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Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ALS ERGEBNIS VON LESERMANIPULATION Die Erpressung des Lesers durch den Zeugen der Shoah Der sogenannte »Fall Wilkomirski« ist inzwischen zum Inbe- griff und Emblem eines jeden Shoah-Betrugs geworden. Die Fakten sind schnell erzählt.1 Im Jahr 1995 erregte die Veröf- fentlichung im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp des schmalen Bändchens von Binjamin Wilkomirski Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 großes Aufsehen. Namhafte Shoah-Ex- perten wie etwa Daniel Goldhagen, Wolfgang Benz und sogar James E. Young oder Simone Veil rühmten die verstörende Unmittelbarkeit dieses Berichts über die traumatischen Erfah- rungen eines drei- bis fünfjährigen polnischen Kindes in den Konzentrationslagern von Majdanek und Auschwitz in den höchsten Tönen: Das Buch wurde mit den Werken von Primo Levi, Jean Amery, Elie Wiesel oder Anne Frank verglichen. Man glaubte, in diesem Werk zum ersten Mal die authentische Stimme eines »Untergegangenen«, d.h. nach Primo Levis be- rühmter Opposition, eines »wirklichen« oder »vollständigen Zeugen«2 vernehmen zu können. Der Erfolg des Werkes war daher durchschlagend: Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt 1 Als Quellen für die folgende Zusammenfassung verweise ich, unter den vielen Publikationen zum Thema, auf folgende Werke: Daniel Ganzfried, Die Holocaust Travestie. In: Sebastian Hefti (Hg.),... alias Wilkomirski. Die Ho- locaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skan- dals (Berlin 2002), 17-154; Elena Lappin, The Man with two In: Granta 66 (1999), 7-65 ( Der Mann mit zwei Köpfen, Zürich 2000); Philip Gourevitch, The Memory Thief, in The New Yorker, 14. Juni, 48-68 (jetzt auch in Hefti - siehe oben -, 229-265, unter dem Titel Der Dieb der Erinnerung); Stefan Mächler, Der Fall Wilkomirski. Uber die Wahrheit einer Biographie (Zürich 2000); Frida Bertolini, Contrabbandieri di verita. La Shoah e la sindrome dei falsi ricordi (Bologna 2010), 23-56. 2 Vgl. Primo Levi, I sommersi e i salvati (Torino 2003), 64.

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Page 1: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Alessandro Costazza DER raquoFALL WILKOMIRSKIlaquo SHOAH- KITSCH ALS ERGEBNIS VON LESERMANIPULATION

Die Erpressung des Lesers durch den Zeugen der Shoah

Der sogenannte raquoFall Wilkomirskilaquo ist inzwischen zum Inbeshygriff und Emblem eines jeden Shoah-Betrugs geworden Die Fakten sind schnell erzaumlhlt1 Im Jahr 1995 erregte die Veroumlfshyfentlichung im Juumldischen Verlag bei Suhrkamp des schmalen Baumlndchens von Binjamin Wilkomirski Bruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948 groszliges Aufsehen Namhafte Shoah-Ex- perten wie etwa Daniel Goldhagen Wolfgang Benz und sogar James E Young oder Simone Veil ruumlhmten die verstoumlrende Unmittelbarkeit dieses Berichts uumlber die traumatischen Erfahshyrungen eines drei- bis fuumlnfjaumlhrigen polnischen Kindes in den Konzentrationslagern von Majdanek und Auschwitz in den houmlchsten Toumlnen Das Buch wurde mit den Werken von Primo Levi Jean Amery Elie Wiesel oder Anne Frank verglichen Man glaubte in diesem Werk zum ersten Mal die authentische Stimme eines raquoUntergegangenenlaquo dh nach Primo Levis beshyruumlhmter Opposition eines raquowirklichenlaquo oder raquovollstaumlndigen Zeugenlaquo2 vernehmen zu koumlnnen Der Erfolg des Werkes war daher durchschlagend Es wurde in mehrere Sprachen uumlbersetzt

1 Als Quellen fuumlr die folgende Zusammenfassung verweise ich unter den vielen Publikationen zum Thema auf folgende Werke Daniel Ganzfried Die Holocaust Travestie In Sebastian Hefti (Hg) alias Wilkomirski Die Hoshylocaust-Travestie Enthuumlllung und Dokumentation eines literarischen Skanshydals (Berlin 2002) 17-154 Elena Lappin The Man with two In Granta 66 (1999) 7-65 (Der Mann mit zwei Koumlpfen Zuumlrich 2000) Philip Gourevitch The Memory Thief in The New Yorker 14 Juni 48-68 (jetzt auch in Hefti - siehe oben - 229-265 unter dem Titel Der Dieb der Erinnerung) Stefan Maumlchler Der Fall Wilkomirski Uber die Wahrheit einer Biographie (Zuumlrich 2000) Frida Bertolini Contrabbandieri di verita La Shoah e la sindrome dei falsi ricordi (Bologna 2010) 23-562 Vgl Primo Levi I sommersi e i salvati (Torino 2003) 64

und erhielt zahlreiche Preise diesseits und jenseits des Atlantiks waumlhrend sein Autor uumlberall als Zeuge und zugleich als Spezialist fuumlr recovered memory bzw fuumlr fruumlhkindliche traumatische Ershyinnerungen eingeladen wurde Der Rummel dauerte ungefaumlhr drei Jahre bis im Sommer 1998 der Schweizer Journalist und Historiker Daniel Ganzfried die wahre Identitaumlt des Binjamin Wilkomirski aufdeckte und endguumlltig nachwies dass raquoBinjamin Wilkomirski [] Auschwitz und Majdanek nur als Touristlaquo3 kannte so dass alle erzaumlhlten Erfahrungen und Erinnerungen bloszlige Fantasien bzw Fiktionen waren Der 1941 in der Schweiz geborene Wilkomirski hieszlig in Wirklichkeit Bruno Doumlssekker und war das natuumlrliche Kind von Yvonne Grosjean der er fruumlh entzogen und nach dem Aufenthalt in mehreren Kinderheimen im Jahr 1947 der Aumlrztefamilie Doumlssekker in Zuumlrich in Pflege gegeben worden war die ihn erst zehn Jahre spaumlter adoptierte

Die Enthuumlllung die kurz darauf von weiteren historischen Untersuchungen bestaumltigt wurde4 schlug wie eine Bombe ein und loumlste Uumlberraschung und Fassungslosigkeit aus indem sie viele auch sehr empfindliche Fragen unterschiedlichen Chashyrakters aufwarf Die Negationisten stuumlrzten sich natuumlrlich gleich auf diese Entlarvung um nach ihrer gewohnten Strateshygie ausgehend von einer Unstimmigkeit oder einer Luumlge in der Darstellung der Verfolgung und Ermordung der Juden durch den Nationalsozialismus die ganze Shoah in Frage zu stellen5 Waumlhrend die Psychologie hingegen nach den psychischen Stoumlshy

3 Ganzfried (wie Anm 1) fiST4 Vgl insbesondere Maumlchler (wie Anm 1)5 Der erste zur Demaskierung Wilkomirskis beitragende Artikel von Daniel Ganzfried in der Weltwoche vom 28 August 1998 wurde am 15 Oktober 1999 auf die Webseite des Negationisten David Irwing gepostet Vgl lthttpwww fppcoukonline9910Wilkomirski2htmlgt (20 Dezember 2015) Nach Frishyda Bertolini soll der Sohn von Rudolph Hess den Artikel an Irving geschickt haben Vgl Bertolini (wie Anm 1) 41 Vgl auch die Webseite eines weiteren Negationisten Robert Faurisson L rsquoimpostu-re Wilkomirski restera impunie In Bulletin drsquoinformation de lrsquoAssociation Verite et Justice 22 Dezember 2012

rungen suchte die zu diesem pathologischen Fall von Pseushydoerinnerung oder -identitaumlt gefuumlhrt hatte wofuumlr man sofort den Begriff raquoWilkomirski-Syndromlaquo praumlgte6 versuchten anshydere Kritiker das Phaumlnomen im Zusammenhang mit der sogeshynannten gtHolocaust-Industrielt zu betrachten und fragten nach der Verantwortung der Verlage und der Shoah-Institutionen7 Es wurden jedoch auch spezifisch literaturtheoretische Frageshystellungen aufgeworfen die va mit dem Verhaumlltnis von Autoshybiographie und Fiktion zu tun haben Vor allem Ruth Kluumlger stellte die Frage nach der Gattungszugehoumlrigkeit des Werkes welche auch die Erwartung und die Einstellung des Lesers dem Text gegenuumlber bestimmt bzw veraumlndert Durch die Enthuumllshylung der wahren Biographie von Wilkomirski hatte naumlmlich das Werk sozusagen uumlber Nacht von der autobiographischen zur fiktionalen Erzaumlhlung gewechselt8

Wilkomirski selbst soll zwar behauptet haben dass er dem Leser immer die Wahl gelassen habe sein Werk als Autobiograshyphie oder als Fiktion zu lesen9 was aber offenbar nicht stimmt da er nicht nur auf der Titelseite sondern auch am Ende von Bruchstuumlcke noch einmal ausdruumlcklich mit Datum und Anshyfangsbuchstaben seines Vor- und Nachnamens seine Identitaumlt mit dem Protagonisten und somit den raquoautobiographischen Paktlaquo (Lejeune) unterschreibt10 Wenn sich aber herausstellt

lthttpr0bertfauriss0nbl0gsp0tit200212limp0sture-wilk0mirski-restera- impunie htmlgt (20122015)6 Vgl Irene Diekmann und Julius Schoeps (Hrsgg) Das Wilkomirski-Syn- drom Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht Opfer zu sein (Zuumlshyrich Muumlnchen 2002)7 Vgl insbesondere Ganzfried (wie Anm 1)8 Vgl Ruth Kluumlger Kitsch ist immer plausibel Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann In Hefti (wie Anm 1) 225-228 hier 2279 Vgl Ganzfried (wie Anm 1) 119 Vgl auch Eva Lezzi Zerstoumlrte Kindheit Literarische Autobiographien zurShoah (Koumlln 2001) 14710 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 142-151

dass die Identitaumlt des Autors eine bloszlig erfundene ist dann wird nicht nur der mit dem Leser unterschriebene raquoautobiographishysche Paktlaquo sondern auch der damit eng verbundene und fuumlr die raquoAutobiographik der Shoahlaquo schlechthin zentrale raquoreferentielle Paktlaquo automatisch hinfaumlllig11 Nur vereinzelt wurde solche Vershywischung der Grenzen zwischen Realitaumlt und Fiktion in Wil- komirskis Bericht als typisch fuumlr die raquopostfaktischelaquo Literatur der Postmoderne in Schutz genommen12 wobei allerdings zu bemerken ist dass dem Werk von Wilkomirski das wichtigste Merkmal solcher postmodernen Autobiographien fehlt naumlmshylich die selbstreflexive und selbstironische Demaskierung des literarischen Spiels

Weitere Literaturwissenschaftler fragten ferner danach ob es nicht moumlglich gewesen waumlre aufgrund einer textuellen Analyse den Kitsch und insofern auch die Faumllschung viel fruumlher zu ershykennen 13 Ruth Franklin wunderte sich dabei nicht so sehr uumlber die Moumlglichkeit und den Erfolg eines solchen Betrugs sondern vielmehr daruumlber dass angesichts der Art und Weise wie die Literatur uumlber die Shoah nicht nur in Amerika sondern auch in Europa gelesen und rezipiert worden ist aumlhnliche Faumllschungen

1 1 Zur Zentralitaumlt des raquoreferentiellen Pakteslaquo fuumlr die autobiographischen Werke zur Shoah vgl Lezzi (wie Anm 9) 145-149 Vgl allgemein zum Vershyhaumlltnis von raquoautobiographischemlaquo und raquoreferentiellemlaquo Pakt Philippe Lejeune Lepacte autobiographique (Paris 1975) 6f12 Vgl Reto Sorg und Michael Angele Selbsterfindung und Autobiographie Uber Wahrheit und Luumlge im auszligermoralischen Sinn am Beispiel von Binjamin Wilkomirskis raquoBruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948t In Lese Zeichen Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit Festschrift fuumlr Peter Rusterholz zum 65 Geburtstag hrsg von Henriette Herwig (Tuumlbingen 1999) 325-345 hier 33113 Vgl bereits Ganzfried (wie Anm 1) 117 Vgl weiter Susanne Duumlwell Inszenierung gtauthentischerlt Erinnerung Die fiktionale Holocaust-Autobioshygraphie von Binjamin Wilkomirski In Susanne Duumlwell und Matthias Schmidt (Hrsgg) Narrative der Shoah Repraumlsentationen der Vergangenheit in Histoshyriographie Kunst und Politik (Paderborn Muumlnchen Wien Zuumlrich 2002) 77- 90 hier 78f

nicht viel fruumlher und nicht viel oumlfter vorgekommen seien14 Obshywohl naumlmlich gerade die postmoderne Historiographie schon lange die fiktionale Natur jeder Geschichtsschreibung (Hayden White) und insofern auch den notwendig konstruierten Chashyrakter aller Zeugnisse auch jener der Shoah (James E Young) hervorgehoben und begruumlndet hatte scheinen diese Erkenntshynisse im Kontext der fuumlr die raquoAra des Zeugenlaquo (Annette Wie- viorka) typischen Sakralisierung der Shoah und ihrer Zeugen keine tiefgehende Wirkung ausgeuumlbt zu haben Denn gerade an der Schwelle zum allmaumlhlichen Verschwinden der Augenshyzeugen scheint die raquoErpressung durch den Zeugenlaquo15 wie sie kuumlrzlich Javier Cercas in E l impostor seinem letzten Roman uumlber einen spanischen Shoah-Betruumlger genannt hat noch staumlrshyker geworden zu sein so dass jede stilistische oder strukturelle Analyse eines Shoah-Zeugnisses einer Tabuverletzung bzw eishyner Laumlsterung gleichkommt16 Diese Sakralisierung des Shoah- Zeugnisses geht ja so weit dass man sogar im Falle einer mashynifesten Luumlge oft versucht hat darin eine tiefere Wahrheit zu erkennen17

14 Ruth Franklin 4 Thousand Darknesses Lies and Truth in Holocaust Ficshytion (Oxford 2011) 215 Vgl Javier Cercas E l chantaje del testigo In El Pais 26 Dezember 201016 Typisch fuumlr diese ehrfuumlrchtige Zuruumlckhaltung scheint mir etwa die Untershysuchung von Bertolini (wie Anm 1) zu sein die Wilkomirskis Bruchstuumlcke ein ganzes Buch widmet ohne eine Analyse von einzelnen Passagen des Werkes geschweige denn von dessen Struktur vorzunehmen17 So versucht etwa Bertolini ausgehend von Marc Blochs Uumlberlegungen zu den falschen Berichten uumlber den Ersten Weltkrieg auch das Werk von Wilkoshymirski immerhin als Spiegel des kollektiven Bewusstseins einer Epoche aufzushywerten Vgl Bertolini (wie Anm 1) insbesondere 57-88 Bertolini beschaumlftigt sich hier auch mit dem Fall des Shoah-Hochstaplers Enrique Marco (82-88) der inzwischen zum Inhalt von Javier Cercas Roman El impostor (2014) geworden ist und teilt selbstverstaumlndlich Magrisrsquo Interpretation dass man auch durch die Luumlge die Wahrheit sagen kann Vgl Claudio Magris I I bugiardo che dice la verita In Corriere della Sera 21 Januar 2007

Nur die Uumlberwindung dieser akritischen Zuruumlckhaltung und die bewusste Abwehr der raquoErpressung durch den Zeugenlaquo koumlnnen aber wie etwa James E Young gezeigt hat18 dieser Gattung von Texten Gerechtigkeit widerfahren lassen Indem auch die Berichte und die Zeugnisse uumlber die Shoah nicht als apriorische Wahrheit sondern als textuelle Konstrukte aufshygefasst und dementsprechend analysiert werden kann deren manchmal zwar begrenzte aber dafuumlr umso authentischere Wahrhaftigkeit erkannt werden Auf diese Weise koumlnnen dann diese Texte moumlglicherweise auch von eventuellen Faumllschunshygen unterschieden werden Eine aufmerksamere Lektuumlre und Analyse von Bruchstuumlcke haumltte demgemaumlszlig auch Wilkomirskis Betrug infolge der inneren Widerspruumlchlichkeit des Textes viel fruumlher entdecken koumlnnen19 Wenn naumlmlich das Werk seine schon im Titel vorweggenommene Bruchstuumlckhaftigkeit als ersten und wichtigsten Beweis der eigenen Authentizitaumlt anshygibt dann muss die Aufdeckung der genauen Strukturiertheit desselben die gezielt und konsequent der Manipulation des Beurteilungsvermoumlgens des Lesers dient notgedrungen fuumlr seine Inauthentizitaumlt sprechen

18 Vgl James E Young Beschreiben des Holocaust Darstellung und Folgen der Interpretation (Frankfurt am Main 1997) insbesondere 33-13619 Selbst nach der Entdeckung der Faumllschung ist das Werk kaum gruumlndlich analysiert worden vielleicht weil man sich danach eher fuumlr die psychologishysche bzw fuumlr die medienspezifische Dimension des Phaumlnomens interessiert hat waumlhrend der Text selbst als manifester Fake an Bedeutung verloren hat Eine Ausnahme bildet die gruumlndliche Analyse von Bruchstuumlcke durch Susanne Duumlwell (wie Anm 13) welche wichtige Aporien des Textes sowie dessen rheshytorische Mechanismen offenlegt

Widerspruumlchliche raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo als Erpressung des Lesers

Wilkomirskis Bericht faumlngt gleich mit einer kurzen raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo an die eine unmittelbare Folge des Dargeshystellten und Erzaumlhlten sein soll Dadurch soll aber die Form des Berichts sozusagen die Authentizitaumlt von dessen Inhalt begruumlnden Es wird naumlmlich behauptet dass der Ich-Erzaumlhler sowohl seine Mutter- als auch seine Vatersprache in den Kinshyderbaracken von in Wirklichkeit nie existierten raquopolnischen Lagern der Nazis fuumlr Judenlaquo verloren habe20 Diesem fruumlhen Sprachverlust entspreche ein fotographisches Gedaumlchtnis das exakte Bilder und die dazu gehoumlrigen Gefuumlhle in Form va von Erinnerungen raquodes Koumlrperslaquo raquodes Gehoumlrs und an Gehoumlrteslaquo aufbewahrt habe Diese Erinnerungen seien aber oft chaotisch raquogleichen einem Truumlmmerfeldlaquo sind raquoBrocken des Erinnernslaquo raquodie sich immer wieder beharrlich dem Ordnungswillen des ershywachsen Gewordenen widersetzen und den Gesetzen der Loshygik entgleitenlaquo (8f)

Diese Hinweise auf die Beschaffenheit der traumatischen Erinnerung die die Unmittelbarkeit derselben beweisen solshylen erzeugen genau die entgegengesetzte Wirkung wenn der Leser am Ende des Buchs in einer Art Nachwort erfaumlhrt dass der Verfasser des Berichts seit Jahren raquomit Historikern Psychoshylogen und Betroffenenlaquo zusammenarbeitet die sich mit raquoFrashygen und Problemen uumlberlebender Kinder der Shoahlaquo befassen (142) Erst nach jahrelanger Forschungsarbeit nach Reisen und Gespraumlchen mit Spezialisten und Historikern die ihm geholfen haben raquomanche unerklaumlrlichen Erinnerungsfetzen zu deuten Orte und Menschen zu identifizieren wiederzufinden und eishy

20 Wilkomirski Bruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948 (Frankfurt am Main 1998) 7 Zitate aus diesem Roman werden im Folgenden durch Seitenshyangaben in nachgestellten Klammern kenntlich gemacht

nen moumlglichen historischen Kontext wie auch eine moumlgliche einigermaszligen logische Chronologie herzustellenlaquo soll der Vershyfasser raquodiese Bruchstuumlcke des Erinnernslaquo niedergeschrieben haben in der Hoffnung auch anderen traumatisierten Kindern damit helfen zu koumlnnen (143) Es geht also schon aus diesen Uumlberlegungen deutlich hervor dass das Bruchstuumlckhafte der niedergeschriebenen Erinnerungen kein unmittelbares Produkt des Schreibens ist sondern vielmehr das Ergebnis einer bewusshysten und angestrebten Re-Konstruktion des urspruumlnglichen Zustandes der Erinnerung21 zu therapeutischen und selbsttheshyrapeutischen Zwecken

Der Ich-Erzaumlhler uumlberfrachtet daruumlber hinaus die Opposhysition von Logik bzw Ordnung und Bruchstuumlckhaftem mit einer doppelten Konnotation indem er Logik und Ordnung auf die Seite der Erwachsenen und des nationalsozialistischen Vernichtungsplans das Bruchstuumlckhafte hingegen auf die Seishyte der Kinder und der Opfer stellt

Will ich daruumlber schreiben muszlig ich auf die ordnende Logik die Perspektive des Erwachsenen verzichten Sie wuumlrde das Geshyschehene nur verfaumllschenIch habe uumlberlebt und etliche andere Kinder auch Unser Sterben war geplant nicht unser Uumlberleben Gemaumlszlig der Logik des Plans und der Ordnung die fuumlr seine Durchfuumlhrung ersonnen wurde muumlszligten wir tot seinAber wir leben Wir leben im Widerspruch zur Logik und Ordshynung (8)

Eine solche Behauptung wirkt sich wie eine ausdruumlckliche Ershypressung auf den Leser aus der zur Aufgabe seines rationellen Urteilvermoumlgens aufgefordert wird da er vom Berichteten weshyder Logik noch Ordnung verlangen kann wenn er sich nicht auf die Seite der Taumlter schlagen will

21 Duumlwell redet diesbezuumlglich von raquoInszenierung gtauthentischerlt Erinneshyrungenlaquo Vgl Duumlwell (wie Anm 13)

Die abschlieszligende Behauptung des Ich-Erzaumlhlers raquokein Dichter kein Schriftstellerlaquo zu sein und daher auch keine raquoKenntnis von Perspektive und Fluchtpunktlaquo zu haben hebt sich von selbst auf da sie gerade die Kenntnis eben dieser liteshyrarischen Kunstgriffe verraumlt Daruumlber hinaus bestaumltigt die unshymittelbar darauffolgende Erzaumlhlung die gezielte Verwendung derselben

Die raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo als Appell an den Leser

Gleich nach dem poetologischen Vorspann werden naumlmlich die ersten noch dunklen aber alles andere als unzusammenhaumlnshygenden Erlebnisse des noch nicht dreijaumlhrigen Protagonisten erzaumlhlt der die Toumltung seines Vaters und die abenteuerliche Flucht aus Riga mit der Mutter und den Geschwistern erlebt wobei eben der beschraumlnkte Blick von unten und das Unvershystaumlndnis der realen Zusammenhaumlnge durch das Kleinkind vorshyherrschen22 Die Tatsache dass im Bericht diese Perspektivie- rung nicht konsequent durchgehalten wird da dem Kleinkind wiederholt Gedankengaumlnge oder abstrakte Erkenntnisse zushygesprochen werden die nicht zu seinem Alter passen23 spricht noch nicht zwangslaumlufig gegen die Wahrhaftigkeit des Erzaumlhlshyten weil eine gewisse Projektion auf die Erlebnisse von der Warte des erzaumlhlenden Ichs in jedem Zeugenbericht so gut wie unvermeidlich ist Wichtiger scheint mir die Tatsache dass der Autor seiner an den Anfang der Erzaumlhlung als Beglaubigung des Erzaumlhlten gestellten Poetik so offenkundig widerspricht

22 Vgl etwa die Erzaumlhlung der Toumltung des Vaters des Protagonisten Wilshykomirski (wie Anm 20) 8-10 insbesondere 1023 So etwa wenn er nach dem Tod des Vaters denkt raquoVon jetzt an muszlig ich ohne dich weitermachen ich bin alleinlaquo Ebd 10 Aber auch die Vorstellung von moumlglichen gefaumllschten Papieren (11) oder von einem raquoFriede[n] der Sieshygerlaquo (12) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind offensichtlich mit dem Denkvermoumlgen eines zweijaumlhrigen Kindes unvereinbar

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

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Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

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UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 2: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

und erhielt zahlreiche Preise diesseits und jenseits des Atlantiks waumlhrend sein Autor uumlberall als Zeuge und zugleich als Spezialist fuumlr recovered memory bzw fuumlr fruumlhkindliche traumatische Ershyinnerungen eingeladen wurde Der Rummel dauerte ungefaumlhr drei Jahre bis im Sommer 1998 der Schweizer Journalist und Historiker Daniel Ganzfried die wahre Identitaumlt des Binjamin Wilkomirski aufdeckte und endguumlltig nachwies dass raquoBinjamin Wilkomirski [] Auschwitz und Majdanek nur als Touristlaquo3 kannte so dass alle erzaumlhlten Erfahrungen und Erinnerungen bloszlige Fantasien bzw Fiktionen waren Der 1941 in der Schweiz geborene Wilkomirski hieszlig in Wirklichkeit Bruno Doumlssekker und war das natuumlrliche Kind von Yvonne Grosjean der er fruumlh entzogen und nach dem Aufenthalt in mehreren Kinderheimen im Jahr 1947 der Aumlrztefamilie Doumlssekker in Zuumlrich in Pflege gegeben worden war die ihn erst zehn Jahre spaumlter adoptierte

Die Enthuumlllung die kurz darauf von weiteren historischen Untersuchungen bestaumltigt wurde4 schlug wie eine Bombe ein und loumlste Uumlberraschung und Fassungslosigkeit aus indem sie viele auch sehr empfindliche Fragen unterschiedlichen Chashyrakters aufwarf Die Negationisten stuumlrzten sich natuumlrlich gleich auf diese Entlarvung um nach ihrer gewohnten Strateshygie ausgehend von einer Unstimmigkeit oder einer Luumlge in der Darstellung der Verfolgung und Ermordung der Juden durch den Nationalsozialismus die ganze Shoah in Frage zu stellen5 Waumlhrend die Psychologie hingegen nach den psychischen Stoumlshy

3 Ganzfried (wie Anm 1) fiST4 Vgl insbesondere Maumlchler (wie Anm 1)5 Der erste zur Demaskierung Wilkomirskis beitragende Artikel von Daniel Ganzfried in der Weltwoche vom 28 August 1998 wurde am 15 Oktober 1999 auf die Webseite des Negationisten David Irwing gepostet Vgl lthttpwww fppcoukonline9910Wilkomirski2htmlgt (20 Dezember 2015) Nach Frishyda Bertolini soll der Sohn von Rudolph Hess den Artikel an Irving geschickt haben Vgl Bertolini (wie Anm 1) 41 Vgl auch die Webseite eines weiteren Negationisten Robert Faurisson L rsquoimpostu-re Wilkomirski restera impunie In Bulletin drsquoinformation de lrsquoAssociation Verite et Justice 22 Dezember 2012

rungen suchte die zu diesem pathologischen Fall von Pseushydoerinnerung oder -identitaumlt gefuumlhrt hatte wofuumlr man sofort den Begriff raquoWilkomirski-Syndromlaquo praumlgte6 versuchten anshydere Kritiker das Phaumlnomen im Zusammenhang mit der sogeshynannten gtHolocaust-Industrielt zu betrachten und fragten nach der Verantwortung der Verlage und der Shoah-Institutionen7 Es wurden jedoch auch spezifisch literaturtheoretische Frageshystellungen aufgeworfen die va mit dem Verhaumlltnis von Autoshybiographie und Fiktion zu tun haben Vor allem Ruth Kluumlger stellte die Frage nach der Gattungszugehoumlrigkeit des Werkes welche auch die Erwartung und die Einstellung des Lesers dem Text gegenuumlber bestimmt bzw veraumlndert Durch die Enthuumllshylung der wahren Biographie von Wilkomirski hatte naumlmlich das Werk sozusagen uumlber Nacht von der autobiographischen zur fiktionalen Erzaumlhlung gewechselt8

Wilkomirski selbst soll zwar behauptet haben dass er dem Leser immer die Wahl gelassen habe sein Werk als Autobiograshyphie oder als Fiktion zu lesen9 was aber offenbar nicht stimmt da er nicht nur auf der Titelseite sondern auch am Ende von Bruchstuumlcke noch einmal ausdruumlcklich mit Datum und Anshyfangsbuchstaben seines Vor- und Nachnamens seine Identitaumlt mit dem Protagonisten und somit den raquoautobiographischen Paktlaquo (Lejeune) unterschreibt10 Wenn sich aber herausstellt

lthttpr0bertfauriss0nbl0gsp0tit200212limp0sture-wilk0mirski-restera- impunie htmlgt (20122015)6 Vgl Irene Diekmann und Julius Schoeps (Hrsgg) Das Wilkomirski-Syn- drom Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht Opfer zu sein (Zuumlshyrich Muumlnchen 2002)7 Vgl insbesondere Ganzfried (wie Anm 1)8 Vgl Ruth Kluumlger Kitsch ist immer plausibel Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann In Hefti (wie Anm 1) 225-228 hier 2279 Vgl Ganzfried (wie Anm 1) 119 Vgl auch Eva Lezzi Zerstoumlrte Kindheit Literarische Autobiographien zurShoah (Koumlln 2001) 14710 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 142-151

dass die Identitaumlt des Autors eine bloszlig erfundene ist dann wird nicht nur der mit dem Leser unterschriebene raquoautobiographishysche Paktlaquo sondern auch der damit eng verbundene und fuumlr die raquoAutobiographik der Shoahlaquo schlechthin zentrale raquoreferentielle Paktlaquo automatisch hinfaumlllig11 Nur vereinzelt wurde solche Vershywischung der Grenzen zwischen Realitaumlt und Fiktion in Wil- komirskis Bericht als typisch fuumlr die raquopostfaktischelaquo Literatur der Postmoderne in Schutz genommen12 wobei allerdings zu bemerken ist dass dem Werk von Wilkomirski das wichtigste Merkmal solcher postmodernen Autobiographien fehlt naumlmshylich die selbstreflexive und selbstironische Demaskierung des literarischen Spiels

Weitere Literaturwissenschaftler fragten ferner danach ob es nicht moumlglich gewesen waumlre aufgrund einer textuellen Analyse den Kitsch und insofern auch die Faumllschung viel fruumlher zu ershykennen 13 Ruth Franklin wunderte sich dabei nicht so sehr uumlber die Moumlglichkeit und den Erfolg eines solchen Betrugs sondern vielmehr daruumlber dass angesichts der Art und Weise wie die Literatur uumlber die Shoah nicht nur in Amerika sondern auch in Europa gelesen und rezipiert worden ist aumlhnliche Faumllschungen

1 1 Zur Zentralitaumlt des raquoreferentiellen Pakteslaquo fuumlr die autobiographischen Werke zur Shoah vgl Lezzi (wie Anm 9) 145-149 Vgl allgemein zum Vershyhaumlltnis von raquoautobiographischemlaquo und raquoreferentiellemlaquo Pakt Philippe Lejeune Lepacte autobiographique (Paris 1975) 6f12 Vgl Reto Sorg und Michael Angele Selbsterfindung und Autobiographie Uber Wahrheit und Luumlge im auszligermoralischen Sinn am Beispiel von Binjamin Wilkomirskis raquoBruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948t In Lese Zeichen Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit Festschrift fuumlr Peter Rusterholz zum 65 Geburtstag hrsg von Henriette Herwig (Tuumlbingen 1999) 325-345 hier 33113 Vgl bereits Ganzfried (wie Anm 1) 117 Vgl weiter Susanne Duumlwell Inszenierung gtauthentischerlt Erinnerung Die fiktionale Holocaust-Autobioshygraphie von Binjamin Wilkomirski In Susanne Duumlwell und Matthias Schmidt (Hrsgg) Narrative der Shoah Repraumlsentationen der Vergangenheit in Histoshyriographie Kunst und Politik (Paderborn Muumlnchen Wien Zuumlrich 2002) 77- 90 hier 78f

nicht viel fruumlher und nicht viel oumlfter vorgekommen seien14 Obshywohl naumlmlich gerade die postmoderne Historiographie schon lange die fiktionale Natur jeder Geschichtsschreibung (Hayden White) und insofern auch den notwendig konstruierten Chashyrakter aller Zeugnisse auch jener der Shoah (James E Young) hervorgehoben und begruumlndet hatte scheinen diese Erkenntshynisse im Kontext der fuumlr die raquoAra des Zeugenlaquo (Annette Wie- viorka) typischen Sakralisierung der Shoah und ihrer Zeugen keine tiefgehende Wirkung ausgeuumlbt zu haben Denn gerade an der Schwelle zum allmaumlhlichen Verschwinden der Augenshyzeugen scheint die raquoErpressung durch den Zeugenlaquo15 wie sie kuumlrzlich Javier Cercas in E l impostor seinem letzten Roman uumlber einen spanischen Shoah-Betruumlger genannt hat noch staumlrshyker geworden zu sein so dass jede stilistische oder strukturelle Analyse eines Shoah-Zeugnisses einer Tabuverletzung bzw eishyner Laumlsterung gleichkommt16 Diese Sakralisierung des Shoah- Zeugnisses geht ja so weit dass man sogar im Falle einer mashynifesten Luumlge oft versucht hat darin eine tiefere Wahrheit zu erkennen17

14 Ruth Franklin 4 Thousand Darknesses Lies and Truth in Holocaust Ficshytion (Oxford 2011) 215 Vgl Javier Cercas E l chantaje del testigo In El Pais 26 Dezember 201016 Typisch fuumlr diese ehrfuumlrchtige Zuruumlckhaltung scheint mir etwa die Untershysuchung von Bertolini (wie Anm 1) zu sein die Wilkomirskis Bruchstuumlcke ein ganzes Buch widmet ohne eine Analyse von einzelnen Passagen des Werkes geschweige denn von dessen Struktur vorzunehmen17 So versucht etwa Bertolini ausgehend von Marc Blochs Uumlberlegungen zu den falschen Berichten uumlber den Ersten Weltkrieg auch das Werk von Wilkoshymirski immerhin als Spiegel des kollektiven Bewusstseins einer Epoche aufzushywerten Vgl Bertolini (wie Anm 1) insbesondere 57-88 Bertolini beschaumlftigt sich hier auch mit dem Fall des Shoah-Hochstaplers Enrique Marco (82-88) der inzwischen zum Inhalt von Javier Cercas Roman El impostor (2014) geworden ist und teilt selbstverstaumlndlich Magrisrsquo Interpretation dass man auch durch die Luumlge die Wahrheit sagen kann Vgl Claudio Magris I I bugiardo che dice la verita In Corriere della Sera 21 Januar 2007

Nur die Uumlberwindung dieser akritischen Zuruumlckhaltung und die bewusste Abwehr der raquoErpressung durch den Zeugenlaquo koumlnnen aber wie etwa James E Young gezeigt hat18 dieser Gattung von Texten Gerechtigkeit widerfahren lassen Indem auch die Berichte und die Zeugnisse uumlber die Shoah nicht als apriorische Wahrheit sondern als textuelle Konstrukte aufshygefasst und dementsprechend analysiert werden kann deren manchmal zwar begrenzte aber dafuumlr umso authentischere Wahrhaftigkeit erkannt werden Auf diese Weise koumlnnen dann diese Texte moumlglicherweise auch von eventuellen Faumllschunshygen unterschieden werden Eine aufmerksamere Lektuumlre und Analyse von Bruchstuumlcke haumltte demgemaumlszlig auch Wilkomirskis Betrug infolge der inneren Widerspruumlchlichkeit des Textes viel fruumlher entdecken koumlnnen19 Wenn naumlmlich das Werk seine schon im Titel vorweggenommene Bruchstuumlckhaftigkeit als ersten und wichtigsten Beweis der eigenen Authentizitaumlt anshygibt dann muss die Aufdeckung der genauen Strukturiertheit desselben die gezielt und konsequent der Manipulation des Beurteilungsvermoumlgens des Lesers dient notgedrungen fuumlr seine Inauthentizitaumlt sprechen

18 Vgl James E Young Beschreiben des Holocaust Darstellung und Folgen der Interpretation (Frankfurt am Main 1997) insbesondere 33-13619 Selbst nach der Entdeckung der Faumllschung ist das Werk kaum gruumlndlich analysiert worden vielleicht weil man sich danach eher fuumlr die psychologishysche bzw fuumlr die medienspezifische Dimension des Phaumlnomens interessiert hat waumlhrend der Text selbst als manifester Fake an Bedeutung verloren hat Eine Ausnahme bildet die gruumlndliche Analyse von Bruchstuumlcke durch Susanne Duumlwell (wie Anm 13) welche wichtige Aporien des Textes sowie dessen rheshytorische Mechanismen offenlegt

Widerspruumlchliche raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo als Erpressung des Lesers

Wilkomirskis Bericht faumlngt gleich mit einer kurzen raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo an die eine unmittelbare Folge des Dargeshystellten und Erzaumlhlten sein soll Dadurch soll aber die Form des Berichts sozusagen die Authentizitaumlt von dessen Inhalt begruumlnden Es wird naumlmlich behauptet dass der Ich-Erzaumlhler sowohl seine Mutter- als auch seine Vatersprache in den Kinshyderbaracken von in Wirklichkeit nie existierten raquopolnischen Lagern der Nazis fuumlr Judenlaquo verloren habe20 Diesem fruumlhen Sprachverlust entspreche ein fotographisches Gedaumlchtnis das exakte Bilder und die dazu gehoumlrigen Gefuumlhle in Form va von Erinnerungen raquodes Koumlrperslaquo raquodes Gehoumlrs und an Gehoumlrteslaquo aufbewahrt habe Diese Erinnerungen seien aber oft chaotisch raquogleichen einem Truumlmmerfeldlaquo sind raquoBrocken des Erinnernslaquo raquodie sich immer wieder beharrlich dem Ordnungswillen des ershywachsen Gewordenen widersetzen und den Gesetzen der Loshygik entgleitenlaquo (8f)

Diese Hinweise auf die Beschaffenheit der traumatischen Erinnerung die die Unmittelbarkeit derselben beweisen solshylen erzeugen genau die entgegengesetzte Wirkung wenn der Leser am Ende des Buchs in einer Art Nachwort erfaumlhrt dass der Verfasser des Berichts seit Jahren raquomit Historikern Psychoshylogen und Betroffenenlaquo zusammenarbeitet die sich mit raquoFrashygen und Problemen uumlberlebender Kinder der Shoahlaquo befassen (142) Erst nach jahrelanger Forschungsarbeit nach Reisen und Gespraumlchen mit Spezialisten und Historikern die ihm geholfen haben raquomanche unerklaumlrlichen Erinnerungsfetzen zu deuten Orte und Menschen zu identifizieren wiederzufinden und eishy

20 Wilkomirski Bruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948 (Frankfurt am Main 1998) 7 Zitate aus diesem Roman werden im Folgenden durch Seitenshyangaben in nachgestellten Klammern kenntlich gemacht

nen moumlglichen historischen Kontext wie auch eine moumlgliche einigermaszligen logische Chronologie herzustellenlaquo soll der Vershyfasser raquodiese Bruchstuumlcke des Erinnernslaquo niedergeschrieben haben in der Hoffnung auch anderen traumatisierten Kindern damit helfen zu koumlnnen (143) Es geht also schon aus diesen Uumlberlegungen deutlich hervor dass das Bruchstuumlckhafte der niedergeschriebenen Erinnerungen kein unmittelbares Produkt des Schreibens ist sondern vielmehr das Ergebnis einer bewusshysten und angestrebten Re-Konstruktion des urspruumlnglichen Zustandes der Erinnerung21 zu therapeutischen und selbsttheshyrapeutischen Zwecken

Der Ich-Erzaumlhler uumlberfrachtet daruumlber hinaus die Opposhysition von Logik bzw Ordnung und Bruchstuumlckhaftem mit einer doppelten Konnotation indem er Logik und Ordnung auf die Seite der Erwachsenen und des nationalsozialistischen Vernichtungsplans das Bruchstuumlckhafte hingegen auf die Seishyte der Kinder und der Opfer stellt

Will ich daruumlber schreiben muszlig ich auf die ordnende Logik die Perspektive des Erwachsenen verzichten Sie wuumlrde das Geshyschehene nur verfaumllschenIch habe uumlberlebt und etliche andere Kinder auch Unser Sterben war geplant nicht unser Uumlberleben Gemaumlszlig der Logik des Plans und der Ordnung die fuumlr seine Durchfuumlhrung ersonnen wurde muumlszligten wir tot seinAber wir leben Wir leben im Widerspruch zur Logik und Ordshynung (8)

Eine solche Behauptung wirkt sich wie eine ausdruumlckliche Ershypressung auf den Leser aus der zur Aufgabe seines rationellen Urteilvermoumlgens aufgefordert wird da er vom Berichteten weshyder Logik noch Ordnung verlangen kann wenn er sich nicht auf die Seite der Taumlter schlagen will

21 Duumlwell redet diesbezuumlglich von raquoInszenierung gtauthentischerlt Erinneshyrungenlaquo Vgl Duumlwell (wie Anm 13)

Die abschlieszligende Behauptung des Ich-Erzaumlhlers raquokein Dichter kein Schriftstellerlaquo zu sein und daher auch keine raquoKenntnis von Perspektive und Fluchtpunktlaquo zu haben hebt sich von selbst auf da sie gerade die Kenntnis eben dieser liteshyrarischen Kunstgriffe verraumlt Daruumlber hinaus bestaumltigt die unshymittelbar darauffolgende Erzaumlhlung die gezielte Verwendung derselben

Die raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo als Appell an den Leser

Gleich nach dem poetologischen Vorspann werden naumlmlich die ersten noch dunklen aber alles andere als unzusammenhaumlnshygenden Erlebnisse des noch nicht dreijaumlhrigen Protagonisten erzaumlhlt der die Toumltung seines Vaters und die abenteuerliche Flucht aus Riga mit der Mutter und den Geschwistern erlebt wobei eben der beschraumlnkte Blick von unten und das Unvershystaumlndnis der realen Zusammenhaumlnge durch das Kleinkind vorshyherrschen22 Die Tatsache dass im Bericht diese Perspektivie- rung nicht konsequent durchgehalten wird da dem Kleinkind wiederholt Gedankengaumlnge oder abstrakte Erkenntnisse zushygesprochen werden die nicht zu seinem Alter passen23 spricht noch nicht zwangslaumlufig gegen die Wahrhaftigkeit des Erzaumlhlshyten weil eine gewisse Projektion auf die Erlebnisse von der Warte des erzaumlhlenden Ichs in jedem Zeugenbericht so gut wie unvermeidlich ist Wichtiger scheint mir die Tatsache dass der Autor seiner an den Anfang der Erzaumlhlung als Beglaubigung des Erzaumlhlten gestellten Poetik so offenkundig widerspricht

22 Vgl etwa die Erzaumlhlung der Toumltung des Vaters des Protagonisten Wilshykomirski (wie Anm 20) 8-10 insbesondere 1023 So etwa wenn er nach dem Tod des Vaters denkt raquoVon jetzt an muszlig ich ohne dich weitermachen ich bin alleinlaquo Ebd 10 Aber auch die Vorstellung von moumlglichen gefaumllschten Papieren (11) oder von einem raquoFriede[n] der Sieshygerlaquo (12) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind offensichtlich mit dem Denkvermoumlgen eines zweijaumlhrigen Kindes unvereinbar

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 3: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

rungen suchte die zu diesem pathologischen Fall von Pseushydoerinnerung oder -identitaumlt gefuumlhrt hatte wofuumlr man sofort den Begriff raquoWilkomirski-Syndromlaquo praumlgte6 versuchten anshydere Kritiker das Phaumlnomen im Zusammenhang mit der sogeshynannten gtHolocaust-Industrielt zu betrachten und fragten nach der Verantwortung der Verlage und der Shoah-Institutionen7 Es wurden jedoch auch spezifisch literaturtheoretische Frageshystellungen aufgeworfen die va mit dem Verhaumlltnis von Autoshybiographie und Fiktion zu tun haben Vor allem Ruth Kluumlger stellte die Frage nach der Gattungszugehoumlrigkeit des Werkes welche auch die Erwartung und die Einstellung des Lesers dem Text gegenuumlber bestimmt bzw veraumlndert Durch die Enthuumllshylung der wahren Biographie von Wilkomirski hatte naumlmlich das Werk sozusagen uumlber Nacht von der autobiographischen zur fiktionalen Erzaumlhlung gewechselt8

Wilkomirski selbst soll zwar behauptet haben dass er dem Leser immer die Wahl gelassen habe sein Werk als Autobiograshyphie oder als Fiktion zu lesen9 was aber offenbar nicht stimmt da er nicht nur auf der Titelseite sondern auch am Ende von Bruchstuumlcke noch einmal ausdruumlcklich mit Datum und Anshyfangsbuchstaben seines Vor- und Nachnamens seine Identitaumlt mit dem Protagonisten und somit den raquoautobiographischen Paktlaquo (Lejeune) unterschreibt10 Wenn sich aber herausstellt

lthttpr0bertfauriss0nbl0gsp0tit200212limp0sture-wilk0mirski-restera- impunie htmlgt (20122015)6 Vgl Irene Diekmann und Julius Schoeps (Hrsgg) Das Wilkomirski-Syn- drom Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht Opfer zu sein (Zuumlshyrich Muumlnchen 2002)7 Vgl insbesondere Ganzfried (wie Anm 1)8 Vgl Ruth Kluumlger Kitsch ist immer plausibel Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann In Hefti (wie Anm 1) 225-228 hier 2279 Vgl Ganzfried (wie Anm 1) 119 Vgl auch Eva Lezzi Zerstoumlrte Kindheit Literarische Autobiographien zurShoah (Koumlln 2001) 14710 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 142-151

dass die Identitaumlt des Autors eine bloszlig erfundene ist dann wird nicht nur der mit dem Leser unterschriebene raquoautobiographishysche Paktlaquo sondern auch der damit eng verbundene und fuumlr die raquoAutobiographik der Shoahlaquo schlechthin zentrale raquoreferentielle Paktlaquo automatisch hinfaumlllig11 Nur vereinzelt wurde solche Vershywischung der Grenzen zwischen Realitaumlt und Fiktion in Wil- komirskis Bericht als typisch fuumlr die raquopostfaktischelaquo Literatur der Postmoderne in Schutz genommen12 wobei allerdings zu bemerken ist dass dem Werk von Wilkomirski das wichtigste Merkmal solcher postmodernen Autobiographien fehlt naumlmshylich die selbstreflexive und selbstironische Demaskierung des literarischen Spiels

Weitere Literaturwissenschaftler fragten ferner danach ob es nicht moumlglich gewesen waumlre aufgrund einer textuellen Analyse den Kitsch und insofern auch die Faumllschung viel fruumlher zu ershykennen 13 Ruth Franklin wunderte sich dabei nicht so sehr uumlber die Moumlglichkeit und den Erfolg eines solchen Betrugs sondern vielmehr daruumlber dass angesichts der Art und Weise wie die Literatur uumlber die Shoah nicht nur in Amerika sondern auch in Europa gelesen und rezipiert worden ist aumlhnliche Faumllschungen

1 1 Zur Zentralitaumlt des raquoreferentiellen Pakteslaquo fuumlr die autobiographischen Werke zur Shoah vgl Lezzi (wie Anm 9) 145-149 Vgl allgemein zum Vershyhaumlltnis von raquoautobiographischemlaquo und raquoreferentiellemlaquo Pakt Philippe Lejeune Lepacte autobiographique (Paris 1975) 6f12 Vgl Reto Sorg und Michael Angele Selbsterfindung und Autobiographie Uber Wahrheit und Luumlge im auszligermoralischen Sinn am Beispiel von Binjamin Wilkomirskis raquoBruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948t In Lese Zeichen Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit Festschrift fuumlr Peter Rusterholz zum 65 Geburtstag hrsg von Henriette Herwig (Tuumlbingen 1999) 325-345 hier 33113 Vgl bereits Ganzfried (wie Anm 1) 117 Vgl weiter Susanne Duumlwell Inszenierung gtauthentischerlt Erinnerung Die fiktionale Holocaust-Autobioshygraphie von Binjamin Wilkomirski In Susanne Duumlwell und Matthias Schmidt (Hrsgg) Narrative der Shoah Repraumlsentationen der Vergangenheit in Histoshyriographie Kunst und Politik (Paderborn Muumlnchen Wien Zuumlrich 2002) 77- 90 hier 78f

nicht viel fruumlher und nicht viel oumlfter vorgekommen seien14 Obshywohl naumlmlich gerade die postmoderne Historiographie schon lange die fiktionale Natur jeder Geschichtsschreibung (Hayden White) und insofern auch den notwendig konstruierten Chashyrakter aller Zeugnisse auch jener der Shoah (James E Young) hervorgehoben und begruumlndet hatte scheinen diese Erkenntshynisse im Kontext der fuumlr die raquoAra des Zeugenlaquo (Annette Wie- viorka) typischen Sakralisierung der Shoah und ihrer Zeugen keine tiefgehende Wirkung ausgeuumlbt zu haben Denn gerade an der Schwelle zum allmaumlhlichen Verschwinden der Augenshyzeugen scheint die raquoErpressung durch den Zeugenlaquo15 wie sie kuumlrzlich Javier Cercas in E l impostor seinem letzten Roman uumlber einen spanischen Shoah-Betruumlger genannt hat noch staumlrshyker geworden zu sein so dass jede stilistische oder strukturelle Analyse eines Shoah-Zeugnisses einer Tabuverletzung bzw eishyner Laumlsterung gleichkommt16 Diese Sakralisierung des Shoah- Zeugnisses geht ja so weit dass man sogar im Falle einer mashynifesten Luumlge oft versucht hat darin eine tiefere Wahrheit zu erkennen17

14 Ruth Franklin 4 Thousand Darknesses Lies and Truth in Holocaust Ficshytion (Oxford 2011) 215 Vgl Javier Cercas E l chantaje del testigo In El Pais 26 Dezember 201016 Typisch fuumlr diese ehrfuumlrchtige Zuruumlckhaltung scheint mir etwa die Untershysuchung von Bertolini (wie Anm 1) zu sein die Wilkomirskis Bruchstuumlcke ein ganzes Buch widmet ohne eine Analyse von einzelnen Passagen des Werkes geschweige denn von dessen Struktur vorzunehmen17 So versucht etwa Bertolini ausgehend von Marc Blochs Uumlberlegungen zu den falschen Berichten uumlber den Ersten Weltkrieg auch das Werk von Wilkoshymirski immerhin als Spiegel des kollektiven Bewusstseins einer Epoche aufzushywerten Vgl Bertolini (wie Anm 1) insbesondere 57-88 Bertolini beschaumlftigt sich hier auch mit dem Fall des Shoah-Hochstaplers Enrique Marco (82-88) der inzwischen zum Inhalt von Javier Cercas Roman El impostor (2014) geworden ist und teilt selbstverstaumlndlich Magrisrsquo Interpretation dass man auch durch die Luumlge die Wahrheit sagen kann Vgl Claudio Magris I I bugiardo che dice la verita In Corriere della Sera 21 Januar 2007

Nur die Uumlberwindung dieser akritischen Zuruumlckhaltung und die bewusste Abwehr der raquoErpressung durch den Zeugenlaquo koumlnnen aber wie etwa James E Young gezeigt hat18 dieser Gattung von Texten Gerechtigkeit widerfahren lassen Indem auch die Berichte und die Zeugnisse uumlber die Shoah nicht als apriorische Wahrheit sondern als textuelle Konstrukte aufshygefasst und dementsprechend analysiert werden kann deren manchmal zwar begrenzte aber dafuumlr umso authentischere Wahrhaftigkeit erkannt werden Auf diese Weise koumlnnen dann diese Texte moumlglicherweise auch von eventuellen Faumllschunshygen unterschieden werden Eine aufmerksamere Lektuumlre und Analyse von Bruchstuumlcke haumltte demgemaumlszlig auch Wilkomirskis Betrug infolge der inneren Widerspruumlchlichkeit des Textes viel fruumlher entdecken koumlnnen19 Wenn naumlmlich das Werk seine schon im Titel vorweggenommene Bruchstuumlckhaftigkeit als ersten und wichtigsten Beweis der eigenen Authentizitaumlt anshygibt dann muss die Aufdeckung der genauen Strukturiertheit desselben die gezielt und konsequent der Manipulation des Beurteilungsvermoumlgens des Lesers dient notgedrungen fuumlr seine Inauthentizitaumlt sprechen

18 Vgl James E Young Beschreiben des Holocaust Darstellung und Folgen der Interpretation (Frankfurt am Main 1997) insbesondere 33-13619 Selbst nach der Entdeckung der Faumllschung ist das Werk kaum gruumlndlich analysiert worden vielleicht weil man sich danach eher fuumlr die psychologishysche bzw fuumlr die medienspezifische Dimension des Phaumlnomens interessiert hat waumlhrend der Text selbst als manifester Fake an Bedeutung verloren hat Eine Ausnahme bildet die gruumlndliche Analyse von Bruchstuumlcke durch Susanne Duumlwell (wie Anm 13) welche wichtige Aporien des Textes sowie dessen rheshytorische Mechanismen offenlegt

Widerspruumlchliche raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo als Erpressung des Lesers

Wilkomirskis Bericht faumlngt gleich mit einer kurzen raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo an die eine unmittelbare Folge des Dargeshystellten und Erzaumlhlten sein soll Dadurch soll aber die Form des Berichts sozusagen die Authentizitaumlt von dessen Inhalt begruumlnden Es wird naumlmlich behauptet dass der Ich-Erzaumlhler sowohl seine Mutter- als auch seine Vatersprache in den Kinshyderbaracken von in Wirklichkeit nie existierten raquopolnischen Lagern der Nazis fuumlr Judenlaquo verloren habe20 Diesem fruumlhen Sprachverlust entspreche ein fotographisches Gedaumlchtnis das exakte Bilder und die dazu gehoumlrigen Gefuumlhle in Form va von Erinnerungen raquodes Koumlrperslaquo raquodes Gehoumlrs und an Gehoumlrteslaquo aufbewahrt habe Diese Erinnerungen seien aber oft chaotisch raquogleichen einem Truumlmmerfeldlaquo sind raquoBrocken des Erinnernslaquo raquodie sich immer wieder beharrlich dem Ordnungswillen des ershywachsen Gewordenen widersetzen und den Gesetzen der Loshygik entgleitenlaquo (8f)

Diese Hinweise auf die Beschaffenheit der traumatischen Erinnerung die die Unmittelbarkeit derselben beweisen solshylen erzeugen genau die entgegengesetzte Wirkung wenn der Leser am Ende des Buchs in einer Art Nachwort erfaumlhrt dass der Verfasser des Berichts seit Jahren raquomit Historikern Psychoshylogen und Betroffenenlaquo zusammenarbeitet die sich mit raquoFrashygen und Problemen uumlberlebender Kinder der Shoahlaquo befassen (142) Erst nach jahrelanger Forschungsarbeit nach Reisen und Gespraumlchen mit Spezialisten und Historikern die ihm geholfen haben raquomanche unerklaumlrlichen Erinnerungsfetzen zu deuten Orte und Menschen zu identifizieren wiederzufinden und eishy

20 Wilkomirski Bruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948 (Frankfurt am Main 1998) 7 Zitate aus diesem Roman werden im Folgenden durch Seitenshyangaben in nachgestellten Klammern kenntlich gemacht

nen moumlglichen historischen Kontext wie auch eine moumlgliche einigermaszligen logische Chronologie herzustellenlaquo soll der Vershyfasser raquodiese Bruchstuumlcke des Erinnernslaquo niedergeschrieben haben in der Hoffnung auch anderen traumatisierten Kindern damit helfen zu koumlnnen (143) Es geht also schon aus diesen Uumlberlegungen deutlich hervor dass das Bruchstuumlckhafte der niedergeschriebenen Erinnerungen kein unmittelbares Produkt des Schreibens ist sondern vielmehr das Ergebnis einer bewusshysten und angestrebten Re-Konstruktion des urspruumlnglichen Zustandes der Erinnerung21 zu therapeutischen und selbsttheshyrapeutischen Zwecken

Der Ich-Erzaumlhler uumlberfrachtet daruumlber hinaus die Opposhysition von Logik bzw Ordnung und Bruchstuumlckhaftem mit einer doppelten Konnotation indem er Logik und Ordnung auf die Seite der Erwachsenen und des nationalsozialistischen Vernichtungsplans das Bruchstuumlckhafte hingegen auf die Seishyte der Kinder und der Opfer stellt

Will ich daruumlber schreiben muszlig ich auf die ordnende Logik die Perspektive des Erwachsenen verzichten Sie wuumlrde das Geshyschehene nur verfaumllschenIch habe uumlberlebt und etliche andere Kinder auch Unser Sterben war geplant nicht unser Uumlberleben Gemaumlszlig der Logik des Plans und der Ordnung die fuumlr seine Durchfuumlhrung ersonnen wurde muumlszligten wir tot seinAber wir leben Wir leben im Widerspruch zur Logik und Ordshynung (8)

Eine solche Behauptung wirkt sich wie eine ausdruumlckliche Ershypressung auf den Leser aus der zur Aufgabe seines rationellen Urteilvermoumlgens aufgefordert wird da er vom Berichteten weshyder Logik noch Ordnung verlangen kann wenn er sich nicht auf die Seite der Taumlter schlagen will

21 Duumlwell redet diesbezuumlglich von raquoInszenierung gtauthentischerlt Erinneshyrungenlaquo Vgl Duumlwell (wie Anm 13)

Die abschlieszligende Behauptung des Ich-Erzaumlhlers raquokein Dichter kein Schriftstellerlaquo zu sein und daher auch keine raquoKenntnis von Perspektive und Fluchtpunktlaquo zu haben hebt sich von selbst auf da sie gerade die Kenntnis eben dieser liteshyrarischen Kunstgriffe verraumlt Daruumlber hinaus bestaumltigt die unshymittelbar darauffolgende Erzaumlhlung die gezielte Verwendung derselben

Die raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo als Appell an den Leser

Gleich nach dem poetologischen Vorspann werden naumlmlich die ersten noch dunklen aber alles andere als unzusammenhaumlnshygenden Erlebnisse des noch nicht dreijaumlhrigen Protagonisten erzaumlhlt der die Toumltung seines Vaters und die abenteuerliche Flucht aus Riga mit der Mutter und den Geschwistern erlebt wobei eben der beschraumlnkte Blick von unten und das Unvershystaumlndnis der realen Zusammenhaumlnge durch das Kleinkind vorshyherrschen22 Die Tatsache dass im Bericht diese Perspektivie- rung nicht konsequent durchgehalten wird da dem Kleinkind wiederholt Gedankengaumlnge oder abstrakte Erkenntnisse zushygesprochen werden die nicht zu seinem Alter passen23 spricht noch nicht zwangslaumlufig gegen die Wahrhaftigkeit des Erzaumlhlshyten weil eine gewisse Projektion auf die Erlebnisse von der Warte des erzaumlhlenden Ichs in jedem Zeugenbericht so gut wie unvermeidlich ist Wichtiger scheint mir die Tatsache dass der Autor seiner an den Anfang der Erzaumlhlung als Beglaubigung des Erzaumlhlten gestellten Poetik so offenkundig widerspricht

22 Vgl etwa die Erzaumlhlung der Toumltung des Vaters des Protagonisten Wilshykomirski (wie Anm 20) 8-10 insbesondere 1023 So etwa wenn er nach dem Tod des Vaters denkt raquoVon jetzt an muszlig ich ohne dich weitermachen ich bin alleinlaquo Ebd 10 Aber auch die Vorstellung von moumlglichen gefaumllschten Papieren (11) oder von einem raquoFriede[n] der Sieshygerlaquo (12) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind offensichtlich mit dem Denkvermoumlgen eines zweijaumlhrigen Kindes unvereinbar

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 4: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

dass die Identitaumlt des Autors eine bloszlig erfundene ist dann wird nicht nur der mit dem Leser unterschriebene raquoautobiographishysche Paktlaquo sondern auch der damit eng verbundene und fuumlr die raquoAutobiographik der Shoahlaquo schlechthin zentrale raquoreferentielle Paktlaquo automatisch hinfaumlllig11 Nur vereinzelt wurde solche Vershywischung der Grenzen zwischen Realitaumlt und Fiktion in Wil- komirskis Bericht als typisch fuumlr die raquopostfaktischelaquo Literatur der Postmoderne in Schutz genommen12 wobei allerdings zu bemerken ist dass dem Werk von Wilkomirski das wichtigste Merkmal solcher postmodernen Autobiographien fehlt naumlmshylich die selbstreflexive und selbstironische Demaskierung des literarischen Spiels

Weitere Literaturwissenschaftler fragten ferner danach ob es nicht moumlglich gewesen waumlre aufgrund einer textuellen Analyse den Kitsch und insofern auch die Faumllschung viel fruumlher zu ershykennen 13 Ruth Franklin wunderte sich dabei nicht so sehr uumlber die Moumlglichkeit und den Erfolg eines solchen Betrugs sondern vielmehr daruumlber dass angesichts der Art und Weise wie die Literatur uumlber die Shoah nicht nur in Amerika sondern auch in Europa gelesen und rezipiert worden ist aumlhnliche Faumllschungen

1 1 Zur Zentralitaumlt des raquoreferentiellen Pakteslaquo fuumlr die autobiographischen Werke zur Shoah vgl Lezzi (wie Anm 9) 145-149 Vgl allgemein zum Vershyhaumlltnis von raquoautobiographischemlaquo und raquoreferentiellemlaquo Pakt Philippe Lejeune Lepacte autobiographique (Paris 1975) 6f12 Vgl Reto Sorg und Michael Angele Selbsterfindung und Autobiographie Uber Wahrheit und Luumlge im auszligermoralischen Sinn am Beispiel von Binjamin Wilkomirskis raquoBruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948t In Lese Zeichen Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit Festschrift fuumlr Peter Rusterholz zum 65 Geburtstag hrsg von Henriette Herwig (Tuumlbingen 1999) 325-345 hier 33113 Vgl bereits Ganzfried (wie Anm 1) 117 Vgl weiter Susanne Duumlwell Inszenierung gtauthentischerlt Erinnerung Die fiktionale Holocaust-Autobioshygraphie von Binjamin Wilkomirski In Susanne Duumlwell und Matthias Schmidt (Hrsgg) Narrative der Shoah Repraumlsentationen der Vergangenheit in Histoshyriographie Kunst und Politik (Paderborn Muumlnchen Wien Zuumlrich 2002) 77- 90 hier 78f

nicht viel fruumlher und nicht viel oumlfter vorgekommen seien14 Obshywohl naumlmlich gerade die postmoderne Historiographie schon lange die fiktionale Natur jeder Geschichtsschreibung (Hayden White) und insofern auch den notwendig konstruierten Chashyrakter aller Zeugnisse auch jener der Shoah (James E Young) hervorgehoben und begruumlndet hatte scheinen diese Erkenntshynisse im Kontext der fuumlr die raquoAra des Zeugenlaquo (Annette Wie- viorka) typischen Sakralisierung der Shoah und ihrer Zeugen keine tiefgehende Wirkung ausgeuumlbt zu haben Denn gerade an der Schwelle zum allmaumlhlichen Verschwinden der Augenshyzeugen scheint die raquoErpressung durch den Zeugenlaquo15 wie sie kuumlrzlich Javier Cercas in E l impostor seinem letzten Roman uumlber einen spanischen Shoah-Betruumlger genannt hat noch staumlrshyker geworden zu sein so dass jede stilistische oder strukturelle Analyse eines Shoah-Zeugnisses einer Tabuverletzung bzw eishyner Laumlsterung gleichkommt16 Diese Sakralisierung des Shoah- Zeugnisses geht ja so weit dass man sogar im Falle einer mashynifesten Luumlge oft versucht hat darin eine tiefere Wahrheit zu erkennen17

14 Ruth Franklin 4 Thousand Darknesses Lies and Truth in Holocaust Ficshytion (Oxford 2011) 215 Vgl Javier Cercas E l chantaje del testigo In El Pais 26 Dezember 201016 Typisch fuumlr diese ehrfuumlrchtige Zuruumlckhaltung scheint mir etwa die Untershysuchung von Bertolini (wie Anm 1) zu sein die Wilkomirskis Bruchstuumlcke ein ganzes Buch widmet ohne eine Analyse von einzelnen Passagen des Werkes geschweige denn von dessen Struktur vorzunehmen17 So versucht etwa Bertolini ausgehend von Marc Blochs Uumlberlegungen zu den falschen Berichten uumlber den Ersten Weltkrieg auch das Werk von Wilkoshymirski immerhin als Spiegel des kollektiven Bewusstseins einer Epoche aufzushywerten Vgl Bertolini (wie Anm 1) insbesondere 57-88 Bertolini beschaumlftigt sich hier auch mit dem Fall des Shoah-Hochstaplers Enrique Marco (82-88) der inzwischen zum Inhalt von Javier Cercas Roman El impostor (2014) geworden ist und teilt selbstverstaumlndlich Magrisrsquo Interpretation dass man auch durch die Luumlge die Wahrheit sagen kann Vgl Claudio Magris I I bugiardo che dice la verita In Corriere della Sera 21 Januar 2007

Nur die Uumlberwindung dieser akritischen Zuruumlckhaltung und die bewusste Abwehr der raquoErpressung durch den Zeugenlaquo koumlnnen aber wie etwa James E Young gezeigt hat18 dieser Gattung von Texten Gerechtigkeit widerfahren lassen Indem auch die Berichte und die Zeugnisse uumlber die Shoah nicht als apriorische Wahrheit sondern als textuelle Konstrukte aufshygefasst und dementsprechend analysiert werden kann deren manchmal zwar begrenzte aber dafuumlr umso authentischere Wahrhaftigkeit erkannt werden Auf diese Weise koumlnnen dann diese Texte moumlglicherweise auch von eventuellen Faumllschunshygen unterschieden werden Eine aufmerksamere Lektuumlre und Analyse von Bruchstuumlcke haumltte demgemaumlszlig auch Wilkomirskis Betrug infolge der inneren Widerspruumlchlichkeit des Textes viel fruumlher entdecken koumlnnen19 Wenn naumlmlich das Werk seine schon im Titel vorweggenommene Bruchstuumlckhaftigkeit als ersten und wichtigsten Beweis der eigenen Authentizitaumlt anshygibt dann muss die Aufdeckung der genauen Strukturiertheit desselben die gezielt und konsequent der Manipulation des Beurteilungsvermoumlgens des Lesers dient notgedrungen fuumlr seine Inauthentizitaumlt sprechen

18 Vgl James E Young Beschreiben des Holocaust Darstellung und Folgen der Interpretation (Frankfurt am Main 1997) insbesondere 33-13619 Selbst nach der Entdeckung der Faumllschung ist das Werk kaum gruumlndlich analysiert worden vielleicht weil man sich danach eher fuumlr die psychologishysche bzw fuumlr die medienspezifische Dimension des Phaumlnomens interessiert hat waumlhrend der Text selbst als manifester Fake an Bedeutung verloren hat Eine Ausnahme bildet die gruumlndliche Analyse von Bruchstuumlcke durch Susanne Duumlwell (wie Anm 13) welche wichtige Aporien des Textes sowie dessen rheshytorische Mechanismen offenlegt

Widerspruumlchliche raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo als Erpressung des Lesers

Wilkomirskis Bericht faumlngt gleich mit einer kurzen raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo an die eine unmittelbare Folge des Dargeshystellten und Erzaumlhlten sein soll Dadurch soll aber die Form des Berichts sozusagen die Authentizitaumlt von dessen Inhalt begruumlnden Es wird naumlmlich behauptet dass der Ich-Erzaumlhler sowohl seine Mutter- als auch seine Vatersprache in den Kinshyderbaracken von in Wirklichkeit nie existierten raquopolnischen Lagern der Nazis fuumlr Judenlaquo verloren habe20 Diesem fruumlhen Sprachverlust entspreche ein fotographisches Gedaumlchtnis das exakte Bilder und die dazu gehoumlrigen Gefuumlhle in Form va von Erinnerungen raquodes Koumlrperslaquo raquodes Gehoumlrs und an Gehoumlrteslaquo aufbewahrt habe Diese Erinnerungen seien aber oft chaotisch raquogleichen einem Truumlmmerfeldlaquo sind raquoBrocken des Erinnernslaquo raquodie sich immer wieder beharrlich dem Ordnungswillen des ershywachsen Gewordenen widersetzen und den Gesetzen der Loshygik entgleitenlaquo (8f)

Diese Hinweise auf die Beschaffenheit der traumatischen Erinnerung die die Unmittelbarkeit derselben beweisen solshylen erzeugen genau die entgegengesetzte Wirkung wenn der Leser am Ende des Buchs in einer Art Nachwort erfaumlhrt dass der Verfasser des Berichts seit Jahren raquomit Historikern Psychoshylogen und Betroffenenlaquo zusammenarbeitet die sich mit raquoFrashygen und Problemen uumlberlebender Kinder der Shoahlaquo befassen (142) Erst nach jahrelanger Forschungsarbeit nach Reisen und Gespraumlchen mit Spezialisten und Historikern die ihm geholfen haben raquomanche unerklaumlrlichen Erinnerungsfetzen zu deuten Orte und Menschen zu identifizieren wiederzufinden und eishy

20 Wilkomirski Bruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948 (Frankfurt am Main 1998) 7 Zitate aus diesem Roman werden im Folgenden durch Seitenshyangaben in nachgestellten Klammern kenntlich gemacht

nen moumlglichen historischen Kontext wie auch eine moumlgliche einigermaszligen logische Chronologie herzustellenlaquo soll der Vershyfasser raquodiese Bruchstuumlcke des Erinnernslaquo niedergeschrieben haben in der Hoffnung auch anderen traumatisierten Kindern damit helfen zu koumlnnen (143) Es geht also schon aus diesen Uumlberlegungen deutlich hervor dass das Bruchstuumlckhafte der niedergeschriebenen Erinnerungen kein unmittelbares Produkt des Schreibens ist sondern vielmehr das Ergebnis einer bewusshysten und angestrebten Re-Konstruktion des urspruumlnglichen Zustandes der Erinnerung21 zu therapeutischen und selbsttheshyrapeutischen Zwecken

Der Ich-Erzaumlhler uumlberfrachtet daruumlber hinaus die Opposhysition von Logik bzw Ordnung und Bruchstuumlckhaftem mit einer doppelten Konnotation indem er Logik und Ordnung auf die Seite der Erwachsenen und des nationalsozialistischen Vernichtungsplans das Bruchstuumlckhafte hingegen auf die Seishyte der Kinder und der Opfer stellt

Will ich daruumlber schreiben muszlig ich auf die ordnende Logik die Perspektive des Erwachsenen verzichten Sie wuumlrde das Geshyschehene nur verfaumllschenIch habe uumlberlebt und etliche andere Kinder auch Unser Sterben war geplant nicht unser Uumlberleben Gemaumlszlig der Logik des Plans und der Ordnung die fuumlr seine Durchfuumlhrung ersonnen wurde muumlszligten wir tot seinAber wir leben Wir leben im Widerspruch zur Logik und Ordshynung (8)

Eine solche Behauptung wirkt sich wie eine ausdruumlckliche Ershypressung auf den Leser aus der zur Aufgabe seines rationellen Urteilvermoumlgens aufgefordert wird da er vom Berichteten weshyder Logik noch Ordnung verlangen kann wenn er sich nicht auf die Seite der Taumlter schlagen will

21 Duumlwell redet diesbezuumlglich von raquoInszenierung gtauthentischerlt Erinneshyrungenlaquo Vgl Duumlwell (wie Anm 13)

Die abschlieszligende Behauptung des Ich-Erzaumlhlers raquokein Dichter kein Schriftstellerlaquo zu sein und daher auch keine raquoKenntnis von Perspektive und Fluchtpunktlaquo zu haben hebt sich von selbst auf da sie gerade die Kenntnis eben dieser liteshyrarischen Kunstgriffe verraumlt Daruumlber hinaus bestaumltigt die unshymittelbar darauffolgende Erzaumlhlung die gezielte Verwendung derselben

Die raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo als Appell an den Leser

Gleich nach dem poetologischen Vorspann werden naumlmlich die ersten noch dunklen aber alles andere als unzusammenhaumlnshygenden Erlebnisse des noch nicht dreijaumlhrigen Protagonisten erzaumlhlt der die Toumltung seines Vaters und die abenteuerliche Flucht aus Riga mit der Mutter und den Geschwistern erlebt wobei eben der beschraumlnkte Blick von unten und das Unvershystaumlndnis der realen Zusammenhaumlnge durch das Kleinkind vorshyherrschen22 Die Tatsache dass im Bericht diese Perspektivie- rung nicht konsequent durchgehalten wird da dem Kleinkind wiederholt Gedankengaumlnge oder abstrakte Erkenntnisse zushygesprochen werden die nicht zu seinem Alter passen23 spricht noch nicht zwangslaumlufig gegen die Wahrhaftigkeit des Erzaumlhlshyten weil eine gewisse Projektion auf die Erlebnisse von der Warte des erzaumlhlenden Ichs in jedem Zeugenbericht so gut wie unvermeidlich ist Wichtiger scheint mir die Tatsache dass der Autor seiner an den Anfang der Erzaumlhlung als Beglaubigung des Erzaumlhlten gestellten Poetik so offenkundig widerspricht

22 Vgl etwa die Erzaumlhlung der Toumltung des Vaters des Protagonisten Wilshykomirski (wie Anm 20) 8-10 insbesondere 1023 So etwa wenn er nach dem Tod des Vaters denkt raquoVon jetzt an muszlig ich ohne dich weitermachen ich bin alleinlaquo Ebd 10 Aber auch die Vorstellung von moumlglichen gefaumllschten Papieren (11) oder von einem raquoFriede[n] der Sieshygerlaquo (12) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind offensichtlich mit dem Denkvermoumlgen eines zweijaumlhrigen Kindes unvereinbar

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

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Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 5: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

nicht viel fruumlher und nicht viel oumlfter vorgekommen seien14 Obshywohl naumlmlich gerade die postmoderne Historiographie schon lange die fiktionale Natur jeder Geschichtsschreibung (Hayden White) und insofern auch den notwendig konstruierten Chashyrakter aller Zeugnisse auch jener der Shoah (James E Young) hervorgehoben und begruumlndet hatte scheinen diese Erkenntshynisse im Kontext der fuumlr die raquoAra des Zeugenlaquo (Annette Wie- viorka) typischen Sakralisierung der Shoah und ihrer Zeugen keine tiefgehende Wirkung ausgeuumlbt zu haben Denn gerade an der Schwelle zum allmaumlhlichen Verschwinden der Augenshyzeugen scheint die raquoErpressung durch den Zeugenlaquo15 wie sie kuumlrzlich Javier Cercas in E l impostor seinem letzten Roman uumlber einen spanischen Shoah-Betruumlger genannt hat noch staumlrshyker geworden zu sein so dass jede stilistische oder strukturelle Analyse eines Shoah-Zeugnisses einer Tabuverletzung bzw eishyner Laumlsterung gleichkommt16 Diese Sakralisierung des Shoah- Zeugnisses geht ja so weit dass man sogar im Falle einer mashynifesten Luumlge oft versucht hat darin eine tiefere Wahrheit zu erkennen17

14 Ruth Franklin 4 Thousand Darknesses Lies and Truth in Holocaust Ficshytion (Oxford 2011) 215 Vgl Javier Cercas E l chantaje del testigo In El Pais 26 Dezember 201016 Typisch fuumlr diese ehrfuumlrchtige Zuruumlckhaltung scheint mir etwa die Untershysuchung von Bertolini (wie Anm 1) zu sein die Wilkomirskis Bruchstuumlcke ein ganzes Buch widmet ohne eine Analyse von einzelnen Passagen des Werkes geschweige denn von dessen Struktur vorzunehmen17 So versucht etwa Bertolini ausgehend von Marc Blochs Uumlberlegungen zu den falschen Berichten uumlber den Ersten Weltkrieg auch das Werk von Wilkoshymirski immerhin als Spiegel des kollektiven Bewusstseins einer Epoche aufzushywerten Vgl Bertolini (wie Anm 1) insbesondere 57-88 Bertolini beschaumlftigt sich hier auch mit dem Fall des Shoah-Hochstaplers Enrique Marco (82-88) der inzwischen zum Inhalt von Javier Cercas Roman El impostor (2014) geworden ist und teilt selbstverstaumlndlich Magrisrsquo Interpretation dass man auch durch die Luumlge die Wahrheit sagen kann Vgl Claudio Magris I I bugiardo che dice la verita In Corriere della Sera 21 Januar 2007

Nur die Uumlberwindung dieser akritischen Zuruumlckhaltung und die bewusste Abwehr der raquoErpressung durch den Zeugenlaquo koumlnnen aber wie etwa James E Young gezeigt hat18 dieser Gattung von Texten Gerechtigkeit widerfahren lassen Indem auch die Berichte und die Zeugnisse uumlber die Shoah nicht als apriorische Wahrheit sondern als textuelle Konstrukte aufshygefasst und dementsprechend analysiert werden kann deren manchmal zwar begrenzte aber dafuumlr umso authentischere Wahrhaftigkeit erkannt werden Auf diese Weise koumlnnen dann diese Texte moumlglicherweise auch von eventuellen Faumllschunshygen unterschieden werden Eine aufmerksamere Lektuumlre und Analyse von Bruchstuumlcke haumltte demgemaumlszlig auch Wilkomirskis Betrug infolge der inneren Widerspruumlchlichkeit des Textes viel fruumlher entdecken koumlnnen19 Wenn naumlmlich das Werk seine schon im Titel vorweggenommene Bruchstuumlckhaftigkeit als ersten und wichtigsten Beweis der eigenen Authentizitaumlt anshygibt dann muss die Aufdeckung der genauen Strukturiertheit desselben die gezielt und konsequent der Manipulation des Beurteilungsvermoumlgens des Lesers dient notgedrungen fuumlr seine Inauthentizitaumlt sprechen

18 Vgl James E Young Beschreiben des Holocaust Darstellung und Folgen der Interpretation (Frankfurt am Main 1997) insbesondere 33-13619 Selbst nach der Entdeckung der Faumllschung ist das Werk kaum gruumlndlich analysiert worden vielleicht weil man sich danach eher fuumlr die psychologishysche bzw fuumlr die medienspezifische Dimension des Phaumlnomens interessiert hat waumlhrend der Text selbst als manifester Fake an Bedeutung verloren hat Eine Ausnahme bildet die gruumlndliche Analyse von Bruchstuumlcke durch Susanne Duumlwell (wie Anm 13) welche wichtige Aporien des Textes sowie dessen rheshytorische Mechanismen offenlegt

Widerspruumlchliche raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo als Erpressung des Lesers

Wilkomirskis Bericht faumlngt gleich mit einer kurzen raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo an die eine unmittelbare Folge des Dargeshystellten und Erzaumlhlten sein soll Dadurch soll aber die Form des Berichts sozusagen die Authentizitaumlt von dessen Inhalt begruumlnden Es wird naumlmlich behauptet dass der Ich-Erzaumlhler sowohl seine Mutter- als auch seine Vatersprache in den Kinshyderbaracken von in Wirklichkeit nie existierten raquopolnischen Lagern der Nazis fuumlr Judenlaquo verloren habe20 Diesem fruumlhen Sprachverlust entspreche ein fotographisches Gedaumlchtnis das exakte Bilder und die dazu gehoumlrigen Gefuumlhle in Form va von Erinnerungen raquodes Koumlrperslaquo raquodes Gehoumlrs und an Gehoumlrteslaquo aufbewahrt habe Diese Erinnerungen seien aber oft chaotisch raquogleichen einem Truumlmmerfeldlaquo sind raquoBrocken des Erinnernslaquo raquodie sich immer wieder beharrlich dem Ordnungswillen des ershywachsen Gewordenen widersetzen und den Gesetzen der Loshygik entgleitenlaquo (8f)

Diese Hinweise auf die Beschaffenheit der traumatischen Erinnerung die die Unmittelbarkeit derselben beweisen solshylen erzeugen genau die entgegengesetzte Wirkung wenn der Leser am Ende des Buchs in einer Art Nachwort erfaumlhrt dass der Verfasser des Berichts seit Jahren raquomit Historikern Psychoshylogen und Betroffenenlaquo zusammenarbeitet die sich mit raquoFrashygen und Problemen uumlberlebender Kinder der Shoahlaquo befassen (142) Erst nach jahrelanger Forschungsarbeit nach Reisen und Gespraumlchen mit Spezialisten und Historikern die ihm geholfen haben raquomanche unerklaumlrlichen Erinnerungsfetzen zu deuten Orte und Menschen zu identifizieren wiederzufinden und eishy

20 Wilkomirski Bruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948 (Frankfurt am Main 1998) 7 Zitate aus diesem Roman werden im Folgenden durch Seitenshyangaben in nachgestellten Klammern kenntlich gemacht

nen moumlglichen historischen Kontext wie auch eine moumlgliche einigermaszligen logische Chronologie herzustellenlaquo soll der Vershyfasser raquodiese Bruchstuumlcke des Erinnernslaquo niedergeschrieben haben in der Hoffnung auch anderen traumatisierten Kindern damit helfen zu koumlnnen (143) Es geht also schon aus diesen Uumlberlegungen deutlich hervor dass das Bruchstuumlckhafte der niedergeschriebenen Erinnerungen kein unmittelbares Produkt des Schreibens ist sondern vielmehr das Ergebnis einer bewusshysten und angestrebten Re-Konstruktion des urspruumlnglichen Zustandes der Erinnerung21 zu therapeutischen und selbsttheshyrapeutischen Zwecken

Der Ich-Erzaumlhler uumlberfrachtet daruumlber hinaus die Opposhysition von Logik bzw Ordnung und Bruchstuumlckhaftem mit einer doppelten Konnotation indem er Logik und Ordnung auf die Seite der Erwachsenen und des nationalsozialistischen Vernichtungsplans das Bruchstuumlckhafte hingegen auf die Seishyte der Kinder und der Opfer stellt

Will ich daruumlber schreiben muszlig ich auf die ordnende Logik die Perspektive des Erwachsenen verzichten Sie wuumlrde das Geshyschehene nur verfaumllschenIch habe uumlberlebt und etliche andere Kinder auch Unser Sterben war geplant nicht unser Uumlberleben Gemaumlszlig der Logik des Plans und der Ordnung die fuumlr seine Durchfuumlhrung ersonnen wurde muumlszligten wir tot seinAber wir leben Wir leben im Widerspruch zur Logik und Ordshynung (8)

Eine solche Behauptung wirkt sich wie eine ausdruumlckliche Ershypressung auf den Leser aus der zur Aufgabe seines rationellen Urteilvermoumlgens aufgefordert wird da er vom Berichteten weshyder Logik noch Ordnung verlangen kann wenn er sich nicht auf die Seite der Taumlter schlagen will

21 Duumlwell redet diesbezuumlglich von raquoInszenierung gtauthentischerlt Erinneshyrungenlaquo Vgl Duumlwell (wie Anm 13)

Die abschlieszligende Behauptung des Ich-Erzaumlhlers raquokein Dichter kein Schriftstellerlaquo zu sein und daher auch keine raquoKenntnis von Perspektive und Fluchtpunktlaquo zu haben hebt sich von selbst auf da sie gerade die Kenntnis eben dieser liteshyrarischen Kunstgriffe verraumlt Daruumlber hinaus bestaumltigt die unshymittelbar darauffolgende Erzaumlhlung die gezielte Verwendung derselben

Die raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo als Appell an den Leser

Gleich nach dem poetologischen Vorspann werden naumlmlich die ersten noch dunklen aber alles andere als unzusammenhaumlnshygenden Erlebnisse des noch nicht dreijaumlhrigen Protagonisten erzaumlhlt der die Toumltung seines Vaters und die abenteuerliche Flucht aus Riga mit der Mutter und den Geschwistern erlebt wobei eben der beschraumlnkte Blick von unten und das Unvershystaumlndnis der realen Zusammenhaumlnge durch das Kleinkind vorshyherrschen22 Die Tatsache dass im Bericht diese Perspektivie- rung nicht konsequent durchgehalten wird da dem Kleinkind wiederholt Gedankengaumlnge oder abstrakte Erkenntnisse zushygesprochen werden die nicht zu seinem Alter passen23 spricht noch nicht zwangslaumlufig gegen die Wahrhaftigkeit des Erzaumlhlshyten weil eine gewisse Projektion auf die Erlebnisse von der Warte des erzaumlhlenden Ichs in jedem Zeugenbericht so gut wie unvermeidlich ist Wichtiger scheint mir die Tatsache dass der Autor seiner an den Anfang der Erzaumlhlung als Beglaubigung des Erzaumlhlten gestellten Poetik so offenkundig widerspricht

22 Vgl etwa die Erzaumlhlung der Toumltung des Vaters des Protagonisten Wilshykomirski (wie Anm 20) 8-10 insbesondere 1023 So etwa wenn er nach dem Tod des Vaters denkt raquoVon jetzt an muszlig ich ohne dich weitermachen ich bin alleinlaquo Ebd 10 Aber auch die Vorstellung von moumlglichen gefaumllschten Papieren (11) oder von einem raquoFriede[n] der Sieshygerlaquo (12) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind offensichtlich mit dem Denkvermoumlgen eines zweijaumlhrigen Kindes unvereinbar

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 6: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Nur die Uumlberwindung dieser akritischen Zuruumlckhaltung und die bewusste Abwehr der raquoErpressung durch den Zeugenlaquo koumlnnen aber wie etwa James E Young gezeigt hat18 dieser Gattung von Texten Gerechtigkeit widerfahren lassen Indem auch die Berichte und die Zeugnisse uumlber die Shoah nicht als apriorische Wahrheit sondern als textuelle Konstrukte aufshygefasst und dementsprechend analysiert werden kann deren manchmal zwar begrenzte aber dafuumlr umso authentischere Wahrhaftigkeit erkannt werden Auf diese Weise koumlnnen dann diese Texte moumlglicherweise auch von eventuellen Faumllschunshygen unterschieden werden Eine aufmerksamere Lektuumlre und Analyse von Bruchstuumlcke haumltte demgemaumlszlig auch Wilkomirskis Betrug infolge der inneren Widerspruumlchlichkeit des Textes viel fruumlher entdecken koumlnnen19 Wenn naumlmlich das Werk seine schon im Titel vorweggenommene Bruchstuumlckhaftigkeit als ersten und wichtigsten Beweis der eigenen Authentizitaumlt anshygibt dann muss die Aufdeckung der genauen Strukturiertheit desselben die gezielt und konsequent der Manipulation des Beurteilungsvermoumlgens des Lesers dient notgedrungen fuumlr seine Inauthentizitaumlt sprechen

18 Vgl James E Young Beschreiben des Holocaust Darstellung und Folgen der Interpretation (Frankfurt am Main 1997) insbesondere 33-13619 Selbst nach der Entdeckung der Faumllschung ist das Werk kaum gruumlndlich analysiert worden vielleicht weil man sich danach eher fuumlr die psychologishysche bzw fuumlr die medienspezifische Dimension des Phaumlnomens interessiert hat waumlhrend der Text selbst als manifester Fake an Bedeutung verloren hat Eine Ausnahme bildet die gruumlndliche Analyse von Bruchstuumlcke durch Susanne Duumlwell (wie Anm 13) welche wichtige Aporien des Textes sowie dessen rheshytorische Mechanismen offenlegt

Widerspruumlchliche raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo als Erpressung des Lesers

Wilkomirskis Bericht faumlngt gleich mit einer kurzen raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo an die eine unmittelbare Folge des Dargeshystellten und Erzaumlhlten sein soll Dadurch soll aber die Form des Berichts sozusagen die Authentizitaumlt von dessen Inhalt begruumlnden Es wird naumlmlich behauptet dass der Ich-Erzaumlhler sowohl seine Mutter- als auch seine Vatersprache in den Kinshyderbaracken von in Wirklichkeit nie existierten raquopolnischen Lagern der Nazis fuumlr Judenlaquo verloren habe20 Diesem fruumlhen Sprachverlust entspreche ein fotographisches Gedaumlchtnis das exakte Bilder und die dazu gehoumlrigen Gefuumlhle in Form va von Erinnerungen raquodes Koumlrperslaquo raquodes Gehoumlrs und an Gehoumlrteslaquo aufbewahrt habe Diese Erinnerungen seien aber oft chaotisch raquogleichen einem Truumlmmerfeldlaquo sind raquoBrocken des Erinnernslaquo raquodie sich immer wieder beharrlich dem Ordnungswillen des ershywachsen Gewordenen widersetzen und den Gesetzen der Loshygik entgleitenlaquo (8f)

Diese Hinweise auf die Beschaffenheit der traumatischen Erinnerung die die Unmittelbarkeit derselben beweisen solshylen erzeugen genau die entgegengesetzte Wirkung wenn der Leser am Ende des Buchs in einer Art Nachwort erfaumlhrt dass der Verfasser des Berichts seit Jahren raquomit Historikern Psychoshylogen und Betroffenenlaquo zusammenarbeitet die sich mit raquoFrashygen und Problemen uumlberlebender Kinder der Shoahlaquo befassen (142) Erst nach jahrelanger Forschungsarbeit nach Reisen und Gespraumlchen mit Spezialisten und Historikern die ihm geholfen haben raquomanche unerklaumlrlichen Erinnerungsfetzen zu deuten Orte und Menschen zu identifizieren wiederzufinden und eishy

20 Wilkomirski Bruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948 (Frankfurt am Main 1998) 7 Zitate aus diesem Roman werden im Folgenden durch Seitenshyangaben in nachgestellten Klammern kenntlich gemacht

nen moumlglichen historischen Kontext wie auch eine moumlgliche einigermaszligen logische Chronologie herzustellenlaquo soll der Vershyfasser raquodiese Bruchstuumlcke des Erinnernslaquo niedergeschrieben haben in der Hoffnung auch anderen traumatisierten Kindern damit helfen zu koumlnnen (143) Es geht also schon aus diesen Uumlberlegungen deutlich hervor dass das Bruchstuumlckhafte der niedergeschriebenen Erinnerungen kein unmittelbares Produkt des Schreibens ist sondern vielmehr das Ergebnis einer bewusshysten und angestrebten Re-Konstruktion des urspruumlnglichen Zustandes der Erinnerung21 zu therapeutischen und selbsttheshyrapeutischen Zwecken

Der Ich-Erzaumlhler uumlberfrachtet daruumlber hinaus die Opposhysition von Logik bzw Ordnung und Bruchstuumlckhaftem mit einer doppelten Konnotation indem er Logik und Ordnung auf die Seite der Erwachsenen und des nationalsozialistischen Vernichtungsplans das Bruchstuumlckhafte hingegen auf die Seishyte der Kinder und der Opfer stellt

Will ich daruumlber schreiben muszlig ich auf die ordnende Logik die Perspektive des Erwachsenen verzichten Sie wuumlrde das Geshyschehene nur verfaumllschenIch habe uumlberlebt und etliche andere Kinder auch Unser Sterben war geplant nicht unser Uumlberleben Gemaumlszlig der Logik des Plans und der Ordnung die fuumlr seine Durchfuumlhrung ersonnen wurde muumlszligten wir tot seinAber wir leben Wir leben im Widerspruch zur Logik und Ordshynung (8)

Eine solche Behauptung wirkt sich wie eine ausdruumlckliche Ershypressung auf den Leser aus der zur Aufgabe seines rationellen Urteilvermoumlgens aufgefordert wird da er vom Berichteten weshyder Logik noch Ordnung verlangen kann wenn er sich nicht auf die Seite der Taumlter schlagen will

21 Duumlwell redet diesbezuumlglich von raquoInszenierung gtauthentischerlt Erinneshyrungenlaquo Vgl Duumlwell (wie Anm 13)

Die abschlieszligende Behauptung des Ich-Erzaumlhlers raquokein Dichter kein Schriftstellerlaquo zu sein und daher auch keine raquoKenntnis von Perspektive und Fluchtpunktlaquo zu haben hebt sich von selbst auf da sie gerade die Kenntnis eben dieser liteshyrarischen Kunstgriffe verraumlt Daruumlber hinaus bestaumltigt die unshymittelbar darauffolgende Erzaumlhlung die gezielte Verwendung derselben

Die raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo als Appell an den Leser

Gleich nach dem poetologischen Vorspann werden naumlmlich die ersten noch dunklen aber alles andere als unzusammenhaumlnshygenden Erlebnisse des noch nicht dreijaumlhrigen Protagonisten erzaumlhlt der die Toumltung seines Vaters und die abenteuerliche Flucht aus Riga mit der Mutter und den Geschwistern erlebt wobei eben der beschraumlnkte Blick von unten und das Unvershystaumlndnis der realen Zusammenhaumlnge durch das Kleinkind vorshyherrschen22 Die Tatsache dass im Bericht diese Perspektivie- rung nicht konsequent durchgehalten wird da dem Kleinkind wiederholt Gedankengaumlnge oder abstrakte Erkenntnisse zushygesprochen werden die nicht zu seinem Alter passen23 spricht noch nicht zwangslaumlufig gegen die Wahrhaftigkeit des Erzaumlhlshyten weil eine gewisse Projektion auf die Erlebnisse von der Warte des erzaumlhlenden Ichs in jedem Zeugenbericht so gut wie unvermeidlich ist Wichtiger scheint mir die Tatsache dass der Autor seiner an den Anfang der Erzaumlhlung als Beglaubigung des Erzaumlhlten gestellten Poetik so offenkundig widerspricht

22 Vgl etwa die Erzaumlhlung der Toumltung des Vaters des Protagonisten Wilshykomirski (wie Anm 20) 8-10 insbesondere 1023 So etwa wenn er nach dem Tod des Vaters denkt raquoVon jetzt an muszlig ich ohne dich weitermachen ich bin alleinlaquo Ebd 10 Aber auch die Vorstellung von moumlglichen gefaumllschten Papieren (11) oder von einem raquoFriede[n] der Sieshygerlaquo (12) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind offensichtlich mit dem Denkvermoumlgen eines zweijaumlhrigen Kindes unvereinbar

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

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Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 7: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Widerspruumlchliche raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo als Erpressung des Lesers

Wilkomirskis Bericht faumlngt gleich mit einer kurzen raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo an die eine unmittelbare Folge des Dargeshystellten und Erzaumlhlten sein soll Dadurch soll aber die Form des Berichts sozusagen die Authentizitaumlt von dessen Inhalt begruumlnden Es wird naumlmlich behauptet dass der Ich-Erzaumlhler sowohl seine Mutter- als auch seine Vatersprache in den Kinshyderbaracken von in Wirklichkeit nie existierten raquopolnischen Lagern der Nazis fuumlr Judenlaquo verloren habe20 Diesem fruumlhen Sprachverlust entspreche ein fotographisches Gedaumlchtnis das exakte Bilder und die dazu gehoumlrigen Gefuumlhle in Form va von Erinnerungen raquodes Koumlrperslaquo raquodes Gehoumlrs und an Gehoumlrteslaquo aufbewahrt habe Diese Erinnerungen seien aber oft chaotisch raquogleichen einem Truumlmmerfeldlaquo sind raquoBrocken des Erinnernslaquo raquodie sich immer wieder beharrlich dem Ordnungswillen des ershywachsen Gewordenen widersetzen und den Gesetzen der Loshygik entgleitenlaquo (8f)

Diese Hinweise auf die Beschaffenheit der traumatischen Erinnerung die die Unmittelbarkeit derselben beweisen solshylen erzeugen genau die entgegengesetzte Wirkung wenn der Leser am Ende des Buchs in einer Art Nachwort erfaumlhrt dass der Verfasser des Berichts seit Jahren raquomit Historikern Psychoshylogen und Betroffenenlaquo zusammenarbeitet die sich mit raquoFrashygen und Problemen uumlberlebender Kinder der Shoahlaquo befassen (142) Erst nach jahrelanger Forschungsarbeit nach Reisen und Gespraumlchen mit Spezialisten und Historikern die ihm geholfen haben raquomanche unerklaumlrlichen Erinnerungsfetzen zu deuten Orte und Menschen zu identifizieren wiederzufinden und eishy

20 Wilkomirski Bruchstuumlcke Aus einer Kindheit 1939-1948 (Frankfurt am Main 1998) 7 Zitate aus diesem Roman werden im Folgenden durch Seitenshyangaben in nachgestellten Klammern kenntlich gemacht

nen moumlglichen historischen Kontext wie auch eine moumlgliche einigermaszligen logische Chronologie herzustellenlaquo soll der Vershyfasser raquodiese Bruchstuumlcke des Erinnernslaquo niedergeschrieben haben in der Hoffnung auch anderen traumatisierten Kindern damit helfen zu koumlnnen (143) Es geht also schon aus diesen Uumlberlegungen deutlich hervor dass das Bruchstuumlckhafte der niedergeschriebenen Erinnerungen kein unmittelbares Produkt des Schreibens ist sondern vielmehr das Ergebnis einer bewusshysten und angestrebten Re-Konstruktion des urspruumlnglichen Zustandes der Erinnerung21 zu therapeutischen und selbsttheshyrapeutischen Zwecken

Der Ich-Erzaumlhler uumlberfrachtet daruumlber hinaus die Opposhysition von Logik bzw Ordnung und Bruchstuumlckhaftem mit einer doppelten Konnotation indem er Logik und Ordnung auf die Seite der Erwachsenen und des nationalsozialistischen Vernichtungsplans das Bruchstuumlckhafte hingegen auf die Seishyte der Kinder und der Opfer stellt

Will ich daruumlber schreiben muszlig ich auf die ordnende Logik die Perspektive des Erwachsenen verzichten Sie wuumlrde das Geshyschehene nur verfaumllschenIch habe uumlberlebt und etliche andere Kinder auch Unser Sterben war geplant nicht unser Uumlberleben Gemaumlszlig der Logik des Plans und der Ordnung die fuumlr seine Durchfuumlhrung ersonnen wurde muumlszligten wir tot seinAber wir leben Wir leben im Widerspruch zur Logik und Ordshynung (8)

Eine solche Behauptung wirkt sich wie eine ausdruumlckliche Ershypressung auf den Leser aus der zur Aufgabe seines rationellen Urteilvermoumlgens aufgefordert wird da er vom Berichteten weshyder Logik noch Ordnung verlangen kann wenn er sich nicht auf die Seite der Taumlter schlagen will

21 Duumlwell redet diesbezuumlglich von raquoInszenierung gtauthentischerlt Erinneshyrungenlaquo Vgl Duumlwell (wie Anm 13)

Die abschlieszligende Behauptung des Ich-Erzaumlhlers raquokein Dichter kein Schriftstellerlaquo zu sein und daher auch keine raquoKenntnis von Perspektive und Fluchtpunktlaquo zu haben hebt sich von selbst auf da sie gerade die Kenntnis eben dieser liteshyrarischen Kunstgriffe verraumlt Daruumlber hinaus bestaumltigt die unshymittelbar darauffolgende Erzaumlhlung die gezielte Verwendung derselben

Die raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo als Appell an den Leser

Gleich nach dem poetologischen Vorspann werden naumlmlich die ersten noch dunklen aber alles andere als unzusammenhaumlnshygenden Erlebnisse des noch nicht dreijaumlhrigen Protagonisten erzaumlhlt der die Toumltung seines Vaters und die abenteuerliche Flucht aus Riga mit der Mutter und den Geschwistern erlebt wobei eben der beschraumlnkte Blick von unten und das Unvershystaumlndnis der realen Zusammenhaumlnge durch das Kleinkind vorshyherrschen22 Die Tatsache dass im Bericht diese Perspektivie- rung nicht konsequent durchgehalten wird da dem Kleinkind wiederholt Gedankengaumlnge oder abstrakte Erkenntnisse zushygesprochen werden die nicht zu seinem Alter passen23 spricht noch nicht zwangslaumlufig gegen die Wahrhaftigkeit des Erzaumlhlshyten weil eine gewisse Projektion auf die Erlebnisse von der Warte des erzaumlhlenden Ichs in jedem Zeugenbericht so gut wie unvermeidlich ist Wichtiger scheint mir die Tatsache dass der Autor seiner an den Anfang der Erzaumlhlung als Beglaubigung des Erzaumlhlten gestellten Poetik so offenkundig widerspricht

22 Vgl etwa die Erzaumlhlung der Toumltung des Vaters des Protagonisten Wilshykomirski (wie Anm 20) 8-10 insbesondere 1023 So etwa wenn er nach dem Tod des Vaters denkt raquoVon jetzt an muszlig ich ohne dich weitermachen ich bin alleinlaquo Ebd 10 Aber auch die Vorstellung von moumlglichen gefaumllschten Papieren (11) oder von einem raquoFriede[n] der Sieshygerlaquo (12) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind offensichtlich mit dem Denkvermoumlgen eines zweijaumlhrigen Kindes unvereinbar

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 8: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

nen moumlglichen historischen Kontext wie auch eine moumlgliche einigermaszligen logische Chronologie herzustellenlaquo soll der Vershyfasser raquodiese Bruchstuumlcke des Erinnernslaquo niedergeschrieben haben in der Hoffnung auch anderen traumatisierten Kindern damit helfen zu koumlnnen (143) Es geht also schon aus diesen Uumlberlegungen deutlich hervor dass das Bruchstuumlckhafte der niedergeschriebenen Erinnerungen kein unmittelbares Produkt des Schreibens ist sondern vielmehr das Ergebnis einer bewusshysten und angestrebten Re-Konstruktion des urspruumlnglichen Zustandes der Erinnerung21 zu therapeutischen und selbsttheshyrapeutischen Zwecken

Der Ich-Erzaumlhler uumlberfrachtet daruumlber hinaus die Opposhysition von Logik bzw Ordnung und Bruchstuumlckhaftem mit einer doppelten Konnotation indem er Logik und Ordnung auf die Seite der Erwachsenen und des nationalsozialistischen Vernichtungsplans das Bruchstuumlckhafte hingegen auf die Seishyte der Kinder und der Opfer stellt

Will ich daruumlber schreiben muszlig ich auf die ordnende Logik die Perspektive des Erwachsenen verzichten Sie wuumlrde das Geshyschehene nur verfaumllschenIch habe uumlberlebt und etliche andere Kinder auch Unser Sterben war geplant nicht unser Uumlberleben Gemaumlszlig der Logik des Plans und der Ordnung die fuumlr seine Durchfuumlhrung ersonnen wurde muumlszligten wir tot seinAber wir leben Wir leben im Widerspruch zur Logik und Ordshynung (8)

Eine solche Behauptung wirkt sich wie eine ausdruumlckliche Ershypressung auf den Leser aus der zur Aufgabe seines rationellen Urteilvermoumlgens aufgefordert wird da er vom Berichteten weshyder Logik noch Ordnung verlangen kann wenn er sich nicht auf die Seite der Taumlter schlagen will

21 Duumlwell redet diesbezuumlglich von raquoInszenierung gtauthentischerlt Erinneshyrungenlaquo Vgl Duumlwell (wie Anm 13)

Die abschlieszligende Behauptung des Ich-Erzaumlhlers raquokein Dichter kein Schriftstellerlaquo zu sein und daher auch keine raquoKenntnis von Perspektive und Fluchtpunktlaquo zu haben hebt sich von selbst auf da sie gerade die Kenntnis eben dieser liteshyrarischen Kunstgriffe verraumlt Daruumlber hinaus bestaumltigt die unshymittelbar darauffolgende Erzaumlhlung die gezielte Verwendung derselben

Die raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo als Appell an den Leser

Gleich nach dem poetologischen Vorspann werden naumlmlich die ersten noch dunklen aber alles andere als unzusammenhaumlnshygenden Erlebnisse des noch nicht dreijaumlhrigen Protagonisten erzaumlhlt der die Toumltung seines Vaters und die abenteuerliche Flucht aus Riga mit der Mutter und den Geschwistern erlebt wobei eben der beschraumlnkte Blick von unten und das Unvershystaumlndnis der realen Zusammenhaumlnge durch das Kleinkind vorshyherrschen22 Die Tatsache dass im Bericht diese Perspektivie- rung nicht konsequent durchgehalten wird da dem Kleinkind wiederholt Gedankengaumlnge oder abstrakte Erkenntnisse zushygesprochen werden die nicht zu seinem Alter passen23 spricht noch nicht zwangslaumlufig gegen die Wahrhaftigkeit des Erzaumlhlshyten weil eine gewisse Projektion auf die Erlebnisse von der Warte des erzaumlhlenden Ichs in jedem Zeugenbericht so gut wie unvermeidlich ist Wichtiger scheint mir die Tatsache dass der Autor seiner an den Anfang der Erzaumlhlung als Beglaubigung des Erzaumlhlten gestellten Poetik so offenkundig widerspricht

22 Vgl etwa die Erzaumlhlung der Toumltung des Vaters des Protagonisten Wilshykomirski (wie Anm 20) 8-10 insbesondere 1023 So etwa wenn er nach dem Tod des Vaters denkt raquoVon jetzt an muszlig ich ohne dich weitermachen ich bin alleinlaquo Ebd 10 Aber auch die Vorstellung von moumlglichen gefaumllschten Papieren (11) oder von einem raquoFriede[n] der Sieshygerlaquo (12) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind offensichtlich mit dem Denkvermoumlgen eines zweijaumlhrigen Kindes unvereinbar

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

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Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 9: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Die abschlieszligende Behauptung des Ich-Erzaumlhlers raquokein Dichter kein Schriftstellerlaquo zu sein und daher auch keine raquoKenntnis von Perspektive und Fluchtpunktlaquo zu haben hebt sich von selbst auf da sie gerade die Kenntnis eben dieser liteshyrarischen Kunstgriffe verraumlt Daruumlber hinaus bestaumltigt die unshymittelbar darauffolgende Erzaumlhlung die gezielte Verwendung derselben

Die raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo als Appell an den Leser

Gleich nach dem poetologischen Vorspann werden naumlmlich die ersten noch dunklen aber alles andere als unzusammenhaumlnshygenden Erlebnisse des noch nicht dreijaumlhrigen Protagonisten erzaumlhlt der die Toumltung seines Vaters und die abenteuerliche Flucht aus Riga mit der Mutter und den Geschwistern erlebt wobei eben der beschraumlnkte Blick von unten und das Unvershystaumlndnis der realen Zusammenhaumlnge durch das Kleinkind vorshyherrschen22 Die Tatsache dass im Bericht diese Perspektivie- rung nicht konsequent durchgehalten wird da dem Kleinkind wiederholt Gedankengaumlnge oder abstrakte Erkenntnisse zushygesprochen werden die nicht zu seinem Alter passen23 spricht noch nicht zwangslaumlufig gegen die Wahrhaftigkeit des Erzaumlhlshyten weil eine gewisse Projektion auf die Erlebnisse von der Warte des erzaumlhlenden Ichs in jedem Zeugenbericht so gut wie unvermeidlich ist Wichtiger scheint mir die Tatsache dass der Autor seiner an den Anfang der Erzaumlhlung als Beglaubigung des Erzaumlhlten gestellten Poetik so offenkundig widerspricht

22 Vgl etwa die Erzaumlhlung der Toumltung des Vaters des Protagonisten Wilshykomirski (wie Anm 20) 8-10 insbesondere 1023 So etwa wenn er nach dem Tod des Vaters denkt raquoVon jetzt an muszlig ich ohne dich weitermachen ich bin alleinlaquo Ebd 10 Aber auch die Vorstellung von moumlglichen gefaumllschten Papieren (11) oder von einem raquoFriede[n] der Sieshygerlaquo (12) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind offensichtlich mit dem Denkvermoumlgen eines zweijaumlhrigen Kindes unvereinbar

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 10: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Die Perspektive von unten die va durch eine synekdochische Darstellungen der Stiefel oder der Beine erreicht wird24 kehrt naumlmlich zusammen mit der Einschraumlnkung des Blickfeldes auch spaumlter im Werk immer wieder Die Personen werden dann oft auch im Gegenlicht und haumlufig durch entzuumlndete Augen25 betrachtet so dass deren Umrisse verschwommen bleiben und der Eindruck von Unbestimmtheit entsteht26 Zuweilen gewinnt die Darstellung daruumlber hinaus einen geradezu filshymischen Charakter indem sie geschickt zwischen Innen- und Auszligenperspektive hin und her wechselt und manchmal das Geschehen wie in Zeitlupe verlangsamt27

Diese Perspektivierung von unten dient nicht nur als Mitshytel zur Erzeugung eines raquoRealitaumltseffektslaquo28 sondern hat darshyuumlber hinaus eine viel wichtigere Funktion Diese physische Einschraumlnkung des Blicks wirkt naumlmlich zusammen mit der altersbedingten Einschraumlnkung des Verstaumlndnisvermoumlgens des Kleinkindes als wichtigster Kunstgriff einer raquoPoetik des Nichtshyverstehenslaquo Immer wieder mit eintoumlniger und fast ermuumldender Regelmaumlszligigkeit behauptet der Ich-Erzaumlhler dass er die Situashytion oder das Geschehen nicht verstehe bzw sich uumlber deren Interpretation unsicher sei29 und mit ungefaumlhr gleicher Haumlushy

24 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 10 25 89 und 94f25 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 4 14 4 6of 6z 79 88 und 9026 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1046 48 57 6of 86 und 9527 Vgl vor allem das Kapitel raquoDas Verstecklaquo insbesondere 94-99 wo der Erzaumlhler selbst dreimal an die raquoZeitlupelaquo erinnert hier 97f28 Der raquoRealitaumltseffektlaquo oder raquoWirklichkeitseffektlaquo (effet de reel) wie ihn Roland Barthes beschrieben hat suggeriert eine vermeintlich unmittelbare Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Referenten so als koumlnnte etwa ein Wort oder eine Beschreibung sich auf den realen Gegenstand beshyziehen und nicht ausschlieszliglich auf die Bedeutung welche eine kulturelle Interpretation des Referenten darstellt Vgl zum raquoRealitaumltseffektlaquo Roland Barthes Der Wirklichkeitseffekt (1968) In RB Das Rauschen der Sprache Kritische Essays IV (Frankfurt am Main 2006) 164-17229 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 1518 22 2jf 3542 44 53 63 86 88 100 io3f 10 7 1 12 1 14 1 19 12 1 und 124

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 11: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

figkeit wiederholt er nicht oder nicht mehr zu wissen wie es gewesen war30 Auf dieses Nichtverstehen Nichtwissen oder Nichterinnern reagiert der Protagonist dann mit direkten Frashygen die durch die Anhaumlufung der Interrogativpronomen raquowolaquo raquowannlaquo raquowerlaquo raquowarumlaquo usw eingeleitet werden31 Diese Frashygen haben ihrerseits nicht so sehr einen bloszlig rhetorischen Chashyrakter sondern wenden sich vielmehr direkt an den Leser und bringen ihn mit seinem Wissen ins Spiel Nicht von ungefaumlhr versteht dieser im Unterschied zum erlebenden Protagonisten immer sehr deutlich worum es im Erzaumlhlten geht So braucht etwa der Erzaumlhler an keiner Stelle das raquoKonzentrationslagerlaquo ausdruumlcklich zu erwaumlhnen weil die Nennung der Begriffe raquoBashyrackelaquo raquoBlockowalaquo raquoApellplatzlaquo bzw der Verweis auf raquoBerge von Koffern und Kleidernlaquo (39) oder auf die immer rauchenden Kamine (79 91) fuumlr den Leser ausreichende Indizien sind um die beschriebenen Ereignisse zu lokalisieren Manchmal dient allerdings diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo auch der bewusshysten Irrefuumlhrung des Lesers So etwa wenn ein Zugunfall dargeshystellt wird der auf einer Fahrt von Majdanek nach Auschwitz passiert sein soll Da der Ich-Erzaumlhler zuerst im Dunkel unter einem Haufen von nackten Koumlrpern von unbeweglichen wahrshyscheinlich toten Menschen liegt denkt der Leser gleich an das Innere einer Gaskammer bevor er erst nach und nach versteht dass der Protagonist sich in einem entgleisten Waggon befindet (84-88)

Damit diese raquoPoetik des Nichtverstehenslaquo funktioniert beshydarf es allerdings eines weiteren wichtigen Kunstgriffs naumlmshylich der Ausblendung der Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzaumlhlenden Ich Obwohl es vor allem im mittleren

30 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 37 41 52 69 71 73 75 77 79 82 8492 94 10 110 3 107 124 130 138 und 14131 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 798jf 8891 ioof I03f 107109125136138 und 141

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

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ISBN 978-3-86600-267-8

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UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 12: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Teil des Werkes verschiedene Anspielungen auf eine spaumltere Zeit gibt die vielleicht nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist aber immerhin mehrere Jahrzehnte nach den erzaumlhlten E rshyeignissen datiert beharrt die Erzaumlhlung konsequent auf der Zeitebene des erlebenden Kindes und vermeidet hingegen jeshyden Kommentar des Erzaumlhlers der sich inzwischen wohl eine eigene Idee des Geschehenen bzw des Dargestellten gemacht haben muss da er sich lange und intensiv mit der Shoah beshyschaumlftigt hat Gerade diese strikte Enthaltsamkeit des Erzaumlhshylers zwingt aber den Leser dazu die eigenen Vorkenntnisse zu mobilisieren und deutende Zusammenhaumlnge zwischen den ershyzaumlhlten Episoden herzustellen die im Buch nicht gegeben oder houmlchstens angedeutet sind Auf diese Art und Weise uumlberlaumlsst aber Wilkomirski die Verantwortung fuumlr die Interpretation des Erzaumlhlten dem Leser selbst

Die Ver-Leitung des Lesers durch die Struktur des Werkes

Noch mehr als die starke Perspektivierung des Erzaumlhlten und die konsequente Ausblendung der Distanz zwischen dem ershyzaumlhlenden und dem erlebenden Ich dient die Strukturierung des Werkes der Ver-Leitung des Lesers indem sie ihn nur allmaumlhlich durch das Moumlgliche und Glaubwuumlrdige auf die Darstellung des unglaublichsten Grauens vorbereitet um ihn spaumlter wieder in eine zuverlaumlssigere Atmosphaumlre des gesellshyschaftlichen Lebens zuruumlckzubringen

Das Werk besteht aus neunzehn Kapiteln ganz untershyschiedlicher Laumlnge die von einer Art Vorspann ohne Titel und einem Nachwort mit dem Titel gtZu diesem Buchlt eingerahmt sind Diese Kapitel koumlnnen ihrerseits in drei Bloumlcke untershygliedert werden welche unterschiedliche Zeitspannen zum Gegenstand haben Mit Ausnahme des zweiten Kapitels gtDie Bruumlderlt das eine Fortsetzung des Vorspanns darstellt und den Aufenthalt des kleinen Protagonisten zusammen mit seinen

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 13: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Bruumldern auf einem Bauerngehoumlft in Polen bis zur Deportatishyon nach Majdanek erzaumlhlt beschreiben die ersten sechs Kapitel des ersten Blocks die Ankunft des Protagonisten mit einem aus Warschau kommenden Zug in die Schweiz und die ersten Tage oder vielleicht Wochen der Unterbringung in eishynem Schweizer Kinderheim Die naumlchsten acht Kapitel des zweiten Blocks enthalten hingegen unterschiedliche Episoden die ausnahmslos in einem bzw in zwei Konzentrationslagern spielen welche jedoch keine Zeitbestimmung ermoumlglichen und sich in einer Zeitspanne von mindestens ein paar Jahren abshygespielt haben koumlnnten Die letzten fuumlnf Kapitel des dritten Blocks spielen schlieszliglich wieder in der Schweiz und zwar im Haus der Pflegeeltern des Protagonisten und in der Schule Es ist nicht klar wie viel Zeit seit der Ankunft in der Schweiz vergangen ist und zwischen den einzelnen Episoden koumlnnten auch Jahre liegen

Der erste und der dritte Block folgen einem aumlhnlichen Scheshyma indem sie die absolut verhaltensgestoumlrten und unverhaumlltshynismaumlszligigen Reaktionen des Protagonisten auf ganz gewoumlhnshyliche alltaumlgliche Situationen darstellen Mehr oder weniger explizit wird alsdann dieses auffaumlllige Benehmen mit Bildern bzw mit Traumlumen oder Erinnerungen in Verbindung gesetzt die eindeutig auf das Leben im Konzentrationslager verweisen und somit als Ursache fuumlr das jeweilige Verhalten gelten sollen

Erster Block Die Unangemessenheit der Uumlberlebensregeln des Lagers

In den ersten Kapiteln wendet der kleine Protagonist im Kinshyderheim die Uberlebensstrategien an die er fruumlher gelernt hatshyte und versetzt dadurch das Pflegepersonal in Erstaunen Er stiehlt etwa uumlbriggebliebene Kaumlserinden von den Tafeln und fuumlllt sich damit die Taschen (23-26) isst verstohlen die ihm unbekannte Marmelade indem er sich weigert Brot dazu zu

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 14: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

nehmen (49L) oder verfaumlllt in Panik weil er seine Schuhe nicht mehr findet und umwickelt daraufhin seine Fuumlszlige mit Lappen (5if-)- Die Spannung dieser Episoden entsteht va daraus dass der handelnde Protagonist sich in einer fuumlr ihn unentzifferbashyren Realitaumlt bewegt die dem Leser hingegen absolut bekannt sein koumlnnte Die Diskrepanz zwischen diesen zwei Realitaumlshyten und das auffaumlllige Verhalten des Kindes verlangen somit beim Leser nach einer Erklaumlrung Diese wird ihm durch Bilder suggeriert die weder vom Kind noch vom Erzaumlhler gedeutet werden und die manchmal aus einem Traum stammen andere Male Erinnerungen oder Phantasien sein koumlnnten

Bereits im ersten Kapitel denkt der Protagonist wenn er allein im Schweizer Bahnhof von Basel zuruumlckgelassen die Wirklichkeit um ihn herum nicht deuten kann an die Geshyschichte des raquoGroszligen Grauenlaquo der zuerst mit ihm im Lager gespielt hatte um ihn dann unerwartet gegen die Wand zu werfen Diese Erfahrung scheint fuumlr ihn insofern eines der prauml- gendsten Erlebnissen gewesen zu sein als sie ihn gelehrt hat dem aumluszligeren Schein nicht zu trauen und immer auf der Lauer vor moumlglichen Taumluschungen zu sein

Gleich in der ersten Nacht im Kinderheim hat der Protagoshynist dann einen Alptraum in dem er wie in einem an Bosch erinnernden Bild Loren sieht die mit Kadavern gefuumlllt in den Schlund eines durch einen Helm bedeckten Totenschaumldels vershyschwinden (38f) Auch das Erwachen verursacht ihm keine Ershyleichterung weil auch die Wirklichkeit des Kinderheims nur Taumluschung sein koumlnnte (39) Gleich anschlieszligend scheint sich der Protagonist an eine alptraumartige Erfahrung zu erinnern als er im Lager die Nacht in einer Hundehuumltte voller Ungezieshyfer verbringen musste (4of) Die rasche Aufeinanderfolge der fuumlrchterlichen und ekelerregenden Bilder macht es dem Leser unmoumlglich zwischen Traum bzw Alptraum Erinnerung und Phantasie zu unterscheiden Auch im naumlchsten Kapitel folgt auf die Uumlberraschung uumlber den Anblick eines unbewachten

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 15: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

raquoBerg[s] von Brotlaquo gleich eine eher unglaubwuumlrdige Erinneshyrung an den letzten Besuch den der kleine Binjamin (44) - hier wird der Name des Protagonisten zum ersten Mal genannt - im Konzentrationslager seiner sterbenden Mutter abgestattet hatte von der er eben ein Stuumlck Brot bekommen hatte (44-49)

Im sechsten Kapitel findet das Grauen eine zusaumltzliche Steigerung Der Ausloumlser der Erinnerung ist die Ankunft im Kinderheim von zwei neuen ein Gemisch von Jiddisch und Polnisch sprechenden Kindern die Binjamin moumlglicherweishyse haumltten erkennen koumlnnen Ihre Praumlsenz mobilisiert in ihm die auch sonst im ganzen Werk immer wieder erwaumlhnten Schuldgefuumlhle32 die bekanntlich ein Topos der Shoah-Litera- tur sind und ruft die Erinnerung an sein raquoVerbrechenlaquo wach Er erinnert sich zuerst an die an sadistischer Grausamkeit kaum zu uumlbertreffende von zwei Blockowas uumlber zwei arme Knaben verhaumlngte Strafe (jzf) um gleich anschlieszligend an den Tod eines Neuankoumlmmlings in der Baracke zu denken den er selbst verschuldet haben soll (60-63)

Am Schluss dieses Blocks scheint sich der Ich-Erzaumlhler eines offensichtlichen Paradoxes bewusst zu werden und vershysucht daher die moumlglichen Einwaumlnde des Lesers vorwegzunehshymen und eine Erklaumlrung dafuumlr zu geben dass der Protagonist trotz aller schrecklichen und leidensvollen Erfahrungen im Konzentrationslager sich nach jener alptraumartigen Wirkshylichkeit zuruumlcksehnt und sie der viel bequemeren und gesishycherten Lage im Schweizer Kinderheim vorzieht

So sehr ich mich muumlhte ich brachte diese Welten nicht zusamshymen Vergeblich suchte ich nach einem Faden an dem ich anshyknuumlpfen konnteIch konnte der unertraumlglichen fremden Gegenwart nur entflieshyhen indem ich in die Welt und zu den Bildern meiner Verganshy

32 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) i6f 56 6if 63 87 99 115 123 135 und 137

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 16: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

genheit zuruumlckkehrte Zwar war sie mir fast ebenso unertraumlgshylich aber sie war mir vertraut ich kannte wenigsten ihre Regeln(65)

Ob dieses Beduumlrfnis nach den bekannten Regeln als uumlbershyzeugender Grund fuumlr das Streben nach einer Ruumlckkehr in die schreckliche Vergangenheit dienen kann soll dahin gestellt bleiben Wichtiger scheint mir vor allem dass der Autor mit dieser Uumlberlegung den richtigen Sprung in die Vergangenheit vorbereitet und begruumlndet der in den naumlchsten acht Kapiteln des zweiten Blocks stattfindet

Zweiter Block Die Schockwirkung durch das blanke Entsetzen

Nachdem die vorausgehenden Kapitel den Leser in einem steishygenden Klimax allmaumlhlich an die absolute Grausamkeit geshywoumlhnt haben wobei sie ihm jedoch stets die Hintertuumlr offen lieszligen das Dargestellte fuumlr bloszligen Traum oder fuumlr Phantasie oder zumindest als fernliegenden Gegenstand der Erinnerung zu halten verzichten die acht Kapitel des zweiten Blocks auf jegliche Vermittlung durch die Gegenwart im Schweizer Kinshyderheim und versetzen den Leser unmittelbar in die Realitaumlt des Konzentrationslagers und dessen Grauens Vor allem die ersten fuumlnf Kapitel zielen offensichtlich durch die Grausamkeit des Erzaumlhlten aber auch durch ihre durchschlagende Kuumlrze sowie durch ihre Struktur die immer in einer Pointe gipfelt auf eine Schockwirkung ab die das Urteilsvermoumlgen des Lesers irgendshywie auszliger Kraft setzen soll und dadurch einen raquoRealitaumltseffektlaquo hervorbringt33

Im ersten Kapitel erlebt der Protagonist wie zwei in die Baracke geworfene winzige Kinder sich des Nachts aus Hunshy

33 Auf diese Wirkung des Schocks hat schon Roland Barthes aufmerksam gemacht Vgl R Barthes Schockphotos (1957) In RB Mythen des Alltags (Frankfurt am Main 2010) 135-138 hier i6f

ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

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ISBN 978-3-86600-267-8

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Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

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ger das Fleisch von den Fingern abgenagt hatten (66-68) Sogar der an allem schon gewohnte Jankl der fuumlr den Protagonisten im Konzentrationslager wie ein aumllterer Bruder und Lehrer war hatte bei diesem Anblick geweint (68) Im naumlchsten Kapitel wohnt der Leser dann dem unbegreiflichen Tod von Jankl bei der steif wie ein Eisblock langsam im Schlamm versinkt (71) Und das dritte Kapitel wechselt sogar die Zeitform von der Vershygangenheit ins Praumlsens um die willkuumlrliche Gewalt zu beschreishyben mit der ein Uniformierter im Lager mit einer Holzkugel den Schaumldel eines Kindes einschlaumlgt worauf der Protagonist von reiszligender Wut erfasst ihn in den Arm beiszligt (73-75) Im vierten Kapitel laumlszligt die Gegenwart aber nicht die Grausamkeit ein bisschen nach da der Protagonist die unerhoumlrte Geschichte der jungen Karola wiedergibt die sich mit der Mutter gerettet hatte weil sich beide unter den Toten tot gestellt hatten und somit von raquofalschen Totenlaquo zu raquofalschen Lebendenlaquo geworden waren weil sie von allen Listen gestrichen worden waren (y6f) Am Ende dieser kurzen Erzaumlhlung bezieht der Erzaumlhler das Geschehene auf eine spaumltere Zeit in der er und Karola sich als Erwachsene wieder getroffen und sogar geliebt hatten Dabei hatte sich allerdings jene Verwechselung von Leben und Tod nicht aufgeloumlst sondern fuumlr beide verfestigt und sogar vertieft raquoWir beide lebten unter den Lebenden aber doch nicht richtig dazugehoumlrend - Tote eigentlich auf einem illegalen Urlaub nur irrtuumlmlich am Leben Gebliebenelaquo (77)

Das fuumlnfte Kapitel wird ebenfalls im Praumlsens erzaumlhlt und erreicht den Houmlhepunkt des Grauens Die schockierende Wirshykung wird hier durch einen Verfremdungseffekt erzielt indem eine an und fuumlr sich schon grauenhafte Wirklichkeit durch die Augen eines kleinen Kindes und in seinen Gedanken und Uumlberlegungen eine noch schrecklichere Bedeutung erhaumllt Das Kind sieht naumlmlich einen Haufen von toten Frauen und staunt daruumlber dass ihre Leichen sich bewegen Als er dann Ratten aus ihren Baumluchen kriechen sieht glaubt er dass die Frauen

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

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Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 18: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Ratten gebaumlren und es wird ihm dabei so schlecht dass er sogar an seiner menschlichen Identitaumlt zweifelt (80-82) Es entsteht durch diese Bilder und durch die Gedanken des Protagonisten ein verwickelter und gefaumlhrlicher Kurzschluss der an den O pshyfern des Nationalsozialismus sozusagen jene nationalsozialishystische Darstellung der Juden als Ratten bestaumltigt die letzten Endes zu deren Extermination durch das Schaumldlingsbekaumlmpshyfungsmittel Zyklon B gefuumlhrt hatte Die Wirkung des abstoshyszligenden Bildes wird schlieszliglich durch sein Nachwirken in der Gegenwart noch zusaumltzlich verstaumlrkt wenn der Erzaumlhler von seinem Schock berichtet als er Jahre spaumlter bei der Geburt seishynes ersten Sohnes zuerst den behaarten Kopf zwischen den Beinen seiner Frau hervorkommen sah (83)

Auch das naumlchste Kapitel mit dem Titel gtDer Transportlt wird im Praumlsens erzaumlhlt wobei allerdings die unmittelbare Geshygenwart des Geschehens durch die vielen Fragewoumlrter und das mehrmals wiederholte raquoich weiszlig nichtlaquo die das Unverstaumlndnis des Kindes wiedergeben sollen in eine allgemeine Ungewissshyheit getaucht wird die den Leser taumluschen soll Wie bereits ershywaumlhnt suggeriert naumlmlich die Lage des Kindes das im Dunshykeln unter nackten Beinen und Baumluchen von Erwachsenen nach Luft schnappt und raquonicht verbrennenlaquo will (84t) dass es sich in einer Gaskammer befindet Erst nach und nach versteht der Leser dass hier in Wirklichkeit ein Zugunfall geschildert wird und dass das Kind aus einem entgleisten Waggon herausfindet um dann uumlber Leichen wieder auf den Bahndamm zu kriechen und dort von einer Frau gerettet zu werden (85-91) Das Kapitel gtDas Verstecklt bedient sich alsdann am offensichtlichsten filshymischer Mittel um die letzte Rettung des Protagonisten durch eine Gruppe von Frauen in einem Kleidermagazin im Lager darzustellen34 wobei auch hier die an Pulp reichende Dar-

34 Es ist schon bemerkt worden wie diese Episode an Apitzrsquo Roman Nackt unter Woumllfen (1958) erinnert Vgl Duumlwell (wie Anm 13) 86

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 19: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Stellung der Ermordung von zwei kleinen Kindern von ihren gebrochenen Schaumldeln und der daraus quellenden Masse ihrer Gehirne nicht fehlen kann (96-98) Das Trauma wird auch in diesem Kapitel bis auf seine Auswirkungen in der Gegenwart verfolgt (98t)

Das Kapitel gtDer Betruglt ist nach dem ersten Kapitel das zweitlaumlngste im Werk und fuumlhrt sozusagen an den Anfang desselben zuruumlck Die Befreiung des Lagers wird vom Ich-Er- zaumlhler der hier mehr noch als zuvor die raquoPoetik des Nichtvershystehenslaquo anwendet (ioof 103) nicht erlebt bzw verpasst Da er glaubt dass auszligerhalb des Lagers die Welt aufhoumlrt35 vermag er die Wirklichkeit jenseits des Zaunes nicht mehr zu verstehen und vergisst auch alles was er erlebt hat sowohl die Befreiung als auch die darauf erfolgte Reise nach Krakow (106) Auch die Tatsache dass er sozusagen seine eigene Identitaumlt wieder gewinnt indem jemand seinen von ihm selbst fast vergessenen Namen raquoBinjaminlaquo (102) und spaumlter raquoBinjamin Wilkomirskilaquo (106) nennt hilft ihm kein bisschen die Wirklichkeit und das Geschehen um sich zu verstehen Unentwegt stellt er Fragen die keine Antwort bekommen (103 109) waumlhrend das Ganshyze raquoin einem dumpfen Daumlmmerlichtlaquo verschwimmt (107) Der Protagonist kann vor allem nicht an die friedliche Existenz auszligerhalb des Lagers glauben und misstraut insbesondere den Erwachsenen (108)

Irgend etwas stimmt hier nicht - man hat mich betrogen Ja sie haben mich alle betrogen []Jetzt habe ich warme Kleider warmes Essen Das ist schoumln Aber ich lebe unter den Betruumlgern und Moumlrdern Und die Erwachseshynen - sie alle haben mich angelogen Am besten ist ihnen nicht mehr zuzuhoumlren (109)

Im krassen Widerspruch zum ganzen Kapitel das durch Nichtshyverstehen und Nichterinnern charakterisiert ist enthalten die

35 Vgl Wilkomirski (wie Anm 20) 45 89102104 und 109

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

LesenSchreibenEdieren

Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 20: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

letzten Seiten desselben geradezu ein Uumlbermaszlig an Erinnerung Zum ersten und auch letzten Mal verlaumlsst der Ich-Erzaumlhler ploumltzlich die Perspektive des Kindes und uumlbernimmt die Rolle des erinnernden und schreibenden Erzaumlhlers der von seinen spaumlteren Besuchen in Krakow berichtet und alles aufzaumlhlt was er wiedererkannt und woran er sich wiedererinnert hat (nof) Bereits das ganze Kapitel hatte die Unmittelbarkeit des Graushyens verlassen und in den Dunst der Unbestimmtheit und des Nichterinnerns aufgeloumlst jetzt soll die Ruumlckkehr in die Geshygenwart das Konzentrationslager endguumlltig der Vergangenheit anheimstellen und das aufgewuumlhlte Gemuumlt des Lesers dadurch wieder beruhigen Die kurze Erinnerung an die Abfahrt mit dem Zug von Krakow und die wortwoumlrtliche Wiederaufnahme des Satzes raquoDie Schweiz ist ein schoumlnes Landlaquo (in) dem der Leser schon auf der zweiten Seite des Berichts (i6) begegnet war schlieszligt diesen mittleren Teil des Werkes ab und fuumlhrt in einer Art Kreisbewegung wieder an den Anfang zuruumlck Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen dem ershysten und dem zweiten Kapitelblock enger geschlossen

Dritter Block Die Nachkriegswirklichkeit als Betrug

Das Thema des dritten Blocks ist bereits durch das letzte Kapishytel des vorausgehenden Blocks vorbereitet worden und schlieszligt unmittelbar an den ersten Block an Es handelt sich naumlmlich darum dass der Protagonist die friedliche Welt der Schweiz fuumlr einen Betrug haumllt der die von ihm erfahrene Wirklichshykeit des Lagers nur oberflaumlchlich zudeckt Alle hier erzaumlhlten Episoden folgen also dem gleichen Muster wie bereits im ersten Block mit dem einzigen Unterschied dass dort die Reaktionen des Kindes unbewusst dh als typische Symptomaumluszligerungen eines verdraumlngten Traumas erfolgten waumlhrend sie auf diesen Seiten wenigstens zum Teil Ergebnis der Reflexion des inzwishyschen etwas aumllteren Protagonisten sind

Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

LesenSchreibenEdieren

Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

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UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

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Am Anfang des ersten Kapitels genuumlgt die Nennung des Begriffs raquoTransportlaquo damit der Protagonist die Fassung voumlllig verliert (iiif) da - wie der Leser wohl weiszlig und zum Vershystaumlndnis der Szene mitbedenken soll - raquoauf Transport gehenlaquo in der Nazizeit entweder mit Deportation oder manchmal auch mit raquoins Gas gehenlaquo gleichbedeutend war Der Protagoshynist glaubt aber vor allem im Holzgestell fuumlr das Obst im Kelshyler die raquoPritschen in der Barackelaquo und in der Kohlenheizung sogar einen Verbrennungsofen wiederzuerkennen

Also doch Mein Verdacht war richtig Ich bin in eine Falle geraten Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal aber fuumlr Kinder geht es Ich weiszlig es ich habe es gesehen man kann mit Kindern heizenHolzpritschen fuumlr Kinder Ofenklappen fuumlr Kinder - jetzt vershystehe ich Blitzschnell ging es mir durch den Kopf blitzschnell rannte ich die Kellertreppe hoch in mein Zimmer[]Ich hatte recht Man will mich taumluschen Deshalb soll ich vergesshysen was ich doch weiszligDas Lager ist noch da Alles ist da dachte ich (117)

Wilkomirski rekurriert also noch einmal auf die Vorkenntshynisse des Lesers vergisst aber dabei dass kein Haumlftling wenn er nicht zum Sonderkommando gehoumlrte und um so weniger ein kleines Kind je die Verbrennungsoumlfen im K Z gesehen hat Der Erzaumlhler selbst scheint wenig spaumlter die Furcht des Kindes ironisch zu desavouieren wenn er kurz bemerkt dass raquoetliche Jahre spaumlter [] die Kohlenheizung durch einen kleinen moshydernen Olbrenner ersetztlaquo wurde (118)

Auch in den naumlchsten Episoden wird die Begruumlndetheit von Binjamins Assoziationen und Reaktionen an keiner Stelshyle ausdruumlcklich untermauert So zB im Kapitel gtDie Blocko- walt wenn der Protagonist in der Schule im Bild vom Wilhelm Teil der mit dem Pfeil auf den Kopf eines Kindes zielt einen SS-Mann erblickt der Kinder erschieszligt und in der Lehrerin

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

LesenSchreibenEdieren

Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 22: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

dementsprechend die schreckliche Blockowa vom Konzentrashytionslager zu erkennen vermeint (119-125) Die Episode kann zwar vielleicht als implizite Kritik an der Komplizenschaft der Schweiz mit Nazi-Deutschland gelesen werden36 enthaumllt aber keinen Hinweis darauf dass der vom Protagonisten ange- stellte Vergleich irgend einen Wahrheitsgehalt haben koumlnnte Auch die uumlbertriebene Reaktion des Schuumllers angesichts einer Schieszligbude auf dem Jahrmarkt (126-128) im Kapitel gtDer Bet- telbublt oder sein raquounerhoumlrtes Benehmenlaquo (129) als er sich dort als Bettler verhaumllt (128-129) finden nur in seiner Erinnerung die aber auch Phantasie sein koumlnnte ihre Rechtfertigung Im Kapitel gtDer Henkerlt grenzt schlieszliglich die vom inzwischen zehn oder sogar zwoumllf Jahre alten Kind (130) gezogene Parshyallelisierung eines Skilifts mit der raquoTodesmaschinelaquo aus dem ersten Alptraum im Schweizer Kinderheim (132 38f) und die darauffolgende Identifikation des Heimleiters mit dem Henshyker (133) immer mehr an Halluzination und Verfolgungswahn Der Leser hat jedoch den Eindruck dass von Wilkomirski auf diesen Seiten nichts unternommen wird um die Reaktionen des Protagonisten irgendwie zu rechtfertigen und dass das Ziel dieser Erzaumlhlungen vielmehr darin besteht eine Reaktion der Skepsis und des Unglaubens hervorzurufen Es faumlllt naumlmshylich auf dass hier keine der konkreten Episoden erwaumlhnt wird die im mittleren Teil des Werkes mit solch brutaler Unmittelshybarkeit dargestellt wurden da man sich eher damit begnuumlgt nur auf einen Alptraum und auf weitere allgemeine Zustaumlnde im K Z auf die Transporte die Pritschen die Verbrennungsshyoumlfen oder einen schieszligenden SS-Mann hinzuweisen Scheinbar sollen also auch hier wie bereits im ersten Teil des Werkes die Auffaumllligkeit und Auszligerordentlichkeit des Symptoms fuumlr die

36 Vgl etwa E Lezzi raquoTeil zielt auf ein Kindlaquo Wilkomirski und die Schweiz In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 180-214 hier 190-194

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 23: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Wahrhaftigkeit der Ursache desselben dh der Erlebnisse im Konzentrationslager buumlrgen

Im letzten Kapitel das den Titel gtDie Geschichtsstundelt traumlgt versucht der Ich-Erzaumlhler noch einmal die Glaubwuumlrshydigkeit seines Gedaumlchtnisses zu bekraumlftigen und laumluft dabei Gefahr ungewollt den Entstehungsprozess von Bruchstuumlcke selbst sowie den Mechanismus der Beglaubigung seiner Ershyinnerungen zu verraten Der Ich-Erzaumlhler berichtet naumlmlich wie er der inzwischen schon eine der raquoobersten Gymnasialshyklassenlaquo besuchte groszliges Interesse fuumlr alles hatte was raquodas Nazisystem und den Zweiten Weltkrieglaquo betraf

Ich wollte alles wissen Ich wollte alle Einzelheiten kennenlernen und Zusammenhaumlnge begreifen Ich hoffte Antworten zu finden auf die Bilder mit denen mich mein unvollstaumlndiges Kindershygedaumlchtnis manche Naumlchte nicht schlafen lieszlig oder mir schreckshyliche Alptraumlume bereitete Ich wollte wissen was andere Menshyschen damals erlebt hatten Ich wollte vergleichen mit meinen eigenen fruumlhesten Erinnerungen die ich in mir trug Ich wollte sie begreifen koumlnnen mit meinem Verstand und sie einordnen in einen Zusammenhang der Sinn gab (136)

Auf den ersten Blick scheinen also die erlebten Erfahrungen den Grund fuumlr das Interesse des Protagonisten fuumlr die Shoah darzustellen Bei genauerem Hinsehen merkt man jedoch dass nicht von Erfahrungen sondern von Alptraumlumen und Bilshydern die Rede ist die der Protagonist in sich traumlgt und fuumlr die er in der Geschichte der Shoah Erklaumlrungen sucht Was hier beschrieben wird stimmt aber ziemlich genau mit dem Prozess der Bildung von raquoDeckerinnerungenlaquo uumlberein bei denen sich der Protagonist moumlglicherweise der Bilder aus der schreckshylichsten Tragoumldie der Menschheit bedient um persoumlnliche traumatische Erfahrungen ganz anderer Art zuzudecken bzw um fuumlr deren symptomatische Aumluszligerungen eine Erklaumlrung zu

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

LesenSchreibenEdieren

Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 24: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

finden37 Es faumlllt dabei auf dass im Unterschied zu der am Anshyfang des Werkes formulierten raquoPoetik des Bruchstuumlckhaftenlaquo der Protagonist diese Bilder nicht in ihrer Buchstuumlckhaftigkeit belassen will sondern vielmehr nach deren Logik sucht und sie daher mit anderen Bildern vergleicht um ihnen einen Zusamshymenhang und einen Sinn zu verleihen

Um die Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen noch einmal unter Beweis zu stellen erzaumlhlt der Protagonist wenig spaumlter eine weitere Episode die sich ebenfalls in der Schule abgespielt hat Bei der Ansicht eines Dokumentarfilms uumlber die Befreiung des Konzentrationslagers von Mauthausen durch die Amerishykaner stellt er naumlmlich fest dass er eine ganz andere Erfahrung gemacht hat weil er keine solche Befreiung je erlebt hat (i38f) Das Spiel des Autors ist hier ganz offensichtlich Indem er sich in die beschraumlnkte Perspektive des Protagonisten versetzt der nicht zwischen Mauthausen und Auschwitz zu unterscheiden vermag appelliert er in Wirklichkeit an die Kenntnisse des Lesers der moumlglicherweise Primo Levis Se questo e un uomo gelesen hat und den Einspruch des Protagonisten insofern beshystaumltigen kann weil er weiszlig dass die gtBefreiunglt von Auschwitz tatsaumlchlich ganz anders als die von Mauthausen erfolgt ist38 Wilkomirski greift also hier auf Bekanntes zuruumlck um die Aushythentizitaumlt der Erinnerung seines Protagonisten sogar uumlber die Wahrheit der Dokumentaraufnahmen zu stellen Die unmitshytelbare Empfindung soll selbst gegenuumlber den Erkenntnissen der Geschichte das einzig Wahre und Zuverlaumlssige darstellen

Diese Spaltung bzw dieser unuumlberbruumlckbare Gegensatz zwischen aumluszligerer dh historischer Wahrheit und innerlicher Gewissheit wird auf den naumlchsten Seiten noch zusaumltzlich vershytieft und fast ins Metaphysische gesteigert So wie der Protshy

37 Vgl S Maumlchler Das Opfer Wilkomirski Individuelles Erinnern als sozishyale Praxis und oumlffentliches Ereignis In DiekmannSchoeps (wie Anm 6) 5438 Vgl Primo Levi Se questo e un uomo La Tregua (Torino 1989) 140-153

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

LesenSchreibenEdieren

Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 25: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

agonist aufgrund seiner Empfindungen nicht an die Bilder des Dokumentarfilms glauben kann so kann er allgemein nicht an eine raquoBefreiunglaquo dh an das Ende jener schrecklichen Zeit glauben Da er aber seine raquoeigene Befreiung verpaszligtlaquo (140) hat so ist die ganze Wirklichkeit selbst fuumlr ihn zu einer groszligen Luumlge geworden an die er sich nur aumluszligerlich anzupassen vorshytaumluscht (i4of)

Durch diese Entgegensetzung von verbuumlrgter historischer Wirklichkeit und Authentizitaumlt der Erfahrung rechtfertigt aber der Autor Wilkomirski offensichtlich auch sein eigenes Unternehmen Jeder Leser erkennt zwar dass die Reaktionen des Protagonisten von auszligen gesehen unangemessen uumlbertrieshyben oder moumlglicherweise sogar psychotisch sind Gerade der auszligerordentliche Charakter solcher Reaktionen zwingt ihn jedoch dazu eine ebenso auszligerordentliche Ursache des Symshyptoms anzunehmen und fuumlr Wilkomirskis Erklaumlrungen insoshyfern zumindest offen zu sein

Shoah-Kitsch als Lesermanipulation

Was Wilkomirski in Bruchstuumlcke betreibt entspricht genau dem was man Shoah-Kitsch genannt hat Als raquoKitschlaquo soll hier jene Art von Kunst verstanden werden die den Erwartunshygen des Rezipienten entgegenkommt und ihn unmittelbar beshyruumlhren bzw erschuumlttern will Um direkt an die Sensibilitaumlt des Rezipienten zu appellieren bedient sich der Kitsch meistens wohlbekannter Formen und Motive die das Gefuumlhl anspreshychen und keiner kritischen oder intellektuellen Anstrengung bei der Auffassung der Werke beduumlrfen Das dadurch erzeugshyte Gefuumlhl ist dabei meistens narzisstischer Natur indem der Rezipient sich sozusagen der eigenen Sensibilitaumlt erfreut waumlhshyrend er dem solche Gefuumlhle ausloumlsenden Gegenstand kaum Aufmerksamkeit widmet

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

LesenSchreibenEdieren

Uumlber den Umgang mit Literatur

Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

Stroemfeld

An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

Daros Collection Schweiz copy Cy Twombly Foundation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

ISBN 978-3-86600-267-8

Copyright copy 2016Stroemfeld Verlag Frankfurt am MainBasel Alle Rechte Vorbehalten All Rights ReservedDruck und Verarbeitung Medienhaus Plump Rheinbreitbach Printed in Germany

Gedruckt auf saumlurefreiem alterungsbestaumlndigem Papier gemaumlszlig ISO 9706

Bitte fordern Sie die kostenlose Programminformation beim Verlag anStroemfeld VerlagD-60322 Frankfurt am Main Holzhausenstr 4 CH-4054 Basel Altkircherstr 17 infostroemfeldde wwwstroemfeldcom

UNIVERSITAuml di VERONADiparti meolo di UNGUEt LETTERATUHE STRANIIRI

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 26: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Auf aumlhnliche Art und Weise hat Ruth Kluumlger an mehreren Stellen ihres autobiographischen Werkes weiter leben (1992) die raquoSentimentalitaumltlaquo der Museumskultur und mancher lishyterarischer Werke hervorgehoben die raquoweg von dem Gegenshystand [] und hin zur Selbstspiegelung der Gefuumlhlelaquo fuumlhren39 Bei literarischen Werken erkennt sie den sentimentalen Kitsch vor allem darin dass diese Werke durch Darstellungen von besonders erschuumltternden Szenen den Leser tief zu bewegen suchen Aus diesem Grund vermeidet Kluumlger bewusst solche Beschreibungen die gleich nach dem Krieg noch einen Sinn hatten die aber jetzt nachdem man alles uumlber die Konzentratishyonslager schon gesehen gelesen und gehoumlrt hat nur als Kitsch bzw als Pornographie wirken koumlnnen40

die Leute wissen das doch schon die geilen sich jetzt noch einshymal daran auf Wenn sie es wissen wollen so sollen sie andersshywo nachschlagen Das ist nicht was ich hier beschreibeIch schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muszlig nicht wiederholen was schon geschrieben ist [] Ich muszlig nicht noch einmal schlecht machen was Primo Levi so gut gemacht hat Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre41

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Epochen des Uberlebendenberichts scheint mir in diesem Zusammenhang von groszliger Bedeutung weil auch die Wiederholung der gleishychen Erzaumlhlmuster vierzig Jahre spaumlter zum Kitsch verkomshymen kann Was fuumlr die Darstellungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit noch moumlglich und sogar notwendig war findet in den neunziger Jahren keine Berechtigung mehr Die moshyderne Autobiographik zur Shoah kommt mit anderen Worten wenn sie gtechtlt und gtauthentischlt sein will ohne die Reflexion

39 Ruth Kluumlger weiter leben Eine Jugend (Muumlnchen 2004) 7640 Kluumlger (wie Anm 39) ySi 97t und 118 Vgl auch Sascha Feuchert Weishyter leben Erlaumluterungen und Dokumente zu Ruth Kluumlger gtWeiter lebenlt (Stuttgart 2004) uSf 41 Feuchert (wie Anm 40) 137

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Festschrift fuumlr Elmar Locher

aus Anlass seines 65 Geburtstags am 14 Februar 2016

herausgegeben von

Peter Kotier und Ulrich Stadler

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An den Drucklegungskosten beteiligte sich dankenswerterweise das Institut fuumlr Sprach- und Literaturwissenschaften der Universitaumlt von Verona

Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

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Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografiedetaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlberhttpdnbddbde abrufbar

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Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

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R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

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Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

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Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 27: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

uumlber die Moumlglichkeiten und Grenzen sowohl der Erinnerung als auch der Darstellung ihres Objekts nicht mehr aus In dieshyser Hinsicht ist auch die Erzaumlhlung aus der Perspektive des Kindes nur dann zulaumlssig wenn sie durch die Perspektive der Schreibgegenwart kritisch beleuchtet wird Das Fehlen dieser Spannung zwischen den zwei Perspektiven kann insofern beshyreits als Symptom fuumlr Inauthentizitaumlt oder fuumlr Kitsch interpreshytiert werden

Selbstverstaumlndlich wirkt der Kitsch immer plausibel und vielleicht sogar raquoallzu plausibellaquo42 weil er um den Erwartunshygen des Lesers entgegenzukommen stets Klischees und Topoi verwendet Das trifft auch fuumlr Wilkomirskis Bruchstuumlcke zu welches gerade aus diesem Grund auch namhafte Shoah-Ex- perten getaumluscht hat weil es sich sowohl struktureller als auch inhaltlicher Merkmale der autobiographischen Berichte uumlber die Shoah bedient43

Stellt man nun zum Schluss noch einmal die Frage ob man Wilkomirskis Shoah-Betrug viel fruumlher haumltte erkennen koumlnnen so lautet die Antwort absolut positiv Man haumltte ihn durchaus erkennen koumlnnen wenn man sich von der Sakralishysierung des Shoah-Zeugen nicht haumltte erpressen lassen und die konstruierte Natur des Zeugnisses eingesehen haumltte

Schon am Anfang von Bruchstuumlcke wird vom Leser der Verzicht auf die Logik dh auf das rationale Beurteilungsshyvermoumlgen verlangt Die vorausgeschickte raquoPoetik des Bruchshystuumlckhaftenlaquo erweist sich dann nur als ein rhetorisches Mittel das einerseits aus der Kenntnis der Literatur uumlber die traumashytische Erinnerung entstammt andererseits die starke Perspek- tivierung der Erzaumlhlung ermoumlglicht Diese Perspektivierung die das Produkt der Ausblendung des Unterschieds zwischen erlebendem und berichtendem Ich ist begruumlndet ihrerseits

42 Kluumlger (wie Anm 8) 22743 Vgl Lezzi (wie Anm 9) 137-140 Vgl auch Maumlchler (wie Anm 37) 6f

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Umschlagentwurf Doris Kern

unter Verwendung eines Bildes von CyTwombly Untitled 1961

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Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

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Hans Juumlrgen Scheuer

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Page 28: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

eine raquoPoetik des Nichtverstehens und des Nichterinnernslaquo Alle diese rhetorischen Kunstgriffe bestimmen die vertraushyensvolle Einstellung des Lesers dessen Glaumlubigkeit noch zushysaumltzlich durch die Struktur des Buches unterstuumltzt wird Der Leser wird naumlmlich nicht direkt mit den abstoszligendsten Graumlushyeln konfrontiert sondern erst allmaumlhlich an sie herangefuumlhrt indem diese zuerst als unbestimmte Traumlume als Erinnerungen oder moumlgliche Phantasien eines verwirrten Kindes vorgestellt werden Erst nach dieser Vorbereitung werden dem Leser die grausigsten Episoden im K Z als unmittelbar Erlebtes gezeigt In diesen Kapiteln buumlrgt nur die schockierende Wirkung auf den Leser fuumlr die Glaubwuumlrdigkeit des Erzaumlhlten Nach dieser Phase verschwinden im dritten Teil des Werkes die Graumluel fast vollstaumlndig und es bleiben nur allgemeine Bilder aus den Konshyzentrationslagern uumlbrig die das auffaumlllige Verhalten des zum Jugendlichen heranwachsenden Kindes erklaumlren sollen Damit wird aber im Leser die durch den mittleren Teil provozierte emotionale Aufwuumlhlung auf das gemaumlszligigtere Gefuumlhl des Ershystaunens und houmlchstens des leisen Zweifels herabgestimmt

Alle diese rhetorischen Strategien zum Zweck der Manishypulation des Lesers verraten unmissverstaumlndlich den Kitsch- Charakter von Bruchstuumlcke und der Kitsch ist nicht nur raquoimshymer plausibellaquo sondern auch stets gleichbedeutend mit Faumllshyschung

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Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

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Festschrift fuumlr Elmar Locher

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Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

Page 31: Alessandro Costazza DER »FALL WILKOMIRSKI«: SHOAH- KITSCH ...users.unimi.it/dililefi/costazza/Pubblicazioni/Wilkomirski... · den Kitsch und insofern auch die Fälschung viel früher

Inhalt

Joumlrg Jochen Berns Marianne Schuumlller

Ulrich Stadler

Isolde Schiffermuumlller Richard Faber

Ingo Breuer

Peter Kofler

R a lf Georg Czapla

Roland Reufi

Vorwort der Herausgeber 7

Lesen

Die Lesbarkeit der Wolken 13 Das Kleine lesenZu Stifters Kalkstein 3 1 Schreiben umschreiben und vorlesen Uber Kafkas Umgang mit der Erzaumlhlung Das Urteil 43 Benjamins Traum vom Lesen 64 Stimmen im Ohr Variationen uumlber ein Thema von Elias Canetti 80

Schreiben

Unsichtbare Haumlnde groszlige Gesten Notizen zu Briefkultur und Chironomie 107 Fiktionen des Edierens des Schreibens und des Lesens in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 124 Savonarola in Muumlnchen oder Der gescheiterte Bildersturm Zum Verhaumlltnis von aumluszligeren und inneren Bildern in Thomas Manns Erzaumlhlung Gladius D ei 143 Ein Schaumlrflein zum Scherflein Anmerkungen zu Karl Krausrsquo orthographischer Devianz 169

Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

Edieren

Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283

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Hans Juumlrgen Scheuer

Alessandro Costazza

Wolfram Groddeck

Aldo Haesler

Wolfgang Marx Peter Kofler

Vor den Trauerspielen Die Spur der gtRenaissancetragoumldielt in Druck- und Manuskript-Fassung von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels i8y Der gtFall Wilkomirskic Shoah-Kitsch als Ergebnis von Lesermanipulation 212

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Uumlberlegungen zu Poetologie und Textkritik von Robert Walsers Prosastuumlck Die Halbweltlerin 24j Die Anarchie des BarenAnreize zu einer literarischenChrematologie 260Elmar Locher als Verleger 280VeroumlffentlichungenElmar Lochers 283