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Amputations-Lehren in a1 t indischer M edicin ? von REINHOLD F. G. MULLER Amputationen waren nicht so selten zwangsmassig veranlasst, zeitigten aber doch fiir den ausubenden Arzt Lehrausrichtungenl, welche kritisch in entfernte Bereiche ubernommen wurden, so auch nach Indien. Das Aufzeigen alterer medizingeschichtlicher Auffassungen unterbleibt zu dieser Frage, weil eine Beurteilungjiingerer Erklarungen eine ausreichende Einsicht bieten diirfte. Hilgenberg und Kirfel erkennen in dem Wort- und Sachregister zur ihrer Ubersetzung von VGgbhata’s Ast~~gahrdayasamhit62 diese “Ampu- tation” an. Dam beziehen sie sich auf utturusthcina 26,27 gemass ihrer Ubertragung auf S. 646: “1st eine Extremitat ganzlich abgeschnitten, brenne man sie ab, verbinde sie dann mit Sesamol in der richtigen Weise mit dem Kosa-Verband und verfahre sonst wie bei einer Wunde.” Der Hinweis “bei einer Wunde” ist auf den Titel dieses Textabschnittes zu beziehen: “Abwehr einer frischen Wunde”, welche inhaltlich und mannigfach geschildet wird als schon bestehend fiir die Behandlung durch den Arzt, jedoch nicht durch diesen veranlasst, etwa als Amputation. Ferner liegt hier nicht eine gelegentliche Bemerkung vor. Denn gleich- lautend ist der Satz in der anderen Vcigbhuta-Lehre, im Saqgrdu uttu- rasthcina 313 uberliefert, und ebenso fast gleichlautend in der Sdrutu- Sqhitci cikits&thcinu 2,374. Auch in dieser wundiirztlichen Lehre bezeugt der gleiche Titel der Heilbestrebungen einer “fiischen Wunde” noch ausfiihrlicher derartige, bereits vorhandene Verletzungen, aber nicht etwa vom Arzt erst verursachte, wie bei einer Amputation, dabei wird zu den fiinffach eingeteilten bestehenden Schiidigungen in 78 auf den Begriff marman verwiesen. Marman, als totlich-gefahrdete Korpergegend, wird auch in den Vugbhuta-Schulenberucksichtigt, deren Stammanteilte etwa um 500 n.Zw. sich aus den unmittelbar nicht uberlieferten acht Traktaten der Altmedi- zin aufbauten und vorziighch zu Lehren fur den berufstatigen Arzt ent- Einaiedcl bci Karl-Man-Stadh DDR Cenfaurw 1963: vol. 9: pp. 35-37 3’

Amputations-Lehren in altindischer Medicin?

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Amputations-Lehren in a1 t indischer M edicin ?

von REINHOLD F. G. MULLER

Amputationen waren nicht so selten zwangsmassig veranlasst, zeitigten aber doch fiir den ausubenden Arzt Lehrausrichtungenl, welche kritisch in entfernte Bereiche ubernommen wurden, so auch nach Indien. Das Aufzeigen alterer medizingeschichtlicher Auffassungen unterbleibt zu dieser Frage, weil eine Beurteilung jiingerer Erklarungen eine ausreichende Einsicht bieten diirfte.

Hilgenberg und Kirfel erkennen in dem Wort- und Sachregister zur ihrer Ubersetzung von VGgbhata’s Ast~~gahrdayasamhit62 diese “Ampu- tation” an. Dam beziehen sie sich auf utturusthcina 26,27 gemass ihrer Ubertragung auf S. 646: “1st eine Extremitat ganzlich abgeschnitten, brenne man sie ab, verbinde sie dann mit Sesamol in der richtigen Weise mit dem Kosa-Verband und verfahre sonst wie bei einer Wunde.”

Der Hinweis “bei einer Wunde” ist auf den Titel dieses Textabschnittes zu beziehen: “Abwehr einer frischen Wunde”, welche inhaltlich und mannigfach geschildet wird als schon bestehend fiir die Behandlung durch den Arzt, jedoch nicht durch diesen veranlasst, etwa als Amputation. Ferner liegt hier nicht eine gelegentliche Bemerkung vor. Denn gleich- lautend ist der Satz in der anderen Vcigbhuta-Lehre, im Saqgrdu uttu- rasthcina 313 uberliefert, und ebenso fast gleichlautend in der Sdrutu- Sqhitci cikits&thcinu 2,374. Auch in dieser wundiirztlichen Lehre bezeugt der gleiche Titel der Heilbestrebungen einer “fiischen Wunde” noch ausfiihrlicher derartige, bereits vorhandene Verletzungen, aber nicht etwa vom Arzt erst verursachte, wie bei einer Amputation, dabei wird zu den fiinffach eingeteilten bestehenden Schiidigungen in 78 auf den Begriff marman verwiesen.

Marman, als totlich-gefahrdete Korpergegend, wird auch in den Vugbhuta-Schulen berucksichtigt, deren Stammanteilte etwa um 500 n.Zw. sich aus den unmittelbar nicht uberlieferten acht Traktaten der Altmedi- zin aufbauten und vorziighch zu Lehren fur den berufstatigen Arzt ent- Einaiedcl bci Karl-Man-Stadh DDR

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wickeltens. Die wundarztlichen Lehren hingegen widmeten bei den Korperbelangen dem murmun einen besonderen Lehrabschnit. Diesen ist in SuSrutu-Samhit&i rirasthiim 6,31 ff. zusatzlich angefugt und uber- setzt von Bhishakatnas: “the amputation of a hand or a leg may not prove fatal whereas a wound in any of the Marmas situated therein is sure to bring on death.” Bei den marman-s, “die man bei Operationen vermeiden muss”7, ist diese Ausnahme angesagt, ‘wenn Hand oder Fuss geschnitten worden ist’.

Das “Abhacken” oder “Abschneiden” einer Hand oder eines Fusses ohne totliche Folgen war bei Bestrafungens bekannt, so dass vielleicht darnach abschliessend vermerkt wird: “Hence, in a case of piercing9 or of injury to any of these Marmas, the hand or the leg should be immedi- ately amputated at the wrist or at the ankle (respectively).” Entscheidend ist hier die Ausdrucksweise: ‘was abzuschneiden ist’ oder ‘was abgeschnit- ten werden wird’ (chettuvyulo), als bedingte Aufforderung zur Amputa- tion, wobei die Gefahr durch das murmun7 ausseracht gelassen und eine Beherrschung der Blutung durch das wiederholt erwahnte Brennen usw. vorausgesetzt wird.

Einzelheiten in der Durchfiihrung des Absetzens, das auf die Knochel- gegenden beschrankt blieb, werden nicht geschildert. Schon bei den friihen Tieropfern was das Zergliedern auf Trennung in den Gelenken beschranktrl, die als Fugen (sandhi) ibztlich weiterhin beachtet wurden, so auch mutmasslich bei der Amputation nach dem verletzten murmun oben. Beispielsweise wurde bei blutigen Knochenbriichen ein heraus- ragender Knochen nicht abgesiigt oder abgekniffen, sondern aus seiner ‘Fuge’ gelostlz, obwohl sonst entwickelte Operationen13 und Instru- mentel4 ausflihrlich dargelegt sind. Amputationen, wie oben geschildert, konnen m a r ofter vorausgesetzt werden, aber eine zusammenfassende Lehre hierzu mangelt. Wenn jedoch “The Hindoos were also experts in performing amputations” bezeichnet werden, so entspricht dieses Urteil des indischen Fursten15 doch wohl seiner Vaterlandsliebe, zumal er im Titel die ubliche Bezeichung Hindoo durch Arian austauscht, somit zu einer umfassenden geschichtlichen Bedeutung.

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Diepgen, Geschichte der Medizin Bd. I, Sachregister (Berlin 1949). Leiden 1941. Als Textausgabe ist jene von A. M. Kunte (Bombay 1891) benutzt. A,r!&ga-Samgruha ed. by RudrapHraSava (Trichur 191 3-1 926). Ed. by J. Trikamji (Bombay 1931). Centaurus Vol. I S. 94 ff. Vgl. auch Nova Acta Leopoldina N.F. Nr. 138 S. 57 ff. (Leipzig 1958). An English Translation Vol. I1 p. 188 f. (Calcutta 1907-1 91 8). Jolly, Medicin S. 44 (Strassburg 1901). Amputationen sind nicht erwahnt. Jolly, Recht und Sitte J 41 und 43 (Strassburg 1896), wie schon friih im ArthaS6srra of Kuufalya oft in prak" 85 ersichtlich (ed. Gavapati SBstri, Trivandrum 1921-1925). Der Textausdruck abhihata = angeschlagen bezeugt eine bereits vorhergegangene Verletzung der an sich gefahrlichen Gegend von Hand- und Fuss-KnBcheln. Die Wortbildung setzt sich zusammen aus chit- = schneiden (in der Gunierung zu chet-) und dem Suffix -tuvya zur Bezcichung vorn Gerundiv oder Partic. futur. passiv., wie schon in PQini's Grammatik III,1,96 vermerkt, hrsg. v. Boehtlingk (Leipzig 1887). Asia Major Vol. VI S. 326 (Leipzig 1930). Ergebnisse d. Chirurgie u. Orthopadie Bd. 35 S. 238 J 53 (Berlin-GBttingen-Heidel- berg 1949). Ubersicht in Nova Acta Leopoldina N.F. Nr. 138 S. 42 ff. (Leipzig 1958). Sudhoffs Archiv Bd. 36 S. 221 ff. (Wiesbaden 1952). H. H. Sir BH. S. Jee, A short history of Arian Medical Science p. 178 (London 1896).