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Analyse Der Schule - Eine dialektische Analyse der Schule, Autor unbekannt

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Analyse der Schule. Eine Skizze Im Bewusstsein der Mitglieder unserer Gesellschaft ist die Schule eine Instituti-on, in der die heranwachsende Generation zur Bewältigung ihrer späteren Lebenspraxis befähigt werden soll. Ihr Besuch ist obligatorisch. Sie untersteht öffentlicher Kontrolle. Die Schule als obligatorische Bildungsinstitution unter öffentlicher Kontrolle ist 5 Gegenstand der folgenden Analyse. 1. Dass es Aufgabe der Schule ist, Kindern und Jugendlichen (und - wo und soweit dies versäumt wurde - auch Erwachsenen) die zur Bewältigung der späteren Le-benspraxis nötigen Fähigkeiten zu vermitteln, ist zunächst eine 10 Erfahrungstatsache, die als Anspruch und Erwartung an die Schule nicht nur im alltäglichen Bewusstsein ist, sondern sich auch den die Schule betreffenden Ge-setzen und Verordnungen entnehmen lässt. Zugleich gilt diese Erfahrungstatsachen nicht als etwas Zufälliges (wonach es ge-nau so gut auch anders sein könnte), vielmehr als notwendige Gegebenheit. Es wird 15 also davon ausgegangen, dass ohne die Vorbereitungsleistung der Schule die Praxis unserer Gesellschaft nicht nur in einzelnen Bereichen, sondern insgesamt nicht funktionsfähig wäre. Die Fähigkeiten aber, die vom Erwachsenen verlangt werden, bringt weder jeder Mensch von Natur aus mit, noch kann er sie sich innerhalb der Praxis selbst in hinreichender Weise aneignen. Es bedarf hierzu offensichtlich 20 des besonderen Vermittlungsprozesses der Schule, abgetrennt zwar von der ge-sellschaftlichen Praxis, aber doch funktional auf sie bezogen. Der Vermittlungsprozess der Schule ist ein doppelter: Zum ersten vermittelt er Kindsein und Erwachsenensein bzw. aufs Ganze der Ge-sellschaft gesehen, das Leben der heranwachsenden Generation mit der 25 gesellschaftlichen Praxis der Erwachsenen. Dies ist der schulische Bildungspro-zess nach seiner individuellen subjektiven Seite betrachtet. Zum zweiten vermittelt er die spezifische Gegenständlichkeit der schulischen Bil-dungspraxis, den Unterrichtsstoff, mit der gegenständlichen Realität des unmittelbaren gesellschaftlichen Lebens. 30 Den Knotenpunkt dieses doppelten Vermittlungsprozesses drückt die Kategorie „Fähigkeit“ aus: nach der subjektiven Seite bezeichnet sie den Punkt der individu-ellen Entwicklung, an welchem Unmündigkeit in Mündigkeit übergeht, an dem also die Teilnahme am gesellschaftlichen Lebensprozess als selbständig handelndes Subjekt möglich wird; nach der objektiven Seite bezeichnet sie den Punkt, an dem 35 der zunächst in diversen Einzelgegenständen auseinanderliegende Unterrichts-stoff in den Zusammenhang gebracht ist, in dem er als Inhalt der Fähigkeiten des mündigen Subjekts Beziehung auf die gegenständliche gesellschaftliche Realität erhält. Im folgenden ist zu unterscheiden zwischen dem Bildungsauftrag, den die Schule 40 hiernach gegenüber dem einzelnen Gesellschaftsmitglied und dem, den sie gegen-über der Gesamtgesellschaft zu realisieren hat. Im ersten Falle bestimmt sich

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der Inhalt der zu vermittelnden Fähigkeiten von dem Ausschnitt der gesellschaft-lichen Praxis her, auf dessen Bewältigung jeweils individuell vorbereitet wird. Im zweiten Falle bestimmt sich die zu vermittelnde Fähigkeit eines kollektiven Ge-45 sellschaftssubjekts inhaltlich von der Totalität der gesellschaftlichen Anforderungen her. Um die für dies kollektive Subjekt nötigen Fähigkeiten geht es zunächst. Fähigkeit bezeichnet das noch unbestimmt Allgemeine am Subjekt, aus welchem dessen bestimmtes praktisches Handeln folgt: Fähigkeit zu etwas. Im unmittelba-50 ren Handeln äußert sich die Fähigkeit, aber sie ist nicht dies Handeln selbst, geht nicht in ihm auf. Eine Fähigkeit kann sich in ganz verschiedenen konkrete Handlun-gen äußern, die alle aber dies gemeinsam haben: Äußerung dieser einen Fähigkeit zu sein. Die Fähigkeit verhält sich also zu konkreten Handeln als Allgemeines zum Einzelnen in seiner Besonderung (die allgemeine Fähigkeit äußert sich in einer ein-55 zelnen Handlung auf besondere Weise). Die Realisierung einer Fähigkeit ist die Umsetzung dieses Allgemeinen in eine ein-zelne Handlung. Soll nun zu einer empirisch vorausgesetzten Handlung die zugehörige Fähigkeit bestimmt werden, ist der Weg umgekehrt zu beschreiten: das Einzelne ist allgemein zu fassen. 60 Die allgemeinen Bestimmungsmomente allen Handelns sind die folgenden: Jedes Handeln ist einerseits gegenständliches Tun, Formveränderung eines gege-benen Stoffes; es ist ferner subjektive Tätigkeit, Verhaltensäußerung eines Menschen; es ist schließlich zweckmäßige und dadurch den Zusammenhang der subjektiven und objektiven Momente im Handlungsablauf selbst sowie die Form 65 des Resultats stiftende Tätigkeit. Die Allgemeinheit dieser Bestimmungsmomente allen wirklichen Handelns ist real gegeben in den auf sie bezogenen Momenten subjektiver Fähigkeit: Die subjektive Verfügung über das Stoffliche liegt in der Kenntnis seiner objekti-ven Eigenschaften, d.h. seiner Formbarkeit (Erfahrungswissen und Resultate der 70 Naturwissenschaften). Die subjektive Verfügung über die subjektiven Bedingun-gen des Handelns liegen in geistigen und körperlichen Fertigkeiten, die wiederum unterschiedene Bewegungsformen der natürlichen Kräfte des Menschen darstellen (Verhaltensmuster, Techniken, Regelwissen). Die subjektive Verfügung über die Zwecke des Handelns liegt in der Fähigkeit zu selbstbestimmter Setzung von 75 Zwecken, im Wissen ihrer Vernünftigkeit und daraus begründetem Antrieb, sie zu realisieren. Den Zweck gesellschaftlicher Praxis wissen, heißt, begriffen haben, dass die Re-produktion der Gattung Mensch nur durch ihre Produktion, durch ihr Heraustreten aus der Natur erfolgen kann. Das heißt Arbeit, das heißt Aneignung 80 der Natur: ihre Umformung zur Lebensgrundlage für den Menschen; das heißt auch Umformung des Menschen zum gesellschaftlichen Menschen, Aufhebung der individuellen Schranken, durch die der Mensch dem Menschen Schranke ist. Damit aber fällt der Bildungsauftrag gegenüber dem kollektiven Gesellschaftssub-jekt zusammen mit dem gegenüber jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied. 85 Fähigkeit zur Bewältigung gesellschaftlicher Praxis bedeutet Fähigkeit zur Reali-sierung des als vernünftig erkannten Zwecks: der Vernunft als Zweck. Gesellschaftliche Aneignung der Natur setzt voraus die Identität der Individuen

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im Wissen um ihn und in den Fähigkeiten zu seiner Realisierung, setzt sie voraus als gesellschaftliches Subjekt und erfordert die wirkliche Einholung dieser Vor-90 aussetzung: die Verwirklichung des Menschen als gesellschaftlichen Menschen, die Aufhebung aller bloß individuellen und natürlichen Schranken für die Verwirkli-chung des allgemeinen Zwecks. Dies impliziert die Erweiterung der Fertigkeiten über alle fixen Muster hinweg, Erweiterung der Möglichkeiten menschlicher Lebensäußerung bis hin zur freien 95 Verfügung über alle körperlichen Kräfte, bis hin zu dem Punkt, von wo an die Na-turprozesse selbst bewusste Lebensäußerungen der Gattung Mensch sind. Es impliziert ferner Erweiterung der Kenntnisse über das bloß unmittelbar prak-tisch Erfahrbare hinaus als Erweiterung des beherrschbaren Stoffs menschlicher Tätigkeit bis hin zur Möglichkeit absolut freier Bewegung im Stofflichen. 100 Und es impliziert schließlich eine Erweiterung des Kreises der möglichen Zwecke: Befriedigung bestimmter menschlicher Bedürfnisse, durch Aufhebung der Tren-nung von unmittelbarem individuellen Bedürfnis und allgemein anerkannten „Werten“: als „reiches menschliches Bedürfnis“. „Der reiche Mensch ist zugleich der einer Totalität der menschlichen Lebensäußerung bedürftige Mensch. Der 105 Mensch, in dem seine eigne Verwirklichung, als innere Notwendigkeit, als Not exi-stiert. Nicht nur der Reichtum, auch die Armut des Menschen erhält gleichmäßig ... eine menschliche und daher gesellschaftliche Bedeutung. Sie ist das passive Band, welches dem Menschen den größten Reichtum, den andren Mensch, als Be-dürfnis empfinden lässt.“ (K. Marx) 110 Zusammengefasst: Nur soweit der Zweck, unter dem die gesellschaftliche Praxis steht, vernünftig ist, kann die Einsicht in ihn handlungsmotivierend sein. Sofern Fähigkeit zur Be-wältigung von Praxis die Bildung des Willens zu ihrem Vollzug einschließt, erfordert die Funktion der Befähigung des kollektiven Gesellschaftssubjekts zur 115 Bewältigung seiner, der gesellschaftlichen, Praxis die Vermittlung des Wissens vom allgemeinen Zusammenhang dieser Praxis. Dieser: die Herausarbeitung des Menschen aus der Natur, macht es dann weiterhin notwendig, den Gegensatz von kollektivem und individuellem Gesellschaftssubjekt in Identität aufzuheben: der Auftrag an die Schule muss dann auf die umfassende Bildung jedes einzelnen ge-120 hen. 2. Als Institution ist die Schule eine Einrichtung, die bestimmte gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen hat, welche ihr als Zweck äußerlich vorgegeben sind und deren Erfüllung auch von außen kontrolliert wird. 125 Wenn die Schule für äußere Zwecke verfügbar sein soll, dann setzt das voraus, dass sie an sich zweckfrei ist. Die Beziehung zwischen der Institution Schule und ihrer Funktion ist eine äußere Beziehung: ihre Funktion wohnt der Schule nicht als Bestimmung inne, sondern wird ihr importiert. Eben deshalb ist Kontrolle nötig. Der Inhalt des schulischen Vermittlungsprozesses, Bildung, ergab sich zwar aus 130 dem gesellschaftlichen Auftrag der Schule. Insofern ist diese in der Tat keine Sache an und für sich, sondern hat ihren Existenzgrund wie ihre Legitimation nur in der gesellschaftlichen Praxis, auf die sie sich bezieht (vitae discimus). Aber in-dem dieser Inhalt seine Träger, Schüler und Lehrer, als Subjekte braucht, die aus

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Einsicht und nicht aufgrund äußerer Weisung handeln, hebt sich seine Äußerlich-135 keit auf. Der Bildungsprozess muss zwar geplant und organisiert werden, aber er kann prinzipiell keiner anderen Kontrolle als der Selbstkontrolle unterliegen; er hat seinen eigenen Maßstab: Einsicht in die Vernünftigkeit seiner selbst (eine sol-che Auffassung von Bildung liegt den Selbstverwaltungsstrukturen der alten Universität zugrunde; dies war keine Institution im hier gemeinten Sinne). 140 Wenn Bildung nun aber in ihrer institutionalisierten Form auf die ihr vorausge-setzte Praxis bezogen und diese in ihrer unmittelbaren empirischen Struktur gegen sie als äußerer Maßstab geltend gemacht wird, dann unterstellt dies, dass eine innere Vernünftigkeit dieser Praxis nicht einsehbar ist. Einsicht muss durch Zwang ersetzt werden. Statt dass Bildung das die Praxis konstituierende Handeln 145 bestimmt, wird sie vielmehr umgekehrt den unmittelbar praktischen Erfordernis-sen unterworfen. Dass die schulische Praxis sich aus Weisungen und nicht aus Einsicht bestimmt, darin reflektiert sich also nur der Tatbestand, dass einsichtiges Handeln für die gesellschaftliche Praxis selbst dysfunktional ist. 150 Das, was der Mensch ist, d.h. als was er sich praktisch bestimmt, sollte er sein durch Bildung. Wo Bildung und Praxis aber gegeneinander abgesperrt sind, da ver-kehrt sich das Verhältnis. Der Mensch ist das, was die Praxis aus ihm macht. Denn diese, obwohl von ihm vollzogen, ist nicht mehr seine Praxis, da sie ihren inneren Zusammenhang nicht durch ihn erhält, er vielmehr nur dessen Vollzugsorgan ist. 155 Nicht mehr der mündige Mensch ist das Ziel des schulischen Vermittlungsprozes-ses (und in diesem Sinne konnte er als Prozess der Selbstwerdung des Menschen gefasst werden), sondern der mit nützlichem Wissen ausgestattete Mensch, also der nützliche Mensch, wie er als reales „Menschenbild“ Produkt unmittelbarer Praxis selbst ist. 160 Wenn mit der Existenz der Schule aber dennoch auch deren Bildungsauftrag Rea-lität ist, dann verweist dies darauf, dass der ‘aus’gebildete Mensch, als Zweck ihres Vermittlungsprozesses, selbst so widersprüchlich ist: selbstbewusst han-delndes, d.h. im Gegenständlichen seine Zwecke verwirklichendes Subjekt und zugleich nur Vollzugsorgan der praktischen Gegebenheiten. 165 Oder, auf die gesellschaftliche Praxis selbst bezogen: sie reproduziert bewusstlo-se Unmittelbarkeit, und zugleich bringt sie doch die Notwendigkeit hervor, bloße Unmittelbarkeit zu transzendieren, in bewusste Verfügung übernommen zu wer-den. Für das zu bildende Subjekt wird somit sein Bildungsprozess Mittel zum Erwerb 170 nützlicher Fähigkeiten. Nützlich sind seine Fähigkeiten dann, wenn er durch ihre Anwendung, d.h. durch die Anwendung der Kenntnisse und Fertigkeiten, die sie ausmachen, in beliebigen praktischen Situationen seine individuellen Zwecke ver-wirklichen kann. Und dies kann er nur, wenn er sein Verhalten den objektiven Bedingungen unterwirft, sich auf diese als fixe Voraussetzungen, ihren Zusam-175 menhang als vorausgesetzten Zusammenhang bezieht, innerlich diese Unterwerfung unter vorausgesetzte Zusammenhänge bejaht, mit einem Wort: wenn seine Fähigkeiten den unmittelbaren Anforderungen der Praxis genügen. Das im Lehrplan der Schule zur Vermittlung vorgesehene, nützlich sein sollende Wissen kann daher seinen Zusammenhang nicht in sich haben, es gewinnt ihn viel-180

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mehr nur durch seine Beziehbarkeit auf die Bedürfnisse der Praxis, und diese Be-ziehbarkeit hat es nur als abstraktes Wissen, als Wissen also, das seine Verwirklichungsbedingungen nicht weiß. Die Identität von Bildung und Praxis liegt nicht im Inhalt der Bildung, im Wissen, sondern muss nachträglich in der Praxis erst hergestellt werden: durch praktische 185 Unterwerfung unter den Zwang der Verhältnisse. Das schließt ein die Bindung des Individuums an einzelne, gegeneinander abge-trennte Tätigkeiten im gesellschaftlichen System der Arbeitsteilung. Gesellschaftlichkeit der Praxis hieße, dass jede einzelne Tätigkeit ihre Identität nur in ihrem Zusammenhang mit anderer Tätigkeit hat. Als einzelne Tätigkeit wäre 190 sie nur verschwindendes Moment gesellschaftlicher Praxis. Diese existiert zwar nur in einzelnen Tätigkeiten, aber sie ist diese nicht. Durch die Orientierung des schulischen Vermittlungsprozesses auf Praxis in ihrer unmittelbaren Erscheinungsform: auf bornierte Einzelfunktion, ist er gerade nicht Bildung für gesellschaftliche Praxis. Nur als solcher aber wäre er Befähigung zur 195 Bewältigung von Praxis aus Wissen. Einerseits soll also die erscheinende Praxis Bezugspunkt von schulischer Bildung sein, andererseits kann sie nicht in ihrer Unmittelbarkeit, sondern nur in ihren all-gemeinen Bestimmungen, d.h. als erkannte, Bezugspunkt für eine Bildung sein, aufgrund deren der Einzelne Praxis bewältigt, statt von ihr überwältigt zu werden. 200 Verallgemeinerung, ohne von der Unmittelbarkeit zu lassen, das ist das unlösbare Problem, vor dem jeder Versuch, die Inhalte schulischer Bildung zu bestimmen, steht. Der eingeschlagene Lösungsweg reproduziert den Widerspruch der gesellschaftli-chen Praxis auf der Ebene der Bildungsinhalte. Schulische Bildung orientiert sich 205 in der Weise an der Unmittelbarkeit gesellschaftlicher Praxis, dass sie von ihrer Unterschiedenheit (konkreten Differenziertheit) nach Möglichkeit absieht und nur diejenigen Tätigkeitsmerkmale heranzuziehen versucht, die aller Tätigkeit gemeinsam sind, wobei sie mit wachsender Differenziertheit der Praxis notwendi-gerweise auf immer abstraktere Bestimmungen gerät. Das ist der Weg der 210 ‘Verallgemeinerung’ durch Reduzierung: durch Weglassen der Unterschiede. Solche Inhaltsleere und darin praktische Bezugslosigkeit schulischer Bildung schlägt dann notwendig permanent in ihr Gegenteil um, in Enzyklopädismus. Weiß man nicht, was man lehren soll, stellt sich die Alternative eben so: Nichts oder Al-les. Neben das Bemühen, die aller möglichen empirischen Praxis gemeinsamen 215 Elemente ausfindig zu machen, ein Bemühen, das letztlich zu ganz leeren Abstrak-tionen führen muss, tritt das andere, alles, was irgend wichtig sein könnte, zu vermitteln, ein Bemühen, das letztendlich alles Mögliche zum Bildungsgegenstand erheben muss. Schulische Bildung bewegt sich so in dem ständigen Widerspruch zwischen Bil-220 dungsformalismus und Stoffüberfrachtung. Bei aller Gleichgültigkeit formalistischer Ausbildungskonzeptionen gegen die Bestimmtheit der Inhalte ist deren Vermittlung selbstverständlich vorausgesetzt; gerade an wechselnden Stoffen soll ja das formell Invariante angeeignet werden. Dem entspricht auf Sei-ten materialer Bildungskonzeptionen das Inkaufnehmen eines im vorhinein nicht 225 abschätzbaren stofflichen Überschusses, eine Redundanz der Ausbildung, die kei-

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neswegs von deren absoluter Zeitdauer und den absoluten Mengen an vermittel-tem Stoff abhängt, sondern überhaupt kennzeichnend ist, wo denn noch Etwas und nicht Nichts vermittelt werden soll. Schulische Bildung scheitert somit vor der Aufgabe, zur Bewältigung gesellschaft-230 licher Praxis zu befähigen. Statt Wissen zu vermitteln, unterdrückt sie es. Sie bildet nicht zur Mündigkeit, sondern zur Unmündigkeit. 3. Die inhaltliche Allgemeinheit des Bildungsauftrages der Schule: dass sie die allge-meinen Fähigkeiten zur Bewältigung der gesellschaftlichen Praxis vermitteln soll, 235 reflektiert sich an der institutionellen Form seiner Realisierung als Allgemeinheit der Institution: sie ist obligatorisch und unterliegt öffentlicher Kontrolle. Der Bildungsauftrag der Schule zielt auf die Vermittlung von Individuum und Ge-sellschaft im Wissen, als Vergesellschaftung des Individuums (und Individualisierung der Gesellschaft) auf dessen Weg zur Mündigkeit. 240 Die Ausbildungsfunktion der Schule dagegen ermöglicht es nur, eine äußere Bezie-hung zwischen vorausgesetzten Seiten: dem ‘Schülermaterial’ und den Anforderungen der empirischen Realität, herzustellen. Institutionalisiert fungiert Bildung für die auszubildenden Individuen als Mittel zur Realisation ihrer Privatin-teressen, und sie fungiert als dieses Mittel nur, soweit sie sie zu einer die 245 vorfindliche Realität affirmierenden Praxis befähigt. Ist eine Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, in der ihre Getrenntheit nicht reproduziert, sondern aufgehoben wird, durch die Schule von vornherein ausgeschlossen, dann reduziert sie sich darauf, den raumzeitlichen Rahmen für die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Bildungsauftrages darzustellen: sie ist der 250 Ort, an dem eine nur in Zeitgrößen genau fassbare Ausbildung des Individuums für seine gesellschaftliche Praxis stattfindet. Die Allgemeinheit des Bildungsauftrags setzt sich dementsprechend auch nicht inhaltlich in den zu vermittelnden Fähig-keiten, sondern nur quantitativ durch. Die Schule ist allgemeine Sphäre der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft, indem sie auf der einen Seite 255 allen Individuen zum Zwecke ihrer Ausbildung, auf der anderen Seite dem Einfluss aller gesellschaftlichen Interessen offen steht und in sich beide Seiten zusam-menzubringen sucht. Dies ist ihr öffentlicher Charakter, und es ist die Funktion des Staates, ihn und damit diese bestimmte Form von Vermittlung von Individuum und Gesellschaft zu garantieren. 260 Die Schule ist so Sphäre einerseits des formellen Gleichgeltens aller Individuen, andererseits der Bestätigung und Reproduktion ihrer wirklichen Ungleichheit. Denn die bloß äußere Vermittlung von Individuum und gesellschaftlicher Praxis re-produziert die Unmittelbarkeit beider Seiten, d.h. die Vereinzelung des Individuums ebenso wie die Zersplitterung der gesellschaftlichen Praxis in unter-265 einander zusammenhanglose Einzelhandlungen. In der Schule zeigt sich dies als Leistungskonkurrenz der Schüler auf der einen, als Konkurrenz der „gesellschaftlichen Mächte“ um Einflussnahme auf die Ausbil-dungsprozesse auf der anderen Seite. Die Schule ist „Zuteilungsapparatur von Lebenschancen“ (Schelsky) wie Gegenstand politischen Streits. 270

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Die Form der schulischen Bildung produziert so den Schein menschlicher Gleich-heit: Bildung für alle. Während ihr Inhalt eben dies wieder negiert: „Ungleichheit für alle“ (Heydorn). Der Bildungsauftrag wird in der Schule nicht durch Vermittlung der gesellschaft-lichen Identität an alle Gesellschaftsmitglieder verwirklicht. Die Identität der 275 Schüler reduziert sich vielmehr auf die gemeinsame Teilnahme an Ausbildungspro-zessen, in denen sich ihre reale Ungleichheit in der Verschiedenheit der Ausbildungsgänge realisiert. Sie sind alle Schüler und als solche in gleicher Weise den Formen öffentlicher Ausbildung unterworfen. Aber sie übernehmen die ‘Schü-lerrolle’ nur, um vermittels ihrer ihre individuellen privaten Interessen an 280 Ausbildung zu verwirklichen. Die Identität der Einfluss nehmenden gesellschaftlichen Kräfte reduziert sich auf die gemeinsame Teilnahme an den bildungspolitischen Willensbildungsprozes-sen, innerhalb derer sich ihre reale Ungleichheit inhaltlich als Differenziertheit der Ansprüche und Forderungen, formell als Mehrheitsentscheidung manifestiert. 285 Über den Staat macht sich die abstrakt-formelle Identität der konkurrierenden gesellschaftlichen Mächte den Auszubildenden gegenüber als Schule geltend. Eben die Stellung des Staates zur Gesellschaft, dass er, um den individuellen Interes-sen Lebensraum zu gewährleisten, das abstrakt-allgemeine Interesse als äußere Zwangsordnung durchsetzen muss, bestimmt auch die zwiespältige Rolle des Leh-290 rers als Staatsfunktionärs. Dem Bildungsauftrag der Schule nach freier Hüter und Vermittler der Wahrheit, in seiner Funktion als Ausbilder selbst anpassungs-fähiger Anpassungstechniker, ist der Lehrer als weisungsgebundener Staatsbeamter zugleich Ordnungshüter. Die Disziplin, die er seinen Schülern ab-verlangt, ist nicht die Disziplin des Geistes, sonder der ‘Geist’ der Schulordnung. 295 Der Widerspruch, dem er sich dabei ausgesetzt sieht, auf der einen Seite der In-dividualität des Schülers Raum geben, auf der anderen Seite Disziplin durchsetzen zu sollen, ist der Widerspruch der Schule selbst: Individualität und Gesellschaft nicht vermitteln zu können und sie eben deshalb alternativ gegenein-ander ausspielen zu müssen. 300 Die Integration der Schüler in die Gesellschaft erhält so den widersprüchlichen Doppelaspekt: Als Ausbildung zur Individualität nimmt sie in der Schule die Form des Gewähren- und „Wachsenlassens“ an, als Ausbildung zur Gesellschaftlichkeit die Form des „Führens“, der Unterwerfung unter allgemeinverbindliche Regeln und Gesetze, in deren Ordnung die Bildung vom Staat gepresst wird. 305 Die Autonomie, die der Staat der Schule gewährt, ist denn auch nur eine negative Fassung von pädagogischer Freiheit. Die Unverbindlichkeit jedes einzelnen der konkurrierenden Ansprüche führt dazu, dass die Schule bei der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktion nicht mehr gebunden werden kann. Zu einer positiven Ausfüllung dieses Freiraums aber ist sie nicht fähig. Was bleibt ist Leere. 310