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Analysefragmente zu „Gebet einer Jungfrau“ (1859) von Thekla von Badarczewska TAKTE 1-4 (EINLEITUNG) Es-Dur-Tonleiter (=Grundtonart der Komposition) in Viertelnoten abwärts. Beide Hände spielen parallel und in Oktaven. Kurze Vorschläge (klein geschriebene Noten) vor den Zählzeiten. Symbolisiert diese schrittweise Abwärtsführung den Vor- gang des Niederkniens oder handelt es sich um eine demütige Ehrerbietung? Nach dem Erreichen des Grundtones Es am Ende des 2. Taktes erklingt die Subdominante (=Akkord auf der 4. Stufe der Es-Dur-Tonleiter), also As-Dur, wobei die rechte Hand arpeggiert wird. Die (künstlich) lange Pause bis zur Dominante B-Dur (sogar als Dominantseptakkord B 7 mit kleiner Septime As) in Takt 4 überrascht, zumal dieses Innehalten im weiteren Verlauf des Stückes nicht wieder aufgegriffen wird. Insgesamt liefert die Einleitung eine Kadenz (Abfolge von Tonika, Subdominante und Dominante), welche mit Beginn von Takt 5 abgeschlossen wird – die Ausgangstonart Es-Dur erklingt wieder – motivisches Material, welches im weiteren Verlauf der Komposition Verwendung findet: Oktavierungen, schrittweise Abwärtsbewegungen, einfachste Harmonik (die meisten Punklieder kommen mit diesen Akkorden aus) sowie (belanglos wirkende) Verzierungen. Durch das angezeigte Forte und die Kunstpause hat die Einleitung offensichtlich die Funktion, den Zuhörer aufhorchen zu lassen (z.B. von seinem Karten- spiel). TAKTE 5-12 (VORSTELLUNG DES THEMAS IN DER GRUNDGESTALT): Die linke Hand bildet mit ihren durchgängigen Vierteln den musikalischen Puls. Deutlicher Schwerpunkt liegt hier auf der ersten Zählzeit, welche mit dem tief oktavierten Grundton gefestigt wird. In mittlerer Lage erklingen die zugehörigen Ak- korde drei- oder (sogar) vierstimmig auf den restlichen Zählzeiten. Das Thema erklingt in der rechten Hand und setzt sich aus zwei Motiven zusammen: 1. Pause auf Zählzeit 1. Aufsteigende Dreiklangsbrechungen über fast zwei Oktaven in Achteltriolen. Jeder Ton wird oktaviert (Anlehnung an die Einleitung). Crescendo bei Aufwärtsbewegung 2. Schrittweises Absinken bei leicht erweitertem Rhythmus; Decrescendo Insgesamt zeichnet sich das zweitaktige Thema durch ein schnelles Emporklettern aus (große Bewegung durch Terzen und Quarten bei 2 Zählzeiten Dauer), das von einem sanften, zärtlichen Herabsinken gefolgt ist (Primen und Sekunden abwärts, Dauer: 6 Zählzeiten). Das Thema erklingt in den ersten sechs Takten dieses Abschnitts dreimal mit folgenden Harmonien: 1. Es-Dur – As-Dur bzw. Tonika – Subdominante 2. B-Dur – Es-Dur bzw. Dominate – Tonika 3. Es-Dur – As-Dur bzw. Tonika – Subdominante (Wiederholung der Takte 5/6) Eine kleine Abwandlung bringen die Takte 11/12 durch nun halbtaktigen Wechsel der Harmonien (B 7 – Es – B 7 – Es). In Takt 11 setzen die Dreiklangsbrechungen zweimal an, bevor in Takt 12 mit dem Triller auf der Halben b‘‘ mit anschließender Verzierung der (erlösende) Ziel- und Grundton es‘‘‘ erreicht wird. TAKTE 13-21 (VARIATION 1): Für diese acht Takte bleibt die linke Hand unverändert, d.h. insbesondere, dass die Harmonik unverändert bleibt. Doch die melodische Ausgestaltung durch die rechte Hand ändert sich. Bezogen auf Motiv 1 bleiben die aufwärts strebenden Drei- klangsbrechungen bei Fortfall der Oktavverdoppelungen erhalten. Der Triolenrhythmus weicht einer pseudovirtuosen Rhythmisierung durch Sechzehntel, Septolen (=7 Töne auf eine Zählzeit) und sogar 10 Tönen auf einer Zählzeit (z.B. Takt 15). Der in Takt 12 eingeführte Triller bildet nun den zweiten Teil des zweiten Motivs. Das dynamische An- und Abschwellen (Crescendo – Decrescendo) innerhalb der zweitaktigen Themenphrase bleibt erhalten. Den Abschluss dieser acht Takte (Takte 19/20) bildet nun ein dreifaches Ansetzen der Dreiklangsbrechungen. Durch die motivischen Variationen klingt die- ser Formteil weicher als sein Vorgänger. Eine weitere Neuerung ist der Einsatz von 1. Und 2. Klammer (Takte 20/21), die eine alternative Schlussformel bringen. Während Takt 20 den Grundton es in der viergestrichenen Oktave ansteuert, führt Takt 21 die Melodie zum tiefer gelegenen Schlusston es‘‘, um vielleicht einen sanfteren Übergang zu Takt 22 zu schaffen.

Analysefragmente Zu Gebet Einer Jungfrau

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Analysefragmente zu „Gebet einer Jungfrau“ (1859) von Thekla von Badarczewska

TAKTE 1-4 (EINLEITUNG)

Es-Dur-Tonleiter (=Grundtonart der Komposition) in Viertelnoten abwärts. Beide Hände spielen parallel und in Oktaven.

Kurze Vorschläge (klein geschriebene Noten) vor den Zählzeiten. Symbolisiert diese schrittweise Abwärtsführung den Vor-

gang des Niederkniens oder handelt es sich um eine demütige Ehrerbietung? Nach dem Erreichen des Grundtones Es am

Ende des 2. Taktes erklingt die Subdominante (=Akkord auf der 4. Stufe der Es-Dur-Tonleiter), also As-Dur, wobei die rechte

Hand arpeggiert wird. Die (künstlich) lange Pause bis zur Dominante B-Dur (sogar als Dominantseptakkord B7 mit kleiner

Septime As) in Takt 4 überrascht, zumal dieses Innehalten im weiteren Verlauf des Stückes nicht wieder aufgegriffen wird.

Insgesamt liefert die Einleitung eine Kadenz (Abfolge von Tonika, Subdominante und Dominante), welche mit Beginn von

Takt 5 abgeschlossen wird – die Ausgangstonart Es-Dur erklingt wieder – motivisches Material, welches im weiteren Verlauf

der Komposition Verwendung findet: Oktavierungen, schrittweise Abwärtsbewegungen, einfachste Harmonik (die meisten

Punklieder kommen mit diesen Akkorden aus) sowie (belanglos wirkende) Verzierungen. Durch das angezeigte Forte und

die Kunstpause hat die Einleitung offensichtlich die Funktion, den Zuhörer aufhorchen zu lassen (z.B. von seinem Karten-

spiel).

TAKTE 5-12 (VORSTELLUNG DES THEMAS IN DER GRUNDGESTALT):

Die linke Hand bildet mit ihren durchgängigen Vierteln den musikalischen Puls. Deutlicher Schwerpunkt liegt hier auf der

ersten Zählzeit, welche mit dem tief oktavierten Grundton gefestigt wird. In mittlerer Lage erklingen die zugehörigen Ak-

korde drei- oder (sogar) vierstimmig auf den restlichen Zählzeiten.

Das Thema erklingt in der rechten Hand und setzt sich aus zwei Motiven zusammen:

1. Pause auf Zählzeit 1. Aufsteigende Dreiklangsbrechungen über fast zwei Oktaven in Achteltriolen. Jeder Ton wird

oktaviert (Anlehnung an die Einleitung). Crescendo bei Aufwärtsbewegung

2. Schrittweises Absinken bei leicht erweitertem Rhythmus; Decrescendo

Insgesamt zeichnet sich das zweitaktige Thema durch ein schnelles Emporklettern aus (große Bewegung durch Terzen und

Quarten bei 2 Zählzeiten Dauer), das von einem sanften, zärtlichen Herabsinken gefolgt ist (Primen und Sekunden abwärts,

Dauer: 6 Zählzeiten).

Das Thema erklingt in den ersten sechs Takten dieses Abschnitts dreimal mit folgenden Harmonien:

1. Es-Dur – As-Dur bzw. Tonika – Subdominante

2. B-Dur – Es-Dur bzw. Dominate – Tonika

3. Es-Dur – As-Dur bzw. Tonika – Subdominante (Wiederholung der Takte 5/6)

Eine kleine Abwandlung bringen die Takte 11/12 durch nun halbtaktigen Wechsel der Harmonien (B7 – Es – B

7 – Es). In Takt

11 setzen die Dreiklangsbrechungen zweimal an, bevor in Takt 12 mit dem Triller auf der Halben b‘‘ mit anschließender

Verzierung der (erlösende) Ziel- und Grundton es‘‘‘ erreicht wird.

TAKTE 13-21 (VARIATION 1):

Für diese acht Takte bleibt die linke Hand unverändert, d.h. insbesondere, dass die Harmonik unverändert bleibt. Doch die

melodische Ausgestaltung durch die rechte Hand ändert sich. Bezogen auf Motiv 1 bleiben die aufwärts strebenden Drei-

klangsbrechungen bei Fortfall der Oktavverdoppelungen erhalten. Der Triolenrhythmus weicht einer pseudovirtuosen

Rhythmisierung durch Sechzehntel, Septolen (=7 Töne auf eine Zählzeit) und sogar 10 Tönen auf einer Zählzeit (z.B. Takt

15). Der in Takt 12 eingeführte Triller bildet nun den zweiten Teil des zweiten Motivs. Das dynamische An- und Abschwellen

(Crescendo – Decrescendo) innerhalb der zweitaktigen Themenphrase bleibt erhalten. Den Abschluss dieser acht Takte

(Takte 19/20) bildet nun ein dreifaches Ansetzen der Dreiklangsbrechungen. Durch die motivischen Variationen klingt die-

ser Formteil weicher als sein Vorgänger. Eine weitere Neuerung ist der Einsatz von 1. Und 2. Klammer (Takte 20/21), die

eine alternative Schlussformel bringen. Während Takt 20 den Grundton es in der viergestrichenen Oktave ansteuert, führt

Takt 21 die Melodie zum tiefer gelegenen Schlusston es‘‘, um vielleicht einen sanfteren Übergang zu Takt 22 zu schaffen.

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TAKTE 22-29 (VARIATION 2):

Teufelswerk erlebt man, nach dem eher reich verzierten und verträumten Durchgang, ab Takt 22, da die rechte Hand mit

ihrer Melodie in die Tenorlage rutscht (der ausführende Spieler kann sich hier eine Cello-Kantilene vorstellen), sodass sich

die Hände des Pianisten kreuzen müssen. Durch die Vortragsanweisung „espressivo“ ist der Pianist zu höchstem Ausdruck

angehalten, der sicherlich durch entsprechenden Gesichtsausdruck und die passende Körperhaltung überzeugend dem

Publikum übermittelt werden kann. Hier ist die Melodievariante am einfachsten, da Motiv 1 auf 3 Achtelnoten reduziert ist

(z.B. Takt 22), während Motiv 2 der Urgestalt entspricht. Natürlich entfallen auch hier die Oktavierungen, da der Spieler

genug mit dem Überschlagen der Hände zu tun hat. Die durch die linke Hand festgelegte Harmonik bleibt auch hier unver-

ändert.

TAKTE 30-38 (VARIATION 3):

Längst ist der Zuhörer an die Pause vor der Dreiklangspassage (z.B. Takt 5 auf Zählzeit 1) gewöhnt, erklingt nun auf der

hauptbetonten Zählzeit ein Triller auf dem ton b‘ (Takt 30). Wenn auch die anschließende Rhythmisierung mit 32-steln eine

Neuerung bringt, stellt das bekannte Aufschwingen zum Ton g‘‘‘ (Takt 30 auf 3) mit dem bewährten Herabsinken die Orien-

tierung sofort wieder her. Erwähnenswert () sind die Sextolen in Takt 36, die nur dort zu hören sind. Auch dieser Durch-

gang bietet mit den Klammern 1 und 2 (Takte 37/38) verschiedene Schlüsse, die genaue Kopien der Takte 20/21 darstellen.

TAKTE 39-47 (SCHLUSS-STRETTA1)

Mit ihren Viertelnoten bleibt die linke Hand rhythmisch gleich, jedoch ändern die Harmonien hier ausnahmslos taktweise2

mit der Abfolge (T3 – S – D – T – T – S – D – T). Damit erklingen zwei vollständige Kadenzen. Der Beginn weckt die Erwartung

an das Thema in der Urgestalt, jedoch werden die gebrochenen Dreiklänge nicht in die Höhe geführt, sondern stagnieren

(Tonrepetitionen auf dem g‘‘ und g‘‘‘) unerwartet. Mit „Piu4 Allegro“ zieht das Tempo merklich an. Wie schon in der Einlei-

tung erklingen die Oktaven wieder, welche somit einen Rahmen bilden und die intendierte Schlusswirkung unterstreichen

sollen. Mit einfachsten Mitteln wird hier eine Schlusswirkung erzielt, sodass eigentlich die Bezeichnung Stretta in ihrer

eigentlichen Bedeutung völlig übertrieben erscheint.

Die gesamte Komposition besteht aus sechs Formteilen, die leicht hörend und durch Blick in den Notentext auszumachen

sind. Lediglich die Einleitung umfasst nur 4 Takte, die übrigen Abschnitte benötigen 8 Takte. Einleitung und Schlussteil wer-

den als einzige nicht wiederholt und bilden eine Klammer (vgl. oben). Es liegt also ein äußert leicht zu konsumierender

formaler Aufbau vor, was dem Verwendungszweck enorm zuträglich ist.

1 Als Stretta wird die effektvolle, oft virtuose Schlusssteigerung einer Komposition bezeichnet. Man spricht vor allem in

romantischen Werken von der ‚Schluss-Stretta‘. Das Wort ist dem Italienischen entlehnt und bedeutet etwa „eng, ge-drängt“. 2 In den übrigen Durchgängen wechseln die Harmonien in den beiden Schlusstakten halbtaktig.

3 T = Tonika, S = Subdominante, D = Dominante

4 Ital.: „mehr“