Alex, Joe - Der Tod Spricht in Meinem Namen

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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Joe Alex Der Tod spricht in meinem Namen

Kriminalroman

Delikte Indizien Ermittlungen

Reihe

Die letzten Worte des Theaterstckes sind verklungen. Der Vorhang senkt sich, und im Saal herrscht tiefe, andchtige Stille. Endlich bricht donnernder Beifall los, und das Publikum verlangt nach dem Hauptdarsteller Stephen Vincy. Doch Vincy erscheint nicht. Die enttuschten Zuschauer, unter ihnen auch Inspektor Parker, Joe Alex und dessen Freundin Caroline Beacon, verlassen das Theater. Parker, der mit Alex und Miss Beacon den Abend im Klub der Grnen Feder ausklingen lassen will, erhlt dort die Nachricht, da Stephen Vincy ermordet in seiner Garderobe aufgefunden worden sei. Damit ist fr Inspektor Parker der nette Abend im Kreise seiner Freunde beendet, und der Dienst beginnt. Natrlich kann Alex der Bitte des Inspektors, ihn an den Tatort zu begleiten, nicht widerstehen. In Vincys Garderobe bietet sich ihnen ein seltsamer Anblick: Vincy liegt friedlich auf seinem Sofa nur der Dolch in seiner Brust strt das Bild , in der Hand hlt er einen weien Umschlag, und neben dem Sofa steht ein groer Korb mit herrlichen Rosen

Joe Alex

Delikte Indizien Ermittlungen

Der Tod spricht In meinem Namen

Reihe

Verlag Das Neue Berlin

Der Alte: Nein, ich spreche nicht heute abend. Ich habe einen Berufsredner bestellt, er spricht in meinem Namen.Du wirst schon sehen. Die Alte: Wird das tatschlich heute abend sein? Eugne Ionesco

I. EINE ETWAS ZU GROSSE HANDTASCHE

Als Inspektor Benjamin Parker, der in seinem tadellos geschneiderten Abendanzug durchaus nicht wie ein Beamter des Scotland Yard wirkte, an der Wohnungstr von Joe Alex klingelte, band sich dieser gerade die Krawatte. Auch er erinnerte kaum an einen Autor von Kriminalromanen. Er war ein groer, gutaussehender junger Mann, weder dster noch wortkarg, obwohl letztere Eigenschaft Amateurdetektiven gern zugeschrieben wird. Und niemand, der zum erstenmal Caroline Beacon sah, htte in ihr eine vielversprechende Archologin vermutet. Sie war ein auerordentlich schnes Mdchen, sehr ruhig, und hnelte mit ihrem blonden, zu einem langen Schweif gebundenen Haar eher einer Schauspielerin als einer jungen Wissenschaftlerin. Im Moment sa sie, bereits im Abendkleid, auf der Sessellehne und schaute Joe Alex zu, der mit seiner Krawatte kmpfte, bemht, die Hemdbrust nicht mit den Fingern zu berhren. Am Ende wirst du siegen, meinte sie leichthin.7

Der Mensch siegt schlielich immer ber die Materie Mit den Jahren, die vergehen, schwindet auch meine diesbezgliche berzeugung. Alex betrachtete lchelnd seine schne Freundin. Dann blickte er auf die Uhr und sagte, ohne von der Krawatte zu lassen: Ben Parker mte eigentlich gleich klingeln In dem Augenblick klingelte der Inspektor. Alex stellte ihn Caroline vor und wies auf einen Sessel, besann sich jedoch und rief: Junge, hilf mir blo! Der Inspektor band ihm die Krawatte, und alle setzten sich. Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, mein Wagen steht vor der Tr, sagte Alex. In fnf Minuten knnen wir an Ort und Stelle sein. Du solltest dich unbedingt noch strken, wandte er sich an den Inspektor und warf dann einen Blick auf Caroline. Trinkst du einen Schluck mit uns? Notfalls auch allein Miss Beacon lchelte bescheiden. Sie trinken Whisky wohl ohne Soda, Inspektor? Ich ebenfalls, aber etwas weniger. Joe schenkte ein und setzte sich. Gut, da ihr euch endlich kennengelernt habt, sagte er zufrieden. Ich habe es gern, wenn meine Freunde scharenweise auftreten. Caroline lchelte, whrend Parker leicht den Kopf neigte.8

Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, flsterte er und fgte dann mit normaler Stimme hinzu: Ich habe viel ber Sie gehrt, nicht nur von Joe. Allerdings war mir, als htte ich in der Presse von Ihrer Abreise gelesen. Sicherlich irre ich mich, doch als ber die Expedition nach Persien berichtet wurde, glaubte ich auf Ihren Namen gestoen zu sein. Nein, Sie irren sich nicht. Aber wir sind nicht gefahren, denn der Leiter der Expedition, Sir Thomas Dodd, ist schwer erkrankt. Dadurch waren viele Vernderungen notwendig, und die ganze Angelegenheit wurde um zwei Monate verschoben. Angeblich geht es ihm besser, aber ich glaube nicht, da er fahren kann. Sir Thomas mute operiert werden. Krebs Nun, lassen wir das Thema, das ist eine traurige Geschichte. Joe, rasch noch fr jeden einen Whisky, und dann wollen wir aufbrechen! Ich bin sehr neugierig auf diese Sthle Nett von Ihnen, Inspektor, da Sie uns eingeladen haben. Wir waren den ganzen Vormittag von Torquay mit dem Wagen unterwegs, so da ich kaum Zeit hatte, nach Hause zu fahren, um mich umzukleiden Der Inspektor bemerkte, da Caroline Beacon bei diesen Worten leicht errtete, whrend Alex nach der Flasche griff und eilig einschenkte. Als er diese Beobachtung blitzschnell in einen Zusam9

menhang mit den drei Koffern brachte, die in der Diele standen, begriff er, da Caroline Beacon wirklich heute den ganzen Tag mit Joe Alex im Wagen unterwegs gewesen war, aber kaum zu Hause vorbeigeschaut hatte und heute wahrscheinlich nicht mehr dorthin gelangen wrde. Er fragte sich, weshalb diese beiden interessanten, alleinstehenden jungen Leute, die mindestens seit einem Jahr einer ohne den anderen nicht auskommen konnten, nicht einfach heirateten. Doch Inspektor Parker hatte in seinem Leben schon vor ganz anderen Problemen gestanden, und dieses hier brauchte er zum Glck nicht zu lsen. Ihm fiel pltzlich nur ein, da die eigentliche Annherung zwischen Caroline und Joe Alex vor fast genau einem Jahr erfolgt war, als Joe und er das Rtsel um den Tod ihres gemeinsamen Freundes und Kriegskameraden Ian Drummond lsten Also ist schon ein volles Jahr vergangen, dachte er mit leiser Verwunderung, wie wir sie hufig angesichts der dahineilenden Zeit empfinden. Er schttelte diese Gedanken ab und sagte, um die unterbrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen: Diese Auffhrung soll wohl sehr modern sein. Und ich mu gestehen, da fr einen gewhnlichen Polizisten moderne Kunst etwas schwierig ist. Ich habe das Stck gelesen, erwiderte Caroline, und ich meine, da daran nichts Sonderbares10

ist. Es sagt einfach, da das menschliche Leben ein Nonsens ist, da es zu nichts fhrt, zu nichts dient, da keiner sich an den anderen erinnern wird und niemand einem anderen etwas erklren kann. Hm , brummte Parker, wenn ein solches Verhltnis eines lebendigen Menschen zum Leben nicht sonderbar ist, dann Er hielt inne und blickte auf die Uhr. Wir mssen jetzt gehen. Aber ich hoffe, Sie sind so freundlich und erklren mir das nach der Vorstellung, und zwar mit Ihren eigenen Worten, so da ich es auch verstehe. Nur Mut! brummte Alex, doch es war nicht ersichtlich, ob er damit den Inspektor oder Caroline meinte. Caroline erhob sich und nahm Parkers Arm. Die moderne Kunst dient dazu, das Unbewute im Menschen und die verborgenen Motive seines Handelns aufzudecken. Dann htte sie ja fast die gleiche Aufgabe wie die Polizei, sagte Alex lachend. Sie gingen hinunter zum Wagen. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Crosby Street und hielten vor einem hell erleuchteten Gebude, an dessen Fassade, in Hhe des ersten Stockwerks, eine flimmernde Leuchtschrift entlanglief: HEUTE DIE STHLE HEUTE DIE STHLE HEUTE DIE STHLE Sie betraten das Theater.11

Nur noch eine Zigarette! bat Alex. Sonst qule ich mich gegen Ende des Aktes. Wenn ich lnger als eine Stunde nicht rauche, werde ich unruhig. Im Rauchsalon herrschte noch lebhaftes Treiben. Sie setzten sich zu dritt an ein Tischchen, das ein wenig verborgen in einer Ecke stand, und steckten sich Zigaretten an. Die Vorstellung ist gut besucht, bemerkte Parker. Mir scheint, ein Autor, der den Menschen sagt, da ihr Leben keinen Sinn hat, verdient so viel daran, da wenigstens sein eigenes Leben sinnvoller wird. Alex lachte. Caroline schttelte mibilligend den Kopf und ffnete schon den Mund zu einer Antwort, doch da fesselte eine kleine Gruppe von Personen, die neben dem Eingang zum Foyer stand, ihre Aufmerksamkeit. Caroline deutete mit dem Blick in jene Richtung. Das sind sie, Joe. Die Familie von Sir Thomas Dodd. Seine Frau, die Tochter und ihr Verlobter. Ist das Anne Dodd? fragte Parker, indem er auf das hbsche junge Mdchen in dem einfachen, doch beraus eleganten Kleid wies. Ja. Haben Sie von ihr gehrt? Nicht viel. Ich wei nur, was in der Presse stand. Seit vierzehn Tagen ist sie eines der reichsten Mdchen in England. Eine Erbschaft, glaube ich. Ja. Ihr Groonkel ist gestorben, Sir Hugh Garry,12

der Kohlepotentat. Sie selbst war wohl am meisten erstaunt ber diese Erbschaft, denn sie lernte Sir Hugh als kleines Mdchen kennen und hat ihn nicht fter als fnf- oder sechsmal im Leben gesehen. Doch als sie ihn einmal whrend seiner Krankheit besuchte, sie war damals noch ein Kind, pflegte sie ihn hingebungsvoll, sie wich keinen Schritt von seinem Lager und weinte, wenn die Erwachsenen sie fortzubringen versuchten. Nach einigen Tagen wurde er gesund, und nichts deutete darauf hin, da er nach Jahren daran denken wrde. In seinem Testament schrieb er jedoch, dies sei der einzige Fall in den letzten vierzig Jahren seines Lebens gewesen, da ein Verwandter ihm uneigenntzig Sympathie bekundet habe. Nun ja, Geld bringt nicht immer Freude. So hat er also dieser einen Person, die ihm Mitgefhl zeigte, ohne mit seinem Geld zu rechnen, alles verschrieben. Er war brigens Junggeselle und konnte damit anfangen, was er wollte. Ja. Davon habe ich gelesen. Es war das krzeste Testament. Die Presse hat es ungekrzt zitiert: Ich verschreibe mein ganzes Vermgen, ohne jede Einschrnkung, meiner Verwandten Anne Dodd. Sollte sie jedoch, was Gott verhten mge, vor dessen Erwerb sterben, so geht es in das Eigentum meiner weiteren Familie ber, wobei mich nur beerben kann, wer mit mir durch Blutsbande verbunden ist, nicht durch Hei13

rat Auf diese Weise wurde dieses schne Mdchen die Besitzerin der astronomischen Summe von fnfundzwanzig Millionen. Wenn ich mich recht entsinne, soll die bergabe der Erbschaft in einigen Wochen erfolgen. Und dieser junge Mann erhlt die Summe zusammen mit ihrer Hand? fragte Joe. Ja. Zum Glck ist er selber reich genug, um nicht als Mitgiftjger zu gelten. Auerdem haben sie sich verlobt, ehe jemand auch nur davon trumen konnte, da Anne ein solches Vermgen erben wrde. Im Augenblick der Verlobung war er es eigentlich, der ein nicht sonderlich vermgendes Mdchen heiraten wollte. Er ist Charles Cresswell, Lord Conthorpes zweiter Sohn. Einer der besten Schtzen und Fechtmeister, die wir haben, bemerkte Parker. Ich hatte mal in einer Angelegenheit mit ihm zu tun, die einen seiner jungen Freunde betraf. Ein guter Junge. Sportler, aus guter Familie und ohne Beruf, mit einem Wort, er besitzt alles, was man von einem Englnder aus der Gesellschaft verlangt. Trotzdem sehen sie nicht so aus, als machten diese fnfundzwanzig Millionen sie besonders glcklich, bemerkte Alex. Sie wirken eher wie Leute, die mit tausend Pfund jhrlich auskommen mssen. Wahrscheinlich hat sich wieder Sir Thomas14

Gesundheit verschlechtert, sagte Caroline, aber wieso sind sie dann im Theater ? Auerdem hat Mama Dodd eine entsetzliche Handtasche. Hren wir auf, ber unsere Nchsten zu tratschen. Es gengt, da sie ber uns tratschen, brummte Alex, betrachtete aber trotzdem ein wenig genauer die Tasche, die Mrs. Angelica Dodd, Annes Mutter, in der Hand hielt. In der Tat, die Tasche war weitaus grer als die blichen Theaterwinzigkeiten und offenbar ziemlich ausgestopft. Angelica Dodd war keine sehr groe Frau, ihr Gesicht mit den feinen, ausdrucksvollen Zgen trug noch deutlich die Spuren einstiger Schnheit. In gewisser Weise war sie sogar schner als ihre Tochter, obwohl ihre Wangen nicht mehr die Frische besaen, die ber das zwanzigste Lebensjahr hinaus kaum erhalten bleibt. Sie stand zwischen den jungen Leuten und fchelte sich diskret mit dem Programm. Dann nickte sie Anne zu und wandte sich zum Foyer. Gehen wir! Caroline erhob sich aus dem Sessel und folgte den drei Personen, die soeben in der Tr verschwanden. Ein Klingelzeichen ertnte. Der Saal war gefllt. Das Licht wurde ein wenig dunkler, als wollte es mahnen, die Pltze rascher einzunehmen. Alex kaufte zwei Programme eines gab er Caroline, das andere Parker. Sie setzten sich. Ihre Pltze befanden sich in der Mitte der vierten15

Reihe. Dicht vor ihnen, etwas weiter links, sa Angelica Dodd, flankiert von ihrer Tochter und deren Verlobten. Hervorragende Pltze! Caroline lchelte Parker zu. Die vierte und fnfte Reihe sind mir am liebsten. Es ist nicht so nahe, da man die Schminke sieht, und doch nahe genug, um jede Zuckung im Gesicht des Schauspielers wahrzunehmen. Leute, die etwas von der Sache verstehen, behaupten brigens, da man sich von diesen Pltzen aus ein Stck ansehen sollte, weil dort der Regisseur sitzt, wenn er die Proben leitet. Alex beugte sich vor und warf einen Blick in das Programm, das Caroline auf dem Scho hielt. Er las die Besetzung: DER ALTE 95 Jahre alt Stephen Vincy DIE ALTE 94 Jahre alt Eve Faraday SPRECHER 45 bis 50 Jahre alt Henry Darcy sowie viele andere Personen Regie: HENRY DARCY Im selben Moment verlosch das Licht ganz. Fr eine Weile herrschte vllige Dunkelheit, die lediglich vom schwachen Schein der roten Sicherheitslmpchen ber den Eingangstren erhellt wurde. Doch sogleich flammten im Rcken der Zuschauer zwei groe Scheinwerfer auf und warfen16

ihr grelles Licht auf den Vorhang. Kaum wahrnehmbar fr das Publikum, ging der Vorhang hoch, und die Scheinwerferkegel hoben aus der Leere des Bhnenraums die Gestalten zweier alter Menschen ans Licht. Sie saen beide auf Sthlen und waren recht merkwrdig gekleidet. Der Alte trug eine lockere graue Jacke, die aus einem Sack genht zu sein schien. An den Schultern waren Epauletten befestigt. Die dunkelblaue Hose war nach Husarenart mit einem breiten roten Streifen versehen. An den Fen hatten sowohl er als auch die Alte abgetragene warme Hausschuhe. Die Alte steckte in einem unfrmigen Kleid, das in Schnitt und Farbe der Jacke des Alten hnelte. Alex, in den Anblick der Kostme und des Bhnenbildes vertieft, berhrte zwei oder drei Stze, doch gleich darauf erreichte der Text sein Ohr. Der alte Mann stand auf und trat an eines der beiden Fenster, die links und rechts in der Dekoration angebracht waren. Ich will schauen, die Boote auf dem Wasser machen Flecke auf die Sonne, sagte er trumerisch. Du kannst ja gar nichts sehen. Es scheint gar keine Sonne. Es ist Nacht, Schtzchen. Aber es ist noch Schatten. Der Dialog ging weiter, die Stze folgten rasch aufeinander, und Alex begriff sofort, von den ersten Worten an, da er Zeuge eines nicht alltgli17

chen Kunstereignisses war. Der Text entblte auf einfache und erschreckende Weise die Tragdie des heutigen Menschen, seine zerronnenen Hoffnungen, die unermeliche Einsamkeit, die unerfllten Trume und die platte Wirklichkeit des Daseins, dessen einziger Weg der Weg zum Grabe ist. Die Regiekonzeption war durch und durch modern. Die Schauspieler, die die alten Menschen darstellten, trugen Masken, die an griechische erinnerten und das Altsein symbolisierten. Stimmen und Bewegungen unterlagen nicht den Gesetzen des Alters, sondern demonstrierten die ewige, tragische Jugend und Naivitt des Menschen gegenber dem Schicksal. Auf diese Weise brauchten die Schauspieler nicht alte Menschen darzustellen, sondern schufen auf der Bhne etwas viel Wichtigeres: Sie gaben eine Synthese des Alters, sie spielten alle alten Menschen, in Vergangenheit und Gegenwart, was diesem erstaunlichen Stck nahezu die Dimension einer griechischen Tragdie verlieh. Alex blickte zur Seite auf Parker. Der Inspektor sa leicht vornbergeneigt, die Lider hatte er zusammengekniffen, und von Zeit zu Zeit nickte er unmerklich, gleichsam zur Besttigung. Caroline sa vllig regungslos, doch ihre Augen leuchteten wie zwei blaue Sterne. Das Stck war an dem Punkt angelangt, da der Alte, nachdem er alle Leute, die er in der Vergan18

genheit gekannt hatte und die heute noch etwas bedeuteten, zu sich geladen hatte und nun auf ihr Erscheinen wartete. Es kam natrlich niemand, aber die Vision der beiden Alten hielt an. Die imaginren Gste trafen nacheinander ein, und die alten Leute trugen zu allen Tren Sthle fr diese Schatten der Vergangenheit herein. Stephen Vincy war unvergleichlich, er verneigte sich vor der Luft, reichte die Hand, bot all den Unsichtbaren so suggestiv den Arm, da sich dieses Theater der Erscheinungen mit greifbaren Wesen zu fllen schien. Im Augenblick geleitete er einen neuen imaginren Gast herein: die Schne. Die tiefe, samtene Stimme des Schauspielers verwandelte sich pltzlich in das Gurren einer Taube: Ich bin furchtbar aufgeregt Sie sind es wirklich Ich habe Sie geliebt, es ist hundert Jahre her Sie haben sich so verndert Sie haben sich aber gar nicht verndert. Ich liebe Sie. Ich liebe Sie Und fast weinend sprach Vincy weiter: Wo ist der Schnee vom Vorjahr noch? Fasziniert von der Stimme des Schauspielers, berauscht von der tragikomischen Situation, vernahm Alex pltzlich ein leises, kurzes Schluchzen. Fr einen Moment wandte er den Blick von der Bhne ab. Wer weinte da? In England begegnete man selten Menschen, denen whrend einer Theatervor19

stellung Trnen kamen. Man war hier nicht in Italien, sondern in dem ruhigen, ausgeglichenen London. Zu seinem Erstaunen gewahrte er, da es Mrs. Angelica Dodd war, die weinte. Sie weinte nicht in des Wortes wahrer Bedeutung, aber sie betupfte sich mit dem Taschentuch die feuchten Augen. Merkwrdig, dachte Joe, dessen Leidenschaft es war, Menschen auf den ersten Blick einzuschtzen. Ich htte schwren knnen, da diese Frau ihre wahren Gefhle zu verbergen vermag, erst recht, wenn es sich um Theaterrhrung handelte. Doch Mrs. Dodd hob schon wieder den Kopf, und er bemerkte, da sie das Gesicht ihrer Tochter zuwandte und sie mit einem leisen, verzeihenden Lcheln bedachte. Kurz darauf ging der erste Teil der Vorstellung zu Ende, und die Lichter leuchteten auf.

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II. VIN-CY! VIN-CY! VIN-CY!

Das Klingelzeichen, das zum Einnehmen der Pltze rief, ertnte zum zweitenmal lang und durchdringend. Caroline trank den Kaffee aus, den Alex ihr vom Bfett gebracht hatte. Der Rauchsalon war vom Stimmengewirr erregter Gesprche erfllt. Die Leute diskutierten leidenschaftlich, die Anteilnahme war gro. Sie standen auf. Wenn ich mir das so ansehe, sagte Parker kopfschttelnd, als dringe dieser Gedanke erst jetzt in sein Bewutsein, begreife ich absolut nicht, weshalb die Menschen Verbrechen begehen. Entschuldigt bitte diesen beruflichen Tick, aber ein Verbrechen ist doch schlielich ein sehr ernstes Ereignis im Leben eines Mrders, meist das entscheidende. Wozu denn tten? Wozu die Existenz eines anderen Menschen vernichten, wenn er und ich und wir alle so hoffnungslos, so entsetzlich zum Tode verurteilt sind? Wre es da nicht anstndiger, sein Leben ruhig zu durchlaufen, darauf bedacht, da es ertrglich ist, sowohl fr uns als auch fr andere, die ebenso verurteilt sind wie wir?21

Nach diesem Stck sieht die Welt doch wie eine Gefngniszelle aus, aus der nur ein Weg hinausfhrt: zum Schafott. In der Zelle aber sollte Solidaritt herrschen. Ein Mrder, erwiderte Alex, denkt hnlich und doch ein wenig anders. Selbst wenn er, wie Ionesco, davon ausgeht, da alle Menschen sterben mssen und da von ihnen nichts Persnliches brigbleibt, so kann er doch auch zu dem Schlu gelangen, da man dann einen Menschen, den man hat, ruhig tten kann, weil man ja sein ohnehin unabwendbares Ende nur beschleunigt und sich selbst damit gleichzeitig ein angenehmes Leben schafft. Jedes Verbrechen hat sein grundlegendes Motiv. Indem der Mrder jemanden vernichtet, gewinnt er etwas: Schtze, Liebe, die Befriedigung seines Racheinstinkts. Manchmal ist es zu weit getriebene Notwehr, manchmal Leidenschaft. Doch jedes dieser Motive kann vom Mrder als absolute Notwendigkeit dargestellt werden, und je mehr die Literatur versuchen wird, die Menschen davon zu berzeugen, da ihre Existenz vorbergehend und nicht sonderlich wichtig ist, desto mehr werden sich die Mrder in ihren eigenen Augen gerechtfertigt fhlen. Zum Glck rekrutieren sie sich nur selten aus den Reihen der Liebhaber moderner Literatur. Genug! sagte Caroline. Einer von euch be22

schftigt sich damit, Menschen auf dem Papier umzubringen, und der andere, die Mrder in der Wirklichkeit zu fassen. Denkt jedoch daran, da neunundneunzig Prozent aller Menschen nie einen Ermordeten gesehen haben, und wre nicht die Presse, htten sie auch nicht von ihm gehrt. Verbrechen geschehen immer irgendwo weit weg, und niemand glaubt wirklich daran, solange er nicht damit in Berhrung kommt. Das Verhltnis zum Verbrechen gehrt nicht zu den grundlegenden Merkmalen einer Weltanschauung. Dessen bin ich nicht so sicher, bemerkte der Inspektor. Sie verstummten. Um das Thema zu wechseln, sagte Caroline: Man mu zugeben, da auch die Regie hervorragend ist. Vincy allerdings bertrifft sich selbst in der Rolle des Alten. Dann wollen wir mal ein bichen Eve Faraday loben. Weit du, da sie fnfundzwanzig Jahre alt ist? erklrte Alex. Sie ist ein groes Talent. Ja, aber In diesem Moment erloschen die Lichter. Caroline wandte sich ab und schaute unverwandt auf den herabgelassenen Vorhang, als wollte sie ihn mit den Blicken durchbohren und die handelnden Personen hervorholen. Die Scheinwerfer flammten auf.23

Die Pause hatte den Gang der Vorstellung nicht aufgehalten. Unterdessen waren auf der Bhne die Reihen der Sthle angewachsen, sie bildeten bereits ganze Berge und Schluchten, inmitten derer, wie in einer gespenstischen Landschaft, sich die Schauspieler bewegten. Die Ansammlung imaginrer Gste hatte schon phantastische Ausmae angenommen. Zweihundert, dreihundert Sthle und die beiden Alten trugen immer neue herbei. Die Atmosphre verdichtete sich zusehends. Der Alte und die Alte sprachen mit den nicht Anwesenden, tadelten sie, berschtteten sie, mit Komplimenten, geleiteten sie zu ihren Pltzen. Doch Alex, der kein Auge von den Schauspielern wandte, hrte einen etwas anderen Ton heraus als am Anfang. Vincy war hrter geworden, er war mehr Symbol denn Mensch, sein Text kam jetzt, als wollte er dem Zuschauer nicht sagen: Da bin ich, der Schauspieler, ich verwandle mich in die Gestalt, die ihr seht!, sondern vielmehr: Ich drcke nur diese Gestalt aus und mchte euch mit ihrer Hilfe mit den Ideen des Autors bekannt machen! Alex zog diese zweite Konzeption vor. Sie war weniger melodramatisch und dem heutigen, denkenden Menschen nher. Eve Faraday hingegen verlor sich etwas in ihrer Rolle und schien die gewaltige Konzeption, die sie24

sich im ersten Teil des Stckes auferlegt hatte, nicht durchzuhalten. Aber vielleicht drngte die blendende, sich mit jeder Sekunde steigernde Kreation ihres Partners sie einfach in den Schatten? Sie wirkte ein wenig grau angesichts dieses Feuerwerks menschlichen Geistes, zu dem Vincy allmhlich wurde. Doch die Schluszene mit dem Selbstmord des greisen Paars wurde dann doch noch zu einem groen Konzert des Spiels beider. Ihr Abschied auf dem Fensterbrett und dann der Sprung in die Tiefe, in das unten tosende Meer, waren erschtternd. So endet jeder Mensch, sagte Ionesco den Zuschauern, ohne Rcksicht darauf, wieviel Mhe er fr dieses Leben aufwendet und wie es ihm gelungen ist, das Leben zu meistern. Aber die Art und Weise, wie Vincy seinen selbstmrderischen Sprung ausfhrte, war unerwartet voller Herausforderung und Glauben, voller Optimismus und verwegener Naivitt. Ein Sprung in die Zukunft, nicht in das Nichts. Eve Faraday fiel hinunter wie ein Bndel, wie ein Gegenstand, der den Menschen begleitet. Der Wind blhte nun die Fenstervorhnge auf der Bhne, sie wehten wie Fahnen. Das Licht wurde allmhlich heller, intensiver, es erreichte den Kulminationspunkt und blendete fast die Zuschauer, denn es wurde von den weien, leeren Wnden der Dekoration zurckgeworfen. Durch die groe25

Mitteltr trat derjenige, welcher der Welt die Gedanken und Ideen des Alten bermitteln sollte. Es trat der Sprecher ein. Gekleidet war er genauso wie der Alte, aber er trug keine Maske. Sein Gesicht beschattete ein groer schwarzer Hut. Und erst jetzt spielte sich das eigentliche Drama ab. Aus dem Munde des Sprechers drang ein unartikuliertes Gestammel. Mehrmals setzte er zu dem an, was seine Ansprache darstellen sollte. Dann gab er es auf und schaute sich ratlos um. Neben ihm stand eine groe schwarze Tafel. Der Sprecher ergriff mit der linken Hand ein Stck Kreide und versuchte zu schreiben. Doch die Buchstaben ergaben das gleiche Gestammel, dessen Inhalt nur sein konnte: Es hat alles keinen Sinn, das menschliche Dasein ist unproduktiv, tragisch durch die Unmglichkeit des Handelns und die Unmglichkeit einer Verstndigung Der Vorhang senkte sich langsam. Im Saal herrschte weiterhin Stille, tiefe, konzentrierte Stille. Bis endlich donnernder Beifall losbrach. Der Vorhang hob sich. Mitten auf der Bhne stand noch der Sprecher. Die Ovationen, die ihm in diesem Moment zuteil wurden, waren eindeutig an ihn adressiert, an den Regisseur dieser erschtternden Vorstellung. Der Sprecher, Henry Darcy, verbeugte sich leicht. Doch die Zuschauer hrten nicht auf zu klatschen. Sie warteten auf die beiden Helden des Abends.26

Der Vorhang senkte sich und ging wieder hoch. Von links betrat mit leichtem, jugendlichem Schritt Eve Faraday die Bhne. Die Maske hielt sie vor sich in der Hand. Sie stand aufrecht und bot den Blicken der Zuschauer ihr schnes, helles Gesicht, das so unhnlich jenem anderen Gesicht war, das sie in der Hand hielt und das soeben noch eins war mit ihrer ganzen Gestalt. Der Beifall brandete wieder auf und schwellte ab. Brandete wieder auf. Vin-cy! rief eine einzelne Stimme, und sofort griffen andere diesen Ruf auf. Vin-cy! Vin-cy! Vincy! Die Blicke richteten sich nach rechts, woher er nach den Gesetzen der Bhnensymmetrie htte erscheinen mssen. Der Vorhang senkte sich noch einmal und ging noch einmal hoch, zeigte jedoch wieder nur Eve Faraday und Henry Darcy. Das Publikum klatschte unermdlich. Die Rufe Vincy! Vincy! unterbrachen die Bravorufe und lsten sich wieder im Beifall auf. Der Vorhang ging noch dreimal hoch. Eve Faraday und Henry Darcy standen reglos, gleichsam beschmt durch die Ovationen fr einen Abwesenden. Schlielich fiel der Vorhang endgltig. Im Zuschauerraum wurde es hell. Stephen Vincy war nicht erschienen. Die ein wenig enttuschten Zuschauer begaben sich langsam zu den Garderoben.27

Ist es nicht seltsam? sagte Caroline, whrend sie mit der Hand in den rmel des Mantels schlpfte, den ihr Parker hielt. Man sollte doch meinen, da es fr diese Leute, die mit unerhrtem Einsatz darum kmpfen, dem Publikum zu gefallen, eine groe Genugtuung sein mte, im Augenblick eines solchen Triumphes im Rampenlicht zu erscheinen. Ich habe Vincy schon oft gesehen und hatte immer den Eindruck, da er dies geniet. Bei anderen Vorstellungen war er sogar ein wenig altmodisch. Er legte die Hand aufs Herz, verneigte sich tief wie ein Schauspieler des vergangenen Jahrhunderts. Dabei gab es doch kaum einmal so elementare Ovationen. Eine solche Reaktion des Saals erlebt man selten. Aber heute ist er nicht herausgekommen. Vielleicht sind das gerade ihre Methoden, brummte Alex. Wenn ich euch so sehr gefalle, will ich so tun, als wre mir euer Beifall gleichgltig. Dann gewinne ich, auer der Bewunderung, auch eure Achtung. Ein solcher Gedankengang ist durchaus mglich. Aber vielleicht war er auch nur in Eile? Vielleicht wollte er rasch zu einem Rendezvous oder zum Zug? Inmitten der Menge, die sich jetzt noch angeregter unterhielt als whrend der Pause, verlieen sie das Theater und stiegen in den Wagen. Der Klub28

der Grnen Feder, dessen Mitglied Alex war, lag ein Stck Weges vom Chamber Theatre entfernt, so da sie erst nach einer Viertelstunde dort anlangten. Die ganze Zeit ber schwiegen sie, mit ihren Gedanken noch bei dem Stck. Erst als sie auf den bequemen, weichen Sthlen Platz nahmen und Alex einen Imbi und Getrnke bestellte, wich diese Stimmung. Ich danke Ihnen ganz herzlich fr die Einladung, sagte Caroline zu Parker. Das war ein unvergelicher Abend. Ich glaube, da wir noch oft darber sprechen werden Ach, schade, ich hatte eben nicht daran gedacht, da in Krze unsere Expedition auf die Reise geht Sie wurde nachdenklich und sah dann Alex an. Aber vielleicht raffen sich die Herren mal zu einem Besuch auf, wenn der Inspektor Urlaub hat? Parker lchelte. Wir kennen uns schon fast zwanzig Jahre, der hier anwesende Joe Alex und ich, und wir haben gemeinsam Tausende von Abenteuern erlebt, traurige und lustige. Aber in Persien waren wir zusammen noch nicht. Von dem Vergngen, Ihnen dort zu begegnen, natrlich ganz abgesehen. Hat die Expedition schon einen fest umrissenen Plan? Das heit, wissen Sie schon, was Sie ausgraben wollen und wo? Eine Unterhaltung ber Archologie kam. in Gang, und Alex hrte mit Vergngen, aber auch29

mit einer gewissen Verwunderung Caroline zu, die sich aus einem hbschen, nicht allzu klugen und nicht bermig geistreichen jungen Mdchen pltzlich in einen Menschen verwandelt hatte, der mit groer Sicherheit ber uerst komplizierte Dinge sprach, der die Daten und Fakten ber die Zeiten, von denen er, Alex, nur sehr verschwommene Vorstellungen aus seiner Schulzeit und aus einigen populrwissenschaftlichen Bchern hatte, frmlich aus dem rmel schttelte. Caroline, die Wissenschaftlerin, Caroline, die Forscherin, das war jemand ganz anderes als die Caroline im dekolletierten Abendkleid mit dem langen, hoch ber dem Nacken zusammengehaltenen Haarschweif. Man htte meinen sollen, die eine mte hlich und klug sein und eine Nickelbrille tragen, whrend die andere imstande sein sollte, angenehm ber moderne Kunst zu plaudern und ausgezeichnet zu tanzen. Auerdem durfte sie eine unverbindliche Freude fr den schwer arbeitenden Mann sein. Bisher hatte er nur letztere gesehen, jetzt begriff er, da Caroline, ehrlich gesagt, gebildeter war als er. Er unterbrach sie mit keinem Wort. Er hrte zu, als sie Parker die alte Geschichte der Lnder des Nahen Ostens so klar und leicht verstndlich, dabei aber auf so vollkommene Weise erklrte, da hier, in der Unterhaltung mit einem Laien, ihr groes pdagogisches Talent auf30

blitzte. Sie geriet dabei in Eifer, der Pferdeschwanz flog hin und her, wenn sie den schlanken, glatten Hals bewegte, und die jungen blauen Augen strahlten bald, und bald blickten sie nachdenklich. Parker lauschte ebenfalls mit groer Anteilnahme. Caroline hielt inne und lachte leise. Gie mir etwas ein, Joe! sagte sie. Ich habe mich verrannt. Die Archologie ist nicht nur mein Beruf, sondern auch meine groe und einzige Liebe. Ich knnte damit jeden zu Tode langweilen, sofern er es mir nur gestattet. Joe wurde sich pltzlich bewut, da sie noch nie mit ihm ber diese Dinge gesprochen hatte. Offenbar habe ich es ihr nicht gestattet, dachte er erstaunt. Caroline, sagte er, du bist die grte berraschung dieses Abends! Doch er irrte sich, denn im selben Augenblick beugte sich der Ober ber ihren Tisch und sagte halblaut: Mister Parker wird am Telefon verlangt. Ich bitte um Entschuldigung. Der Inspektor stand auf und entfernte sich. Caroline, sagte Joe, oh, meine schne Caroline. Nicht wahr? Ich bin nicht hlich. Hast du mich ein bichen gern? Mehr als mein Leben. Er wurde ernst. Sie lachte.31

Nein. Hab keine Angst. Ich werde dich nicht beim Wort nehmen und dich nicht heiraten. So ist es besser. Wir gehren zusammen, aber nur so weit, wie wir selbst es wollen. Und keiner zwingt uns zu irgend etwas. Wenn ich dich heiratete, wrde ich nur dauernd Staub wischen und lften. Wenn ich das jetzt mache, so denke ich mir, da ein wenig frauliche Anmut dabei ist, denn schlielich kehre ich wieder in meine eigene Wohnung zurck, und du bleibst allein und kannst tun, was du willst. Aber ich fhle mich wohl, so mit dir Und ich mit dir, sagte Joe Alex. Am liebsten wrde ich schon nach Hause gehen. Du setzt Teewasser auf, und dann hren wir im Radio Musik. Weit du, so ganz leisen Jazz. Ausgezeichnet, Joe. Und dann schlafen wir ein, und das Radio spielt bis zum Morgen. Wenn wir aufwachen, spricht es leise ber Rbenzucht oder ber einen Kongre der Postangestellten. Gut. Joe! La uns rasch das Essen beenden, und dann gehen wir Doch auch sie irrte sich, denn im selben Augenblick kehrte Ben Parker zum Tisch zurck und sagte, ohne sich zu setzen: Entschuldigt mich bitte, ich mu gehen. Weshalb? fragte Alex. Kann dir denn deine Arbeit nie eine ruhige Stunde gnnen? Ist etwas geschehen?32

Ja, erwiderte Parker. Er setzte sich, beugte sich zu ihnen vor und sagte halblaut: Stephen Vincy, der Darsteller des Alten in der heutigen Auffhrung der Sthle, wurde soeben in seiner Garderobe tot aufgefunden, mit einem Dolch im Herzen.

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III. VERGISS NICHT, DASS DU EINEN FREUND HAST

Caroline erstarrte, das Glas Wein an den Lippen, dann stellte sie es langsam zurck auf den Tisch, aber sie sagte kein Wort. Wieso denn? Joe sprang auf und setzte sich sofort wieder. Wann ist das geschehen? Das ist doch Er hielt inne. Wei man schon, wer ihn gettet hat? Vorlufig wei man noch gar nichts. In wenigen Minuten holt mich unser Wagen hier ab. Sergeant Jones ist schon an Ort und Stelle. Der Nachtportier hat den Toten gefunden und sofort den Theaterdirektor, Mister Davidson, angerufen, der wiederum mich kennt, so da er sich sofort mit meinem Apparat im Yard verbinden lie. Sergeant Jones hatte dort Dienst. Ich befahl ihm, an den Tatort zu fahren, denn von uns zum Chamber Theatre sind es nur wenige Schritte. Danach schickt er den Wagen gleich zu mir. Er mu jeden Moment hier sein Er schaute auf die Uhr, sah dann Alex voll an. Hast du Lust mitzukommen, Joe? fragte er ohne Umschweife.34

Ich? Ja, selbstverstndlich, wenn du meinst, da Deine Kenntnis des Milieus kann sich als sehr wichtig erweisen. Du weit bedeutend mehr ber das Theater als ich. Auerdem haben wir heute gemeinsam die Vorstellung gesehen Er wandte sich an Caroline: Entschuldigen Sie, Miss Beacon, das ist sicherlich sehr unhflich von mir. Wir sind zusammen hergekommen, und nun verlassen wir Sie pltzlich alle beide. Aber Er hob ratlos die Schultern. Selbstverstndlich! Caroline stand auf. Gehen wir. Gib mir nur die Schlssel zu deinem Wagen, Joe. Ich fahre damit nach Hause und bringe ihn dir morgen frh zurck. Als Parker sich entfernt hatte, um die Mntel aus der Garderobe zu holen, fgte sie halblaut hinzu: Gib mir rasch deine Wohnungsschlssel, denn meine sind in einem der Koffer, die bei dir stehen. Warte auf mich Joe berhrte leicht ihre Schulter. Ich kann Parker die Bitte nicht abschlagen, und auerdem in einer Stunde bin ich bestimmt zu Hause. Bist du nicht, aber das macht nichts. Die Mnner haben ihre Passionen, ebenso wie die Frauen. Ich schlafe wie ein Murmeltier, wenn du kommst. Weck mich, ja? Ich setze Teewasser auf, und dann knnen wir Jazz hren, so wie du wolltest. Das35

wird dir bestimmt guttun, denn in wenigen Minuten wirst du auf einen Toten blicken, und auf Tote blickt man nie ungestraft. Das erinnert uns immer an das Wichtigste Mein Gott, ich mu wohl sehr mde sein. Es ist entsetzlich. Da hat man einen Menschen umgebracht, den wir vor zwei Stunden gesehen und beklatscht haben, und ich denke daran, mich hinzulegen und zu schlafen. Wahrscheinlich bin ich von der Fahrt so mde Gib mir die Schlssel! fgte sie hastig hinzu, denn Parker erschien bereits mit den Mnteln. Joe drckte ihr unauffllig die Schlssel in die Hand. Auf Wiedersehen, Caroline, sagte er herzlicher als beabsichtigt. Herzlichkeit lag ein wenig auerhalb der Grenzen ihrer Beziehung. Sie behandelten sich immer wie Kameraden, manchmal wie Freunde, nie wie Verliebte. Zu dritt gingen sie hinunter auf die Strae. Caroline stieg in Joes Wagen und lie den Motor an. Sie winkte ihnen zu, und das Auto scho davon wie ein Torpedo. An der nchsten Kreuzung wre sie beinahe mit einer groen schwarzen Limousine zusammengestoen, die mit quietschenden Reifen und in voller Fahrt um die Ecke schleuderte und einen Augenblick spter vor den beiden Mnnern hielt. Steig ein! rief Parker.36

Diesmal war die Fahrt wesentlich krzer. Das Auto jagte dahin, als ginge es nicht durch die Stadt, sondern eine abgelegene Landstrae entlang. Zweimal schaltete der Fahrer vor greren Kreuzungen die Sirene ein, und die Limousine raste heulend dicht an den Stostangen der eilig bremsenden Autos vorbei. Ein groartiges Mdchen! sagte der Inspektor unerwartet. Was? fuhr Alex aus seinen Gedanken auf. Wer? Miss Caroline Beacon. Ich bin noch nie einer Frau begegnet, die auf eine solche Nachricht hin nicht hundert abwegige Fragen gestellt htte. Ein Schatz! Hast du wirklich jetzt darber nachgedacht? fragte Alex erstaunt. Nein. Aber ich mchte nicht ber diesen Mord nachdenken, ehe ich nicht etwas mehr erfahre. Nichts ist bei der Untersuchung eines Falles so hinderlich wie Voreingenommenheit oder ein Verdacht, den man im voraus fat. Dann ist man unwillkrlich versucht, die Fakten der eigenen These anzupassen, was fatale Folgen haben kann: Der Blick verliert an Schrfe, dadurch bleibt die Wahrheit leicht unbemerkt, die ja ohnehin meist anders aussieht, als wir uns das anfangs vorgestellt haben. Deshalb der Versuch, meine Aufmerksamkeit von diesem Mord abzulenken. Die Presse wird sich37

darauf strzen, es wird groes Aufsehen geben, schon wieder Deshalb mchte ich den Mrder innerhalb von vierundzwanzig Stunden hinter Schlo und Riegel haben. Ganz gleich, wie einfach oder schwierig das sein wird. Vielleicht gibt es schon Spuren, die es dir gestatten, ihn in einer halben Stunde festzunehmen. Parker schttelte den Kopf. Mir gefllt die Sache schn jetzt nicht sehr. Wenn der Schauspieler nicht herausgekommen ist, um sich zu verbeugen, und dann in seiner Garderobe geblieben ist, ohne da einer seiner Kollegen oder wenigstens der Garderobier bemerkt htten, da etwas nicht in Ordnung ist, dann bedeutet das doch, da der Mrder nicht im Affekt, sondern mit berlegung gehandelt hat, da er den entsprechenden Augenblick abpate, um die Spuren hinter sich zu verwischen Aber greifen wir den Tatsachen nicht vor. Das meine ich auch. Er kann doch ebensogut eine Stunde nach der Vorstellung gettet worden sein. Vielleicht hat er Besuch bekommen, oder es hat ihm jemand aufgelauert. Parker legte den Finger an die Lippen. Lassen wir die Prophezeiungen. Warten wir ab. In diesem Moment bremste der Wagen kurz.38

Alex blickte aus dem Fenster und bemerkte, da sie am Haupteingang des Theaters vorbeifuhren und in eine schmale, stille Gasse einbogen. Nach einem Dutzend Yards hielt das Auto. Sie stiegen aus. Vor ihnen befand sich der Nebeneingang des Chamber Theatre. Einige Steinstufen fhrten zu einer verglasten, mit einem kunstvollen Gitter versehenen Tr hinauf. Daneben verkndete ein blitzendes Schild: CHAMBER THEATRE EINGANG NUR FR DAS THEATERPERSONAL. Parker sprang sofort die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Das Quietschen der Bremsen hatte eine groe, breitschultrige Gestalt in Polizeiuniform auf den Plan gerufen. Wohin wollen Sie ? Der Polizist verstummte. Er gab die Tr frei und salutierte in strammer Haltung. Guten Abend, Herr Inspektor. Entschuldigen Sie bitte, da ich Sie nicht erkannt habe. Guten Abend, Constable, antwortete Parker und schaute sich um. Der Eingang wurde von einer starken Glhbirne beleuchtet, die ber dem Fensterchen der Portierloge angebracht war. Der gelbe Vorhang hinter der Scheibe war zugezogen. Von der Loge fhrten einige Stufen zu einem kleinen Podest hinauf. In der Wand zur Linken befand sich eine geschlossene Tr mit der Aufschrift: GARDEROBE DES TECH39

NISCHEN PERSONALS, dahinter ging ein Korridor ab, aus dem gerade der junge, pausbckige Sergeant Jones auftauchte. Guten Abend, Chef! Er bemerkte Alex und hob erstaunt die Brauen, doch im nchsten Augenblick hellte sich sein Gesicht auf. Guten Abend, Sir. Da begegnen wir uns also wieder unter so schrecklichen Umstnden. Daraus wird sicherlich ein neues Buch, nicht wahr? Jones! sagte Parker. Ihre literarischen Interessen werden Sie auerhalb der Dienststunden befriedigen. Vorlufig berichten Sie, was hier geschehen ist. Jawohl, Chef! Die Leiche fand der Nachtportier , Jones blickte auf die Uhr, vor zwanzig Minuten, um zwlf Uhr fnf, als er nach dem Schichtwechsel seinen Rundgang durch das Gebude machte, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Er rief sofort Direktor Davidson an, der sich mit uns in Verbindung setzte. Direktor Davidson ist in seinem Zimmer und wartet auf Sie, Chef, so wie Sie das gewnscht haben. Soviel ich sehen konnte, wurde Stephen Vincy durch einen Dolchsto gettet. Oder er hat sich selbst umgebracht, obwohl das unwahrscheinlich ist. Er liegt in seiner Garderobe auf der Chaiselongue. Mehr wei ich vorlufig nicht. Arzt, Fotograf und Daktyloskop sind benachrichtigt und mssen gleich hier sein. Weder40

Direktor Davidson noch der Portier haben irgend jemanden ber das Verbrechen informiert, so da auer ihnen und uns noch kein Mensch etwas wei. Der Bursche, der Stephen Vincy erdolcht hat, wei es ebenfalls, erwiderte Parker mit einem dsteren Lcheln, aber hoffen wir, da er in Krze noch ein paar andere Dinge erfhrt, die fr ihn weniger angenehm sein drften als das Morden von Schauspielern in ihren Garderoben. Gehen wir! Sie stiegen die Stufen hinauf und bogen in den Korridor ein. Dort gab es nur eine einzige Tr, auf der linken Seite, ziemlich weit hinten; am Ende des Korridors ging im rechten Winkel ein breiter Gang ab. Gegenber der Tr, an der kahlen Wand, prangte in groen, schwarzen Lettern die Aufschrift RUHE! Dieses Zimmer hier, Chef! sagte Jones und wies auf die einzige Tr im Korridor. Vor der Tr stand ein groer, untersetzter Mann in Zivil. Beim Anblick des Inspektors nahm er Haltung an. Ist das Vincys Garderobe? Ja, Chef. Stephens! Der Mann in Zivil trat nher und stand stramm. Gehen Sie zu Direktor Davidson, der mich erwartet, und sagen Sie ihm, da es noch eine Weile41

dauern wird. Ich habe vorher noch gewisse Formalitten zu erledigen. Jawohl, Chef. Detektiv Stephens machte kehrt und verschwand in dem nach rechts abbiegenden breiten Gang. Wo ist der Nachtportier, der den Toten gefunden hat? In der Portierloge. Aber ich habe ihm befohlen, den Vorhang zuzuziehen, und ihm verboten, im Gebude umherzulaufen. Er wartet, bis Sie ihn rufen, Chef. Soll ich ihn holen? Noch nicht. Vorlufig sehen wir uns mal den Tatort an, ehe der Arzt und die brigen Leute kommen. Wir mchten ungestrt sein, Jones. Benachrichtige mich, wenn die anderen eintreffen. Komm, Joe. Jawohl, Chef, sagte Jones. Parker trat zu der nur angelehnten Tr auf der linken Seite des Korridors und stie sie leicht mit dem Fu auf. Auf den Korridor fiel ein schmaler Streifen grellen Lichts. Der Inspektor lie Alex den Vortritt, whrend er die Klinke frsorglich mit dem Ellenbogen schtzte. In Stephen Vincys Garderobe war es ungewhnlich hell. Von der Decke hing eine mehrere hundert Watt starke Glhbirne herab, und zu beiden Seiten eines groen Spiegels, der auf einem niedri42

gen Toilettentisch lehnte, brannten zwei groe Wandleuchten. Davor stand ein bequemer, einfacher Stuhl mit Lehne. Die rechte Wand nahm fast gnzlich ein groer, zweitriger Schrank ein, links stand ein Tischchen mit zwei Sthlen und gegenber der Tr eine schmale, mit hellem, geblmtem Stoff bezogene Chaiselongue. Auf der Chaiselongue lag Stephen Vincy, lang ausgestreckt, die linke Hand auf dem Herzen; die rechte hing kraftlos herab und berhrte fast den Fuboden. Dicht vor der Chaiselongue stand ein groer Korb mit roten Rosen, schlank und elegant wie Balletteusen. Der Inspektor trat nher und beugte sich ber den Leichnam. Alex gesellte sich zu ihm, und so blickten sie beide eine Weile schweigend auf den Toten. Die auf der Brust liegende Hand des Toten umschlo den Griff eines Vergoldeten Dolches, als wollte sie ihn aus der Wunde reien oder als ruhte sie nach dem selbstmrderischen Sto aus. Wahrscheinlich war es eine letzte Reflexbewegung des Sterbenden gewesen: der Wunsch, sich von dem Fremdkrper zu befreien. Die Wunde mute schrecklich sein, denn der Dolch war bis zum Griff eingedrungen. Das sieht nicht nach Selbstmord aus, murmelte Parker. Es ist nicht einfach, sich ein Messer so tief hineinzustoen, wenn man auf dem Rcken43

liegt. Eher kommt Mord in Frage. Der Arzt wird wohl das gleiche sagen. Obwohl es selbstverstndlich besser wre, wenn es sich um Selbstmord handelte Er hielt inne und fgte nach einer Weile ebenso leise hinzu: Viel besser Wenn jemand sich das Leben nimmt, dann macht er zwar eine Dummheit, aber er nimmt nur, was ihm gehrt. Nimmt er es jedoch einem anderen Wieder hielt er inne. Ja. Es wird wohl doch Mord sein. Der Mrder hat sich vorgebeugt und das ganze Gewicht seines Krpers in den Sto gelegt. Vincy starb im Bruchteil einer Sekunde Und was meinst du? Alex antwortete nicht. Er stand da und blickte in das schne, fast ruhige Gesicht des toten Schauspielers. Die ersten grauen Haare an den Schlfen. Dichte, dunkle Brauen. Groer, sinnlicher Mund. Gerade, prchtige Nase. Wie anders dieses Gesicht als jenes, das seine Maske am Abend auf der Bhne dargestellt hatte. Jenes war alt und unbeweglich gewesen. Dieses zeugte selbst nach dem Tode von Lebenslust. Vincy trug noch immer sein merkwrdiges Kostm, das ihn teils als Militrperson, teils als Pensionr darstellte. Eine graue, sackhnliche, unfrmige Jacke mit steifen Epauletten auf den Schultern. Husarenhosen mit einem breiten roten Streifen44

und weiche Hauspantoffeln an den Fen. An der Stelle, wo die Klinge steckte, war ein schmaler, dunkler, feuchter Rand sichtbar. Darber hinaus war kein Blut zu sehen. Aber auf der rechten Brustseite zeichnete sich, auf dem hellgrauen Jackenstoff ein greller roter Streifen ab. Parker beugte sich darber. Schminke, nicht wahr? fragte Alex, ohne sich zu bewegen. Ja Der Inspektor richtete sich auf. Mit dem Verbrechen hat das nichts zu tun, brummte Alex. Es ist whrend der Vorstellung passiert, in dem Moment, wo die Alte den Alten umarmt und das Gesicht an seine Brust schmiegt. Eve Faraday ist wesentlich kleiner als er, da mute sie ihn einfach beschmieren Er zeigte auf Vincys Gesicht. Sie sind beide tchtig geschminkt, denn der Regisseur verwendet in dieser Auffhrung ungewhnlich starke Scheinwerfer. Betrachte ihn genauer: Er hat eine dicke Schicht Schminke auf den Lippen, ebenso ist die Umrandung der Augen nachgezeichnet. Das brige Gesicht hat er sich natrlich nicht geschminkt, da er in einer Nylonmaske spielte. Ja Parker beugte sich noch einmal ber den Toten. Ohne den Dolch zu berhren, las er die Inschrift: Vergi nicht, da du einen Freund hast. Wie? Alex verstand nicht. Der Inspektor rief ihn durch eine Handbewegung nher heran. Joe45

bckte sich. Auf dem Griff war die Inschrift graviert, die Parker soeben vorgelesen hatte. Vergi nicht, da du einen Freund hast Der Inspektor kratzte sich am Kopf. Ich will hoffen, da der Tod nicht von der Hand einer geheimen Vereinigung oder Sekte erfolgt ist. Aber so etwas gibt es ja wohl nicht mehr. Der letzte Fall dieser Art ereignete sich im Jahre achtzehnhundertneunundneunzig. Das zwanzigste Jahrhundert ist da weit weniger romantisch. Die Menschen tten ausschlielich aus persnlichen Motiven. Doch warten wir ab. Vielleicht war es doch Selbstmord? Da er keine Antwort vernahm, wandte er den Kopf, um zu sehen, was mit Alex war. Joe stand vor dem Blumenkorb und betrachtete die Rosen. Sie sind herrlich , flsterte er. Genau am richtigen Ort. Der Verstorbene ruhte inmitten eines Blumenmeers So heit es doch in den Zeitungen, nicht wahr? Er betrachtete noch einmal den Korb und beugte dann tief den Kopf. Nach einer Weile legte er sich auf den Fuboden neben die Chaiselongue. Worum geht es? fragte der Inspektor. Pa auf, da du nicht irgend etwas berhrst. Alex schttelte schweigend den Kopf und schob sich dann bis zu den Schultern unter die Chaiselongue, bemht, von innen in die halbgeschlosse46

ne Hand des Toten zu blicken, die den Fuboden berhrte. Er hlt etwas in der Hand, sagte er, ein zerknlltes Stck Papier. So? Parker kniete sich hin. Das mu leider noch warten. Ich will nichts anfassen, ehe nicht der Daktyloskop und der Arzt kommen Es klopfte, und im Trspalt erschien Sergeant Jones pausbckiges Gesicht. Alle sind schon da, Chef: Doktor, Fotograf und Daktyloskop. Her mit ihnen, sagte Parker und folgte ihm auf den Korridor. Alex klopfte sich den Anzug ab und schaute sich um. Irgend etwas fehlte ihm in diesem Bild. Aber was? Er blieb stehen und schaute sich noch einmal stirnrunzelnd um, bemht, den Gedanken, der irgendwo in der Tiefe des Hirns steckte, an die Oberflche des Bewutseins zu ziehen. Nachdenklich rieb er sich die Stirn. Nein. Er kam nicht darauf. Dabei htte er schwren knnen, da er es wute, da er im nchsten Augenblick ausrufen wrde: Ich habs! Er ging zur Tr, blickte noch einmal auf den Leichnam Stephen Vincys und die ihn umgebenden Gegenstnde zurck und trat auf den Korridor, wo Parker mit halblauter Stimme den um ihn versammelten Leuten Instruktionen erteilte. Nun, dann an die Arbeit, meine Herren!47

schlo er. Vor allem mchte ich den Zettel sehen, den der Tote in der Hand hlt. Rufen Sie mich, wenn es soweit ist. Ich mchte nicht auch noch hineingehen und bei der Arbeit stren. Es werden sich ohnehin gengend Leute gleichzeitig in der Garderobe aufhalten. Er nickte Alex zu, und als dieser zu ihm aufschlo, lenkten sie ihre Schritte zur Portierloge.

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IV. IM THEATER WAR ER VERHASST

Als sie vor der Portierloge anlangten, ging der Inspektor hinein und bedeutete diskret dem diensthabenden Polizisten, den Raum zu verlassen. Der Polizist rckte das Riemchen unterm Kinn zurecht und ging hinaus. Parker setzte sich und bot den anderen Stuhl dem grauhaarigen, bleichen Mann an, der sich bei ihrem Eintritt erhoben hatte. Sie sind der Nachtportier dieses Theaters, nicht wahr? Ja, Sir! Der Mann sprang auf, doch auf ein Zeichen des Inspektors hin setzte er sich wieder. Wie heien Sie? Soames, Sir, George Soames. Arbeiten Sie schon lange hier? Achtunddreiig Jahre, Sir. Auf demselben Posten? Jawohl, Sir. Erzhlen Sie uns, wie Sie den Leichnam gefunden haben. Parker holte sein Notizbuch hervor. Alex lehnte an der Wand und betrachtete das Gesicht des alten49

Mannes. Man sah es ihm an, da Vincys Tod oder vielleicht auch einfach die Tatsache, da er es war, der die Leiche entdeckte, groen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Ich bin also wie immer um zwlf gekommen, um Gullins abzulsen Gullins? Ist das der Tagesportier? Ja, Sir, alle vierzehn Tage wechseln wir die Schicht. Mal hat er Nachtschicht und ich Tagschicht, und dann umgekehrt. Gut. Sie sind gekommen, um Gullins abzulsen, was weiter? Ich bin hereingekommen, Sir, und da hat er schon auf mich gewartet. Eine Weile haben wir ber dies und jenes geredet, wie immer Wie lange haben Sie sich unterhalten? Vielleicht eine Minute oder zwei, Sir. Dann ist er gegangen. Ich habe hinter ihm die Tr abgeschlossen und gleich mit meinem Rundgang begonnen; durch alle Garderoben und ber die Bhne, das ist Vorschrift. Es mu immer nachgesehen werden, ob nicht jemand leichtfertig einen Brand verursacht oder ob vielleicht irgendein Kabel einen Kurzen hat. Das ist ein Theater, Sir, hier arbeiten viele Leute, und Unvorsichtige gibt es berall Manchmal glimmt so ein Feuer mehrere Stunden, ehe es ausbricht Ja. Sie haben also Ihren Rundgang begonnen.50

Ich habe die Tr zur Garderobe des technischen Personals geffnet, mich dort umgeschaut und bin dann weitergegangen Und wenn in diesem Augenblick jemand am Eingang klingelt, was dann? Nachts hat eigentlich keiner etwas im Theater zu suchen, wenn nicht gerade Nachtprobe ist. Aber selbst wenn es mal passieren sollte die Nachtklingel ist sehr laut, und wenn es im Theater still ist, dringt sie berallhin, Sir. Ich wrde sie also bestimmt hren. Gut. Was war weiter? Ich ging den Korridor hinunter, und die erste Garderobe war die von Mr. Vincy. Durch das Schlsselloch habe ich Licht gesehen, und obwohl Gullins mir nichts gesagt hat, da Mr. Vincy noch im Theater ist, habe ich doch lieber erst angeklopft. In diesen achtunddreiig Jahren im Theater hat man schon so manches erlebt. Vielleicht war jemand bei Mr. Vincy? Schauspieler haben zuweilen so spte Gste. Irgendwelche Damen, die sie besuchen Sie wissen ja, Sir, die Atmosphre der Theatergarderobe hat solche Anziehungskraft Ja, ich wei. Und weiter? Ich habe also angeklopft. Und als niemand antwortete, habe ich noch einmal geklopft. Als auch diesmal niemand antwortete und ich sah, da von innen der Schlssel steckt, habe ich die Tr51

geffnet, denn ich dachte mir, da Mr. Vincy bestimmt vergessen hat, das Licht zu lschen, als er ging. War die Tr abgeschlossen? Nein. Ich habe nur die Klinke heruntergedrckt, da ging sie auf. Zuerst habe ich gedacht, da Mr. Vincy schlft oder vielleicht einen Schluck zuviel getrunken hat, Sir. Solche Dinge habe ich oft genug erlebt. Dann ruft man ein Taxi und trgt zusammen mit dem Chauffeur den Betreffenden zum Auto, damit er zu Hause aufwacht. Ja. Aber Mr. Vincy hat nicht geschlafen. Richtig, Sir. Wie ich also nher trat und sah, da ihm dieser Dolch im Herzen steckte, war ich vor Schreck wie gelhmt und fing an zu zittern, ich konnte mich nicht bewegen, aber auch nicht den Blick von ihm losreien. Doch dann habe ich mich berwunden und trat nher, um zu sehen, ob er noch lebt. Ich habe mich gezwungen, ihn zu berhren Was haben Sie berhrt? Seine Stirn, Sir. Ich habe ihm die Hand auf die Stirn gelegt, aber die war schon ganz kalt. Mir wurde klar, da er tot ist, und da standen mir die Haare zu Berge. Schlielich war ich allein im ganzen Gebude, und der Mrder konnte sich irgendwo hier versteckt halten. Ich lief also aus der Garderobe, rannte zu meiner Portierloge, schlo mich ein52

und rief Herrn Direktor Davidson an. Dann habe ich mich nicht mehr von der Stelle gerhrt, bis die Polizei und der Herr Direktor kamen, ich habe nur gebetet und gewartet Konnte der Mrder, falls er noch im Hause war, in der Zwischenzeit fliehen? Fliehen, Sir? Der Alte berlegte. Auf keinen Fall, Sir. Das Theater wurde vor zwei Jahren umgebaut, und der ganze rckwrtige Teil der Bhne ist vom Zuschauerraum durch eine feuerfeste Wand abgegrenzt. In dieser Wand gibt es nur drei kleine Durchgnge, die von dem Gang aus hinter die Kulissen fhren, und einen schmalen Korridor zum Foyer. Aber die haben alle Stahltren und automatische Schlsser. Nach der Vorstellung verschliet sie der Inspizient und gibt den Schlssel beim Portier ab, so da dies hier der einzige Ausgang ist. Die Fenster sind ebenfalls vergittert, noch aus der Zeit, als sich in diesem Hause das Komdientheater befand, vor fnfzig Jahren. Ich war damals noch ein kleiner Junge Moment mal Parker ging auf den Korridor hinaus, und Joe hrte, wie er zu Jones sagte: Nehmen Sie ein paar Leute und durchsuchen Sie das ganze Theater vom Boden bis zum Keller. Stellen Sie fest, ob der Mrder das Haus verlassen konnte oder ob nicht irgendwo ein Fenster oder eine Tr aufgebrochen ist.53

Jawohl, Chef. Parker kehrte in die Portierloge zurck. Wre es nicht mglich, da dieser Gullins, Ihr Kollege, eine fremde Person durchgelassen hat, ohne sie zu bemerken? Das wei ich nicht, Sir. Ich glaube es nicht, denn von hier aus sieht man die ganze Treppe, Sir, und wenn das Personal gegangen ist, wird die Tr abgeschlossen, also wohl kaum. Weshalb sollte Gullins die Tr abschlieen, wenn Mr. Vincy doch noch gar nicht gegangen war? Das eben wei ich nicht, Sir Der Alte zgerte. Als ich kam, war die Tr abgeschlossen Haben Sie mir noch etwas zu sagen? fragte Parker rasch. Nein, nein, nichts Der Alte zgerte wieder. Nein, nichts, Sir. Denken Sie daran, da hier ein Mensch ermordet wurde! Der Inspektor stand auf und trat zu ihm. Wenn Sie irgendeine Kleinigkeit bemerkt haben, und sei es die geringste, drfen Sie sie nicht verheimlichen, selbst wenn Sie der Meinung sein sollten, da sie keinerlei Bedeutung hat. Jawohl, Sir! Der Portier sprang auf und nahm dienstliche Haltung an. Setzen Sie sich. Parker legte ihm die Hand auf die Schulter und zwang ihn, sich zu setzen. Ohne54

die Hand herunterzunehmen, beugte er sich ber ihn. Sprechen Sie, Soames, aber sagen Sie die ganze Wahrheit, sonst knnten Sie zur Verantwortung gezogen werden, weil Sie der Polizei Informationen, die fr die Untersuchung wichtig sind, verheimlicht haben. Aber das ist doch nichts Wichtiges, Sir, denn Darber werde ich befinden. Sprechen Sie, bitte. Also, Sir, es handelt sich nur darum, da dem Gullins gestern ein Kind geboren wurde. Gestern nacht. Ein Sohn Er hat also die ganze letzte Nacht nicht geschlafen, und anschlieend ist er natrlich zur Arbeit gekommen Ja, und? Na ja, als ich kam und an die Tr klopfte, antwortete er nicht. Ich mute ein paarmal klingeln. Erst dann ist er wach geworden. Aber sagen Sie das bitte nicht Herrn Direktor, sonst wrde Gullins die Arbeit verlieren Dabei seine Frau hat ihm doch gerade das dritte Kind geboren Das wre schrecklich fr ihn! Ich verstehe. Keiner wird davon erfahren, der es nicht erfahren mu. Aber welche Bedeutung hat das Ihrer Meinung nach? Na, die Bedeutung, Sir, da er, William Gullins, verpflichtet war, ein Viertel vor zwlf alle Garderoben und die Bhne zu kontrollieren, um55

mir das Theater nach seinem Rundgang zu bergeben. Das ist Vorschrift. Wenn er also geschlafen hat, so heit das, da er den Rundgang nicht gemacht hat. Sonst htte er Mr. Vincy gefunden. Auerdem war er wohl schlfrig und hat nicht auf das Schlsselbrett geschaut, sonst htte er bemerkt, da der Schlssel zu einer Garderobe fehlt. Und wenn dieser Schlssel gefehlt hat, dann war er verpflichtet nachzusehen, weshalb. Beim Hinausgehen geben alle ihre Schlssel ab. Die Schlssel zu den einzelnen Garderoben geben immer die Garderobiers ab, weil sie etwas lnger bleiben als die Schauspieler, um die Garderoben in Ordnung zu bringen. Ich wei nicht, wie das heute war. Wahrscheinlich hat Mr. Vincy Ruffin fortgeschickt Wer ist Ruffin? Oliver Ruffin ist der Garderobier, der in den Sthlen Mr. Vincy bedient hat. Ich verstehe. Das heit also, da Ihrer Meinung nach Gullins eingeschlafen ist. Und wenn er geschlafen hat, dann kann hier sonst etwas passiert sein. Ist es so? Ja, Sir. Aber sagen Sie es bitte Sie knnen ganz beruhigt sein. Uns geht es darum, den Mrder zu finden, und nicht um die Frage, ob Ihr Kollege, der ja wohl mde sein durfte, wenn er die ganze vorherige Nacht auf einen Stammhalter warten mute, die Vorschriften ein56

gehalten hat. Haben Sie keine Angst, es wird ihm nichts passieren, wenn er uns die Wahrheit sagt. Und Sie knnen berzeugt sein, da er sie sagt. Direktor Davidson wird nichts erfahren. Ich danke Ihnen, Sir Der alte Mann erhob sich. Soll ich gehen, Sir, oder bis zum Ende meines Dienstes hierbleiben? Parker sah ihn aufmerksam an. Sind Sie verheiratet? Ich bin Witwer, Sir. Und Sie haben Kinder? Zwei Tchter, Sir. Wohnen die bei Ihnen? Nein, Sir. Sie sind beide verheiratet. Die eine lebt in Schottland und die andere gar in Australien. Ihr Mann hat dort Arbeit bekommen. So wohnen Sie also allein? Ja, Sir. Gut. Gehen Sie nach Hause, aber da Sie zu keinem Menschen auch nur ein Sterbenswrtchen sagen, bis Sie sich morgen frh wieder hier melden. Jetzt schlafen Sie noch ein wenig. Heute nacht wird die Polizei an Ihrer Stelle das Theater bewachen. Er lchelte. Aber denken Sie an Ihre Schweigepflicht. Jawohl, Sir. Und sparen Sie sich den Weg zu Gullins, um ihn zu warnen, da die Polizei von seiner Neigung57

wei, whrend der Arbeit zu schlafen, denn in einer Minute fhrt ein Auto zu ihm und berholt Sie sowieso. Der alte Mann blieb wie angewurzelt stehen, doch dann huschte ein Lcheln ber sein runzliges Gesicht. Aber Herr Direktor Davidson erfhrt doch nichts, nicht wahr? Ich sagte es Ihnen schon. Nun, dann kann ich beruhigt schlafen gehen. Von mir erfhrt kein Mensch etwas. Gute Nacht, meine Herren! Gute Nacht, Soames! Der Portier ging hinaus. Im Fensterchen erschien das Gesicht des diensthabenden Polizisten. Parker nickte, und im nchsten Augenblick wurde an die Tr geklopft. Ich bins, Chef, sagte Sergeant Jones. Wir haben das Theater durchsucht wie einen Heuhaufen, aber eine Stecknadel haben wir nirgends gefunden. Alle Eingangstren und Fenster sind in Ordnung. Es gibt sogar eine Alarmanlage im Haus, ebenfalls unberhrt. Der Mrder mute hier durch diese Tr hinausgehen. Gut. Lassen Sie sofort den Portier holen, der Tagdienst hatte. William Gullins heit er. Haben Sie die Adresse? Wir haben bereits die Adressen des gesamten58

Personals und aller Schauspieler. Es fhrt gleich jemand los, um ihn zu holen. Wenn man ihn bringt, soll er hier, in der Portierloge, auf mich warten. Jawohl, Chef. Parker wandte sich an Alex. Ich mache dich jetzt mit Herrn Direktor John Davidson bekannt, dem Alleinherrscher dieses Theaters und meinem stndigen Lieferanten von Eintrittskarten fr die ersten Reihen. Komm, Joe. Sie verlieen die Portierloge und gingen den Korridor entlang, ohne in Vincys Garderobe zu schauen. Die Tr war nur angelehnt, und sie hrten deutlich die Gerusche, welche die dort arbeitende Equipe verursachte. Als der Arzt Schritte vernahm, erschien er in der Tr. Ich wrde ihn gern mitnehmen und eine genaue Sektion durchfhren, obwohl alles eindeutig zu sein scheint. Gut Nehmen Sie ihn mit. Selbstmord ist doch wohl ausgeschlossen, nicht wahr? Vllig. Kein Mensch ist imstande, auf dem Rcken liegend, sich einen solchen Sto zu versetzen. Der Tod ist sofort eingetreten. Knnen Sie schon einen ungefhren Zeitpunkt nennen? Schtzungsweise zwischen neun und zehn Uhr, eher jedoch gegen neun.59

Um neun Uhr fnfzig habe ich ihn noch auf der Bhne gesehen, sagte der Inspektor hflich, und der neben mir stehende Mr. Joe Alex hat ihn ebenfalls gesehen, ganz zu schweigen von achthundert anderen Personen, die wir zu Zeugen nehmen knnen. Wirklich? Der Arzt hob die Brauen. Dann mute er natrlich spter sterben. Aber nicht spter als um zehn, wobei mir auch diese Zeit unwahrscheinlich erscheint. In den Kopfmuskeln beginnt schon die Todesstarre, dabei , er blickte auf die Uhr, ist es doch erst ein Viertel vor eins. Das ist schon Ihr Reich, Doktor. Parker hob abwehrend die Hnde. Wir warten auf Ihre Diagnose. Ich mchte so schnell wie mglich die annhernde Zeit des Todeseintritts erfahren. Dann mu ich ihn sofort mitnehmen, sobald die da drinnen mit den Aufnahmen fertig sind. Gut, nehmen Sie ihn mit. Ich warte auf Ihren Anruf. Der Arzt kehrte kopfschttelnd in die Garderobe zurck. Parker und Alex setzten ihren Weg fort. Als sie das Ende des Korridors erreichten, blieb der Inspektor stehen. Vor ihnen, im rechten Winkel, verlief ein breiter Gang, der vermutlich mit einer Wand an die Bhne grenzte, denn es gab hier nur vier schmale Stahltren, die mit der Aufschrift60

RUHE! versehen waren. In der gegenberliegenden Wand befanden sich berhaupt keine Tren, einige Meter weiter zweigte jedoch ein weiterer Korridor ab, der parallel zu dem verlief, den sie gerade heraufgekommen waren. Ein gutgebautes Theater, sagte Alex. Keine Tr liegt gegenber der Wand, hinter der sich die Bhne befindet. Dadurch werden eventuelle laute Gerusche und Stimmen auf ein Minimum reduziert. Der zweite Korridor, in den sie nun einbogen, hatte auf jeder Seite drei Tren. Dann folgte ein Stck nackter Wand und schlielich eine offene Tr mit der Aufschrift GARDEROBEN UND OBERE ETAGE DIREKTOR BFETT. In der Tr stand ein Polizist in Zivil, der bei Parkers Anblick Haltung annahm. Hinter dieser Tr fhrte eine steile Treppe hinauf. Oben angelangt, kamen sie am Bfett vorbei, das im Dunkeln matt glnzte, dann an mehreren Tren, bis sie schlielich vor der letzten, mit der Aufschrift DIREKTION, standen. Parker klopfte und ffnete sie, noch ehe eine Antwort erfolgte. Bitte, treten Sie ein, meine Herren! Bitte sehr Direktor Davidson war ein hochgewachsener Mann mit dunklem Teint und schmalem, nervsem Gesicht. Er sprang hinter seinem Schreibtisch auf und ging Parker mit ausgestreckter Hand entgegen. Danach blickte er fragend auf Alex.61

Das ist Mr. Joe Alex, der bekannte Autor von Kriminalromanen und mein inoffizieller Mitarbeiter, sagte Parker aufrichtig. Wer wrde Ihren Namen nicht kennen! Direktor Davidson schttelte Alex herzlich die Hand. Ich habe wohl alle Ihre Bcher gelesen! Und ich wiederhole es immer wieder: Fr einen Geschftsmann ist ein guter Kriminalroman besser als Urlaub. Man kann ein paar Stunden abschalten, endlich an etwas anderes denken als an diese verdammten Geschfte Dann wandte er sich Parker zu: Mein Gott, seufzte er mein Gott! Was sagen Sie dazu, Inspektor? Was ich dazu sage? Parker breitete mit der ihm eigenen Geste der Ratlosigkeit die Arme aus. Vor allem mchte ich erfahren, was Sie davon halten! Bei Ihnen laufen doch alle Fden zusammen. Alles, was das Theater betrifft, geht ber Ihren Schreibtisch. Knnten Sie uns die Persnlichkeit des Toten nicht kurz skizzieren? Sein Verhltnis zu den Kollegen, die letzten Vorkommnisse hier am Theater und so weiter. Vielleicht hatte er Feinde? Vielleicht ist etwas geschehen, was Licht in die Angelegenheit bringen knnte? Bevor ich mit dem Verhr der Schauspieler und des technischen Personals beginne, wrde ich gern von Ihnen hren, was Sie von alldem halten. Was ich davon halte? Der Direktor deutete62

mechanisch auf die tiefen Ledersessel und bot Zigarren an. Dann rieb er sich das Kinn. Ehrlich gesagt, denke ich unausgesetzt darber nach, schon seit einer Stunde, seitdem Soames bei mir angerufen hat. Ob Vincy Feinde hatte? Ja, er hatte welche! Ich wrde sogar sagen, er wurde von allen gehat, und ich kenne einige Leute, die ihn wohl kaltbltig htten umbringen knnen. Heute morgen erst hatte ich selbst groe Lust, ihn die Treppe hinunterzuwerfen Er hielt inne. Es ist schrecklich, so ber einen Toten zu sprechen. Noch schrecklicher ist es, nicht ber einen Toten zu sprechen, wenn sich der Mrder in Freiheit befindet und die Polizei auf mglichst viele Informationen angewiesen ist, sagte Parker trocken. Erzhlen Sie uns in wenigen Worten, was Ihrer Meinung nach von Bedeutung sein knnte: Skizzieren Sie uns die Person Stephen Vincy vor dem Hintergrund seiner Arbeit und seiner Beziehungen zu den Menschen in diesem Theater. Mr. Davidson berlegte eine Weile, doch dann begann er zu sprechen

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V. DIREKTOR DAVIDSONS ERZHLUNG

Ich habe sowohl sehr viel als auch sehr wenig zu berichten. Nichts, was nach meinem Dafrhalten auf den Mrder hindeuten knnte, aber sehr viel ber Vincy selbst und sein Verhltnis zu den Menschen. Vielleicht knnten Sie zunchst versuchen, uns das psychische Profil Vincys zu zeichnen? sagte Parker leise. Ich htte das gern irgendwie geordnet Er lchelte entschuldigend. Zuerst mchte ich wissen, was fr ein Mensch er war, welche Informationen Sie ber sein Privatleben haben, und schlielich, welcher Art seine Beziehungen zum Ensemble und zur Theaterdirektion waren, einverstanden? Gut. Fangen wir also mit dem ersten Punkt an. Wie war Stephen Vincys psychisches Profil Der Direktor berlegte eine Weile. Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Ich wei nicht, ob er das besa, was wir ein dezidiertes psychisches Profil nennen, das heit einen geformten, unvernderlichen Charakter, obwohl er ihn lngst htte haben mssen, immerhin war er knapp fnfzig. Er war64

sehr anmaend, sogar hochmtig, aber das ist ein Charakterzug vieler Schauspieler, eher ein Berufsmerkmal als eine persnliche Eigenschaft. Sie ergibt sich aus einer Art Notwehr. Jemand, der unaufhrlich mit Hunderten von Zuschauern konfrontiert ist, deren Wohlwollen er sich ein Leben lang stets von neuem zu sichern wnscht, mu daran glauben, da er mehr wert ist als andere, da er unersetzlich und unwiederholbar als Erscheinung ist. Nur die intelligentesten Schauspieler wissen um ihre Schwchen, obwohl auch sie sich nur ungern zu ihnen bekennen. Doch Vincy war nicht intelligent in der allgemeinen Bedeutung dieses Wortes. Er war ein geschickter Schauspieler, verstand es, mit den Menschen zu sprechen, konnte zauberhaft sein, wenn er jemanden fr sich gewinnen wollte. Ihn jedoch einer irgendwie gearteten Tiefe zu verdchtigen, wre meines Erachtens ein Fehler. Offen gesagt hielt ich ihn fr einen sehr beschrnkten Menschen. Er besa auch nicht das, was wir Verhaltensethik nennen. Wichtig fr ihn war, was ihm Nutzen bringen konnte, und er war immer bereit, jede Gemeinheit zu begehen, um seine Lage zu verbessern. Ich wei, da er vor etwa fnfzehn Jahren in einen Falschspielerskandal verwickelt war. Er betrog beim Pokern, und man ertappte ihn auf frischer Tat. Ich wei auch, da er sich von der Frau eines sehr reichen Mannes aushalten lie, mit65

der er nur des Geldes wegen zusammen lebte. Sie gab ihm sogar groe Summen, die er jedoch durchbrachte, ebenso wie den Rolls Royce und die Villa am Stadtrand, die sie ihm geschenkt hatte. Aber auch das liegt lange zurck. Vielleicht zehn Jahre. Das ble an der Affre war, da Vincy jedem, der es hren oder auch nicht hren wollte, erzhlte, da es eine solche Dame gibt und wer sie ist. Offenbar war er der Meinung, da sie auf diese Weise seiner Schnheit und Schauspielkunst so etwas wie Tribut zollte. Er war brigens sehr begabt, das steht auer Zweifel. Aber er war kein Genie. Er ist nie ein wirklich groer Schauspieler geworden. Ich glaube, da dem seine Eitelkeit und seine Unfhigkeit, sich guten, intelligenten Regisseuren unterzuordnen, im Wege stand. Er war ein Schauspieler alten Datums, viel lteren Datums, als sein Geburtsschein dies vermuten liee. Er gehrte zur Kategorie jener Stars des neunzehnten Jahrhunderts, fr die der Verfasser des Stckes und dessen Text unwichtig waren, unwichtig waren fr sie auch die Partner und die Vorstellung als Ganzes sowie deren Leitgedanke von Bedeutung war nur ihre Gestalt auf der Bhne. So reagierte er fast allergisch, wenn er in irgendeiner Szene in den Hintergrund treten mute, weil sich dies einfach aus dem Inhalt des Stckes ergab. Er lie sich in keine Regiekonzeption einpassen, was einen Schauspie66

ler in der zweiten Hlfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Zeit von den groen Auffhrungen ausschlieen mu. Wer mchte schon mit einer Gestalt zu tun haben, die sich nicht in den allgemeinen Plan einordnen lt und eine harmonische Probenfhrung unmglich macht? Deshalb wohl auch kam er an keinem der groen Huser an und wird kaum in die Geschichte des englischen Theaters eingehen, obwohl er vielleicht aufgrund seines berdurchschnittlichen Talents ein gewisses angeborenes Recht dazu hatte. In den Sthlen war er ausgezeichnet, obwohl, wenn Sie Darcy fragten, wie sehr er sich mit ihm abgeqult hat, er Ihnen einen ganzen Roman erzhlen knnte. Die Konzeption dieser Rolle, das ist Darcy, nicht er. Doch um auf sein psychisches Profil zurckzukommen, so meine ich, da er ein schwacher, beschrnkter und skrupelloser Mensch war. Gleichzeitig besa er viel Charme, vor allem im Umgang mit Frauen, die ihm in seinem Leben viel geholfen und, wie ich glaube, auch geschadet haben, denn sie verdarben ihn. Seine Skandale und Skandlchen mit Frauen gingen in die Tausende Und was meinen Sie, sagte Parker nachdenklich, knnte er Kontakte zur Verbrecherwelt gehabt haben? Kaum. Ich glaube es jedenfalls nicht. Dazu hat67

te er keinen Anla. Obwohl Aber das ist kein Indiz Was? fragte der Inspektor. In letzter Zeit, das heit seit etwa einer Woche, benahm sich Vincy ganz erstaunlich, selbst fr einen Mann wie ihn. Anfangs glaubten alle, er sei verrckt geworden. Er verkndete nmlich jedermann, da er die Absicht habe, ein eigenes Filmstudio zu grnden, um sich endlich der Welt als ein Laurence Olivier vorzustellen. Auf die Frage, woher er das Geld fr ein solches Vorhaben nehmen wolle, lchelte er geheimnisvoll und meinte achselzuckend, dies sei eine Kleinigkeit. Als man mir das hinterbrachte (denn, wie Sie wissen, wird im Theater dem Direktor immer alles hinterbracht), lachte ich natrlich darber. Keiner kannte besser als ich seine Einknfte. Ich mu in diesen Dingen auf dem laufenden sein, weil ich dauernd mit Schauspielern zu tun habe und wissen mu, wieviel der einzelne wert ist, wie man so sagt. Doch Vincy vernderte sich von Tag zu Tag, bis er schlielich heute morgen zu mir in dieses Arbeitszimmer kam und fr sein weiteres Auftreten eine geradezu astronomische Summe verlangte. Dabei benahm er sich unerhrt herablassend, sowohl mir gegenber als auch gegenber der Idee des Chamber Theatre, das, wie Sie wissen, ausschlielich der modernen Kunst und ihrer Verbreitung dient.68

Unter den gegenwrtigen Umstnden, so sagte er, interessiere ihn ein Auftreten in hnlich unsinnigen Stcken fr geringeres Geld berhaupt nicht. Sollte er die verlangte Summe nicht bekommen, so wollte er vom Vertrag zurcktreten. Ich schluckte meinen Zorn hinunter, obwohl sein Benehmen vllig idiotisch war, und sagte ihm in aller Ruhe, da er das Recht habe, den Vertrag zu brechen und das Theater zu verlassen, sogar schon morgen, nur msse er mir den Verlust ersetzen, und das wre eine Menge Geld. Ich wrde nmlich die Rckzahlung aller Unkosten fr die Einstudierung des Stckes und die Bezahlung der Schauspieler, des technischen Personals und so weiter fordern, ebenso fr die notwendige Unterbrechung, bis ein entsprechender Nachfolger gefunden und in die Rolle eingefhrt worden sei. Das wrde jetzt, da die Saison begonnen habe und in allen Theatern die Vertrge unterschrieben worden seien, natrlich nicht ganz einfach sein. Darber zerbreche ich mir brigens schon den Kopf seit dem Augenblick, da ich diese schreckliche Nachricht erhalten habe. Schauspieler sind aberglubisch. Womglich findet sich keiner, der die Rolle des ermordeten Kollegen bernehmen will Ja. Gewi Parker rusperte sich. Entschuldigen Sie. Ich bin vom Thema abgewichen. Also, meine Antwort stimmte ihn doch69

etwas nachdenklich, trotzdem kndigte er den Vertrag und erklrte, da er mit dem Auslaufen der Sthle seine Zusammenarbeit mit dem Ensemble fr beendet ansehe, was ihm natrlich laut Vertrag zusteht. Das htte er mir nicht eigens zu erzhlen brauchen. Doch das waren nicht die einzigen Symptome eines Verhaltens, auf welches das Ensemble anfangs hinter seinem Rcken mit einem Tippen an die Stirn reagierte und das nach einigen Tagen alle sehr ernst nahmen, mich eingeschlossen. Ein Schauspieler kommt doch nicht zum Theaterdirektor und kndigt den Vertrag, noch dazu in einem solchen Ton, wenn er nicht wesentlich gnstigere Bedingungen in Aussicht hat. Ich habe also diskret nachgeforscht und kann mit voller Gewiheit feststellen, da kein Filmstudio und kein Theater mit ihm irgendwelche Verhandlungen aufgenommen hat. Deshalb ist die Angelegenheit fr mich vllig unverstndlich. Ich kann mir nicht vorstellen, woher er die notwendigen Gelder beziehen wollte. Bestimmt nicht aus seiner Schauspielerei und den damit verbundenen Einknften Hat er denn seinen knftigen Reichtum oder jene groartige Perspektive noch auf andere Weise demonstriert? fragte der Inspektor. Aber ja! Die Situation im Theater war schon seit langem sehr gespannt. Eve Faraday war bis zu70

dem Augenblick, da sie Vincy kennenlernte, mit Henry Darcy so gut wie verlobt. Darcy hatte sie in einem der Amateurensembles entdeckt und eine Schauspielerin aus ihr gemacht. Dann mu sie sich jedoch in Vincy verliebt haben, oder er hat ihr einfach den Kopf verdreht, denn sie brach mit Darcy und wurde von nun an nur noch in Vincys Gesellschaft gesehen. Dies geschah vor drei Monaten, vierzehn Tage nachdem die Proben zu den Sthlen begannen. Dieser Mensch hatte einen ungeheuren Einflu auf Frauen. Sie mu ihn wohl doch geliebt haben, denn Darcy ist immerhin einer der besten und begabtesten Leute an unseren Theatern. Wenn sie ihn heiratete, wrde sie glcklich und berhmt werden. Aber wer versteht schon eine Frau? Jedenfalls zuckte Darcy nicht mit der Wimper, wie man so schn sagt, obwohl er tglich mit den beiden zusammentreffen mute, denn das Schicksal wollte es, da sie gerade in einem Stck spielten, in dem nur zwei Schauspieler mitwirken. Darcy fhrt Regie und tritt auerdem in einer kurzen Szene als Sprecher auf. Er hatte dauernd mit ihnen zu tun, mute mit ihnen diskutieren, sie einweisen, zweimal tglich mit ihnen zusammentreffen. Aber ich habe schon ganz andere Dinge am Theater gesehen! Eve gegenber verhielt Darcy sich weiterhin sehr herzlich. Wahrscheinlich liebt er sie noch immer. Doch sie hat ber jenem anderen die71

ganze Welt vergessen. Angeblich hat Vincy ihr erzhlt, da er sie heiraten mchte, da er mit ihr eine Familie grnden und endlich zur Vernunft kommen will. Aber wer kann schon sagen, was er ihr wirklich versprach und welchen Einflu er auf sie hatte? Ich denke mir, da er mit dieser schlimmen Eigenschaft auf die Welt gekommen ist, die Fliegenpapier besitzt. Die Frauen flogen auf ihn und konnten dann nicht mehr von ihm loskommen. Er aber trennte sich von ihnen, ohne zu zgern, sobald sie ihm ber waren oder wenn er sie nicht mehr brauchte. Ebenso war es mit Eve. Vor einigen Tagen kam es zwischen ihnen zu einem Riesenkrach im Theater. Das heit, Eve nahm daran kaum teil, nur er, Vincy. Er schrie sie an und beschimpfte sie mit den gemeinsten Worten, da sie sich an ihn klammert, da sie sein Leben einengt, da sie berhaupt kein Recht auf ihn hat, da sie ihm ein Klotz am Bein ist. Das war einen oder zwei Tage, nachdem er begonnen hatte, die Gerchte von seinem Vermgen in Umlauf zu setzen. Offenbar war er zu dem Schlu gekommen, da eine Ehe mit einer jungen, bereits bekannten, aber noch nicht allzu berhmten Schauspielerin fr ihn jetzt keinen Sinn mehr hatte. Er trug sich mit phantastischen Plnen, in denen sie keinerlei Rolle mehr spielen konnte. Nach dieser Auseinandersetzung brach er mit ihr und sprach mit ihr kein Wort72

mehr auerhalb der Bhne. Auf der Bhne benahm er sich, als htte er es mit einer Schlange zu tun. Nebenbei gesagt, kam es whrend dieser Auseinandersetzung noch zu einem anderen Zwischenfall. Als Vincy mit erhobener Stimme Eve beschimpfte, war Darcy noch nicht im Theater. Meiner Meinung nach hat er diesen Zeitpunkt absichtlich gewhlt. Er wollte sie ffentlich demtigen, es jedoch vermeiden, da ihm die Zhne eingeschlagen wurden. Denn Darcy htte es Vincy bestimmt nicht erlaubt, sich ihr gegenber so zu benehmen, auch wenn sie ihn seinetwegen verlassen hatte. Sie mssen nmlich wissen, da wir im Theater einen Inspizienten namens Jack Sawyer haben, einen jungen, ziemlich schmchtigen Burschen, einen Studenten, der sich bei uns etwas hinzuverdient, um sein Medizinstudium beenden zu knnen. Der Inspizient hielt sich damals in der Nhe auf, und als Vincy Eve so ordinr beschimpfte, trat er zu ihm und sagte, da ein Mann nicht das Recht habe, sich auf diese Weise einer Frau gegenber zu benehmen. Hier mu gesagt werden, da fr Stephen Vincy das technische Personal berhaupt nicht existierte, er zhlte es nicht zu den Menschen. Er behandelte es wie ein Feudalherr seine Untertanen, ja wahrscheinlich noch schlimmer, denn er bemerkte es berhaupt nicht. Vincy und Henry Darcy sind groe, stattliche73

Mnner, aber dieser Inspizient ist eigentlich ein Hnfling. So versetzte ihm Vincy ohne lange zu berlegen eine Ohrfeige. Der Geohrfeigte ergriff ein Beil, das ein Feuerwehrmann auf einen Schemel im Korridor gelegt hatte, und htte wahrscheinlich damit auf Vincy eingeschlagen, wren nicht einige Leute dazwischengegangen, die rasch herbeigeeilt waren. Die Angelegenheit htte fr Vincy sehr unangenehm enden knnen, aber auf meine Bitte hin nahm Sawyer eine schriftliche Entschuldigung Vincys an, dem ich ankndigte, da er fr einige Monate ins Gefngnis kommen knnte. Ins Gefngnis wre er natrlich nicht gekommen, aber eine Geldstrafe wre fllig gewesen. Ich wollte die Angelegenheit irgendwie aus der Welt schaffen. Im Theater erschweren solche Streitigkeiten und Auseinandersetzungen ungemein die Arbeit und wirken sich sofort auf das Spiel des Ensembles und den Verlauf der ganzen Vorstellung aus. Doch das war noch nicht alles. Eve wurde damals natrlich ohnmchtig, so da wir uns eine halbe Stunde um sie bemhen muten, ehe sie wieder ganz da war, danach bekam sie noch einen Weinkrampf, und die Vorstellung mute mit einer viertelstndigen Versptung beginnen. Als Darcy kam er tritt erst gegen Ende des zweiten Aktes auf , erfuhr er sofort, was vorgefallen war, und ging in der Pause in Vincys Gar74

derobe. Dort kndigte er ihm in aller Ruhe an, da er ihn, sollte Vincy noch ein einziges unhfliches Wort gegenber Eve Faraday gebrauchen, erschlagen wrde wie einen tollwtigen Hund. Danach ging er, ohne eine Antwort abzuwarten, hinaus. Der Garderobier Ruffin, der dabei war, weil er sich whrend der Vorstellung stndig in Vincys Garderobe aufhalten mu, obwohl er ihn frchtet wie die Pest, weil Vincy ihn abscheulich behandelt, dieser Ruffin also erzhlte mir, Vincy sei wei geworden wie eine Kalkwand und habe regelrecht gezittert vor Angst. Erst die Durchsage im Lautsprecher, da die Pause beendet sei und Vincy sich zum Auftritt fertigzumachen habe, zwang ihn, sich zusammenzunehmen. Danach entschuldigte er sich sofort in aller Form bei Eve, aber die Beziehungen zwischen ihnen waren damit wie sich nun herausstellt, ein fr allemal abgebrochen. Ja Parker schrieb etwas in sein Notizbuch und erhob sich. Ich danke Ihnen sehr, Herr Direktor. Was Sie uns da erzhlt haben, ist jedenfalls unerhrt interessant. Daraus lassen sich viele Schlsse ziehen, voreilige Schlsse mchte ich allerdings vermeiden Er brach ab. Es ist Nacht, sagte er zgernd, meinen Sie nicht, da Sie ein wenig Schlaf verdient htten? In den nchsten Stunden werden wir Sie wahrscheinlich nicht brau75

chen, bis zum Morgen. Sollte sich etwas Unvorhergesehenes ereignen, werde ich Sie leider telefonisch wecken mssen. Ich hoffe jedoch, da dies nicht ntig sein wird. Ich kann auch hier bernachten, sagte Mr. Davidson. Ich bernachte hufig im Theater, wenn ich viel Arbeit habe oder wenn Generalproben mit langen Pausen dazwischen stattfinden. Ich habe hier ein kleines Sofa, auf dem ich schon mal ein Nickerchen machen kann, der diensthabende Portier weckt mich dann telefonisch. Wie Sie wnschen, Herr Direktor. Eine Bitte jedoch habe ich: Erzhlen Sie bitte auch weiterhin niemandem von dem Vorfall. Morgen mu es die Presse ohnehin erfahren, aber je spter die Reporter uns auf den Pelz rcken, um so besser. Die Vorstellung mssen Sie wohl vorlufig absetzen? Die Sthle ja. Aber wir haben ein zweites Stck, das so gut wie fertig ist und das parallel zu den Sthlen vorbereitet wurde, weil ich nicht wissen konnte, welchen Anklang die Vorstellung beim Publikum finden wrde. Solche Stcke fllen einem manchmal die Kasse, oder aber man kann sie nach zwei Auffhrungen absetzen. Dieses hier war ein Riesenerfolg Soweit ich die Menschen kenne, sagte Parker, wird der Erfolg dadurch nur noch gesteigert werden.76

Das vermute ich auch, Mr. Davidson nickte vor sich hin, obwohl man im Theater nichts voraussehen kann Wie die heutige Nacht beweist, schlo der Inspektor in einem Anflug von Galgenhumor. Noch etwas, Herr Direktor, der Form halber htte ich gern gewut, wie Sie den heutigen Abend verbracht haben. Ich? Ach so, natrlich. Ich war zum Empfang beim Lord Mayor. Der Empfang begann um fnf und zog sich bis gegen elf Uhr hin. Danach bin ich mit zwei Freunden nach Hause zurckgekehrt. Es handelte sich um einen Empfang fr Theaterdirektoren. Kontakte des Magistrats zu Persnlichkeiten der Kunst. Die Direktoren des Beatle Theatre und des Theaters der Burleske tranken bei mir noch ein Glschen und verlieen mich kurz vor Soames Anruf Zum Glck, denn ich htte mich kaum zurckhalten knnen, ihnen diese Neuigkeit zu erzhlen, und so wre ganz London schon jetzt voll davon, ganz zu schweigen von den Reportern, die mir unten die Eingangstr strmen wrden. Ich denke schon mit Entsetzen daran, wie viele Fragen ich morgen werde beantworten mssen. Und ich! Parker seufzte. Aber die Menschen wollen die Zeitung lesen, und die Zeitungen wollen die letzten Nachrichten bringen. Dagegen lt77

sich nichts machen. Ich danke Ihnen noch einmal, Herr Direktor. Sie bleiben also hier? Ja. Ich werde die ganze Zeit in meinem Zimmer bleiben, um Sie nicht zu stren. Aber ob ich schlafen kann, das wei ich nicht Versuchen Sie es zumindest, sagte Inspektor Benjamin Parker und verlie das Zimmer, gefolgt von Joe Alex.

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VI. DIESE DAME GING VIERTEL NACH ZEHN HINEIN

Auf der Treppe blieb Parker kurz stehen. Sag bitte noch nichts, Joe. Dieser Fall knnte uns mehr Schwierigkeiten bereiten, als ich ursprnglich dachte. Wir wissen noch gar nichts. Ich hatte nicht die Absicht, irgend etwas zu sagen, brummte Alex. Ich habe den ganzen Tag im Wagen, im Theater und im Restaurant zugebracht. Um sieben Uhr morgens bin ich aufgestanden. Jetzt ist es ein Uhr nachts. Meinst du, da ich unter diesen Umstnden unbedingt geschwtzig sein mte? War ich brigens jemals geschwtzig? Parker lchelte. Nein. Geschwtzig warst du nie. Das ist wahr. Aber willst du wirklich jetzt gehen? Um nichts in der Welt! Das habe ich doch nicht behauptet. Ausgezeichnet! Sie setzten ihren Weg fort. Alex und Parker kannten sich seit vielen Jahren, seit dem Kriege, den sie gemeinsam an Bord eines britischen Bombers erlebt hatten. Es gab eine Zeit, da stnden sie einander nher als Brder. Alex wute,79

da der Inspektor trotz des Lchelns bekmmert war. Ich werde jetzt den Portier vom Tagdienst vernehmen und anschlieend die brigen, falls er uns nichts Neues mitteilen kann. Aber ich habe den Eindruck, da wir von ihm etwas erfahren mten. Der Mrder konnte nur an seinem Fensterchen vorbei in das Theater gelangen und wieder hinausgehen Aber warten wir es ab. Auf dem Gang hinter der Bhne begegneten sie Sergeant Jones. Sie haben soeben diesen Pfrtner gebracht, Chef! William Gullins? Jawohl, Chef! Er ist in der Portierloge. Ein Polizist bewacht ihn. Er zittert am ganzen Leibe, denn seine Frau liegt im Krankenhaus. Sie hat gerade entbunden. Er heult wie ein Schlohund, Chef. Deshalb wollte ich zu Ihnen, wir wissen nicht mehr, was wir mit ihm machen sollen. Er wird gleich aufhren, murmelte Parker und beschleunigte den Schritt. Bei ihrem Anblick nahm der Polizist in der Portierloge, der gebeugt ber einem verzweifelt schluchzenden Mann stand, Haltung an, zog aber gleichzeitig eine Miene, als wte er nicht, was er mit diesem erstaunlichen Geschpf anfangen sollte, das da, den Kopf in den Armen verborgen, auf dem Stuhl hockte. Der In80

spektor bedeutete dem Polizisten wortlos, den Raum zu verlassen, und als sich die Tr hinter ihm geschlossen hatte, beugte er sich herab und sagte ruhig: Gullins, wir haben Sie hergeholt, um Sie wegen eines Mordes zu vernehmen. Falls Sie diesen Mord begangen haben, tun Sie recht daran, Ihr Schicksal zu beweinen. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, so vergeuden Sie nur Ihre und unsere Zeit. Nach der Vernehmung will ich Sie mit dem Wagen nach Hause bringen lassen. Ein Mann sollte zu Hause bei seinen Kindern sein, wenn seine Frau im Krankenhaus liegt. Nun, so seien Sie also vor allen Dingen ein Mann! Wie unter der Berhrung eines Zauberstabes hob Gullins den Kopf und lie die Arme sinken. Sein Gesicht war trnenberstrmt, doch nicht Verzweiflung malte sich darauf, sondern grenzenloses Erstaunen. Wegen eines Mordes? flsterte er. Was denn, o mein Gott! Also hat man das Theater nicht bestohlen? Man hat es nicht bestohlen? Nein! sagte Parker entschieden und setzte sich ihm gegenber. Das Theater ist nicht bestohlen worden, whrend Sie im Dienst schliefen. Als die Polizei Sie abholte und nicht mit Ihnen reden wollte, sondern Sie nur aufforderte mitzukommen, waren Sie berzeugt gewesen, da es sich um einen Diebstahl handelt und da man Sie wegen Vernachlssigung Ihrer Pflichten zur Rechen81

schaft ziehen oder Sie verdchtigen wrde, mit den Dieben gemeinsame Sache gemacht zu haben. Nichts dergleichen, Gullins! Zwischen zehn Uhr und zehn Uhr dreiig wurde in seiner Garderobe der Schauspieler Stephen Vincy ermordet, und wir mchten von Ihnen genauestens wissen, was Sie an diesem Abend gemacht und beobachtet haben. Mr. Vincy ermordet! sagte Gullins. Mr. Vincy! Und ich war hier, hinter der Wand O mein Gott Sagen Sie: zwischen zehn Uhr und zehn Uhr dreiig? Ja. Das habe ich gesagt. Dann war sie es! Wer? fragte der Inspektor rasch und beugte sich vor. Diese diese Dame, die ein Viertel nach zehn kam, mehrere Minuten bei ihm blieb und dann wieder ging. Dann war also um diese Zeit eine Dame hier? Ja Mr. Vincy hat mir angekndigt, da sie kommen wrde, also habe ich sie hereingelassen. Es war ja nicht die erste, die ich auf diese Weise hereinlie Aber diese war lter als andere Als all die anderen Wie alt mochte sie sein? Vierzig vielleicht Vielleicht auch etwas lter! Bei diesen wohlhabenden Damen wei man nie82

Bescheid. Sie sind so gepflegt, da sie manchmal jnger aussehen Sehr richtig. Und wie war sie gekleidet? Sie trug einen dnnen schwarzen Mantel und hatte ein kleines Htchen auf, so ein modisches, halbrund und grau Und Schuhe, glaube ich, auf sehr hohen Abstzen. Aber sie selbst war nicht sehr gro. Wrden Sie sie wiedererkennen? Ich glaube ich glaube schon, Sir. Schn. Ist Ihnen an ihr nichts aufgefallen? An ihrer Kleidung, vielleicht an ihrem Verhalten? Sie schien ein wenig verlegen zu sein, aber ich habe nicht weiter darauf geachtet, denn schlielich war sie nicht vom Theater, und Fremde sind hinter den Kulissen oft ein wenig schchtern, Sir. Gewi. Und mehr knnen Sie uns ber sie nicht sagen? Wohl kaum, Sir Ach so! Eins vielleicht noch, aber das ist wahrscheinlich ohne Bedeutung. Diese Damen haben doch immer zu ihren Abendkleidern so schne kleine Tschchen, entweder aus Goldlam oder aus Silberfden oder noch andere, aber sie sind immer sehr klein. Meine Frau hat mich mal darauf aufmerksam gemacht, als sie hier bei mir in der Portierloge sa, da das ein herrliches Leben sein mu, wenn man in der Handtasche nichts mit sich herumzu83

tragen braucht auer Puder, Lippenstift und Taschentuch Gut. Ihre Frau hat recht, ein solches Leben ist bestimmt bequemer. Ab