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Bundesgesundheitsbl 2012 · 55:970–979 DOI 10.1007/s00103-012-1514-3 Online publiziert: 23. Juli 2012 © Springer-Verlag 2012 B. Herbig 1  · J. Glaser 2  · P. Angerer 3 1  Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Klinikum der Universität München, München 2  Arbeit- und Organisationspsychologie, Fachbereich Psychologie, Universität Konstanz, Konstanz 3  Institut für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin, Medizinische Fakultät, Universität Düsseldorf, Düsseldorf Alt, krank, arbeitslos,  chancenlos? Ergebnisse einer randomisierten  Kontrollstudie zur Wirksamkeit einer  kombinierten Gesundheits- und  Arbeitsförderung bei älteren Lang- zeitarbeitslosen (AmigA-M) Hintergrund Krankheit ist Ursache und Folge von Arbeitslosigkeit. Empirisch gleicht der Zusammenhang zwischen Arbeitslosig- keit und psychischer und physischer Ge- sundheit einem Teufelskreis: Gesund- heitlich beeinträchtigte Menschen wer- den leichter arbeitslos (Selektionseffekt), Arbeitslosigkeit begründet und verstärkt diese Beeinträchtigungen (Kausaleffekt), was wiederum die Chancen auf eine Be- schäftigung vermindert [1, 2, 3]. In einer großen metaanalytischen Studie [1] konn- te dies insbesondere für die Auswirkun- gen von Arbeitslosigkeit auf die psychi- sche Gesundheit gezeigt werden. Der durchschnittliche Anteil an Personen mit klinisch relevanten psychischen Störungs- symptomen unter den Arbeitslosen be- trug 34%, unter den Erwerbstätigen nur 16%. Vor allem die Dauer der Arbeitslo- sigkeit moderierte diesen Zusammen- hang – Langzeitarbeitslose hatten eine deutlich schlechtere psychische Gesund- heit als Kurzzeitarbeitslose. Befunde zur physischen Gesundheit sind etwas inkon- sistenter und Zusammenhänge zum Teil schwächer ausgeprägt, dennoch zeigt sich vor allem für Langzeitarbeitslose dieselbe Tendenz wie bei psychischen Störungen etwa für Rückenschmerz [4] oder Blut- hochdruck [5]. Im Kontrast zu diesen Befunden steht das noch geringe Wissen über wirksame Maßnahmen zur Verbesserung des ge- sundheitlichen Zustandes. Dabei ist die zentrale Aufgabe einer Evaluation nicht nur die Feststellung einer Veränderung, sondern vor allem die Absicherung der Kausalität, das heißt der Verursachung einer Veränderung durch die Interven- tion. Dies ist vor allem in realen Settings schwierig; umso wichtiger sind metho- disch hochwertige Designs [6, 7, 8, 9]. In [10] werden erstmals Evaluationsergeb- nisse einiger deutscher Projekte zur Ge- sundheitsförderung für Arbeitslose zu- sammenfassend dargestellt. Drei der 6 dort vorgestellten Projekte (Fit-Beratung, AktivA und Bridges) wurden mit kont- rollierten Pre-Post-Test-Designs evalu- iert, 3 weitere [JobFit, Train to Job und AmigA (vgl. Intervention)] mit einfa- chen Pre-Post-Test-Designs ohne Kon- trollgruppen. Nach [6, 7] handelt es sich vor allem bei letzteren Designs um schwache epidemiologische Evidenzstu- fen. Mit diesen und weiteren Einschrän- kungen (unter anderem kaum vergleich- bare Zielgruppen, Zielkriterien und Er- hebungsmethoden) zeigen sich tenden- ziell kleine bis mittlere positive Effekte (Konvention nach [11]) der Interventio- nen auf psychische Beschwerden wie De- pressionen [12, 13], keine [14] bis mittle- re Effekte [15] auf die Einschätzung der Leistungsfähigkeit. Globale Verbesserun- gen der Gesundheit werden für AmigA bei 39% der Teilnehmer angegeben [14] sowie 12,4% Integrationen in den ersten Arbeitsmarkt bei AmigA-Flensburg [16] – jeweils ohne Möglichkeit der Effekt- größenabschätzung mit den vorhande- nen Angaben. Gleichzeitig berichten 35% der Teilnehmer von AmigA, dass ihnen die Angebote wenig oder gar nicht gehol- fen haben [10]. Die im Folgenden dargestellte Studie untersucht vor dieser Befundlage erstma- lig in einer randomisierten, kontrollierten Studie die Wirksamkeit der Intervention AmigA-M – Arbeitsförderung mit ge- sundheitsbezogener Ausrichtung in Mün- chen ([17]; vgl. Abschnitt Intervention) sowohl mit Blick auf die Gesundheit der Teilnehmer als auch hinsichtlich arbeits- marktrelevanter Aspekte. Bezogen auf die bisherigen Befunde werden dabei kleine bis mittlere Effekte für Kriterien psychi- scher Gesundheit und kleine Effekte auf die physische Gesundheit und auf arbeits- marktrelevante Aspekte erwartet. 970 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 8 · 2012 Originalien und Übersichten

Alt, krank, arbeitslos, chancenlos?

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Page 1: Alt, krank, arbeitslos, chancenlos?

Bundesgesundheitsbl 2012 · 55:970–979DOI 10.1007/s00103-012-1514-3Online publiziert: 23. Juli 2012© Springer-Verlag 2012

B. Herbig1 · J. Glaser2 · P. Angerer3

1 Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Klinikum der Universität München, München2 Arbeit- und Organisationspsychologie, Fachbereich Psychologie, Universität Konstanz, Konstanz3 Institut für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin, Medizinische Fakultät, Universität Düsseldorf, Düsseldorf

Alt, krank, arbeitslos, chancenlos?Ergebnisse einer randomisierten Kontrollstudie zur Wirksamkeit einer kombinierten Gesundheits- und Arbeitsförderung bei älteren Lang-zeitarbeitslosen (AmigA-M)

Hintergrund

Krankheit ist Ursache und Folge von Arbeitslosigkeit. Empirisch gleicht der Zusammenhang zwischen Arbeitslosig-keit und psychischer und physischer Ge-sundheit einem Teufelskreis: Gesund-heitlich beeinträchtigte Menschen wer-den leichter arbeitslos (Selektionseffekt), Arbeitslosigkeit begründet und verstärkt diese Beeinträchtigungen (Kausaleffekt), was wiederum die Chancen auf eine Be-schäftigung vermindert [1, 2, 3]. In einer großen metaanalytischen Studie [1] konn-te dies insbesondere für die Auswirkun-gen von Arbeitslosigkeit auf die psychi-sche Gesundheit gezeigt werden. Der durchschnittliche Anteil an Personen mit klinisch relevanten psychischen Störungs-symptomen unter den Arbeitslosen be-trug 34%, unter den Erwerbstätigen nur 16%. Vor allem die Dauer der Arbeitslo-sigkeit moderierte diesen Zusammen-hang – Langzeitarbeitslose hatten eine deutlich schlechtere psychische Gesund-heit als Kurzzeitarbeitslose. Befunde zur physischen Gesundheit sind etwas inkon-sistenter und Zusammenhänge zum Teil schwächer ausgeprägt, dennoch zeigt sich vor allem für Langzeitarbeitslose dieselbe Tendenz wie bei psychischen Störungen

etwa für Rückenschmerz [4] oder Blut-hochdruck [5].

Im Kontrast zu diesen Befunden steht das noch geringe Wissen über wirksame Maßnahmen zur Verbesserung des ge-sundheitlichen Zustandes. Dabei ist die zentrale Aufgabe einer Evaluation nicht nur die Feststellung einer Veränderung, sondern vor allem die Absicherung der Kausalität, das heißt der Verursachung einer Veränderung durch die Interven-tion. Dies ist vor allem in realen Settings schwierig; umso wichtiger sind metho-disch hochwertige Designs [6, 7, 8, 9]. In [10] werden erstmals Evaluationsergeb-nisse einiger deutscher Projekte zur Ge-sundheitsförderung für Arbeitslose zu-sammenfassend dargestellt. Drei der 6 dort vorgestellten Projekte (Fit-Beratung, AktivA und Bridges) wurden mit kont-rollierten Pre-Post-Test-Designs evalu-iert, 3 weitere [JobFit, Train to Job und AmigA (vgl. Intervention)] mit einfa-chen Pre-Post-Test-Designs ohne Kon-trollgruppen. Nach [6, 7] handelt es sich vor allem bei letzteren Designs um schwache epidemiologische Evidenzstu-fen. Mit diesen und weiteren Einschrän-kungen (unter anderem kaum vergleich-bare Zielgruppen, Zielkriterien und Er-hebungsmethoden) zeigen sich tenden-

ziell kleine bis mittlere positive Effekte (Konvention nach [11]) der Interventio-nen auf psychische Beschwerden wie De-pressionen [12, 13], keine [14] bis mittle-re Effekte [15] auf die Einschätzung der Leistungsfähigkeit. Globale Verbesserun-gen der Gesundheit werden für AmigA bei 39% der Teilnehmer angegeben [14] sowie 12,4% Integrationen in den ersten Arbeitsmarkt bei AmigA- Flensburg [16] – jeweils ohne Möglichkeit der Effekt-größenabschätzung mit den vorhande-nen Angaben. Gleichzeitig berichten 35% der Teilnehmer von AmigA, dass ihnen die Angebote wenig oder gar nicht gehol-fen haben [10].

Die im Folgenden dargestellte Studie untersucht vor dieser Befundlage erstma-lig in einer randomisierten, kontrollierten Studie die Wirksamkeit der Intervention AmigA-M – Arbeitsförderung mit ge-sundheitsbezogener Ausrichtung in Mün-chen ([17]; vgl. Abschnitt Intervention) sowohl mit Blick auf die Gesundheit der Teilnehmer als auch hinsichtlich arbeits-marktrelevanter Aspekte. Bezogen auf die bisherigen Befunde werden dabei kleine bis mittlere Effekte für Kriterien psychi-scher Gesundheit und kleine Effekte auf die physische Gesundheit und auf arbeits-marktrelevante Aspekte erwartet.

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Originalien und Übersichten

Page 2: Alt, krank, arbeitslos, chancenlos?

Methoden

Die Intervention AmigA-M

Bei der Intervention AmigA handelt es sich um ein Konzept beschäftigungs-orientierten Fallmanagements mit ge-sundheitsbezogener Ausrichtung [17], al-so um eine Maßnahme im Rahmen des SGB II. Zielgruppen von AmigA sind Langzeitarbeitslose mit vermittlungs-relevanten gesundheitlichen und/oder psychosozialen Einschränkungen. Zen-trale Ziele des Konzeptes sind eine Ver-besserung der Gesundheit und Integra-tionsfähigkeit der Arbeitslosen sowie die nachhaltige berufliche Wiedereingliede-rung. Dies soll durch eine enge, hoch-gradig individualisierte Verzahnung von Maßnahmen der Arbeitsvermittlung mit gesundheitsbezogenen Maßnahmen er-reicht werden. Die umfassende Betreuung wird in AmigA durch ein interdisziplinä-res Fallmanagementteam realisiert, das aus einem beruflich-sozialen Fallmana-ger, (Sozial-)Mediziner und Psychothera-peuten besteht. Ausgehend von einer aus-führlichen gesundheits- und arbeitsbezo-genen Eingangsdiagnostik wird in einer Fallkonferenz über notwendige Maßnah-men entschieden. Das Fallmanagement-team begleitet und steuert die Durchfüh-rung dieser Maßnahmen. Aufgaben des Mediziners und des Psychotherapeuten sind neben der Diagnostik und Bereit-stellung von Entscheidungshilfen für den Fallmanager auch die Vermittlung von Angeboten des Gesundheitswesens sowie eine beratende Begleitung der Teilnehmer. Die Dauer von AmigA sollte etwa 6 Mo-nate betragen (s. auch [18]).

Aufgrund einer vergleichsweise posi-tiven Pilotevaluation des Modellpro-jektes (in Teilen berichtet in [19]) wur-de das AmigA-Konzept in weiteren Re-gionen umgesetzt [10]. Bei der hier eva-luierten Umsetzung in München wurde die Intervention in den Rahmen der In-itiative „Perspektive 50plus“ (Beschäfti-gungspakte in den Regionen) gestellt. Da-mit hat AmigA-M die Besonderheit, dass es sich bei den potenziellen Teilnehmern um Personen höheren Lebensalters (über 50 Jahre) handelt, was sich wiederum ne-gativ auf die berufliche Integrationsfähig-keit auswirkt [20].

Um die hohe Individualisierung der AmigA-M-Intervention mit den auf die Teilnehmer zugeschnittenen Maßnah-menkombinationen abzubilden, wur-den im Rahmen einer summativen Pro-zessevaluation alle mit den Teilnehmern unternommenen Schritte (Maßnahmen, Module, Arbeitsgelegenheiten, Therapien usw.) erfasst. Die Ergebnisse beschrei-ben die AmigA-M-Intervention genau-er: In den 6 Monaten der Intervention hatten die Teilnehmer durchschnittlich 8 Kontakte mit ihrem jeweiligen Fallma-nager (Dauer Ø 44 min), 4 Kontakte mit dem AmigA-Arzt (Dauer Ø 36 min) so-wie 3 Kontakte mit dem AmigA-Psycho-therapeuten (Dauer Ø 54 min). Die län-gere Dauer der psychotherapeutischen Termine ist dem Umstand geschuldet, dass sich die Vermittlung der Teilneh-mer in bestehende Angebote des Ge-sundheitssystems im Interventionszeit-raum als schwierig erwies, sodass kogni-tive Kurzzeittherapien bei Bedarf von dem AmigA- Psychotherapeuten selbst durch-geführt wurden. Im Vergleich zur Betreu-ungsdichte durch die Arbeitsagenturen ist die Kontakthäufigkeit in AmigA-M sehr hoch (zum Vergleich: Die Kontrollgrup-pe hatte während des Interventionszeit-raums durchschnittlich 1,1 persönliche Kontakte mit den jeweiligen Arbeitsver-mittlern). Neben den im Mittel 15 persön-lichen Kontakten erhielten die Teilnehmer durchschnittlich 3 gesundheitsbezogene (unter anderem ambulante Psychothera-pie, Suchtberatung, Rückenschule, medi-zinische Behandlung und/oder Rehabili-tation) und 2,2 arbeitsbezogene Maßnah-men (unter anderem Bewerbungstrai-ning, Gruppenaktivierung, Kompeten-zenbilanz, Qualifizierung).

Studiendesign

Die tendenziell positive Evaluierung der AmigA-Intervention [14, 19] geschah auf einer vergleichsweise schwachen epide-miologischen Evidenzstufe (Pre-Post-Test-Design). Aufgrund der hohen gesell-schaftlichen Relevanz des Themas wur-de daher zur Absicherung der Wirksam-keit eine randomisierte, kontrollierte Stu-die durchgeführt [6, 7, 21, 22]. Die Kon-trollgruppe wurde – wie auch bei anderen Gesundheitsinterventionen üblich – als

Wartegruppe realisiert. Zur Verhinderung eines Common-Method-Bias [23] wurde in der Ergebnisevaluation eine Kombina-tion von subjektiven und objektiven Ma-ßen sowie Experteneinschätzungen ge-nutzt (vgl. Abschnitt Daten). Das Mess-intervall der Ergebnisevaluation betrug durchschnittlich 6 Monate. Die t2-Tes-tung wurde in einem Zeitraum von bis zu 2 Wochen nach Abschluss der Inter-vention durchgeführt. Das positive Vo-tum der Ethikkommission der Medizi-nischen Fakultät der LMU München zur Studie liegt vor.

Einschlusskriterien und Randomisierung

Aufnahmekriterien für die Teilnahme an AmigA-M waren: 1. ein Alter von 50 Jahren oder älter, 2. langzeitarbeitslos, definiert als Perso-

nen im Geltungsbereich des SGB II, 3. Vorliegen vermittlungsrelevanter, ge-

sundheitlicher Beeinträchtigungen und

4. ausreichende deutsche Sprachkennt-nisse, damit eine aktive Teilnahme an den Maßnahmen möglich war.

Das dritte Kriterium bereitete aufgrund der unzureichenden Spezifität bei der Zuleitung und Auswahl von Teilnehmern zunächst Probleme und wurde mehrfach modifiziert. Schließlich wurde die Ver-mittlungsrelevanz im Wesentlichen durch das sozialmedizinische Leistungsbild be-stimmt. Medizinische und psychiatri-sche Diagnosen, die wegen ihrer Schwere und/oder Langwierigkeit kaum Vermitt-lungschancen in absehbarer Zukunft ver-muten ließen, führten zum Ausschluss.In Abstimmung mit dem die Intervention durchführenden Kooperationspartner (ARGE München) wurde für die Rando-misierung von 3 Annahmen ausgegangen: 1. Die Münchener Sozialbürgerhäuser

(SBH) können genügend Personen benennen, die die Einschlusskriterien erfüllen.

2. Die SBH haben mit Blick auf Ausbil-dung, Migrations- und sozialökono-mischen Status zum Teil einen unter-schiedlichen Betreuungsstamm.

3. Es wurde eine Fallzahl von 200 Perso-nen für die Evaluation angestrebt.

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Aufgrund zu geringer Zuleitungen (An-nahme 1) konnten jedoch nur 71 Perso-nen in die Evaluation eingeschlossen wer-den (. Abb. 1). Es wurde eine Randomi-sierung in 2 Gruppen stratifiziert für die SBH vorgenommen [24].

Die Münchner SBH benannten ent-lang der Einschlusskriterien potenziel-le Teilnehmer. Anhand der Zuleitungslis-te wurde die Randomisierung vorgenom-men, danach wurden die Personen zu Ge-sprächen mit den Fallmanagern eingela-den. Dort wurde ihnen das AmigA-Kon-zept vorgestellt und mitgeteilt, ob sie zur Warte- oder Interventionsgruppe gehö-ren. Dann konnten sie sich für oder gegen eine Teilnahme entscheiden. Die Teilnah-me war freiwillig und eine Ablehnung nicht mit Sanktionen verbunden. Zudem wurden in diesen Erstgesprächen durch die Fallmanager die Einschlusskriterien 1 (Alter), 2 (Langzeitarbeitslosigkeit) und 4 (Sprache) sowie grobe Verletzungen von Einschlusskriterium 3 (zugeleitete Kun-den, die nach eigenen Aussagen vollstän-dig gesund waren) geprüft und Personen ggf. ausgeschlossen. Die folgenden aus-führlichen Eingangsgespräche sowie die Diagnostik durch Sozialmediziner und Psychotherapeut waren bereits Bestand-teil der Intervention. Da hierbei die ge-sundheitsbezogene Eignung (Einschluss-kriterium 3) für AmigA überprüft wurde, kam es in der Interventionsgruppe neben der Ablehnung der Teilnahme auch zu Ausschlüssen wegen Nichtkonformität mit den Kriterien (vgl. . Abb. 1).

Datenquellen

Ziel von AmigA-M ist die Erhöhung der Anzahl nachhaltig in den Arbeitsmarkt eingegliederter Langzeitarbeitsloser mit vermittlungsrelevanten gesundheitlichen und/oder psychosozialen Einschränkun-gen sowie die Verbesserung der Integra-tionsfähigkeit und Gesundheit dieser Per-sonengruppe. Dementsprechend richtete sich die Evaluation auf die Integrationsfä-higkeit, die Beschäftigungssituation sowie die Gesundheit der Teilnehmer.

Physische GesundheitPhysische Gesundheit im Sinne körper-bezogener Beschwerden wurde im Selbst-bericht mit dem Gießener Beschwerde-

Zusammenfassung · Abstract

bogen (GBB-24; [25]) erfasst. Es wurden alle Unterskalen (Erschöpfungsneigung, Magenbeschwerden, Gliederschmerzen, Herzbeschwerden) erhoben sowie die Se-kundärskala Beschwerdedruck ausgewer-

tet. Der GBB-24 erfasst die subjektiven Beschwerden einer Person auf einer 5-stu-figen Skala (0=nicht; 4=stark; Summen-werte) ohne eine zeitliche Verankerung. Alle Skalenreliabilitäten liegen zu beiden

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B. Herbig · J. Glaser · P. Angerer

Alt, krank, arbeitslos, chancenlos? Ergebnisse einer randomisierten Kontrollstudie zur Wirksamkeit einer kombinierten Gesundheits- und Arbeitsförderung bei älteren Langzeitarbeitslosen (AmigA-M)

ZusammenfassungKrankheit kann Ursache und Folge von Arbeitslosigkeit sein. Diesen gut belegten Zu-sammenhängen stehen bisher nur wenige Daten zur Wirksamkeit von Interventionen gegenüber. Die vorliegende Studie unter-sucht, ob eine kombinierte Arbeits- und Ge-sundheitsförderungsmaßnahme (AmigA  – zurzeit an mehreren Orten in Deutsch-land durchgeführt) für die Zielgruppe älterer Langzeitarbeitsloser wirksam ist, um Gesund-heit, Beschäftigungsfähigkeit und Integra-tion zu verbessern. Die Evaluation wurde mit einem randomisierten, kontrollierten Design multimethodal durchgeführt. Es konnten 71 Teilnehmer eingeschlossen werden. Die Ergebnisse bestätigen frühere Befunde und zeigen eine psychisch sowie körperlich hoch-gradig belastete Gruppe. Die Intervention verbesserte die Depressivität, Selbstwirksam-

keit und Lebensqualität. Keine Effekte zeigten sich für körperliche Gesundheit, Integrations-fähigkeit und nachhaltige Integration. Es wird diskutiert, ob eine längere Dauer und höhe-re Interventionsintensität bessere Ergebnis-se liefern könnte. Die Notwendigkeit von Hil-fen und Maßnahmen für diese hochbelastete Personengruppe ist evident, weitere Studien sind jedoch notwendig, um zu entscheiden, ob die evaluierte Intervention geeignet ist, die Ziele der Gesundheits- und Arbeitsförde-rung als Regelmaßnahme zu erreichen.

SchlüsselwörterLangzeitarbeitslosigkeit · Gesundheits- und Arbeitsförderung · Interventionsevaluation · Randomisiertes kontrolliertes Design · Multimethodaler Ansatz

Old, sick, unemployed, without a chance? Results of a randomised controlled trial of the effects of a combined health and employment promotion program for the older long-term unemployed (AmigA-M)

AbstractIllness can be the cause and consequence of unemployment. These relationships are well documented but only few data on the effec-tiveness of interventions are available. The study examines the effectiveness of a com-bined health and employment promotion in-tervention (AmigA – currently projected in several sites in Germany) for the older long-term unemployed with the main goals of an improvement of health and integrability as well as sustainable reintegration into the la-bour market. The evaluation design is a ran-domised controlled trial with a multi-method approach. A total of 71 participants could be included in the evaluation. Initial results con-firm earlier findings on health and unemploy-ment and show a psychologically and physi-cally highly burdened sample. The interven-

tion tended to improve depression, self-effi-cacy and quality of life. No effects were found for physical health, integrability and sustain-able reintegration. It is discussed whether a longer duration and a higher intensity of the intervention might produce better results. The necessity of help and interventions for this highly burdened group of persons is evi-dent but further studies are necessary to de-cide if the evaluated intervention is adequate to reach the goals of health and employment promotion as a standard measure.

KeywordsLong-term unemployment · Health and employment promotion · Intervention evaluation · Randomised controlled trial · Multi-method approach

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Originalien und Übersichten

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Messzeitpunkten in einem zufriedenstel-lenden (Cronbachs α=0,76 für Herzbe-schwerden an t1) bis sehr guten Bereich (Cronbachs α=0,93 für Beschwerdedruck an t2). Die im Test geforderte anderwei-tige Erfassung objektiver Symptome er-folgte nach ICD-Klassifikation durch die AmigA-Ärzte im Zuge der Eingangsdia-gnostik. Dokumentiert wurde das Auftre-ten von Problemen für die Bereiche Ge-lenke, Muskeln, Bandscheibe; Herz-Kreis-lauf-System; Magen-Darm/innere Orga-ne; Allergien/Hauterkrankungen; HNO, Atmungsorgane sowie Sonstige.

Psychische GesundheitPsychische Gesundheit wurde mit dem Pa-tient Health Questionnaire PHQ-D [26] erfasst. Die erhobenen Bereiche sind De-pression, Angstsyndrome und ein Alko-holscreening. Für die Verfahrensbereiche Depression und Angst erlaubt der PHQ-D eine kategoriale Auswertung mit Blick auf ICD-Diagnosen. Die 4-stufige Depres-sionserfassung (0=überhaupt nicht; 3=bei-nahe jeden Tag) erreicht gute Reliabilitäten (Cronbachs α t1=0,89, t2=0,85), die 3-stu-fige Angsterfassung (0=überhaupt nicht, 2=an mehr als der Hälfte der Tage) zufrie-denstellende Reliabilitäten (Cronbachs α

t1=0,73, t2=0,65). Wie für den GBB-24 wurden auch diese Selbstberichtsdaten durch eine Fremdbeurteilung des Ami-gA-Psychotherapeuten für den ICD-Be-reich Psychische Krankheiten einschließ-lich Sucht ergänzt (s. oben).

Globale LebensqualitätGlobale Lebensqualität als „weiches“ Gesundheitskriterium wurde mit dem WHOQOL-BREF [27] erfasst. Sie um-fasst die Bewertung der eigenen Lebens-qualität und die Zufriedenheit mit der eigenen Gesundheit auf jeweils 5 Stufen (1=sehr schlecht; 5=sehr gut; auf 100er-Skala transformierte Werte). Die Reliabi-lität erreicht mit Cronbachs α=0,76 zu t1 und 0,69 zu t2 zufriedenstellende Werte. Ergänzend wurden ärztliche/psychothe-rapeutische Urteile nach ICF [28] – als äquivalente Einteilung [29] – entlang der Hauptdimension „Aktivitäten und Parti-zipation (Teilhabe)“ vorgenommen.

Persönliche RessourcenIm Bereich persönlicher Ressourcen wurden als relevante und empirisch gut belegte Konzepte die Selbstwirksam-keit mit dem Fragebogen zu Kompe-tenz- und Kontrollüberzeugungen (FKK;

[30]) auf einer 6-stufigen Likert-Ska-la (1=sehr falsch; 6=sehr richtig; Cron-bachs α t1=0,79, t2=0,83), Kohärenzge-fühl als Summenwert mit der Leipziger Kurzskala zum Kohärenzgefühl [31] mit 7-stufigem Antwortformat (Cronbachs α t1=0,80, t2=0,87) und soziale Ressourcen mit dem Fragebogen zur Sozialen Unter-stützung [32] auf einer 5-stufigen Likert-Skala (1=trifft nicht zu; 5=trifft genau zu; Cronbachs α t1=0,93, t2=0,95) erhoben.

ArbeitsmarktintegrationSchließlich wurde die Arbeitsmarktinte-gration einerseits anhand von Einschät-zungen der Fallmanager zur sog. „Kun-den-Profillage“ bestimmt, einer Klassifi-kation der Bundesagentur für Arbeit mit Blick auf die Arbeitsmarktnähe und den Förderbedarf [33]. Dabei wurden die Teil-nehmer durch ihren Fallmanager jeweils einem von insgesamt 6 definierten Pro-filen zugeordnet [33]. Zentrale, in diese Bewertung einfließende Aspekte sind die Qualifikation, Leistungsfähigkeit, Mo-tivation und die Rahmenbedingungen. Das Alter ist kein explizites Einteilungs-kriterium. Profillagen sind ein wichtiges Steuerelement der Integrationsbemühun-gen mit Blick auf den Förderbedarf und die Integrationswahrscheinlichkeit und werden auch in der Regelarbeit der Bun-desagentur für Arbeit eingesetzt. Zum an-deren wurde als zentrales Kriterium die objektive Beschäftigungssituation vor und nach der Intervention erfasst.

Alle Selbstberichtsdaten wurden in einer Testbatterie unter Anleitung und Aufsicht einer Studienassistentin erho-ben, während ICD und ICF zur Validie-rung der Selbstberichtsdaten sowie Profil- und Integrationsdaten zeitnah durch den AmigA-Arzt, -Psychotherapeuten bzw. Fallmanager eingeschätzt und dokumen-tiert wurden. Die wünschenswerte Erfas-sung von Einschätzungen für die Warte-gruppe konnte aufgrund zeitlicher Vorga-ben durch den Projektträger leider nicht realisiert werden.

Statistische Auswertung

Zur Auswertung des randomisierten, kon-trollierten Designs werden 2 (Interven-tions-/Wartegruppe) X 2 (Messzeitpunkt) faktorielle Varianzanalysen mit Messwie-

N = 281 Zuleitungen aus 12Münchener Sozialbürgerhäusern

Ausschluss: N = 176, davon wegen- Aufnahmekriterien: N = 32- (laufendes) Berentungsverfahren N = 11- Kein Interesse N = 15- Non-Compliance N = 19- Kein Einverständnis N = 8- Sonstiges N = 52- Grund unbekannt N = 39

N = 105 nach Erstkontakt geeignetePersonen

N = 52Interventionsgruppe

N = 53 Wartegruppe

Ausschluss nach Fallkonferenz N = 19

Dropouts: N = 9

Dropouts: N = 6

N = 27Interventionsgruppe

N = 44 Wartegruppe

t1

t2

Abb. 1 8 CONSORT-Schema: Rekrutierung der Teilnehmer an der AmigA-M-Studie

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derholung genutzt. Die Voraussetzungen (Intervallskalierung, Normalverteilung, Varianzhomogenität) wurden geprüft. Bei nicht intervallskalierten Daten sowie bei Verletzung der Voraussetzungen werden nichtparametrische Verfahren verwendet.

Um bei einer so wichtigen Fragestel-lung wie der Evaluation einer komple-xen und gesellschaftlich relevanten Inter-vention keine Effekte zu übersehen, wur-de eine Irrtumswahrscheinlichkeit von α=0,10 angenommen. Eine Sensitivitäts-analyse mit G*Power 3.1 [34] zeigte, dass durch diese Maßnahme mit der vorhan-denen Stichprobengröße und bei den ver-wendeten Verfahren auch die erwarteten kleinen Effekte entdeckt werden können (bei Berechnung nach [11], Effektstär-ken im Bereich von 0,20 bis 0,22; bei Be-rechnung durch Hinzunahme der durch-schnittlichen empirischen Retest-Korrela-tionen von 0,65 [34], Effektstärken im Be-reich von 0,09 bis 0,12). Eine α-Adjustier-ung wurde aufgrund der kleinen Stich-probe nicht vorgenommen. Alle Analy-sen wurden mit PASW Statistics 18.0 von SPSS Inc. durchgeführt.

Ergebnisse

Teilnehmer und Überprüfung der Randomisierung

. Tab. 1 beschreibt die Stichprobe und zeigt, dass alle relevanten Merkmale in der Warte- und Interventionsgruppe gleich verteilt sind. Sowohl in den soziodemo-grafischen Merkmalen Geschlecht, Al-ter, Nationalität, Familienstand und An-zahl betreuungsbedürftiger Personen im Haushalt als auch in den ausbildungsbe-zogenen Aspekten Schulausbildung, -ort und -abschluss, Berufsausbildung, -ort und -abschluss unterscheiden sich die Gruppen nicht signifikant voneinander. Auch sind die Dauer der Arbeitslosig-keit betreffende Aspekte in beiden Grup-pen gleich verteilt. Eine Kontrolle einzel-ner Aspekte in den Auswertungen ist da-her nicht notwendig.

Situation der Teilnehmer vor der Intervention

In . Tab. 2 sind die Ausprägungen aller relevanten Merkmale vor der Interven-

Tab. 1  Interventions- und Wartegruppe im Vergleich; soziodemografische und arbeitsbezo-gene Merkmale zu Studienbeginn

Merkmala Interventionsgruppe, n≤27

Wartegruppe, n≤44 χ2 oder T-Statistik

Geschlecht     2,26 (n.s.)

Männer 16 (59,3%) 18 (40,9%)  

Frauen 11 (40,7%) 26 (59,1%)  

Alter     −0,17 (n.s.)

M=53,4 M=53,3  

SD=2,64 SD=2,87  

Nationalität     2,56 (n.s.)

Deutsch 23 (85,2%) 30 (68,2%)  

Nicht deutsch 4 (14,8%) 14 (31,8%)  

Familienstand     0,01 (n.s.)

Allein lebend 17 (63,0%) 30 (68,2%)  

Mit (Ehe-)Partner/-in lebend

7 (25,9%) 13 (29,6%)  

Schulausbildungb     1,17 (n.s.)

Hauptschule/Werk-realschule

13 (48,2%) 21 (47,7%)  

Realschule/Regional-schule

4 (14,8%) 8 (18,2%)  

Gymnasium 3 (11,1%) 4 (9,1%)  

Sonstige allgemein-bildende Schule

2 (7,4%) 1 (2,3%)  

Schulabschlussb     0,48 (n.s.)

Ohne Schulabschluss 5 (18,6%) 5 (11,4%)  

Mit Schulabschluss 16 (59,3%) 26 (59,1%)  

Berufsausbildungb     2,75 (n.s.)

Berufsausbildung (be-trieblich)

14 (51,9%) 21 (47,7%)  

Berufsausbildung (schulisch)

1 (3,7%) 6 (13,6%)  

Studium 3 (11,1%) 2 (4,6%)  

Keine 6 (22,2%) 9 (20,5%)  

Berufsabschlussb     0,90 (n.s.)

Ohne Berufsabschluss 8 (29,6%) 9 (20,5%)  

Mit Berufsabschluss 11 (40,7%) 22 (50,0%)  

Beendigung des letzten Arbeitsverhältnissesc

(in Tagen) (in Tagen) −0,67 (n.s.)

M=2644,6 M=2294,0  

SD=2085,8 SD=2140,4  

Dauer des ALG-II-Be-zugsd

(in Tagen) (in Tagen) 0,20 (n.s.)

M=1393,0 M=1433,1  

SD=938,1 SD=712,1  

Anzahl früherer Maß-nahmene

    2,83 (n.s.)

Keine 3 (11,1%) 11 (25,0%)  

1–3 17 (63,0%) 22 (50,0%)  

4–6 7 (25,9%) 10 (22,3%)  

7–9 0 (0,0%) 1 (2,3%)  aNicht aufgetretene Antwortmöglichkeiten werden nicht dargestellt. bGeringere Fallzahlen aufgrund nicht rekonstruierbarer Bildungsverläufe oder Abschlüssen im Ausland. cZeit seit Beendigung des letzten Arbeits-verhältnisses auf 1. Arbeitsmarkt; bezogen auf Erstkontakt mit AmigA; Tätigkeit ohne geringfügige und länger als 3 Monate. dBezogen auf Erstkontakt mit AmigA; ohne Unterbrechungen kürzer als 3 Monate; systematisch unterschätzt, da eine Reihe von Teilnehmern bereits vor dem Stichtag 01.01.2005 Sozialhilfe bezogen (genaue Daten nicht verfügbar). eIntegrations- und Eingliederungsmaßnahmen seit Beginn ALG-II-Bezug.

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Originalien und Übersichten

Page 6: Alt, krank, arbeitslos, chancenlos?

tion dargestellt. In keinem Bereich unter-scheiden sich die Interventions- (IG) und Kontrollgruppe (CG) voneinander, was als weiterer Hinweis auf die gelungene Ran-domisierung gewertet werden kann. In-haltlich zeigen die Daten eine erhebliche Beeinträchtigung der körperlichen Ge-sundheit bei allen Teilnehmern (GBB-24 [25]). Diese subjektiv starke Beeinträch-tigung der körperlichen Gesundheit wird durch die ärztlichen Beurteilungen der IG deutlich bestätigt. Auch im Bereich der psychischen Gesundheit (PHQ-D [26]) finden sich vor der Intervention im Ver-gleich zu Punktprävalenzen in der Allge-meinbevölkerung erheblich erhöhte De-

pressions- und Angstwerte. Lediglich das Screening auf ein Alkoholsyndrom führt zu Daten, die in etwa denen in der allge-meinen Bevölkerung entsprechen. Auch in diesem Themenbereich werden die Selbst-berichtergebnisse durch die psychothera-peutische Beurteilung der IG bestätigt. Die globale Lebensqualität nach WHO-QOL-BREF [27] war unterdurchschnitt-lich; nur etwa ein Drittel der Stichprobe lag im Normbereich. Die Expertenurteile be-stätigen auch diesen Befund. Selbstwirk-samkeit [30] und soziale Unterstützung [32] liegen im mittleren Bereich. Auffällig ist allerdings, dass die „soziale Integration“ deutlich geringer ausfällt (IG: M=2,79,

SD=1,05; CG: M=2,80, SD=1,10), was ver-muten lässt, dass die Stichprobe zwar so-ziale Unterstützung durch (wenige) andere erhält, die soziale Aktivität und die Größe des sozialen Netzwerkes aber gering aus-fallen. Das Kohärenzgefühl [31] ist in der Stichprobe deutlich geringer ausgeprägt als in der Allgemeinbevölkerung.

Veränderungen in der physischen Gesundheit

Nach der Intervention zeigen sich für die körperliche Gesundheit weder signi-fikante Interaktionseffekte zwischen den Faktoren Messzeitpunkt und Gruppe

Tab. 2  Ausgangswerte der Stichprobe in den verschiedenen Evaluationsbereichen

Merkmal Interventionsgruppe, n≤27 Wartegruppe, n≤44 Unterschied Mittlerer Prozentranga

Physische Gesundheit M SD M SD Physische Gesundheit IG CG

Erschöpfungsneigung [25] 10,85 6,58 11,57 5,95 n.s. 83 86

Magenbeschwerden [25] 5,93 4,14 5,14 4,43 n.s. 78 73

Gliederschmerzen [25] 12,33 5,55 11,91 5,26 n.s. 83 81

Herzbeschwerden [25] 6,15 4,23 7,18 4,98 n.s. 79 83

Gesamtbeschwerdedruck [25] 35,26 16,65 35,80 15,81 n.s. 86 86

ICD-Expertenbeurteilung zu … % Problem vorhanden      

    Gelenke, Muskeln, Bandscheibe 96,3

    Herz-Kreislauf-System 55,6

    Magen-Darm/innere Organe 66,7

    Allergien/Hauterkrankungen 11,1

    HNO/Atmungsorgane 11,1

    Sonstige (u. a. urologisch, gynäko-logisch)

22,2

Psychische Gesundheit % %   PP

Major-depressives-Syndrom [26] 25,9 25,0 n.s. Ca. 2–9%

Anderes depressives Syndrom [26] 25,9 9,1

Angstsyndrom [26] 14,8 18,2 n.s. Ca. 7%

Verdacht auf Alkoholsyndrom [26] 11,1 9,1 n.s. Ca. 7–9%b

ICD-Expertenbeurteilung        

    Leichte bis mäßige Beeinträchtigung 25,9      

    Starke psychische Beeinträchtigung 40,7

Lebensqualität M SD M SD   % im Normbereich

Globale Lebensqualität [27] 42,59 23,83 36,65 22,46 n.s. 29,5 31,8

ICF-Experteneinschätzung %           Leichte Beeinträchtigung 7,4

    Mäßige Problemausprägung 66,7

    Erhebliche Problemausprägung 25,9

Persönliche Ressourcen M SD M SD   IG CG

Kohärenzgefühl [31] 40,11 8,29 39,27 10,65 n.s. 28 31

Selbstwirksamkeit [30] 4,33 0,64 4,08 0,88 n.s. TM=3,5

Soziale Unterstützung [32] 3,31 1,15 3,44 0,93 n.s. TM=3,0n.s. nicht signifikant, PP Punktprävalenz (Vergleichswert), TM theoretischer Mittelwert der Skala (Vergleichswert).aFalls vorhanden, bezogen auf repräsentative Bevölkerungsstichproben wie in den Testmanualen dokumentiert (Literaturangaben hinter den Skalen), adjustiert für Alter und/oder Geschlecht; wenn nicht vorhanden, Prävalenzen oder theoretischer Mittelwert von Skalen. bFür Alkoholabhängigkeit.

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Page 7: Alt, krank, arbeitslos, chancenlos?

noch Haupteffekte für die Messzeitpunk-te oder Gruppen noch einfache Hauptef-fekte (d. h. Unterschiede innerhalb einer Faktorstufe). Im Einzelnen verweisen die Interaktionseffekte und Effektgrößen auf keinerlei Veränderungen: Erschöpfungs-neigung F(1,68)=0,49 (p=0,49; η2=0,007), Magenbeschwerden F(1,68)=0,25 (p=0,62; η2=0,004), Gliederschmerzen F(1,68)=0,28 (p=0,60; η2=0,004), Herzbeschwerden F(1,68)=0,06 (p=0,80; η2=0,001) und Be-schwerdedruck F(1,68)=0,43 (p=0,52; η2=0,006).

Veränderungen in der psychischen Gesundheit

In den depressiven Syndromen zeig-ten sich nach der Intervention signi-fikante Veränderungen (Mann-Whit-ney-U=469,5, p=0,065; . Abb. 2). Es kam zwar in beiden Gruppen in Einzel-fällen auch zu Verschlechterungen, aber in der IG zeigen sich deutlich mehr Ver-besserungen. Mehr Teilnehmer der IG als der CG zeigen Verbesserungen eines Ma-jor-depressiven-Syndroms (als schwers-

ter Störung) hin zu einer leichteren oder von einer leichteren zu keiner depressiven Störung.

Weder bei Angstsyndromen (Mann-Whitney-U=563,5, p=0,35) noch bei Alko-holsyndromen (Mann-Whitney-U=589,0, p=0,68) zeigten sich durch die Interven-tion signifikante Veränderungen.

Veränderungen in der Lebensqualität

Der Interaktionseffekt für die globale Le-bensqualität wird knapp nicht signifikant (F(1,68)=2,48, p=0,12; η2=0,035). Es fin-det sich jedoch ein Haupteffekt der Grup-pe (F(1,68)=3,46, p=0,067; η2=0,048) sowie ein knapp die Signifikanzgrenze verfeh-lender Haupteffekt der Zeit (F(1,68)=2,48, p=0,12; η2=0,035). Diese Effekte beru-hen auf Verbesserungen in der IG (von M=42,59 auf M=49,54, einfacher Haupt-effekt F(1,26)=3,69, p=0,066; η2=0,124), die sich zum zweiten Messzeitpunkt si-gnifikant von der CG unterscheidet (IG M=49,54, CG M=37,21, einfacher Haupt-effekt: F(1,68)=6,53, p=0,013; η2=0,088; . Abb. 3).

Veränderungen in den persönlichen Ressourcen

Nach der Intervention findet sich ein knapp die Signifikanzgrenze verfehlender Interaktionseffekt für die Selbstwirksam-keit (F(1,68)=2,68, p=0,107; η2=0,038). Be-dingt wird dieser Effekt durch den Haupt-effekt der Gruppe (F(1,68)=3,76, p=0,057; η2=0,052) sowie jeweils einem nichtsi-gnifikanten Absinken in der CG und einem Anstieg in der IG, was schließlich zu einem einfachen Haupteffekt zwischen den Gruppen an t2 führt (F(1,68)=6,03, p=0,017; η2=0,081). Die weiteren persönli-chen Ressourcen verändern sich nicht sys-tematisch (Interaktionseffekte: Kohärenz-gefühl F(1,68)=1,59, p=0,21; η2=0,023; so-ziale Unterstützung F(1,68)=0,00, p=0,97; η2=0,000).

„Kundenprofile“ und Arbeitsmarkintegrationen

Die sog. Kundenprofillagen [36], die im Längsschnitt nur für die IG vorliegen, wurden von den Fallmanagern des Inter-

100

90

80

70

60

50

40

30

20

10

0verschlechtert unverändert verbessert

29.6

11.4

59.3

77.3

11.111.4

Mann-Whitney-U = 469.5, p =.065

Verä

nder

ung

bei d

en d

epre

ssiv

en S

yndr

omen

(PH

Q-D

)

WartegruppeInterventionsgruppe

Abb. 2 8 Veränderung in den depressiven Syndromen nach dem Patient Health Questionnaire (PHQ-D; Δ-Werte; Angaben in Prozent)

Interaktion: F = 2.48, p = .12 WartegruppeInterventionsgruppe

.013*

n.s.

Glo

bale

Leb

ensq

ualit

ät (W

HO

QO

L-BR

EF)

p = .066+

n.s.37.21

Messzeitpunkt 1 Messzeitpunkt 2

42.59 37.21 49.54

70

60

50

40

30

20

10

0

Abb. 3 8 Veränderung in der globalen Lebensqualität nach dem WHO-Instrument zur Erfassung von Lebensqualität (WHOQOL)

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Originalien und Übersichten

Page 8: Alt, krank, arbeitslos, chancenlos?

ventionsteams eingeschätzt. Vor der Inter-vention wurden 22,2% der Teilnehmer den 3 arbeitsmarktnahen Profilen (Markt-, Ak-tivierungs- und Förderprofil), alle ande-ren Teilnehmer den marktfernen Profilen mit komplexen Problemlagen zugeordnet (Entwicklungsprofil 37%, Stabilisierungs-profil 29,6%, Unterstützungsprofil 11,1%). Nach der Intervention wurden 34,6% der Teilnehmer in den 3 marktnahen Profilen gesehen. Ein Wilcoxon-Test für verbunde-ne Stichproben über alle Profillagen zeigt, dass dieser Unterschied nicht signifikant ist (Z=−0,722, p=0,62). Insbesondere die Häufigkeit der Teilnehmer mit der kom-plexesten Problemlage (Unterstützungs-profil) bleibt mit 11,5% zu t2 nahezu stabil. Veränderungen finden im Wesentlichen zwischen Förder- und Entwicklungspro-filen statt.

Die Arbeitsmarktintegration war eine zentrale Zielgröße der Intervention. Ent-gegen der ursprünglichen Annahme, dass die Zielgruppe der AmigA-Intervention keinerlei Arbeit nachgehe, zeigte sich, dass vor der Intervention je 1 Person der IG und CG an Marktersatzmaßnahmen teilnah-men sowie 2 Personen der IG (7,4%) und 6 Personen der CG (14,6%) Minijobs in-nehatten. Eine Auswertung der binär ko-dierten Variablen (Beschäftigung/keine Beschäftigung) zeigt, dass sich CG und IG weder vor noch nach AmigA-M syste-matisch unterscheiden. Allerdings nimmt die Anzahl der Personen, die irgendeine Form von Beschäftigung haben, in bei-den Gruppen zwischen den beiden Mess-zeitpunkten zu (CG: Z=−1,73, p=0,083; IG: Z=−2,45, p=0,014).

Da es auch um die nachhaltige Reinte-gration in den Arbeitsmarkt ging, wurden die Arten der neu aufgenommenen Tätig-keiten betrachtet (von diesem Vergleich wurden Personen mit Arbeit zu t1 ausge-schlossen): Nach der Intervention hatten jeweils 2 Personen der IG (8,3%) und der CG (5,9%) eine geringfügige Tätigkeit auf-genommen. In der IG erhielt 1 Person eine Tätigkeit auf dem zweiten Arbeitsmarkt (4,2%), und schließlich erhielten 2 Per-sonen der IG (8,3%) und 1 Person der CG (2,9%) eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Unterschiede zwischen den Gruppen sind statistisch nicht signifi-kant (χ2=1,33, p=0,25).

Diskussion

Arbeit hat neben der manifesten Funk-tion, ausreichend Geld für den Lebens-unterhalt zu verdienen, auch eine Reihe latenter Funktionen (unter anderem Zeit-strukturierung, Sinngebung, soziale Ein-bindung [35, 36]), die durch Arbeitslosig-keit erodiert werden. Einige dieser laten-ten Funktionen sind mittlerweile als zen-trale salutogenetische Konzepte zur Ge-sunderhaltung und Gesundheitsförde-rung identifiziert (etwa soziale Unterstüt-zung und Kohärenzgefühl). So verwun-dert es nicht, dass in den letzten Jahren immer deutlicher wurde, dass Arbeits-losigkeit Krankheit verursachen kann [1, 37, 38]. Der Gesetzgeber hat mit einer Ins trumentenreform zu SGB II und III dieser Tatsache Rechnung getragen, so-dass nun verstärkt kombinierte Gesund-heits- und Arbeitsfördermaßnahmen ge-fördert werden können [39]. Bei der Eva-luation von Maßnahmen dieser Art ist zu beachten, dass sie nach der strengen Tren-nung des Gesetzgebers dem Rechtskreis des SGB II (oder III) zuzuordnen sind, d. h. der Arbeitsförderung, und nicht dem Rechtskreis des SGB V, der Zuständigkeit gesetzlicher Krankenkassen und damit der Gesundheitsförderung. Damit müssen die Integrationsfähigkeit als Nahziel und die Reintegration in den Arbeitsmarkt als pri-märes Fernziel ein wichtiges Bewertungs-kriterium der Maßnahmen sein. Die hier vorgestellte Evaluation einer solchen Maß-nahme, AmigA-M, untersuchte erstmalig mit einem kontrollierten, randomisierten Design als Goldstandard epidemiologi-scher Studien [6, 7] die Effekte der Inter-vention auf die Integrationsfähigkeit, die Integration in den Arbeitsmarkt und auf die psychischen und physischen Gesund-heitsindikatoren.

Die Situation der älteren Langzeit-arbeitslosen vor der Intervention zeigt, dass sie sowohl nach eigener als auch nach Fremdeinschätzung im Vergleich zur All-gemeinbevölkerung körperlich und see-lisch hoch belastet sind. Die halbjährige Intervention zeigte im Wesentlichen fol-gende, meist kleine Effekte: eine signifi-kante Verbesserung der selbstberichteten Depressivität sowie tendenzielle, knapp das Signifikanzniveau verfehlende Verbes-serungen in der Lebensqualität und Selbst-

wirksamkeitsüberzeugung. Keine Effekte zeigten sich bei der körperlichen Gesund-heit und anderen Aspekten der seelischen Gesundheit. Auch ließen sich keine Effekte auf die Vermittlungsfähigkeit oder die tat-sächliche Vermittlung in eine reguläre Be-schäftigung nachweisen.

Diese Ergebnisse stehen mit Blick auf gesundheitliche Aspekte in einem deutli-chen Unterschied zu Befunden von [14]. Dort wurde eine Verbesserung des sub-jektiven Gesundheitszustandes bei 39% der Teilnehmer festgestellt. Obwohl auf-grund unterschiedlicher Erhebungsme-thoden und Zielgruppen eine direkte Ver-gleichbarkeit kaum gegeben ist, findet sich in den Gesundheitsindikatoren der hier vorgestellten Evaluation keine derartige Verbesserung. Ob dies ursächlich auf die verschiedenen Zielgruppen und auf mög-liche Unterschiede in den gesundheitli-chen Beeinträchtigungen zurückzufüh-ren ist, lässt sich aus den vorhandenen Daten nicht ablesen. Denkbar wäre aber, dass das höhere Alter der AmigA-M-Teil-nehmer mit einer ausgeprägteren Multi-morbidität einhergeht, sodass eine Ver-besserung des Gesundheitszustandes län-ger dauern könnte. Hinsichtlich der Rein-tegration werden bei [19] 19% wiederein-gegliederte Teilnehmer in den ersten oder zweiten Arbeitsmarkt beschrieben. In der vorliegenden Evaluation werden – bezo-gen auf die Aufnahme irgendeiner Form von Beschäftigung – sogar 25% der Teil-nehmer wiedereingegliedert. Das kontrol-lierte, randomisierte Design zeigte jedoch, dass dieser Effekt im Vergleich zur Warte-gruppe sehr klein ist und sich nicht auf die Intervention zurückführen lässt. Wenn die Nachhaltigkeit der Beschäftigungsart be-trachtet wird, lässt sich kein Unterschied zur Wartegruppe mehr finden. Wie die „Prävalenzen“ von geringfügigen Beschäf-tigungen (Minijobs und Ähnliches) zu t1 zeigen, sind diese Formen der Beschäfti-gung durchaus auch bei einer stark belas-teten Personengruppe wie den AmigA-M-Teilnehmern möglich. Vor diesem Hinter-grund sollte der Erfolg einer Intervention nur daran gemessen werden, dass Teilneh-mer mit entsprechenden Arbeitsverträgen nachhaltig in den ersten Arbeitsmarkt in-tegriert werden. Für 2010 wird berichtet [20], dass etwa 21% der älteren Arbeitslo-sen (über 50 Jahre) nicht-subventionier-

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te Beschäftigungsverhältnisse aufnehmen konnten. Die Eingliederungsbilanz nach § 54 SGB II der ARGE München weist für 2009 (Daten 2010 sind nicht verfügbar) eine Beschäftigungsaufnahme bei Lang-zeitarbeitslosen von 23,3% aus. Entspre-chende Vergleichszahlen für die AmigA-M-Zielgruppe liegen nicht vor (vgl. [19], Fußnote 1), ein unmittelbarer Vergleich ist daher unzulässig. Dennoch bleiben 2 In-tegrationen in den ersten Arbeitsmarkt in der Interventionsgruppe (7,4%) im Ver-gleich zu einer Integration in der Warte-gruppe deutlich hinter diesen Werten zu-rück.

Damit stellt sich sowohl in Bezug auf die Gesundheitsindikatoren als auch mit Blick auf die Vermittlungsfähigkeit und Reintegration die Frage, wie die geringen bis nicht vorhandenen Unterschiede zwi-schen Interventions- und Wartegruppe zu erklären sind. Methodisch wurde ein De-sign realisiert, das nach [6, 7] gute Evidenz zur Annahme oder Ablehnung einer Inter-vention liefert. Sensitivitätsanalysen erga-ben, dass trotz der unerwünscht kleinen Stichprobe auch kleine Effekte auffindbar sein sollten. Die genutzten Verfahren zeig-ten ebenfalls eine gute Messgüte. Kritisch sind aus methodischer Sicht die Erhö-hung der Irrtumswahrscheinlichkeit und die nicht durchführbare α-Adjustierung für die multiplen Testungen zu sehen. Bei-de Probleme sollten aber eher dazu führen, dass Unterschiede signifikant werden, die tatsächlich nicht vorhanden sind, sodass sie die aufgefundenen Ergebnisse nicht erklären können. Durch das in Interven-tionsstudien nicht zu verhindernde Pro-blem der fehlenden Verblindung können auch Placeboeffekte nicht ausgeschlossen werden. Dies würde ebenfalls die Interven-tionseffekte weiter minimieren; ein der-artiger Einfluss sollte aber durch das mul-timethodale Design mit Fremdbeurteilun-gen abgepuffert worden sein.

Mit Blick auf die gesundheits- und arbeitsbezogenen Evaluationsparame-ter wäre auch zu diskutieren, dass das Ur-sprungskonzept von AmigA nicht ältere Langzeitarbeitslose zur Zielgruppe hatte wie AmigA-M. Das AmigA-Konzept [17] gibt keinen Anlass, altersdifferenzierte Ef-fekte zu vermuten. Allerdings ist anzuneh-men, dass das höhere Alter der Zielgrup-pe sowohl mit potenziell längeren Arbeits-

losigkeitszeiten [20] als auch mit einer hö-heren Multimorbidität [4, 5] einherge-hen kann, sodass die im Konzept avisier-te Interventionsdauer von 6 Monaten zu kurz sein könnte. Die in der Prozesseva-luation von AmigA-M erhobenen Daten liefern Hinweise darauf: Die gesundheit-lichen Beeinträchtigungen waren bei 37% der Interventionsteilnehmer so stark, dass erst spät im Interventionsverlauf Integra-tionsvereinbarungen und -maßnahmen getroffen werden konnten. Zugleich wei-sen die Mittelwerttendenzen bei vielen Evaluationskriterien zumindest in die ge-wünschte Richtung, sodass eine Verbesse-rung durch AmigA-M bei längerer Dauer denkbar wäre.

Eine weitere potenzielle Erklärung für die geringe Wirksamkeit könnte die nicht genügende Qualität der einzelnen Maß-nahmen und ihrer Kombination sein. Da ein Großteil der Maßnahmen im regulä-ren Gesundheits- und Arbeitsförderungs-system stattfand, konnte keine gesonder-te Evaluation der Maßnahmen durchge-führt werden, allerdings sollte durch die-se Einbindung zumindest von einer akzep-tablen Qualität ausgegangen werden kön-nen. Eine genauere Abklärung könnten hier nur weitere Studien liefern.

Schließlich spielt insbesondere mit Blick auf die Reintegration der Arbeits-markt zum Evaluationszeitpunkt eine wichtige Rolle. So wäre denkbar, dass bei sehr schlechter Arbeitsmarktlage auch eine hochwirksame Intervention nicht zu vermehrten Integrationen führt. Dies ist allerdings für den Arbeitsmarkt in Mün-chen im Jahr 2010 nicht der Fall: Die gene-relle Arbeitslosenquote lag hier laut Statis-tik der Bundesagentur für Arbeit bei 4,3%, die Quote der Langzeitarbeitslosen bei 2,4%. Andererseits könnte eine sehr gerin-ge Arbeitslosenquote auch darauf hindeu-ten, dass es sich bei den in Arbeitslosig-keit verbleibenden Personen um eine be-sonders schwer vermittelbare Gruppe han-delt, wobei zumindest die qualifikations-bezogenen Merkmale der AmigA-M-Teil-nehmer (vgl. . Tab. 1) diesen Eindruck nicht erwecken. Die Frage nach dem Ein-fluss des Arbeitsmarktes kann damit nicht eindeutig beantwortet werden, es bleibt je-doch der Befund, dass sich der minimale Unterschied zwischen Interventions- und Wartegruppe hinsichtlich der Reintegra-

tionen nicht ursächlich auf die Interven-tion zurückführen lässt.

Zusammengefasst scheint vor allem die komplexe Problemlage der Teilnehmer in Kombination mit einer kurzen Interven-tionsdauer als Erklärung für die gerin-ge Wirksamkeit von AmigA-M relevant zu sein. Die Kombination von langwieri-gen Erkrankungen, physischer und psy-chischer Einschränkung sowie schwie-rigen psychosozialen Lagen macht be-reits die teilweise Verbesserung der ge-sundheitlichen Gesamtsituation zu einem schwierigen Unterfangen. Welcher Auf-wand an zeitlichen (Dauer) und therapeu-tischen Ressourcen einzusetzen wäre, da-mit AmigA für ältere Langzeitarbeitslo-se die Beeinträchtigungen der Leistungs-fähigkeit auf ein beschäftigungsfähiges Maß reduzieren kann, kann nur in grö-ßeren und längerfristigen randomisier-ten Kontrollstudien festgestellt werden. Da AmigA nach der strengen Trennung des Gesetzgebers jedoch dem Rechtskreis des SGB II zuzuordnen ist, stellt sich die Frage, ob bei einer notwendigen Verlän-gerung die Intervention noch als Reinte-grationsmaßnahme bzw. potenzielle Re-gelmaßnahme geführt werden könnte.

Fazit

Die Bewertung der hier vorgelegten Eva-luationsergebnisse von AmigA bei älte-ren Langzeitarbeitslosen erfolgt in einem schwierigen Spannungsfeld: Vor dem Hintergrund der starken Beeinträchtigun-gen der Zielgruppe in vielen Bereichen können jede Hilfestellung und jede Form der Verminderung individuellen Leids nur positiv gewertet werden. Insofern fol-gen die Bemühungen der Intervention AmigA-M vielen berechtigten Forderun-gen (z. B. [40]) und wichtigen ethischen und gesellschaftlichen Zielen. Anderer-seits sind Interventionen, die ggf. in eine Regelmaßnahme der Arbeitsförderung überführt werden sollen, immer auch auf ihre gesellschaftlichen Kosten und Nut-zen hin abzuwägen. Auch wenn mit der vorliegenden Evaluation keine abschlie-ßende Bewertung erfolgen kann, zeigt sie doch, dass es AmigA  in der vorliegen-den Form bei älteren Langzeitarbeitslo-sen kaum vermag, die angestrebten Ef-fekte zu erreichen, obwohl der Kosten-

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Originalien und Übersichten

Page 10: Alt, krank, arbeitslos, chancenlos?

aufwand beträchtlich ist. Sollte die disku-tierte Annahme stimmen, dass erst eine erheblich erhöhte Betreuungsdauer und -intensität zu deutlichen Effekten führt, muss gefragt werden, ob nicht vermehr-te Anstrengungen für primär- bzw. se-kundärpräventive Maßnahmen im Rah-men des SGB III zur Verhinderung schwer-wiegender gesundheitlicher Beeinträch-tigungen und spezifischere Maßnah-men, etwa psychosoziale Gruppentrai-nings (z. B. [12]), die auch die Kompetenz im Umgang mit Angeboten des Gesund-heitswesens erhöhen, besser geeignet sind, die dringend wünschenswerten Ver-besserungen der Lebenssituation älterer Langzeitarbeitsloser zu erreichen.

Korrespondenzadresse

Dr. B. HerbigInstitut und Poliklinik für Arbeits-,  Sozial- und Umweltmedizin,  Klinikum der Universität MünchenZiemssenstr. 1, 80336 Mü[email protected]

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass  kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

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  7.  Harris RP, Helfand M, Woolf SH et al (2001) Current Methods of the U.S. Preventive Services Task Force. A review of the process. Am J Prev Med 20:21–35

  8.  Lauterbach K (2007) Gesundheitsprävention – Wirksamkeit auch im Ausland kaum erforscht. Bö-ckler Impuls 16:2

  9.  Lüngen M, Schröer-Günther M, Passon A, Gerber A, Lauterbach K (2009) Evidenz der Wirksamkeit inter-nationaler Präventionsmaßnahmen und Auswir-kungen auf ein deutsches Präventionsgesetz. Med Klin 104(2):101–107

10.  Bellwinkel M, Kirschner W (Hrsg) (2011) Evalua-tion von Projekten der Gesundheitsförderung von Arbeitslosen. Reihe Gesundheitsförderung und Selbsthilfe Nr. 25. Wirtschaftsverlag NW, Bremerha-ven

11.  Cohen J (1988) Statistical power analysis for the be-havioral sciences, 2. Aufl. Erlbaum, Hillsdale, NJ

12.  Mühlpfordt S, Rothländer K (2011) Aktive Bewälti-gung von Arbeitslosigkeit (AktivA) – Evaluations-ergebnisse für die Zielgruppe älterer Erwerbsloser. In: Bellwinkel M, Kirschner W (Hrsg) Evaluation von Projekten zur Gesundheitsförderung von Arbeits-losen. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, S 167–178

13.  Schmidt M, Schmidt T (2011) Evaluationsstudie: Gesundheit als positiver Transfereffekt im Kompe-tenztraining „Bridges – Brücken in Arbeit“. In: Bell-winkel M, Kirschner W (Hrsg) Evaluation von Pro-jekten zur Gesundheitsförderung von Arbeitslosen. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, S 179–198

14.  Kirschner W, Toumi I, Rabe N (2011) Ergebniseva-luation der Projekte JobFit und AmigA/Gesund-heitliche Wirkungen. In: Bellwinkel M, Kirschner W (Hrsg) Evaluation von Projekten zur Gesundheits-förderung von Arbeitslosen. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, S 101–135

15.  Gawlik-Chmiel B, Szlachta E, Fuhrmann S, Misie-wicz A (2011) Zielgruppenspezifische, gesundheits-fördernde und arbeitsmarktintegrative Maßnahme „Train to Job“. In: Bellwinkel M, Kirschner W (Hrsg) Evaluation von Projekten zur Gesundheitsförde-rung von Arbeitslosen. Wirtschaftsverlag NW, Bre-merhaven, S 137–155

16.  Remark C, Nissen C (2011) Beschäftigungswirkung bei Langzeitarbeitslosen während der AmigA-Pro-jektteilnahme in der ARGE beziehungsweise dem Jobcenter in Flensburg von März 2009-Juni 2011. In: Bellwinkel M, Kirschner W (Hrsg) Evaluation von Projekten zur Gesundheitsförderung von Arbeits-losen. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, S 137–155

17.  Braunmühl C von, Toumi I (2006) Arbeitsförde-rung mit integriertem Gesundheitsmanagement (AmigA).  In: Hollederer A, Brand H (Hrsg) Arbeits-losigkeit, Gesundheit und Krankheit. Hans Huber, Bern, S 215–222

18.  Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie des Landes Brandenburg (2008) AmigA – Arbeitsförderung mit gesundheitsbezogener Aus-richtung. Leitfaden für die praktische Umsetzung. MASGF Brandenburg, Potsdam

19.  Kirschner W, Elkeles T (2007) Evaluation gesund-heitsbezogener Arbeitsförderung – das Projekt AmigA. Prävention 30:111–115

20.  Dietz M, Walwei U (2011) Germany – no country for old workers? J Labour Market Res 44(4):363–376

21.  Bero L, Rennie D (1995) The Cochrane Collabora-tion: preparing, maintaining, and disseminating systematic reviews of the effects of health care. J Am Med Assoc 274:1935–1938

22.  Lengning A (2010) Goldstandards für einen wissen-schaftlichen Nachweis der Wirksamkeit und Effek-tivität einer Intervention im Bereich Früher Hilfen als Voraussetzung für ihre Verbreitung. Randomi-sierte kontrollierte Studien. Bundesgesundheitsbl 53:1056–1060

23.  Podsakoff PM, MacKenzie S, Lee JY, Podsakoff NP (2003) Common method biases in behavioral re-search: a critical review of the literature and recom-mended remedies. J Appl Psychol 88:879–903

24.  Abramson JH (2010) PEPI suite of computer pro-grams for epidemiologists – Winpepi 10.1. Modul ETCETERA 2.32. (freeware)

25.  Brähler E, Hinz A, Scheer JW (2008) GBB-24 Gieße-ner Beschwerdebogen. Hogrefe, Göttingen

26.  Löwe B, Spitzer RL, Zipfel S, Herzog, W (2002) PHQ-D Gesundheitsfragebogen für Patienten. Au-torisierte deutsche Fassung des „Prime MD Patient Health Questionnaire“, 2. Aufl. Pfitzer, Heidelberg

27.  Angermeyer MC, Kilian R, Matschinger H (2000) Handbuch für die deutschsprachigen Versionen der WHO-Instrumente zur internationalen Erfassung von Lebensqualität (WHOQOL). Hogrefe, Göttingen

28.  Deutsches Institut für Medizinische Dokumenta-tion und Information (Hrsg) (2005) ICF – Internatio-nale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinde-rung und Gesundheit. Medizinische Medien-Infor-mations-GmbH, Neu-Isenburg

29.  Ciesa A, Stucki G (2005) Content comparison of  health-related quality of life (HRQOL) instruments based on the international classification of func-tioning, disability and health (ICF). Qual Life Res 14:1225–1237

30.  Krampen G (1991) Fragebogen zu Kompetenz- und Kontrollüberzeugungen (FKK). Hogrefe, Göttingen

31.  Schumacher J, Wilz G, Gunzelmann T, Brähler E (2000) Die Sense of Coherence Scale von Antonovs-ky. Teststatistische Überprüfung in einer repräsen-tativen Bevölkerungsstichprobe und Konstruktion einer Kurzskala. Psychother Psych Med 50:472–482

32.  Fydrich T, Sommer G, Brähler E (2007) Fragebogen zur Sozialen Unterstützung (F-SozU). Hogrefe, Göt-tingen

33.  Bundesagentur für Arbeit (2010) Das arbeitnehmer orientierte Integrationskonzept der Bundesagentur für Arbeit (SGB II und SGB III) (Ver-sion 5.0, 22.02.2010). Zentrale der BA, Nürnberg

34.  Faul F, Erdfelder E, Lang AG, Buchner A (2007) G*Power 3: a flexible statistical power analysis pro-gram for the social, behavioral, and biomedical sciences. Behavior Research Methods 39(2):175–191

35.  Jahoda M, Lazarsfeld PF, Zeisel H (1975) Die Arbeitslosen von Marienthal: Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Suhrkamp, Frankfurt

36.  Jahoda M (1995) Manifest and latent functions. In: Nicholson N (Hrsg) Encyclopedic dictionary of or-ganisational behaviour. Blackwell, Oxford, S 317–318

37.  Creed PA, Macintyre S (2001) The relative effects of deprivation of the latent and manifest benefits of employment on the well-being of unemployed people. J Occup Health Psych 6:324–441

38.  Fryer D (1992) Editorial: Introduction to Marienthal and beyond. J Occup Organ Psych 65:257–268

39.  Elvenkemper M (2010) Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen. Gesundheitsorientierung in Arbeits-marktdienstleistungen. Vortrag auf der Tagung Fit for Work des Deutschen Netzwerks für betriebliche Gesundheitsförderung, 20. September 2010, Essen (abrufbar unter: http://www.dnbgf.de/newsarchiv/fit-for-work-2010.html)

40.  Mohr G (2011) 11 Thesen – Positionspapier des Fachbeirats zum sächsischen Gesundheitsziel „Ge-sundheitsförderung bei Arbeitslosen“. In: Mühl-pfordt S, Mohr G, Richter P (Hrsg) Erwerbslosig-keit: Handlungsansätze zur Gesundheitsförderung. Pabst, Lengerich, S 15–32

979Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 8 · 2012  |