die alleinige Wiedergabe des Notentextes stellt allerdings erst die Basis für einegelungene Interpretation dar. Die Musik enthält noch viel mehr an Information, alseine Ansammlungen von Noten in richtiger Lautstärke, Klangfarbe und Dauer. Hierwird nun eine umfassendere Betrachtung eines musikalischen Werkesunumgänglich. Es ist wichtig, die inneren Zusammenhänge in der Musik zu

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erkennen und zu verstehen, und zusätzlich muß der weitere Kontext des Werkes indie Interpretation mit einfließen. Dazu gehört ein möglichst umfassendesVerständnis für eine kulturelle Epoche mit ihrem spezifischen musikalischenAusdruck und Kenntnisse über die Persönlichkeit des Komponisten, der seine Zeitund seine Person in Musik faßt. Dazu gehört das Wissen, wie die Notationsangabenzu verstehen sind. Zusätzlich gehören auch Kenntnisse weniger klar faßbarerBereiche, wie zum Beispiel die Charakteristiken eines zeitabhängigen Denkens undFühlens.Analysieren heisst Zergliedern und die Untersuchung von Einzelheiten. DiesesVerfahren birgt Gefahren in sich: Der Sinn fürs Gesamte und die Zusammenhängegehen verloren oder die Analyse wird zu theoretischer Arbeit ohne Bezug zur Praxis.Zudem besteht die Gefahr, dass die eigentliche künstlerische Idee eines Werkesvergessen wird. Eine zusätzliche Problemstellung ergibt sich bei der Analyse vonMusik, die keinen vorgegebenen Formmustern folgt, sich funktionsharmonischnicht entschlüsselt und keine fassbaren melodischen oder motivischen Einheitenvorweist. Dieter de la Motte nannte dieses Verfahren vorausetzungslose Analyse2

und hat das op. 5 von Berg als Beispiel hingestellt. Die Analyse kann sich nichtmehr einem definierten Vokabular bedienen und sie kann das Werk nicht alsVariante einer exisitierenden Form beschreiben. Die Analyse kann sich an nichtsfesthalten und von nichts Gegebenem ausgehen. Der Anteil der Deutung, die ohnesicheren allgemeingültigen Boden gemacht wird, wird dabei grösser. Bei derAnalyse geht es nicht darum, wie bei einem Rätsel aufzudecken, wo beispielsweiseeine Reprise einsetzt, oder woher ein Intervall abgeleitet wurde. Die Analyse kannnach meiner Ansicht in zwei Schritten geschehen: (1)Durch analytischeBeschreibung kann die Gestalt und Eigenheit eines Werkes hervortreten und ineinem zweiten Schritt (2) kann das rohgelegte Material interpretiert und gedeutetwerden. Zu 1. ist zu bemerken, dass dieses Verfahren relativ gut auf dem Bodender wissenschaftlichen Nachvollziehbarkeit ablaufen kann und ein obektivierbaresVerfahren darstellt. Die unter 2. angesprochene Interpretation soll sich von dertrockenen Faktenanhäufung entfernen und es wagen, den Bereich persönlichgefärbter Deutung zu betreten. Nur so kann sie in die Spähren der Kunsteindringen. Das muss letztlich das Ziel einer musikalischen Analyse sein, die dannauch der musikalischen Interpretation dienlich ist. Die Kunst lebt nicht vonallgemeingültigen Gesetzen. Zwar ist der Wunsch, für die Kompositionskunst einRezept finden zu können naheliegend, aber er ist verfehlt. Die Kunst kommt immeram deutlichsten zum Tragen, wo das freie individuelle Einwirken des Schöpfersgefragt ist, resp. wo der Schöpfer gerade vorgegebene Gesetze durchbricht. Kunstist fern von buchhalterischem Gehorsam, aber voller intuitiver einmaligerEntscheide.Die musikalische Analyse stellt in dem Sinne eine subjektive Interpretation dar. DerAnspruch von Wissenschaftlichkeit, soll dabei nicht dazu verleiten, analytischeSchritte nach mathematischem Vorbild beweisbar zu machen, sondern es soll einesubjektive Schlüssigkeit angestrebt werden, die eine mögliche Analyse unter vielendarstellt. Beispielhaft können hierbei sicher die Analysen von Adorno erwähntwerden, die für sich selber beinahe eigenständigen Kunstcharakter haben. Dabeiberufen sie sich auf einen grossen musikalischen Erfahrungsschatz, aber auch aufeinen persönlichen Gestaltungswillen, der die Person des Beobachters nichtversteckt.Die folgende Analyse folgt oben beschriebenen Verfahren, wobei auf eine strengeTrennung der Schritte 1 und 2 nicht geachtet wird. Zusätzlich wird auf dieAuswirkungen, die die Analyse für die Interpretation haben kann, eingegangen.

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Teil 1 Umfeld und Biografisches

2. Leben und Person Alban Bergs

Als erstes soll der Blick nun auf das Leben und die Person des Komponisten AlbanBerg gerichtet werden. Zusätzlich sollen die Lebensumstände und die Zeit, in der ergelebt hat zur Sprache kommen. Die Kenntnisse über das Leben eines Autors gibtkeine direkten Hinweise wie zum Beispiel ein Riterdando gemacht werden soll, esverhilft aber zu einem Verständnis, um dem Ausdrucksgehalt einer Musik gerechtwerden zu können. Es verhilft zudem dazu, die evozierte Atmosphäre besser zuanalysieren und widerzugeben. Gerade bei einem Komponisten wie Berg kann dasStudium seines Lebens aufschlußreich sein, da sein Werk viele autobiografischeZüge aufweist.3 Ebenso ist es aber wichtig, das Umfeld eines Komponisten erfassenzu können. Bei einer umfassend gebildeten Person, wie Berg fällt das besondersleicht und drängt sich auf. Wir wissen heute ziemlich genau, welche Personen undwelche Werke Berg beeinflußt haben. Berg war zudem ein Kind seiner Zeit undseiner Herkunft. Er war kein Kosmopolit, sondern er war tief verwurzelt in seinerHeimatstadt Wien und der nahen Umgebung und gezeichnet durch die politischunruhigen und tragischen Zeiten.Das Leben Alban Bergs ist durch viele Zeitzeugen gut dokumentiert. Seine NeffeErich Alban Berg gibt einen anekdotenreichen und intimen Einblick in das Lebenseines Onkels4. Ein vertrauter Schüler von Berg Willi Reich gab eine erste sehrpersönliche und sympathische Biographie heraus5, der Redlich6 und Floros3 folgten.Ebenso wurde das Leben und Werk von Berg im englischen Sprachraumumfangreich dokumentiert. Davon zeugt der neue Band in der Reihe Komponistenund ihre Zeit im Laaber Verlag7, der eine Übersetzung aus dem englischen darstellt.Die verschiedenen Sichtweisen erlauben uns heute ein differenziertes Bild derPersönlichkeit Bergs.„Die zahlreichen Briefe, die ich von ihm erhielt, stärken die liebevolle Erinnerung anden wunderbaren Menschen und Künstler, der auch in den scheinbargeringfügigsten Dingen wahrhaft „groß“ war: durch die Art, in der er sie ansah undin sein Leben aufnahm. Seine vornehme, von überlegener Selbstironie und gütigemHumor gegenüber anderen getragene Lebenskunst, die vom Krawattenbinden biszu den heikelsten ethischen und philosophischen Problemen reichte...“5. ReichsBeschreibung der Person Alban Bergs wird in keinem anderen Dokument widerlegt.Berg war mit Sicherheit eine große Persönlichkeit, die durch seine Person wie durchseine Musik sein Umfeld in seinen Bann zog. Berg war nicht der unerbitterlicheKämpfer wie sein verehrter Lehrer Schönberg. Er lebte beinahe zurückgezogen seinganzes Leben in demselben Quartier in Wien und war gegenüber den Genüssen desLebens nie verschlossen. Von einem andern berühmten Schüler Bergs Theodor W.Adorno läßt sich sagen: „Adorno meinte bestimmte Wesenszüge, bestimmteEigenschaften der Bergschen Persönlichkeit in seiner Musik wiederfinden zu können.Bergs enorme Sensibilität, sein Glücksverlangen, sein Hedonismus und seinPessimismus, die Strenge seiner Gesinnung...“ 6. Es ist sicher hilfreich, wenn wiruns diese Merkmale des Wesens Bergs vergegenwärtigen, um seine Musik besserverstehen zu können. Seine Sensibilität widerspiegelt sich in den äußerstdifferenzierten Partituren, die von den Interpreten höchste Sorgfalt verlangen.Seine musikalische Vorstellungskraft geht bis ins letzte Detail und stößt immerwieder an die Grenzen, was auf den Instrumenten überhaupt realisierbar ist. Dieseexakte Schreibweise überläßt nichts dem Zufall, sondern zeugt von der strengeninneren Logik, die Bergs Musik innewohnt. Die Spannung, die sich zwischen demGlücksverlangen und dem Hedonismus, der weder bei Schönberg noch bei Webernin diesem Masse ausgeprägt war, einerseits und seinem Pessimismus und

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schwarzen Humor anderseits, ist bezeichnend für die Musik Bergs und verlangt vomInterpreten, diesen Widerspruch und die schnellen emotionalen Wechselnachempfinden zu können. Als hervorstechendes Exempel sei hier der Anfang des1. Stückes von op. 1 erwähnt, bei dem die harmlos anmutende Leichtigkeit des 1.Taktes sogleich im zweiten Takt in Schwermut verfällt. Ein anderes typischesBeispiel ist der Stummakkord im Klavier am Schluß des vierten Stückes, wo diebruitistischen Akkorde in forte fortissimo einen lieblichen Dur-gross Akkordheraufbeschwören.Berg verbrachte eine glückliche Kindheit und wuchs als drittes Kind in einersechsköpfigen Familie auf, die dem gehobenen Bürgertum der Wiener Gesellschaftangehörte und sich oft gemeinsam der Pflege der Kunst durch gemeinsamesMusizieren oder in familiären Theateraufführungen widmete. Alban war derHauskomponist und begann in seiner Jugend Lieder zu schreiben. Entscheidendwaren für ihn auch die paradiesischen Sommeraufenthalte in den ÖsterreichischenBergen am Ossiachersee, die das Fundament legten zu seiner nie erlöschendenNaturverehrung. Er erhielt Klavierunterricht von einer Gouvernante und begannfrüh sich in die deutsche Literatur zu vertiefen. Bald wurde die familiäre Idylleallerdings erschüttert. Der Vater starb ganz plötzlich, als Berg 15 Jahre alt war.Kurz darauf erlitt Berg seinen ersten Asthma-Anfall – es war der Anfang eines niemehr endenden Leidens –, und zu guter letzt fiel er durch die Matura, was ihn sehrbelastete. Es gehörte wohl zum Wesen des sanftmütigen Hypochonders, daß erquasi per Zufall das Studium in Komposition aufnahm, nachdem er bereits eineBeamtenkarriere in Angriff genommen hatte. Es war der Bruder von Alban, der dieAnnonce von Schönberg in einer Zeitung las, mit der Mitteilung, daß dieserUnterricht in Kontrapunkt und Harmonielehre erteile, und eigenhändig dieKompositionen seines Bruders Alban zum Meister brachte. Dieser nahm Berg sofortals Schüler auf.

3. Lehrzeit bei Schönberg

Nun folgte wohl eine der fruchtbarsten Wechselwirkungen zwischen einem Lehrerund Schüler, die es in der Musikgeschichte gegeben hat. Schönberg beginnt seineHarmonielehre mit folgendem Satz: „Dieses Buch habe ich von meinen Schülerngelernt“.8 Berg war wohl Schönbergs wichtigster Schüler. Berg erstellte auch dasSachregister der besagten Harmonielehre, die mit Sicherheit auch als Dokument zulesen ist, welchen Unterricht Berg genossen haben muß. Schönberg muß trotz allerStrenge, die er ausstrahlte, ein begnadeter Pädagoge gewesen sein, der ohneHochmut („Aber der Lehrer muß den Mut haben, sich zu blamieren“8) mit seinenSchülern einen kompromißlosen Weg suchte. („Aber sie wissen, worauf esankommt: aufs Suchen“8). Sein steter Vorwärtsgang („Aber die Erstarrung bringtnichts hervor. Nur die Bewegung ist produktiv“ 8) und das aufrichtige Anstreben derWahrheit in höchster Präzisionsarbeit, die nichts dem Zufall überlassen will, hatBerg von seinem Lehrer übernommen und auf eigene Weise ausgeformt. Schönbergist es gelungen höchste Begabungen zu fördern und ihnen gleichzeitig den eigenennötigen Freiraum zu lassen. Berg verehrte Schönberg zeitlebens: „Das Genie wirktvon vornherein belehrend. Seine Rede ist Unterricht, sein Tun ist vorbildlich, seineWerke sind Offenbarungen. In ihm steckt der Lehrer, der Prophet, der Messias; undder Geist der Sprache, der besser als der Geist derer, die mißhandeln, das Wesendes Genies erfaßt, gibt dem schaffenden Künstler den Namen ‚Meister‘ und sagt vonihm, daß er Schule macht“9 und setzte sich immer wieder für ihn ein. Er sammelteGeld, organisierte Konzerte, schrieb Texte und verteidigte ihn gegen alleAnfeindungen. Man muß sich vergegenwärtigen, daß Berg keine Musikhochschule

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besucht hat, sondern der siebenjährige Unterricht bei Schönberg seine einzigeAusbildung war.

4. Bergs andere Lehrer

Trotzdem sind weitere Personen zu Bergs Lehrern zu zählen. Auf musikalischemGebiet ist ein anderer Komponist wohl ebenso wichtig für Bergs Entwicklung:Gustav Mahler. Berg nahm höchst angeregt Anteil am Wiener Musikleben und warein Verehrer von Mahler, der bis zu seiner Übersiedlung nach New York Dirigent inWien war, und kannte seine Werke aufs genauste. Berg war auch nach dem Todvon Gustav mit der Witwe Alma Mahler eng befreundet und widmete sein letztesvollendetes Werk, das Violinkonzert der früh verstorbenen Tochter von Alma,Manon Gropius. Berg war ein eifriger Student der Musikgeschichte und spielte mitVorliebe Werke aus der Musikliteratur vierhändig am Klavier. Der Einfluß vonWagner, darf sicher auch nicht unterschätzt werden, insbesondere weil er dasVorbild für die Oper gewesen sein muß.Zudem können weitere Persönlichkeiten des Wiener Kulturlebens zu den MentorenBergs gezählt werden. Erste Erwähnung verdient dabei Karl Kraus, der mit seinereigenen Zeitschrift „Die Fackel“, der kritischen intellektuellen Schicht im Wien derJahrhundertwende eine Stimme gab. Im Vorwort zur „Fackel“ schrieb Kraus:„Vielleicht darf ich mich aber auch der Hoffnung hingeben, daß der Kampfruf, derMißvergnügte und Bedrängte aus allen Lagern sammeln will, nicht wirkungslosverhalle“10 Er tat es bei Alban Berg nicht. Berg war eifriger Leser der Fackel undbesuchte stets die Lesungen und Theatervorführungen, die der streitbare Krausveranstaltete. Eine weitere schillernde Person hatte großen Einfluß auf den jungenKomponisten, Peter Altenberg, der psychiatrisch interniert wurde und dessen Textedie Grundlage zu Bergs op. 4 bildeten. Diese fünf Orchesterlieder nachAnsichtskartentexten von Peter Altenberg wurden am legendären Skandalkonzert1913 unmittelbar vor dem Entstehen der Klarinettenstücke uraufgeführt. Das vonSchönberg geleitete Konzert endete in einem Tumult, und Bergs Werk konnte nichtzu Ende gespielt werden.

5. Spannungsvolle Zeit

Dieser Sachverhalt mag mit unterstreichen, in welch gespannter Atmosphäre Berggelebt hat. Es war die Zeit, des anbahnenden Zerfalles der kaiserlichenDonaumonarchie, die durch die zwei Weltkriege besiegelt wurde. Diese Spannungaus Pessimismus (Berg unternahm in seiner Jugend sogar einenSelbstmordversuch), Aufbruch, genußsüchtigem Dandytum, Selbstüberzeugung undniederschmetternder Ablehnung, kennzeichnen auch Bergs Musik. Es ist nicht leichteinen Epochebegriff dieser künstlerisch äußerst produktiven Zeit derJahrhundertwende zu geben. Fin de siècle, Dekadenz, Moderne, L’Art pour l‘Art undExpressionismus geben Aspekte der Zeit wieder. Sicher ist, wie Hermann Bahrschrieb11 dass sich die Epoche gegen den vorangehenden Naturalismus wandte. InBetracht zu ziehen sind sicher auch die Wechselwirkung von Paris – Wien und dieInternationalität der Erscheinungen. Bahr kennzeichnet die Dekadenz als eine Zeitder Hingabe an das Nervöse und Künstliche mit einem Hang zum Mystischen. AlfredGold schrieb gar von einer „Ästhetik des Sterbens“, die bestimmt ist durchLebensüberdruß und Todessehnsucht, die die gesamte österreichische Kunst derJahrhundertwende kennzeichnet.12

Diese überzeichnet negative Stimmung charakterisiert sicher auch Bergs Werk undes ist ein Mißverständnis, das vor diesem Hintergrund Berg allzu schnell alsRomantiker der Wiener Schule bezeichnet wird und dessen Klangsinnlichkeit als

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Hang zum Tonalen mißgedeutet wurde. Berg ist sanftmütiger als Schönberg, dochseine Musik ist voller Spannung und ungelöster Konflikte, wobei immer wieder dasElement der Hoffnung hervorschimmert. Die pessimistische PersönlichkeitsstrukturBerg war früh zum Vorschein getreten. So schrieb er in seiner bereits in seinerJugend: „Schwachen Stunden folgen gerne schwache Tage“ (ausZitatensammlung). Berg war oft krank und gezeichnet vom 1. Weltkrieg. Seinfrüher Tod, der ihn wie vor den Greueln des zweiten Weltkrieges verschonen wollte,mutet unheimlich an: Ausgehend von einem Insektenstich stirbt er an einem starkentzündeten Furunkel im Alter von 50 Jahren.

6. Entstehungszeit von op. 5

Die Klarinettenstücke op. 5 entstanden wie erwähnt im Jahr des Skandalkonzertesin Wien und der endgültigen Ablehnung Schönbergs in Wien. 1911 konnte Bergendlich seine langjährige Geliebte Helene Nahowski heiraten, was lange Zeit gegenden Willen der Eltern von Helene war. In der vorangehenden Zeit schrieb er dasStreichquartett op. 3, das letzte Werk unter Aufsicht Schönbergs. Die Zeit wargeprägt durch stärkste Gefühle der Liebessehnsucht und der Angst vor dem Verlustder Geliebten. 1911 steht Berg plötzlich ohne seine Vorbilder da: Gustav Mahlerstirbt und Schönberg übersiedelt nach Berlin, wo er eine Dozentur annimmt. 1912vollendet Berg seine Orchesterlieder op. 4, die am 31. März 1913 im besagtenSkandalkonzert uraufgeführt werden. Die Klarinettenstücke entstehen im Sommerdesselben Jahres. Die Stücke stehen quer in einer Kette von Werken, die geradlinigzu Wozzeck führen. Von einer Klaviersonate (op. 1) über Lieder (op. 2) zumStreichquartett, ersten Orchesterliedern zu Orchesterstücken folgt bereits alssiebtes Opus die Oper Wozzeck. Auch der aphoristische Charakter derKlarinettenstücke wird immer wieder als Berg-fremd bezeichnet. Die Stückeentstanden sicher unter dem Einfluß von Schönbergs op. 19 (1911) und Anton vonWeberns, der sich als Spezialist der kurzen Stücke bereits etabliert hatte. Es solltelange dauern, bis Berg die Stücke zu Gehör bekam. 1919 wurden sie in Berlin imVerein für musikalische Privataufführungen uraufgeführt. Bemerkenswert ist, daßBerg die Stücke seinem Lehrer widmet. Berg besuchte Schönberg in Wien, und derLehrer muß den erwachsenen Schüler arg kritisiert haben, insbesondere seine op. 4und op. 5. Das Skandalkonzert und die sich anbahnende endgültige Ablösung habenwohl das ihre dazu beigetragen, das es in Folge der Kritik Schönbergs zur einzigenAbkühlung in der Freundschaft zwischen ihm und Berg kam. Die Widmung derStücke belegt wohl, daß die Verstimmung eine Episode war und keineeinschneidenden Folgen hatte.

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Teil 2 Analyse und Interpretation

1. 4 Aphoristische Stücke (Form)

Als erstes soll die Form des ganzen Werkes betrachtet werden. Auffallend ist ohneZweifel die Kurzform wie auch die Bezeichnung „Stücke“. Das op. 5 wirdzusammen mit den Orchesterstücken op. 4 zu den aphoristischen12 Werken AlbanBergs gezählt. Die Kurzform des Aphorismus war keine musikalische Eigenheit,sondern wurde ebenso literarisch gepflegt, im Falle Bergs war sicher PeterAltenberg entscheidend. Die Orchesterstücke op. 4 basieren auf kurzen Texten,sogenannten Ansichtskartentexten von dieser Wiener Dichterpersönlichkeit. Bergselber liebte den kurzen prägnanten Satz und legte eine persönlicheZitatensammlung mit eigenen Aphorismen und Zitaten verschiedenster Autoren an.Das Credo der fasslichen Kürze, das Bergs Freund Anton von Webernkompositorisch zur Spitze trieb, war ein zeittypischer Topos. Er kann alsGegenreaktion auf die hypertrophen Formen im späten 19. Jahrhundert verstandenwerden, aber auch als adäquates Pendant zu Erreignissen in der Wissenschaft um1900, wo die Mathematik und Physik zu bestimmenden Leitwissenschaften wurdenund die Physiker begannen die Welt neuartig in kurzen Formeln zu beschreiben. DieHoffnung, sich der Wahrheit positivistisch nähern zu können, und subjektiverBeliebigkeit entrinnen zu können, erhielt eine offensichtliche Grundlage. Dazubedarf es nicht langer persönlicher Vorträge, sondern knapper, den Kern derWahrheit erfassenden Äusserungen.Der Titel des Werkes „Vier Stücke“ deutet darauf hin, dass sie in Analogie zu demerwähnten Zeittrend, sowohl den neutralen objektivierten Ausdruck verpflichtetsind, als auch einen neuartigen Typus musikalischer Form suchen. Die Bezeichnung„Stück“ sagt nichts über die Musik aus, im Gegensatz etwa zu Sonate, Nocturne,Bagatelle, Etude oder Rhapsodie, die Andeutungen über den Inhalt und die Formeines Werkes machen. Berg wird sich an seinen nächsten kompositorischenFreunden und Mitstreitern orientiert haben, dass er „Stücke“ komponierte.Insbesondere die 1911 entstandenen Klavierstücke op. 19 von Schönberg scheinenals Orientierungspunkt gedient zu haben. Die oftmals beschriebene Nähe1/7 zudiesem Werk wird in der Konzeption des zweiten Stückes evident. Währenddem dieVorgabe kurze Stücke zu schreiben vorgegeben zu sein schien, bleibt die Frageoffen, warum Berg vier Stücke komponierte (Opus 19 von Schönberg umfasst 6Stücke, Weberns op. 5 5 Stücke) und wie Berg dazu kam, die Klarinette zu wählen.Alle wichtigen Klarinettenwerke waren bis zu dieser Zeit in Zusammenhang mitInstrumentalisten entstanden. Berg hingegen schuff diese Werke ohneklarinettistischen Berater oder intendierten Realisator. Es mag Ausdruck von BergsBedürfnis gewesen sein, seinen persönlichen Ausdruck zu finden und insbesonderesich von seinem bestimmenden Lehrer lösen zu können. Unterstützend mag gewirkthaben, dass Brahms mit seinen 1897 entstandenen Klarinettensonate, dasInstrument zu emanzipieren begann und sowohl Gustav Mahler, wie Schönberg undWebern, die Klarinette mit Vorliebe einsetzten.Zur Frage, warum Berg gerade vier Stücke schrieb, wage ich die Hypothese, dasses sich zufällig ergeben hat und nicht auf einem grossen planerischen Entwurf fusst.Die von Adorno1 beschworene Analogie der Zahl Vier zur viersätzigen Sonatenformist nicht überzeugend begründet. Sicher ist das zweite Stück sehr langsam undkann mit einem lansamen 2. Satz in Verbindung gebracht werden. Das 3. Stückbeginnt zwar scherzoartig; ein Charakter, der aber sogleich wieder verlassen wird.Das erste Stück hat aber ebensowenig mit einer Sonatenhauptsatzform zu tun, wie

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der letzte Satz dem Rondotyp nahe steht. Überzeugender scheint mir die Tatsache,dass Berg gerade in dieser Phase seines kompositorischen Wirkens sich einesbefreiten Ansatzes erfreute, der sich sowohl in der Form, wie auch in der Harmonikmanifestiert. Gerade Berg ist in den klassischen Formen geschult und arbeitet mitihnen, wenn nicht als direktes Vorbild, so als sich daran abarbeitender Erfinder.Berg schaffte es, dem Werk eine ambivalente Spannung zu verleihen, indem dievier Stücke wie eigenständige Momentaufnahmen einander gegenüber stehenkönnen, denen der Schöpfer aber auch eine übergeordnete Form verlieh.Die Kurzform ist Berg eigentlich fremd. Seine kompositorische Entwicklung ziehtgeradlinig zum grossen Bühnenwerk und hat dort unweigerlich seine höchsteQualität erreicht. Es ist deshalb umso erstaunlicher und spricht natürlich für dieQualitäten Bergs, dass er auch mit dieser kammermusikalischen Kurzformumzugehen verstand. Insgesamt stellt sich die Frage, ob diese Stücke einZufallswerk sind. War es lediglich eine Durchgangsarbeit, mit der Bergkompositorisch seinen eigenen Weg finden konnte und Erfahrungen machte? Eslässt sich nicht gänzlich von der Hand weisen. Allerdings macht diese Tatsache dasWerk interessant, weil die Stücke nicht einer kompositorischen Etude gleichen,sondern gerade die für den Schöpfer atypische Form lässt die Meisterschafthervortreten. Zudem hat Berg 6 Jahre nach ihrer Entstehung für die Uraufführungund den Druck der Stücke selber gesorgt, was zeigt, dass ihm die Stücke wichtigwaren.Die Kürze der Stücke stellt für die Interpreten eine Problemstellung dar, diehistorisch betrachtet neu war. Es geht darum, sofort eine Atmosphäre zu erfassenund zu schaffen und nicht mehr darum, Material zu exponieren, neu zu beleuchtenund zu verarbeiten, wie das in grossformatigen Sonaten der Fall ist. Ebenso müssennicht lange Entwicklungslinien gezeichnet oder Spannungen über längere Zeitaufrechterhalten werden. Die Musiker müssen im Stande sein, die fragile Musikbehutsam und ohne Umwege, an den Hörer zu führen. Die kurzen Zeitspannenlassen keine Ungeschicktheiten und Fehler zu, die in einem grossenZusammenhang weniger von Belang sein könnten. Um ein anderes Bild zu wählen:Das Spielen dieser Kurzform gleicht einer Zeichnung, bei der jeder Strich höchsteBedeutung erhält und und nicht wie in einem Ölbild beliebig korrigierbar ist.

2. Gestalt im Überblick

Das erste Stück beginnt mit einem einfachen Motiv in der Klarinette, das zuerstüber eine Quarte und kleine Sext abfällt und dann über eine Viertonreihe bestehendaus den Tönen eines a-moll Sekundakkordes13 wieder ansteigt. Das Motiv soll„leicht“ gespielt sein und wirkt wie eine offene Frage, die verloren und grotesk imRaum nachhallt. Es ist ein spielerischer frecher Beginn, der an Strauss‘ TillEulenspiegel oder an Schönbergs Pierrot erinnert. Bevor der Hörer diesemüberraschendnen Anfang bewusst werden kann, wird die Klarinette allerdings gleichzurückgebunden. Über ein verbindendes poco riterdando wird ein langsameresTempo, das nun einen veränderten Charakter („schwerer“) trägt eingeführt.Während 4 Takten bleibt die Musik dann in gespannter Ruhe bis es nach einemStau in Takt 6 zu einem grossen Ausbruch kommt, der nach unruhigem Wechselbadwieder angehalten wird (Fermate Takt 9). In der Folge wird in eigenwilliger ArtWesentliches von vorher aufgenommen: Die Klarinette schlängelt sich inchromatischen Umspielungen dahin, das Klavier spielt in der rechten Hand einfallendes Dreitonmotiv, das mit einer Quarte beginnt, wie in Takt 1 und die linkeHand spielt eine kurze Passage in der C-Dur-Skala in rhythmischer Analogie zu den32-tel in der Klarinette in Takt 7. Der Schluss ist ein abruptes Erstarren, das ebenso

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unwillkürlich wie unausweichlich durch die Klarinette eingeführt wird und dasKlavier baut darumherum einen magischen Klang auf. Dieser besteht mit demKlarinettenton zusammen aus drei übereinandergelagerten Quart-Tritonus-Komplexen und erhält im letzten Takt durch ein Subkontra-H eine unerwarteteNeufärbung: Der Klang wird geerdet und verliert seinen asteroiden Aspekt.Das zweite Stück ist als Ganzes in einem ruhigen Duktus gehalten, der allerdingsdurch verlangte Verzögerungen und Rubati, gestört wird. Das Stück beginntbeinahe konventionell, indem über einer Begleitung, einer repetierten Durterz undeinem dazustossenden Wechselklang, ein Thema in der Klarinette gespielt wird, dasaus einem Vorder- und Nachsatz zu bestehen scheint. (Vodersatz von es‘ bisfes‘/Nachsatz von as‘‘ bis c‘‘‘) Charakteristisch ist wiederum, wie zwischen Vorder-und Nachsatz ein Echoton (as‘‘) geschaltet ist und wie der „Nachsatz“ bereitswieder etwas langsamer und mit „Zeit lassen“ zu spielen ist. In Takt vier hören wirerneut ein Verharren der Klarinettenstimme, aus dem sich die Klarinette am Endeins hohe es‘‘‘ aufbäumt und nachher unwiederbringlich in die Tiefe gezogen wirdund auf dem tiefst möglichen Ton endet und zweimal die anfängliche, versöhnlicheTerz D-Fis spielen darf. Das Klavier endet nach ausgewogenenKlangfortschreitungen erneut auf dem Ausgangspunkt und wird nun durch eineUnterterz ergänzt, dass ein übermässiger Dreiklang entsteht, der nun durch ein B inOktave in der Subkontra- und Kontralage noch weiter in die Tiefe gezogen wird.Damit wird der tiefe Schlusston des 1. Stückes um einen weiteren Halbtonunterschritten.Das dritte Stück gibt mit seiner Hektik eine Vorahnung an den Beginn von Wozzeckwieder, wo der Hauptmann singt: „Langsam Wozzeck, langsam! Eins nach demAndern! Er macht mir ganz schwindlig...“ Das Klavier bildet in den ersten dreiTakten eine trotz sehr raschem Tempo nur zögerlich anlaufende Phrase, die aberabrupt endet und keine direkte Fortsetzung findet. Die Klarinette gesellt sich kurzzum munteren Treiben, stockt aber bereits in Takt 2. Die heitere Stimmung wirdallerdings bereits durch die äusserst leise Dynamik konterkariert und lässt denEinfluss Mahlers aufschimmern. Der zweite Anlauf in Takt 5 (wiederum etwaslangsamer als zu Beginn) wird in der Klarinette zuerst in einer Wechselfigurationder C-Dur Terz gehalten und nachher zu einem geisterhaften chromatischen Abstieggebracht, indem jeder Note ein Flatterzungenschatten angefügt wird und sich ineinem Echoton in vierfachem Piano verliert, der ziemlich lange gehalten und zudemnoch diminuiert werden muss. Eine nicht mehr zu überbietende Forderung an einenInstrumentalisten! Das Klavier verharrt in der linken Hand in einemDoppelsekundakkord im Tritonusabstand und die rechte Hand entschwindet inhöchste Höhen, ein verlorenes Unterfangen. Es wird unterstrichen, weil zu erst dieverminderte Quart as‘‘‘-e‘‘‘ gespielt wird. In der Oktavierung wird nur noch das as‘‘‘‘gespielt, das zu erwartende e wird nicht mehr gespielt. Der Ton erscheint lediglichin der Klarinette in erwähnter verstummender Art. Der folgende Einschub in Takt 9baut sich auf einem Tritonus-Quart-Quart Klang auf, der in kontinuierlicherVergrösserung sich verlangsamt und die rechte Hand des Klaviers tritt moltoespressivo in den Vordergrund: Zuerst drei kleine Terzen exponierend (h/d, d/f,e/g) und dann wird die letzte Terz e/g mit anschliessendem f zu einem sichrepetierenden Motiv geformt, das in zwei Harmonisierungen auftritt. Die Klarinettebegleitet poco espressivo mit einer sich gegen den Schlag wiederholten Figur, dieaus den vier ersten Tönen der rechten Hand des Klaviers übernommen sind. DasEnde des Teils ist wiederum ein Entschwinden in schwindlige Höhen und dieKlarinette verliert sich überirdisch. Das dritte Lied der Altenberglieder klingt an:„Über die Grenzen des All blicktest du sinnend hinaus; Hattest nie Sorge um Hofund Haus...“ Der Schluss ist wiederum ein auskomponiertes Abtauchen, Stocken,

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Verstummen. Der zweite Teil des Altenbergliedes: „Leben und Traum vom Leben,plötzlich ist alles aus.-„ Die Worte sind gesprochen – der Gesang ist aus.Die Mischung aus Endzeit und himmlischer Verklärung dauert im vierten Stück an:Der repetiert angeschlagene Akkord im Klavier, ein auf C stehender Klang, der insich den Dur, Moll und übermässigen Akkord vereint, ist nicht von dieser Welt. DieKlarinette scheint müde geworden zu sein, nette Melodien anzustimmen, diesogleich abgewürgt werden und senkt sich chromatisch resigniert. Was soll nunnoch folgen? In den Altenbergliedern nimmt es folgende Wende: Im vierten Liedverharrt es ( „Ich habe gewartet, gewartet, oh – gewartet!“) und im fünften kommtder Funke Hoffnung. (Hier ist Friede. Hier weine ich mich über aus über alles! Hierlöst sich mein unfassbares, unermessliches Leid, das mir die Seele verbrennt...“).Auch im vierten Stück der Klarinettenstücke kommt nun diese Wende. Es wird eintröstlicher vierstimmiger Satz angestimmt, der wieder soviel Leben einhaucht, dassüber fünf Takte (8-12), in diesem Werk ein langer Abschnitt ein Verklingenzelebriert wird mit vertrauten Mustern wie Stocken in Wechselfiguren, langeauskomponierte Ritardandi und Verharren auf einzelnen Tönen. Wie am Anfangzeigt Takt 11 den ambivalenten Anfangsakkord im Klavier und die Klarinetteerlischt, allerdings in einer Aufwärtsbewegung, die anzeigt, dass das Ende nochnicht gekommen ist, sondern dass ein gewaltiger Ausbruch nun folgt, bis überbruitistischen Akkorden im Klavier ein C-Dur-gross Akkord („quasi flagolett“) alsSchatten heraufbeschwört wird und die Klarinette darüber drei fallende kleineSeptimen spielt. Ein Augenzwinkern, das wieder an den melancholischen Pierroterinnert, der zu Beginn des ersten Stückes leicht fröhlich beginnt bis er sogleichbitterbös vom Unheil eingefangen wird. Der letzte Akkord bestehend aus as-c-e-g-hist eine Übereinanderschichtung von Terzen und ergibt einen übermässigen, einenDur und einen Molldreiklang. Der Farbenreichtum des Lebens ist vereint – nichtherausposaunt, sondern beinahe unhörbar wird das Menschliche konserviert. „Hierist Friede! Hier tropft Schnee leise in Wasserlachen...“ Das Ende der Altenbergliedererscheint in den Klarinettenstücken in homologer Weise wieder.

3. Einzelne Aspekte

Aus diesem beschreibenden Überblick lassen sich nun einige charakteristischeMomente des Werkes herauslesen. Zudem sollen andere relevante Aspekteausgeführt und interpretiert werden, resp. die Folgen für eine gelungenemusikalische Umsetzung abgeleitet werden:

3.1. Schnelle, häufige Wechsel

Die ständige Unruhe, die sowohl der Musik des Wozzeck innewohnt, wie auchdessen Helden kennzeichnet, ist auch in diesen Stücken omnipräsent. Es vergehtkaum ein Takt ohne Tempowechsel, nach mindestens 4 Takten ändert dermusikalische Verlauf meistens vollständig. Es gibt keine Wiederholungen;Entsprechungen sind stark variiert und verborgen.Für die Interpreten stellt sich zu der bereits erwähnten Problemstellung der Kürze,das Problem, das die Spieler sich nie auf etwas einstellen können. Bevor manglaubt einen Charakter dargestellt zu haben, erklingt bereits etwas anderes. Mankann sich nie auf etwas einstellen, sondern muss sofort bereit sein, zu ändern. DieGefahr ist, dass vor lauter Änderung und ständiger Wechsel nichts charakteristischgespielt wird. Das muss aber unbedingt vermieden werden. Es versteht sich vonselbst, dass es höchste Ansprüche an einen Interpreten stellt, wie im ersten Stück

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am Anfang in 6 Noten einen leichten Charakter zu evozieren und dann mit denfolgenden drei Tönen bereits einen völlig konträren Charakter zum Ausdruckbringen zu können. Die schnellen Wechsel manifestieren sich nicht nur auf dencharakterlichen Aspekt, ebenso sind tempomässige, dynamische undartikulatorische Wechsel zu beobachten.

3.2. Differenzierte, präzise Partitur

Ein zweites Charakteristikum des Notentextes ist seine differenzierte Ausarbeitung.Neben vielen Tempoangaben strotzt die Partitur von Angaben zu Artikulation,Dynamik und Ausdruck. Als Beispiel seien die Takte 3/4 im vierten Stück erwähnt.Jede Note der drei ersten Achtel muss anders gespielt werden und erhält auf eineandere Art besondere Bedeutung. Das Dis wird mit einem tenuto-Strichhervorgehoben; das D erhält einen Akzent und das Cis ist der Höhepunkt desCrescendos, das diese Dreitonfolge unterstützt. Das Ende des C in Takt 4 wirddurch die Notation gleichsam verunklart, weil ein stacc. Punkt für ein Viertel indiesem lansamen Tempo wenig aussagen kann (soll der Ton verkürzt werden, wennja, um wieviel?). Zusätzlich soll der Ton im dim. gespielt werden. Diese Passage istzudem mit „ein wenig zögerlich“ überschrieben, was allerdings sehr behutsamgemacht werden muss, da das ostinato des sich wiederholenden ein punktierterViertel dauernden Akkordes im Klavier sicher nicht gestört werden soll.In der Klavierstimme fallen jene Stellen besonders auf, wo nicht konkretrealisierbare Lautstärkeveränderungen gemacht werden müssen, wie z.B. im 2.Stück im fünften und sechsten Takt. Ein cresc. auf einem liegenden Klavierakkordkann lediglich musikalisch gedacht und so hypothetisch musikalisch umgesetztwerden. Wirklich hörbar kann es nicht gemacht werden.Die exakte Notation, die stellenweise die Möglichkeiten der Umsetzung garübersteigt wirft verschiedene Fragen auf und lässt Rückschlüsse zu. Es ist sicher einAusdruck einer überaus sorgfältigen Vorgehensweise. Berg hat vergleichsweisewenig geschrieben in seinem Leben, aber er hat nur hochwertige Kunst geschaffen.Er war mit sich selber so streng, dass er seinen Lehrer, von dem er die strengeGesinnung mitbekam, noch übertroffen hat. Negativ formuliert kann aus dieserSchreibweise auch ein überhöhtes Sekuritätsbedürfnis gelesen werden, weil Bergnichts dem Zufall, resp. Interpreten überlassen wollte. Möglicherweise versuchte erdurch diese minizuöse Schreibweise jeglicher Kritik entgehen zu können. Es darfnicht vergessen werden, dass Alban Berg zu diesem Zeitpunkt auf keinem Gebietein Ansehen genoss noch Erfolge aufweisen konnte. Er wusste wohl, dass seinverehrter Lehrer Schönberg sein Talent schätzte. Allerdings wird er von ihm nichtvon Lob überschüttet worden sein. Für diese Stücke wurde er wie erwähnt promptvon jenem getadelt. Mit einer immer exakter werdenden Notation steht Bergnatürlich nicht alleine. Neben Schönberg hat er sicher auch von Debussy gelernt,der ebenso die kompositorische Aufgabe weit über das Bereitstellen vonorganisierten Tönen auffasste und den Interpreten vor die Aufgabe stellt in grosserDichte empfangene Behfehlszeichen umzusetzten. Bei genauer Betrachtung desNotentextes wird deutlich, dass die exakte Notation keine Schikane und kein Bluffist. Die Angaben sind allesamt musikalisch inspiriert und kommen der klanglichenRealisierung entgegen. Die Angaben sind den Tönen nicht aufgesetzt worden,sondern wachsen organisch aus dem Innern der Musik.In dem Sinne wird dem Interpreten nicht zusätzliche Arbeit aufgebürdet, sondernes wird ihm interpretatorische Arbeit abgenommen, die sonst alleine in seinenHänden gelegen hätte. Die Stücke sind deshalb gerade für Interpreten imLernstadium äusserst dankbar, weil sie eine vorzügliche Interpretationsanleitung

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darstellen. Im weiteren ist die Erfahrung zu machen, dass auch bei dieser äusserstexakten musikalischen Notation, der interpretatorische Freiraum bestehen bleibt.Jede Angabe verlangt eine Auslegung: Tempoangaben sind ungefähr angegegeben,agogische Veränderungen können verschieden realisiert werden,Lautstärkeangaben sind nie absolut etc. Neben den Tempoangaben, die immer mitcca. Überschrieben sind, also interpretatorischen Freiraum lassen, muss auf diegenaue Berücksichtigung der Artikulation (Stacc., Tenuto, Keile, Akzente,verschiedene Kombinationen), die Einhaltung der Dynamik und derenVeränderungen geachtet werden. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutungzu erwähnen, dass die Balance zwischen der Klarinette und dem Klavier sehrentscheidend ist. Dass das Klavier in diesem Werk nicht alleine eine Begleitfunktionwahrnimmt, ist nicht mehr speziell hervorzuheben. Die Klarinette darf an gewissenStellen gesanglich hervortreten und das Klavier spielt zeitweise begleitenedeKlangteppiche. Grösstenteils spielt das Klavier jedoch, wie aus dem Überblickdeutlich hervortritt, eine ebenso konstruktive und bestimmende Rolle wie dieKlarinette.

3.3. Hang zum Extremen

Ein weiteres Merkmal der musikalischen Sprache Bergs sind die Vorlieben fürExtreme. Die Dynamik wird immer wieder bis zu dreifachem Forte und vierfachempiano ausgereizt. Tempomässig herrschen die sehr langsamen Tempi vor, nur im imdritten Stück wird ein „Sehr rasch“, „Sehr hastig“ und ein „Immer noch rascher“verlangt. Ebenso müssen extreme Lagen, Sprünge und Lagenwechsel bewältigtwerden. Der beschriebene Ausbruch in Takt 6/7 des ersten Stückes sei nochmalserwähnt, wo die Klarinette in heftigsten tiefen Tönen verstärkt durch Flatterzungezuerst alles aus seinem Instrument herauspressen muss und dann in kürzester Zeitin die dreigestrichene Oktave aufbricht und in Takt 8 einen Sprung über fast dreiOktaven im legato spielen muss. Diese Extreme können natürlich als Zeichen einesExpressionismus gelesen werden, der zeittypisch war.Die Verwirklichung von Extremen auf Instrumenten ist immer mit besonderenProblemen verbunden. Die Gefahr unter extremster Anspannung das Instrumentnicht mehr kontrollieren zu können, verleitet dazu grösste Extreme zu vermeiden.Die Interpreten stehen hier allerdings vor einer dreifachen Problematik: Wie bereitserwähnt stehen für die Extremdarstellung zusätzlich wegen der Kompaktheit derMusik kaum Zeit zur Verfügung und alles geschieht in dauernden schnellenWechseln. Aber sicher ist, dass eine durch Vorsicht geprägte Interpretation keinegute Wahl ist. Wer nichts riskiert, gewinnt nichts. Erwähnung verdient an dieserStelle ein Bericht von Dennis Nygren14 in dem er von von Partiturabweichungenaus einer Kopistenhandschrift von Gottfried Kassowitz, einem Schüler von Berg, zurgängigen Partitur spricht. Alle Abweichungen in der Handschrift von Kassowitz sindmusikalisch sinnvoll und stellen interpretatorische Probleme dar. Eine eingehendereBetrachtung des Autographen steht noch aus und drängt sich unbedingt auf. MeineHypothese ist, dass Berg einige Details geändert hat, die von den Interpreten derUraufführung nicht bewerkstelligt werden konnten. Ein Detail sei hierhervorgehoben: In dieser Abschrift steht nicht die merkwürdige Bezeichnung„quasi Flatterzunge“, sondern nur Flatterzunge. Die Flatterzunge war zur Zeit derUraufführung noch keine weitverbreitete Technik und konnte offenbar noch nichtbefriedigend und verlässlich gespielt werden, dass Berg nachträglich dieBezeichnung „quasi“ einfügte.

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3.4.Verstummen

Der musikalische Fluss wird wie erwähnt dauernd unterbrochen und diemusikalische Gestalt wird immer wieder von einer unüberwindbaren Kraft in dieTiefe gezogen und regelrecht zum Verstummen gebracht. Das erste Stück endet ineiner kalten Erstarrung, das zweite in der Klarinette mit einem Echoton in tiefsterLage und das Klavier in dreifachem Piano und einem Orgelpunkt über einemSubkontra-B. Das dritte Stück endet noch deutlicher in einem auskomponiertenVerschwinden. Hastig löst sich die Musik in nichts auf und die Klarinette spielt alsletztes den tiefst möglichen Ton beinahe unhörbar in vierfachem Piano. Das letzteStück schliesst wiederum mit einem Echoton in einem fallenden Gestus in derKlarinette und das Klavier muss „so leise als möglich anschlagen“. Die Bedeutungdes Verschwindens formuliert Adorno folgendermassen. „Das Verschwinden, daseigene Dasein Widerrufende ist bei Berg kein Ausdrucksstoff, kein allegorischerGegenstand der Musik, sondern das Gesetz, nach dem sie sich fügt“. In diesemZusammenhang muss auch die Bemerkung in der Partitur erwähnt werden, dasszwischen den Stücken lange Pausen gemacht werden sollen, dass die Stücke jeweilsin wirklichem Verstummen verharren.Die den Stücken innewohnende musikalische Absicht, das Verstummen zukomponieren, kommt der Klarinette entgegen, resp. es könnte ein Grund für dieWahl des Instrumentes sein. Klänge an der Grenze der Hörbarkeit zu spielen isteine klarinettistische Stärke. Diese Tatsache fordert den Pianisten umso mehr undverlangt unbedingt ein ausgezeichnetes Instrument, das die Diffenzierung leisesterTöne erlaubt.

3.5. Stillhalten

Der musikalische Fluss wird nicht nur durch Verstummen abgebrochen. Ebensowerden Bewegungsmomente immer wieder zum Stillstand gebracht und die Musikscheint sich zu verfangen. Im ersten Stück wie erwähnt in Takt 5, wo dieKlarinettenstimme begleitend dahinplänkert und am Schluss des Stückes, wo diestereotype Klarinette sich in einem konstanten Klangsee verliert. Das zweite Stückkommt im Klavier von Anfang an nicht vom Fleck und die Klarinette, die anfänglichdem entgegenhalten will, verfängt sich auch bald auf einem Ton (as‘‘). Die sichdaraus lösende Bewegung in den Takten 5 bis 8 ist von kurzer Dauer, bis sich dasanfängliche klebrige Zögern im Klavier wieder einstellt. Dieses Gefühl derDickflüssigkeit stellt sich ebenso im dritten Stück ein, wo das Rasche und Hastige inTakt 9 unvermittelt in zähflüssigem Tempo scheinbar zusammenhangslos gestopptwird. Das vierte Stück beginnt regungslos und kommt ausser im erwähntengewaltigen Ausbruch in Takt 13 überhaupt nicht von der Stelle. Nachdem diemusikalische Textur sich ab Takt 8 schematisch verengt, droht in Takt 11 und 12der Erstickungstod. Diese immer wieder auftretenden Stillhaltemomente tragendazu bei, dass die Stücke länger erscheinen, als sie eigentlich sind. Durch ihreKürze wird das musikalisch Geschehene auch nicht sogleich wieder vomKommenden überdeckt, sondern der Hörer bekommt das Gefühl, die ganze Partiturgehört zu haben und, wenn auch nicht in der konkreten Form, in Erinnerungbehalten zu können.Dieses Charakteristikum der Musik von Berg stellt an die Interpreten eine grosseHerausforderung dar. Nichts ist einfacher, als ein heiteres vivace zu spielen unddurch virtuose Bewegungen zu brillieren. Viel schwieriger ist es den Stillstand, dasVerharren musikalisch darzustellen, ohne dass die Musik langweilig und mühsam

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wird. In Bewegungslosigkeit eine prickelnde Spannung zu erzeugen wird hiergefragt und muss gemeistert werden.

3.6. Aufbegehren, Hoffen

Für Berg eigentümlich ist, dass der negativen Tendenz entgegengehalten wird. Essind humoristische Momente (sein Humor, zeitweise als schwarzer, war bekannt),die sich gegen die Tristesse auflehnen. Der unbekümmerte „leichte“ Anfang, dersogleich „schwerer“ in die Tiefe gezogen wird, wurde bereits erwähnt. Der Dur-Akkord mit grosser Sept am Schluss des Werkes, wirkt ebenso überraschend, wieer grotesk wirken kann. Er ist wie ein sarkastisches Lächeln auf den Stockzähnen,das als Reaktion auf grässliches Erleben folgen kann. Zusätzlich scheint sich dieMusik gegen das drohend Unabwendbare aufzulehnen. Nachdem die Musik sich imersten Stück in den Takten 2-5 beinahe ruhig einpendelt, wird sie in Takt 6aufgebrochen und bis aufs äusserste strapaziert bis die Spannung sich in einemAufschrei auflöst, der allerdings sogleich wieder unterdrückt wird und in Erstarrungendet. Im zweiten und dritten Stück sind es keine Aufschreie, sondern nur nochschwächliches Aufbegehren, das im zweiten Stück in Takt 5 auf dem hohen es‘‘‘sogleich geknickt wird und im dritten Stück sich in schwindelerregender Höhe aufdem d‘‘‘ in Takt 13 selbst auflöst. Im vierten Stück entlädt sich die angestauteEnergie paradigmatisch: In den Takten 13 bis 16 wird die Klarinette schematischnach oben gedreht und das Klavier steigert sein in die Hölle fahrendes Motiv bis essich bruitistisch in der Tiefe verfängt. Als Echo dieses verzweifelten Aufschreiesbleibt nur der groteske schwarze Humor.Auch hier gilt oben Erwähntes: Ohne lange Vorbereitungszeit bekommt die Musikeine unerwartete Wendung in ein schwierig Darstellbares. Heftigkeit und Brutalitätmusikalisch umzusetzen ist viel einfacher, als ein zaghaftes Lächeln durch dieStockzähne hervorschimmern zu lassen. Eine musikalische Aufgabe, die nur mitgrossem Ausdruckspotential und Fingerspitzengefühl zu realisieren ist.

4. Unmögliche Einordnung, Zuordnung

Nach diesen eher musikalisch emotionalen Aspekten soll an zwei technischorientierten Gesichtspunkten ein abschliessendes allgemeines Charakteristikumherausgearbeitet werden. Bergs Musik widersetzt sich einer einfachen Einordungund Beschreibung. Die Vier Stücke können nur als eigenständiges Werk erfasst undin seiner Einmaligkeit gewürdigt werden.

4.1. Motive, Themen

Die Analyse der linearen Struktur führt zu keinen schlüssigen Funden. Wedereindeutige Motive oder thematische Einheiten, im klassischen Sprachgebrauch sinderkennbar. Es gibt sicher gewisse kompositorische Muster in Bezug auf die lineareStruktur, die Berg konsequent anwendet. Kathryn Bailey7 hat darauf hingewiesenund überzeugende Beispiele dargestellt. Allerdings übertreibt sie die Erkenntis undschreibt von „Kompositionsmaschinen, die einmal in Gang gesetzt, automatischmusikalische Passagen produzieren“. Es ist gerade umgekehrt, dass Berg mitseinen gegebenen Gesetzgebungen äusserst frei umgeht. Das erste Stück beginntmit einem markanten Motiv, das aber wie erwähnt sich auföst. Allerdings werdenKerne des exponierten Materials sogleich verarbeitet. Die vorgezeichnete fallende

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Struktur aus Quart und kleiner Sext wird abgewandelt zu Quint und kleiner Sext,was nun zu einem gestreckten D-dur Akkord führt in der Klarinette. Das ElementDur erscheint, das im zweiten Teil des exponierten Materials in Takt 1, deraufsteigenden Linie aus von g bis e, ein C-dur Akkord mit sixte ajouté, bereitsvorgezeichnet ist. C-Dur ist die die Tonart des Profanen bei Berg: Er beginnt dasWerk damit und endet im letzten Stück damit (dort allerdings mit hinzugefügtergrosser Sept). Das D-Dur im zweiten Takt mag allerdings auch nicht deutlichhervortreten, sondern wird durch die chromatische Umspielung des Quinttones a imKlavier getrübt. Damit wird der chromatische Schritt eingeführt, der durch dasganze Werk, und nicht nur in diesem Opus, eine entscheidende Rolle spielt beiBerg. Die rechte Hand des Klaviers macht nachher einen kleinen Sextsprungaufwärts (das Spiegelbild zur Klarinette vorher) und verharrt sogleich in einerHalbtonwechselbewegung zwischen e-es und f-e. Die Klarinette übernimmt sogleichdas Motiv der rechten Hand im Klavier, zuerst eindeutig begleitend und im drittenTakt permutiert als Anfang einer Linie geprägt durch Halbtonwechsel: cis-d und es-e. Von Themen zu sprechen wäre in diesem Falle sicher übertrieben. Ist es aberdeswegen gleich athematisch? Berg bleibt indifferent, resp. spielt gerade mit demZwischenbereich. Er gibt vor, ein Thema zu exponieren. Diese Vorstellung stellt sichaber sogleich als Illusion heraus. Das Material wird nicht weitergeführt, sondernsogleich zersetzt resp. verarbeitet. Es ist aber auch nicht ein Motiv, das exponiertwird und als Erinnerungsmerkmal wiederverwendet wird. Er verweigert sich geradediesem Verfahren und scheint zu verarbeiten und im gleichen ständig neu zuerfinden und dadurch trotzt die Musik jeder einfachen Zuordnung. Es muss deshalbauch aufgepasst werden, gleich jedes Intervall als Ableitung eines anderen zuinterpretieren. Nicht weil einmal ein Halbtonschritt komponiert ist, muss gleichjeder folgende Halbtonschritt als Ableitung aus diesem erfolgen, sondern dieserkann ein aus dem Moment schöpferischer Entscheid sein.Das zweite Stück beginnt mit einer repetierten grossen Terz, die in einem dasTempo verschleiernden Rhythmus sehr zaghaft das Geschehen einleitet. DieKlarinette beginnt mit einer espressiven kleinen Sept die in harmonischer Spannungzur D-Fis Terz steht. Das D wird chromatisch umspielt mit klingendem Es und Des,das Des wird mit einer chromatischen Wechselnote unterstützt und die Linie endetauf dem ausdrucksstarken Tritonuston As über D. Das As fällt nun über das G insklingend Fes, womit eine Gegenterz zur linken Hand des Klaviers geschaffen ist.Das Tonmaterial der Klarinettenlinie wird nun zum Klangmaterial der rechten Hand,das in einer für Berg typischen Wechselbewegung zwei weitere Takte harmonischbestimmt. Neben der bereits angesprochenen Halbtonschrittwechselbewegung,sind Wechselbewegungen in der Klarinette im ersten Stück in Takt 5, im viertensehr ausgeprägt ab Takt 8 im Klavier und in der Klarinette zu beobachten. KathrynBailey7 zeigte auf, dass Berg dieses Verfahren von Weberns op. 5 übernommenhaben könnte und selber zu einem eigenen Kompositionselement gemacht hat.Erinnert sei an das Ende von Wozzeck, wo die vier Flöten und die Celesta alleine ineiner monotonen Wechselbewegung verharren und abrupt enden.

4.2. Harmonik

Bezeichnenderweise konnte in allen vorhandenen Analysen kaum Bemerkungenzum harmonisch-klanglichen Geschehen gefunden werden. Es ist erstaunlich, weilbeim Höreindruck dieser Stücke, gerade die klangliche Ebene als faszinierenderAspekt ins Ohr sticht. Allerdings wird es auch ersichtlich, warum er beiseitegelassen wird. Es lässt sich keine Gesetzmässigkeit finden, die das Rätsel dermagischen Klangwelt löst. Vielmehr muss Berg intuitiv vorgegangen sein und der

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klanglichen Ebene zwar grosse Bedeutung beigemessen haben, diese aber nicht inein Gesetzteskorsett gesteckt zu haben. Wie im vorangehenden bereits erwähntsind Akkorde bestehend aus Quarten und Tritoni oft anzutreffen. Damit steht er inbester Gesellschaft mit seinen engsten Mitstreitern, Webern und Schönberg.Allerdings ist dieses Klangcharakteristium eines unter vielen. Geprägt werden vieleStellen ebenso durch Terzen, ganz bezeichnend im 2. Stück. Um dieserUngewissheit etwas näher herantreten zu können, habe ich die Passage von Taktzwei bis Takt fünf im ersten Stück, näher betrachtet. Sicher ist dieser Teil nichtquasi Zwölftönig komponiert. Man kann eher eine Vorherrschaft für die Töne G-Derkennen und Tendenzen zu G-Dur und g-moll feststellen. Allerdings wird dieserEindruck zu stark getrübt, als er das tragende klangliche Erscheinen bestimmenwürde. Ich habe deshalb eine statistische Zusammenstellung gemacht, welcheZusammenklänge vorkommen und wie lange sie erklingen. Dabei habe ich für jedenMoment den vertikalen Zusammenhang bestimmt und geschaut, welche Töne inwelchem intervallischen Verhältnis zum tiefsten Ton des Klanges stehen. Dabei isthervorstechend, dass kaum eine Akkordkombination wiederholt wird, sondern, dassdie Zusammenklänge dauernd ändern. Ich habe nun berechnet, wie oft welcheIntervalle über dem jeweils tiefsten Ton erklingen. Dabei hat sich folgende Statistikergeben.

Legende:1– grosse Sekunde / 2– kleine Terz / 3- grosse Terz/ 4- Quarte /5- Tritonus / 6-Quinte / 7- kleine Sexte / 8- grosse Sexte / 9- kleine Septime / 10- grosse Septime/ 11- Oktave / 12- kleine None

Ein ausgeglichenes Resultat ist beobachtbar, wobei die Intervalle grosse Terz undQuint überwiegen. Dass der Durdreiklang versteckt vorherrscht, ist bezeichnend.

Häufigkeit der Akkordtöne

1

2

4

5

6

7

8

9

1 0

1 11 2

3

0

0 , 2

0 , 4

0 , 6

0 , 8

1

1 , 2

1 , 4

1 , 6

1 2 3 4 5 6 7 8 9 1 0 1 1 1 2

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Berg wird das sicher nicht aktiv gesucht haben, er wird aber mit seiner ihm eigenenKlangsinnlichkeit der scheinbaren Beliebigkeit eine unterbewusste Struktur gegebenhaben.

Dieser Tatbestand zeigt nun in aller Deutlichkeit, wie Berg in diesen Stücken sichvon alten Fesseln gelöst hat und sich noch nicht in die Fänge neuer Pflichten gefügthat. Die Stücke sind deshalb ein Produkt der so äusserst fruchtbaren Zeit der freienAtonalität. Berg wird im Rahmen dieser Zeit alsbald das Meisterwerk Wozzeckhervorbringen. Die 4 Klarinettenstücke op. 5 zeugen bereits von dieser Klasse undgeben einen Vorgeschmack aufs Kommende.Für die Interpreten steht ein Kleinod bereit, der eine grosse Herausforderungdarstellt und grosse Anstregung erfordert. Eine Arbeit, die sich allemal auszahlt.

1 Theodor W. ADORNO: „Die musikalischen Monographien“. Frankfurt 1986

2 Dieter de la Motte: musikalische analyse, Bärenreiter, Kassel 1990

3 Constantin FLOROS: „Alban Berg – Musik als Autobiographie“. Wiesbaden 19924 Erich Alban BERG: „Leben und Werk in Daten und Bildern“. Frankfurt 1976; „Der unverbesserliche RomantikerAlban Berg“. Wien 1985

5 Willy REICH: „Alban Berg - Leben und Werk“. Zürich 1963

6 Hans Ferdinand REDLICH: „Alban Berg – Versuch einer Würdigung“. Wien 1957

7 Anthony POPLE (Hrsg.): „Alban Berg und seine Zeit“. Regensburg 2000.

8 Arnold SCHÖNBERG: „Harmonielehre“. UE 1922

9 Alban BERG: „Schönberg als Lehrer“. in: „Die Wiener Moderne“ hrsg. von Gotthart WUNBERG, Stuttgart 1981

10 Karl KRAUS: „Vorwort zur Fackel“, in: „Die Wiener Moderne“ hrsg. von Gotthart WUNBERG, Stuttgart 198111 Hermann BAHR: „Merkworte der Epoche“, in: „Die Wiener Moderne“ herausgegeben von Gotthart WUNBERG,Stuttgart 1981

12 zitiert von Hermann BAHR in: „Merkworte der Epoche“, in: „Die Wiener Moderne“ hrsg. von GotthartWUNBERG, Stuttgart 1981, aus: „Die Zeit“

12 Aphorismus = Bezeichnung für eine prägnante knappe Formulierung eines Gedankens. (Meyers GrossesTaschenlexikon)

13 Alle Tonhöhenangaben der Klarinettenstimme sind klingend bezeichnet

14 Dennis Nygren „The Chamber Music of Berg“ in The Clarinet 1985