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18.04.2011 Oliver Niebuhr 1 Analyse gesprochener Sprache am Seminar für Allgemeine Sprachwissenschaft Christian-Albrechts-Universität zu Classics revisited: Wegbereiter der Linguistik neu gelesen Daniel Jones und das Ohr als Nachrichtenempfänger Ringvorlesung des FZ “Arealität und Sozialität” Leitung: Dr. Alastair Walker

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Analyse gesprochener Sprache am Seminar für Allgemeine Sprachwissenschaft Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Classics revisited: Wegbereiter der Linguistik neu gelesen

Daniel Jones und

das Ohr als Nachrichtenempfänger

Ringvorlesung des FZ “Arealität und Sozialität”Leitung: Dr. Alastair Walker

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Analyse gesprochener Sprache am Seminar für Allgemeine Sprachwissenschaft Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

• Wer ist Daniel Jones?

– Daniel Jones, walisischer Komponist 1912-1993– Daniel Jones, australischer Rockmusiker (1973-)– Daniel Jones, englischer Fussballspieler (1986-)– Daniel Jones, US-amerikanischer Politiker (1839-

1912)

– Daniel Jones, britischer Phonetiker (12.9.1881 - 4.12.1967)

Vorlage für G. Bernard Shaws „Professor Higgins“ im Musical „My fair Lady“

(Quelle: Wikipedia)

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• Überblick über den Vortrag• Untertitel der Ringvorlesung hat 2 Elemente

(1) Wegbereiter der Linguistik (2) neu gelesen

Kurzportrait über das Lebenund Schaffen von Daniel Jones

Aspekte seiner wiss. Erkennt-nisse und Methoden aus derheutigen Perspektive…überdie Kardinalvokale hinaus

Sie geben die Richtung für den Vortrag vor

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• Kurzportrait der zentralen Figur des Vortrags

• 1905-1906 vertiefte er sich unter Paul Passy (Mitbegr. der IPA) an der Universität Paris weiter in die phonetische Wissenschaft

hat sein Schaffen deutlich beeinflusst…nicht nur wg. Heirat mit Passys Nichte Cyrille Motte.

Neben seinen französischen Studien nahm er Privatstunden beim britischen Phonetiker Henry Sweet

• Daniel Jones wiss. Laufbahn begann 1900…in Deutschland in der Linguistik der Universität Marburg, wo er unter Anleitung von William Tilly und Wilhelm Viëtor an die phonetische Analyse ge-sprochener Sprache herangeführt wurde.

• 1903-1907 nebenbei BA und MA in Ma-thematik an der Universität Cambridge.

(Quelle: UCL, UK)

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• Kurzportrait der zentralen Figur des Vortrags

• Meilensteile seiner wissenschaftlichen Arbeit– …waren wie bei vielen anderen wissenschaftlichen Größen

das Resultat einer Schaffensexplosion am Anfang der Karriere– …waren geprägt durch den Kolonialismus und die Vermittlung

„der englischen Sprache“ in Laut, Melodie und Schrift.

• 1907 erhielt Daniel Jones dann eine Teil-zeitanstellung am University College London (UCL),…

• …übernahm 1912 dort die Leitung des phonetischen Seminars und behielt diese Position bis zur Emeritierung 1949.

• Daniel Jones war seit 1907 aktives Mit-glied der IPA, als Präsident von 1950-1967.

(Quelle: UCL, UK)

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• Kurzportrait der zentralen Figur des Vortrags

• Meilensteile seiner wissenschaftlichen Arbeit– 1909: Intonation curves erster phonetisch detaillierter

Sprach-vergleich der Intonationen englischer, französischer und deutscher Texte.

• 1907 erhielt Daniel Jones dann eine Teil-zeitanstellung am University College London (UCL),…

• …übernahm 1912 dort die Leitung des phonetischen Seminars und behielt diese Position bis zur Emeritierung 1949.

• Daniel Jones war seit 1907 aktives Mit-glied der IPA, als Präsident von 1950-1967.

(Quelle: UCL, UK)

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• Kurzportrait der zentralen Figur des Vortrags

• Meilensteile seiner wissenschaftlichen Arbeit– 1917: The phonetic structure of the Sechuana Language

Dieser Aufsatz prägte das Konzept des Phonems in seiner nach heutigen Erkenntnissen sinnvollsten Form (ab 1938 und 1950 weiter erläutert in: The phoneme – its nature and use)

• 1907 erhielt Daniel Jones dann eine Teil-zeitanstellung am University College London (UCL),…

• …übernahm 1912 dort die Leitung des phonetischen Seminars und behielt diese Position bis zur Emeritierung 1949.

• Daniel Jones war seit 1907 aktives Mit-glied der IPA, als Präsident von 1950-1967.

(Quelle: UCL, UK)

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• Kurzportrait der zentralen Figur des Vortrags

• Meilensteile seiner wissenschaftlichen Arbeit– 1917: English Pronouncing Dictionary enthielt erste Fassung

des später mehrfach modifizierten Systems der Kardinalvokale– 1918: Outline of English Phonetics erste phonetisch

umfassen-de Beschreibung einer Standardvarietät, hier British RP.

• 1907 erhielt Daniel Jones dann eine Teil-zeitanstellung am University College London (UCL),…

• …übernahm 1912 dort die Leitung des phonetischen Seminars und behielt diese Position bis zur Emeritierung 1949.

• Daniel Jones war seit 1907 aktives Mit-glied der IPA, als Präsident von 1950-1967.

(Quelle: UCL, UK)

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• Kurzportrait der zentralen Figur des Vortrags

• Meilensteile seiner wissenschaftlichen Arbeit– Obwohl Daniel Jones Arbeit um das Englische herum

ausgerichtet war, hat er die phonetisch-phonologischen Grundlagen einer Reihe anderer Sprachen geprägt: Cantonesisch, Sechuana (Afrik. Tonsprache), Russisch und Französisch.

• 1907 erhielt Daniel Jones dann eine Teil-zeitanstellung am University College London (UCL),…

• …übernahm 1912 dort die Leitung des phonetischen Seminars und behielt diese Position bis zur Emeritierung 1949.

• Daniel Jones war seit 1907 aktives Mit-glied der IPA, als Präsident von 1950-1967.

(Quelle: UCL, UK)

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• Daniel Jones…neu gelesen• Im Licht der Analyse gesprochener Sprache zeichnen sich

Jones Arbeiten (wie die der Britischen Schule insgesamt) durch zwei wichtige methodische Eigenschaften aus:– (1) ohrenphonetischen Analysen wird eine zentrale Rolle

eingeräumt genaues Hören auf phonetische Details, ausgehend von umfassendem Training

– (2) die Analyse phonetischer Ereignisse vor dem Hintergrund der kommunikativen Bedeutung D.h., die Fragen zu „was?“ und „wie?“ werden mit der Frage nach dem „wofür?“ verbunden

• Eine solche ohrenphonetische, funktions-orientierte Herange-hensweise an Sprachen und sprachliche Phänomene ist in der modernen signalphonetischen Forschung leider zu einem großen Teil verloren gegangen.

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• Daniel Jones…neu gelesen• Ohrenphonetische Herangehensweisen werden d. automati-

sche Segmentierer und Korpusabfragen sowie d. artikulatori-sche und akustische Messungen nicht ergänzt, sondern ersetzt

• Die Frage nach der Bedeutung wird durch statistische Signifi-kanzen zwischen 2 exp. Bedingungen ersetzt, im Sprachver-gleich werden Form-Funtions-Bez. aufgrund gleicher Symbole vorgenommen, exp. Methoden erzeugen funktionale Artefakte

• Dabei bleibt unbeachtet: Lautsprachliche Kommunikation ist kein Selbstzweck!– Sie ist an einen Hörer gerichtet, und dessen kognitive Fähigkei-

ten und inhaltliche Erwartungen werden vom Sprecher antizipiert sind in Form von Variation im Sprachsignal enthalten

– Lautsprachliche Kommunikation hat Bedeutung, und ohne das Verstehen und Berücksichtigen dieser Bedeutungen laufen alle Analysen irgendwann in eine Sackgasse

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• Daniel Jones…neu gelesen• Daher ist „Das Ohr als Nachrichtenempfänger“

(d.h., als Empfänger von kommunikationen Inhalten, nicht bloßen Signalen) ein wichtiges Instrument für den Erkenntnisgewinn Titel eines Standardwerks der Psychoakustik von

Eberhard Zwicker und Richard Feldtkeller (1967)• Im Folgenden werden einige Beispiele vorgestellt für den Erkenntnisgewinn durch das Ohr als Nachrichtenempfänger,…

• …basierend auf chronologischen Meilensteinen von Daniel Jones vor dem Hintergrund der aktuellen Forschung.

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• Intonation curves (ab 1909)– Eine unglaublich aufwendige, mehrphasige

ohrenphone-tische Analyse von Grammophonaufnahmen gelesener literarischer Texte des Englischen (u.a. Skapespeare, Poe), Französischen (u.a. Lafontaine) und Deutschen (u.a. Schiller, Goethe)

– Sukzessives Abhören der Schallplatten, Gewinnen von Momenteindrücken durch Anheben der Grammophonnadel

– 3 Durchläufe• Phase (1): Erstellung der engen phonetischen

Transkription• Phase (2): Markierung von intonatorischen Phrasen

und betonten („stressed“) Silben• Phase (3): Einzeichnen der impressionistischen Ton-

höhenverläufe, und zwar relativ zur Lautkette

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• Intonation curves (ab 1909)• Erkenntnisse durch das Ohr als

Nachrichtenempfänger:– (1) Hinsichtlich der intonatorischen Bedeutung

müssen nicht nur Tonhöhenbewegungen unterschieden werden, es zählen auch „the precise points of the sentences at which the changes of pitch begin and end“ (1909:IV)

– (2) Obwohl in den Texten etwa 20% der Lautsegmente stimmlos sind, ist die Intonation „certainly subjectively continuous“ (1909:275)

– (3) Einige Abschnitte der Satzintonation lassen sich besser durch punktuelle Tonhöheneindrücke beschreiben, andere werden durch Tonhöhenbewegungen gebildet.

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• Intonation curves (ab 1909)• Erkenntnisse durch das Ohr als

Nachrichtenempfänger:

(Beispiel eines englischen Textabschnitts)

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• Intonation curves (ab 1909)• Zu (1):

– Die Relevanz der Synchronisation von z.B. Melodiegipfeln hat sich 80 Jahre später in modernen, PC-gestützten Wahr-nehmungsexperimenten bestätigt…

– …und bildet heute u.a. den Kern d. Kieler Intonations-modells (KIM, ab Kohler 1987)

t

F0Akz. Vok.

„steht fest“ „offen/neu“ „unerwartet“

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• Intonation curves (ab 1909)• Zu (2):

– Aufgrund akustischer Analysen konzeptualisiert Esther Grabe (1998) bzgl. äußerungsfinal fallender Melodien Deutsch als eine „truncation language“ und Englisch als eine „compression language“.

fallende Intonationen werden im Deutschen durch stimmlose Konsonanten am Satzende einfach abgeschnitten Im Englischen die fallenden Intonationen in den Bereich vor dem stimmlosen Konsonanten hineingestaucht.

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• Intonation curves (ab 1909)• Zu (2):

– Aber hören wir den abgeschnittenen Frequenzabfall auch als abgeschnitten?

– Die Postaspirationen des /t/ erzeugen unterschiedliche Rauschtöne: „tief“ in (a), „hoch-fallend“ in (b)

– Was passiert, wenn man das hoch-fallende Aspirations-rauschen in (b) durch ein rein hohes Rauschen ersetzt?

Hörer können Tonhöheninformationen

unterschiedlicher Quellen integrieren und – auch satzmedial – Lücken füllen.

“Sie schickt“, (a)… und (b)?

(a) (b)

“Sie schickt“(a) , (b)

(Nie

buhr, 2

00

8)

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• Intonation curves (ab 1909)• Zu (2):

– „Er arbeitet als Schneider !/?“ : /s/[]– Vertauschte Sibilanten = weniger kontinuierliche

Intonation

Jones auditiver Eindruck ist richtig. Vom auditiven Ein-druck ausgehend finden sich akustische Ansatzpunkte für d. kognitive Konstruktion kontinuierlicher Tonhöhenverläufe

eine rein an der akustischen Grundfrequenz orientierte Analyse kommt hingegen zu falschen Schlussfolgerungen.

– Mehr noch: Daniel Jones hat derartige Lautanpassungen bereits gekannt u. rechnet demzufolge „voice-pitch“ zum allophonisch relevanten „phonetic context“ (1950:9), auch für Vokale (S. 31).

und:

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• Intonation curves (ab 1909)• Zu (3):

– Ebenso wie seine Beschreibungen zur Intonationssynchroni-sation konnten auch die Eindrücke zu punktuellen Tönen und Tonhöhenbewegung etwa 80 Jahre später experimen-tell bekräftigt werden D. House (1990), KTH, Stockholm

– Spectral constraint model: Wenn der Wahrnehmungs-apparat mit der Verarbeitung spektraler (=segmenteller) Informationen belastet ist, bleibt wenig Kapazität zur gleichzeitigen Verarbeitung von Tonhöheninformation übrig.

Abhängig von der Informationsdichte im Signal werden F0-Verläufe als Tonhöhenbewegungen oder als Tonhöhen-ebenen konstruiert.

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• Intonation curves (ab 1909)• Zu (3):

– Die größte Wahrscheinlichkeit zur Wahrnehmung von Tonhöhenbewegungen ist in finalen und/oder nuklearen Satzakzentsilben und Akzentsilben mit Langvokal

– Die geringste Wahrscheinlichkeit zur Wahrnehmung von Tonhöhenbewegungen ist in unakzentuierten Silben und Akzentsilben mit Kurzvokal

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Das Phonemkonzept von Daniel Jones (1950:10):

„A family of sounds in a given language which are related in character and are used in such a way that no one member occurs in a word in the same phonetic context as any other member“– „physical concept“ (1950:212) ohne weite

Abstraktion, d.h. die Elemente der Lautfamilie sind weiterhin konkret Jones Phonem ist kein „single abtract sound“, und es ist nicht „mentalistic“ (ebd.)

„For linguistic purposes it is convenient“ (1950:1)

vgl. Trubetzkoy: „the phoneme is a linguistic and not a psychological idea“ (in Jones 1950:215).

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Das Phonemkonzept von Daniel Jones (1950:10): „A

family of sounds in a given language which are related in character and are used in such a way that no one member occurs in a word in the same phonetic context as any other member“– Sinn und Zweck des Phonems nach Jones: “sounds

[…] have to be considered as if they were one for orthographic, grammatical and semantic purposes“ (1950:7)

– „Construction of systems of writing […] is one of the chief uses of the phoneme theory“ (1950:8, 219)

– Extrem detaillierte phonetische Beschreibungen sind Voraussetzung jeder phonematischen Analyse: „in fact, phonemics is an essential part of phonetic science“ (1950:vii)

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Das Phonemkonzept wurde schon immer auch

psycholo-gisch interpretiert:– De Courtenay (1934) sah Phoneme als „mental

images“, unterschied zwischen Psychophonetik (= Phonemsystem) und Physiophonetik (= manifeste Phonetik)

– Auch E. Sapir (1925): „ideal sounds“ vs. „objective sounds“

• Aber: Die heutige Analyse gesprochener Sprache hat den psychologischen Bezug verabsolutiert. Das Phonem ist Realität im Kopf von Sprecher und Hörer

Die kritische Reflexion des Phonems und dessen Inhalts als metalinguistisches Konstrukt bzw. Instrument einer heuristischen Analyse ist weitgehend verloren ge-gangen.

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Folglich gilt:• Lautverändernde Prozesse in der

Sprachproduktion müssen…– (1) …das Phonem als Ganzes betreffen, also

kategorial sein– (2) …und im Zeitraster der Lautsegmente

stattfinden.

• In der Sprachwahrnehmung müssen…– (3) …auf Basis v. Lautsegmenten Phoneme

identifiziert werden– (4) …und fehlende/veränderte Phoneme

rekonstruiert werden.

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Zu (1), z.B. kategoriale Assimilation:

– Assimilationsprozesse entpuppen sich in phonetischen Detailanalysen zunehmend als graduell in Zeit und/oder Frequenz und zudem als sprechspezifisch

– U.a. Ellis und Hardcastle (2002), „bad girl“ „bag girl“?

t

(a)

(b)

(c)

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• The Phoneme – Ist Nature and Use (ab 1938)• Zu (1), z.B. kategoriale Assimilation:

– Assimilationsprozesse entpuppen sich in phonetischen Detailanalysen zunehmend als graduell in Zeit und/oder Frequenz und zudem als sprechspezifisch

– U.a. Ellis und Hardcastle (2002), „bad girl“ „bag girl“?

Übereinstimmend mit den Resultaten modernster, messphonetischer Forschung hat Jones (1950:1) bereits konstatiert: „when one of the entities which we call speech- sounds is followed by another, the two more often than not merge into one another in a gradual manner.“

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Zu (2), z.B. zeitliche Domäne der Assimilation:

– Regress. Ortsassimilation im Französischen und Englischen

• Selbst wenn die Assimilation phonetischen Messungen zufolge vollständig ist, können Residuen der assimilierten Lauteigen-schaft – z.B. ‘alveolar‘ im vokalischen Umfeld zurückbleiben

• Wahrnehmungsexperimente zeigen, dass Hörer diese residu-alen Details zur Identifikation der assimilierten Eigenschaft verwenden können, z.B. Gow (2001, 2003).

F2-Transitionen in [æC] “cat box” vs. “cap box”

1550

1600

1650

1700

1750

1800

1850

Zeit

Cat boxCat, assim.Cap box

2550

2600

2650

2700

2750

Fre

qu

en

cy (

Hz)

F3-Transitionen in /æC/ “cat box” vs. “cap box”

Fre

qu

en

cy (

Hz)

ZeitC C

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Zu (2), z.B. zeitliche Domäne der Assimilation:

– /s/-zu-[] Assimilation im Französischen und Englischen:

160ms

160ms

43ms

65ms21dB vs. 17dB

„couches, si“, /s/

„trousse chargée“, /s/

(Niebuhr, 2009, 2011)

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Zu (2), z.B. zeitliche Domäne der Assimilation:

– /s/-zu-[] Assimilation im Französischen und Englischen

122ms, 72.8dB

90ms, 78.9dB

„Voss Shombdon“, /s/

„Vosh Shombdon“, //

(Niebuhr, 2009, 2011)

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Zu (3), Phonem-basierte Wortidentifikation:

– (a) „Ich kann das ja mal sagen“– (b) „Ich kann Ihnen das ja mal sagen“– …aus dem ‘Kiel Corpus of Spontaneous Speech‘

– Wir können die beiden Äußerungen (a) und (b) problemlos unterscheiden, d.h. in (b) nehmen wir ein Wort mehr wahr

„Ihnen“– Das erstaunliche: „Ihnen“ ist nicht mehr als Lautkette

[ ] im akustischen Signal vorhanden– Aber die „phonetische Essenz“ des Wortes ist noch da,

verteilt über die übrigen Laute• Dauer, Palatalität, Energiegipfel (?)

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Zu (3), Phonem-basierte Wortidentifikation:

– (a) „Ich kann das ja mal sagen“– (b) „Ich kann Ihnen das ja mal sagen“– …aus dem ‘Kiel Corpus of Spontaneous Speech‘

/n/ von „kann“ istlänger und palatal[], 2 E-Gipfel

[k] ist eher als[] produziert

Die 2 /a/sind eher[]-artigfrontiert

(Kohler und Niebuhr, 2011)

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938)• Zu (3), Phonem-basierte Wortidentifikation:

Wortwahrnehmung läuft nicht Laut für Laut ab, sondern integriert und reorganisiert nicht-linear lokale Artikulationen und „artikulatorische Prosodien“.

• Zu (4), Rekonstruktion von Phonemen:

Etwaige Befunde zur „phonemic restoration“ haben bereits im Experimentaufbau einen starken Phonembezug.

– Lässt man diesen weg, rekonstruiert der Hörer, wenn über-haupt, eher ganzheitliche artikulatorische Öffnungs- und Schließbewegungen ( Silben)

„Nun wollen wir mal gucken“

(Niebuhr, 2011)

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• The Phoneme – Its Nature and Use (ab 1938) Die von Daniel Jones stets vertretene

heuristische/ intrumentelle Betrachtung des Phonems und dessen konkrete, nicht-singuläre Interpretation als eine „family of sounds“ ist mit der Realität der Produktion und Perzeption sehr viel besser vereinbar als ein kognitiv veranktertes „Basismolekül“ der Sprache.

• Dabei ist sich Jones gleichzeitig des Hauptfehlers des Phonemkonzeptes bewusst: „the ‚speech sound‘ is non-existent“ (1950:1)

Hierin steckt die eigentliche und einzig sinnvolle Abstraktion des Phonemkonzepts

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale • Vermutlich der meistbeachtete Forschungsbeitrag

von Daniel Jones mit der größten „Nachwirkung“• Grundproblem:

– Konsonantenbeschreibung bietet über mehr oder weniger direktes taktiles Feedback einen artikulatorischen Bezugs-rahmen

– Darüber hinaus bestehen recht enge Beziehungen zwischen Artikulation (taktilem Feedback), dessen akustischem Pro-dukt und dem Gehörseindruck

Ein Beschreibungssystem von Vokalen kann sich nicht auf derartig robuste Grundlagen stützen

– Im Gegenteil: u.a. durch interagierende Bewegungen von Lippen, Zunge und Unterkiefer erzielen viele artikulatori-sche Gesamtkonfigurationen vergleichbare Ergebnisse.

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale „Seit Generationen, ja seit Jahrhunderten bemüht

man sich um eine geeignete Beschreibungsbasis“ für Vokale (Kohler 1995:66)

• Daniel Jones Lösung ist ein sprachunabhängiges, wahrnehmungsbasiertes Beschreibungssystem…

• …allerdings nicht völlig unabhängig, sondern inspiriert durch Ideen von A. Ellis, P.Passy, A. Bell und H. Sweet, bei denen Daniel Jones studierte

• …und den Vokalqualitäten des französischen, z.B. hin-sichtlich der Anzahl der Zwischenstufen und der Ver-änderung der Lippenrundung über die Zwischenstufen.

• (vgl. „lit, les, lait, là, las, l‘eau…vous“, in Kohler (1995))

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale• Genese:

– 2 Referenzpunkte „hinges“ (der Begriff ‘cardinal‘ stammt von Bell), artikulatorisch definiert

• [i] anatomische Grenze vorn, aerodynamische Grenze oben• [] aerodynamische Grenze hinten, anatomische Grenze

unten

– Um diese Eckpunkte herum – und an der Vokoid-Kontoid-Peripherie entlang

• perzeptorisch äquidistante Schritte• 3 von [i] „abwärts“ und 3 von [] „aufwärts“• „abwärts“ mit abnehmender Lippenspreizung und

„aufwärts“ mit zunehmender Lippenrundung

– Ergibt eine prinzipiell arbiträre Einteilung des kontinuierli-chen Vokalraums Erlauben eine Beschreibung des Vokalraums ähnlich wie bei einer Farbpalette im Baumarkt.

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale• Genese:

– Weiter macht Jones Röntgenaufnahmen von seinen Produk-tionen der (Kardinal-)Vokale 1, 4, 5 und 8.

– Die höchsten Zungenpunkte im Sagittalschnitt zueinander und zu Koordinaten der Mundraumanatomie legen die Grundlage für das heutige Vokalviereck (= „vowel quadrilateral“)

– Nun kommt in Analogie zu den zum Beschreibungssystem der Konsonanten die Artikulation „durch die Hintertür“ erneut herein (praxisorientiert, aber kontrafaktisch):

• Die Eckpunkte des Vokalvierecks werden durch gerade Linien verbunden, und die Kardinalvokale werden entlang dieser Artikulationslinien positioniert

• Dabei wird die von Jones postulierte perzeptorische Äqui-distanz mit artikulatorischer Äquidistanz gleichgesetzt.

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale• Genese:

– Das erste Set aus 8 Kardinalvokalen wurde durch ein zweites, sekundäres Set mit jeweils inverser Lippenrundung sowie durch zwei geschlossene bzw. hohe Zentralvokale ergänzt.

– Später kamen durch die IPA noch einige weitere Zentral-vokale bzw. –vokalpaare dazu, und die Notation einiger Vokale wurde modifiziert.

– Das heutige System umfasst• 4 Öffnungsgrade• 3 „aktive Artikulatoren“

(Vorder-/Mittel-/Hinterzunge)• 2 Grade der Lippenrundung

(IPA, 1999; Clark&Yallop 1990)

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale• Trotz der pragmatischen, artikulatorischen

Anbindung betont Jones (u.a. 1918:19) die auditive Basis

• „The values of the cardinal vowels cannot be learnt from written descriptions; they should be learnt by oral instruction from a teacher who knows them“.

• Die bemerkenswerte ohrenphonetische Leistung von Daniel Jones in der Ausarbeitung des Systems der Kardinalvokale kommt direkt und indirekt in späteren messphonetischen Studien zum Ausdruck.

z.B. Delattre, Liberman und Cooper (1951)

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale– Aus Produktions- und Perzeptionsdaten wurde ein

Set von 16 Kardinalvokalen im Sprachsyntheseverfahren künstlich gewonnen.

– Trägt man die ersten beiden Formanten dieser Vokale, F1 und F2, in einem 2D-Diagramm mit logarithmisch skalierten Frequenzachsen auf, dann erhält man…

• (1) ein Schaubild, das demVokalviereck von DanielJones sehr ähnlich sieht

• (2) annähernd äquidistanteFormantenveränderungenzwischen den einzelnenVokalen, insb. für F1, aberauch für F2!

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale Das heißt, die von Daniel Jones postulierte

perzeptori-sche Äquidistanz lässt sich mit akustischer Äquidistanz in Beziehung setzen und so untermauern.

• Eine implizite ohrenphonetische Organisation von Vokalen bzgl. des zweiten Formanten findet sich sogar schon sehr viel früher als in Jones System der Kardinalvokale

• …und korrespondiert gut mit der Einteilung von Jones

Samuel Reyher– deutscher Astronom und Mathematiker– erhielt den Lehrstuhl für Mathematik hier in Kiel im

Gründungsjahr der CAU 1665

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale– In seiner 1679 publizierten Arbeit zur Verknüpfung

von Theologie und Mathematik streift Samuel Reyher auch den Phänomenbereich der deutschen Vokale und schreibt hierzu

• …,dass sich geflüsterte Vokale in ihrer Tonhöhe unterscheiden

• (womit der indirekt den zweiten Formanten beschrieb)• Reyher ordnet die Vokale nach aufsteigendem

Tonhöhen-eindruck in einer musikalischen Notation an.• Reyhers ohrenphonetische Gruppierung entspricht

erstaunlich genau der fast 300 Jahre später gemessenen akustischen F2-Progression und der horizontalen Einleitung d. Kardinalvokale

offen halb-geschl.geschlossen

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale• Zusätzliche indirekte Unterstützung für Sinn und

Validität des Kardinalvokalsystems aus einer Studie von Liljencrants und Lindblom (1972)– Rechnergestützte Erzeugung künstlicher

Vokalsysteme mit 3-12 Vokalkontrasten– Vorgabe für die Rechenoperationen der Maschine:

Die Vokalkontraste – repräsentiert durch F1, F2 (und F3) – sollen maximal sein.

– Resultat: die maximal kontrastiven Vokalqualitäten überlappen sich sehr deutlich mit den 16 Kardinalvokalen

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• English Pronouncing Dictionary: Kardinalvokale• Zusätzliche indirekte Unterstützung für Sinn und

Validität des Kardinalvokalsystems aus einer Studie von Liljencrants und Lindblom (1972)– Sprachen organisieren ihre Vokalsysteme tendenziell

so, dass die F1-F3 Kontraste maximiert werden sprachübergreifend viele Korrespondenzen zwischen

Vokalsystemen und dem Beschreibungssystem der Kardinalvokale erleichtert dessen Anwendung

• Untermauerung des Basischarakters der Kardinalvokale: Ryan (1996) zeigt mit Synästhetikern eine grundsätzliche Beziehung zwischen Kardinalvokalen u. Primärfarben auf.

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• Fazit:• Das wissenschaftliche Werk v. Daniel Jones

demonstriert d. Erkenntnisgewinn einer ohrenphonetischen Forschung– (a) Unser Ohr ist eines der besten Werkzeuge zur

Analyse gesprochener Sprache und sollte auch heute noch dafür trainiert und eingesetzt werden

– (b) Wissen und Fähigkeiten des Hörers sind Bestandteil des Sprachcodes, und folglich muss der Hörer auch Bestandteil der Analyse gesprochener Sprache sein…

– (c) …und zwar nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung und Ausgangspunkt für moderne rechnergestützte Analysen.

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• Fazit:• Das Ohr ist nicht Signal-, sondern Nachrichtenempfänger.

– Bei Berücksichtigung der Funktion hätte sich z.B. die Frage „Truncation“ oder „Compression“ gar nicht so gestellt.

– Auch vermeintliche freie Variation von Allophonen stellt sich oft als systematisch heraus. Z.B. Englisch: /ptk/ Aspiration ist wortfinal nicht distinktiv… aber dennoch auf Diskurs-ebene komplementär verteilt aspiriert = turnfinal, nicht-aspiriert = turnintern (Local 2003)

– Die Berücksichtigung von Jones Unterscheidung zwischen „emphasis for contrast“ und „emphasis for intensity“ hätte zu durchdachteren Erhebungen von Sprachdaten zu engem bzw. kontrastivem Fokus geführt (vgl. Görs 2011).

– Die Erforschung phonetischer Formen muss d. d. Ergrün-dung ihrer kommunikativen Funktionen begleitet werden.