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Vorwort zur orientalischen Tradition* (Oliver Overwien) Eine Sammlung der orientalischen 5 Fragmente bzw. Testimonien zu einem Vorsokratiker kann nach dem gegenwärtigen Forschungsstand, anders als es vielleicht für die lateinische und griechische Überlieferung der Fall ist, keinen auch nur in Ansätzen vollständigen Überblick über sein Fortleben in dieser Tradition geben. Die Gründe dafür sind verschiedener Natur. Zu- nächst einmal ist die orientalische Literatur bei weitem nicht in dem Maße in Editionen erschlossen wie die griechische und lateinische. Von zahlreichen Traktaten sind bestenfalls Handschriften bekannt, viele andere schlummern noch unerkannt nicht nur in orientalischen, sondern auch in europäischen, ja sogar in deutschen Bibliotheken. Doch selbst das Vorhandensein einer modernen Textedition muss nicht zwangsläufig eine Hilfe bedeuten, da be- sonders unter den Herausgebern aus orientalischen Ländern der Nutzen eines (vollständigen) Index nicht in jedem Fall bekannt ist. Weiterhin kann sich eine Zusammenstellung der antiken Zeugnisse zu großen Teilen auf den TLG oder die Library of Latin Texts (Series A) bzw. die Bibliotheca Teubneriana stützen. Eine digital durchsuchbare Zusammenstellung arabi- scher Texte, sozusagen einen Thesaurus linguae arabicae, gibt es dagegen nicht. Der Altertumswissenschaftler hat als weiteren Ausgangspunkt für seine Sammeltätigkeit Diels-Kranz’ monumentales Werk Fragmente der Eine Arbeit mit derart disparaten Quellen kann nicht ohne Unterstützung auskom- men: Ich danke Frau Dr. C. Bandt für die Präsentation der hebräischen Schrift und für ihre Übersetzung einer Passage aus der Paraphrase des Themistios von Aristo- teles’ De caelo. Prof. G. Strohmaier half mir bei einigen textlichen Problemen, Dr. R. Arnzen versorgte mich mit bio-bibliographischen Informationen zu Ibn Rušd (Averroes). Nicht unerwähnt lassen möchte ich schließlich auch Prof. G. Wöhrle und seine vorsokratisch interessierten Mitarbeiter Prof. O. Hellmann und Frau Dr. M. Marcinkowska-Rosoł, die mir verschiedene Hinweise und Anregungen bei vor- bereitenden Gesprächen gaben. 5 Unter ‚orientalisch‘ werden an dieser Stelle in erster Linie syrische und arabische Texte verstanden. In persischer Sprache abgefasste Schriften werden nicht berück- sichtigt, hebräische dagegen nur vereinzelt im Rahmen der Übersetzungsliteratur. * Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/18/13 2:02 PM

Anaximander und Anaximenes () || Vorwort zur orientalischen Tradition

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Page 1: Anaximander und Anaximenes () || Vorwort zur orientalischen Tradition

3Vorwort zur orientalischen Tradition (Oliver Overwien)

Vorwort zur orientalischen Tradition*(Oliver Overwien)

Eine Sammlung der orientalischen5 Fragmente bzw. Testimonien zu einem Vorsokratiker kann nach dem gegenwärtigen Forschungsstand, anders als es vielleicht für die lateinische und griechische Überlieferung der Fall ist, keinen auch nur in Ansätzen vollständigen Überblick über sein Fortleben in dieser Tradition geben. Die Gründe dafür sind verschiedener Natur. Zu-nächst einmal ist die orientalische Literatur bei weitem nicht in dem Maße in Editionen erschlossen wie die griechische und lateinische. Von zahlreichen Traktaten sind bestenfalls Handschriften bekannt, viele andere schlummern noch unerkannt nicht nur in orientalischen, sondern auch in europäischen, ja sogar in deutschen Bibliotheken. Doch selbst das Vorhandensein einer modernen Textedition muss nicht zwangsläufig eine Hilfe bedeuten, da be-sonders unter den Herausgebern aus orientalischen Ländern der Nutzen eines (vollständigen) Index nicht in jedem Fall bekannt ist. Weiterhin kann sich eine Zusammenstellung der antiken Zeugnisse zu großen Teilen auf den TLG oder die Library of Latin Texts (Series A) bzw. die Bibliotheca Teubneriana stützen. Eine digital durchsuchbare Zusammenstellung arabi-scher Texte, sozusagen einen Thesaurus linguae arabicae, gibt es dagegen nicht. Der Altertumswissenschaftler hat als weiteren Ausgangspunkt für seine Sammeltätigkeit Diels-Kranz’ monumentales Werk Fragmente der

5 Eine Arbeit mit derart disparaten Quellen kann nicht ohne Unterstützung auskom-men: Ich danke Frau Dr. C. Bandt für die Präsentation der hebräischen Schrift und für ihre Übersetzung einer Passage aus der Paraphrase des Themistios von Aristo-teles’ De caelo. Prof. G. Strohmaier half mir bei einigen textlichen Problemen, Dr. R. Arnzen versorgte mich mit bio-bibliographischen Informationen zu Ibn Rušd (Averroes). Nicht unerwähnt lassen möchte ich schließlich auch Prof. G. Wöhrle und seine vorsokratisch interessierten Mitarbeiter Prof. O. Hellmann und Frau Dr. M. Marcinkowska-Rosoł, die mir verschiedene Hinweise und Anregungen bei vor-bereitenden Gesprächen gaben.

5 Unter ‚orientalisch‘ werden an dieser Stelle in erster Linie syrische und arabische Texte verstanden. In persischer Sprache abgefasste Schriften werden nicht berück-sichtigt, hebräische dagegen nur vereinzelt im Rahmen der Übersetzungsliteratur.

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4 Vorwort zur orientalischen Tradition (Oliver Overwien)

Vorsokratiker. Eine vergleichbare Sammlung für die orientalische Tradi-tion existiert allenfalls für Empedokles, ansonsten gehört die Rezeption der Vorsokratiker nicht unbedingt zu den Forschungsschwerpunkten der (Graeco-)Arabisten.6 Ein entsprechendes Vorhaben hängt somit in gewis-ser Weise von den Kenntnissen des Bearbeiters, seinen Interessen, seiner Ausdauer und nicht zuletzt von der ihm zur Verfügung stehenden Zeit ab. Doch selbst diese Faktoren reichen mitunter nicht aus. Sicherlich kann man bei der Recherche mit den ‚üblichen Verdächtigen‘ wie Aristoteles und sei-nen Kommentatoren anfangen, doch ist die orientalische Literatur letztlich nicht weniger verzweigt als die antike. Die hier vorgelegten Quellen de-cken zwar einen vergleichsweise überschaubaren Zeitraum ab, doch sind sie unter unterschiedlichen politischen, religiösen, kulturellen, gesellschaft-lichen Bedingungen verfasst worden. Dabei handelt es sich einerseits um Übersetzungen, andererseits um theologische – christliche wie islamische –, philosophische, alchemistische, gnomologische und naturwissenschaftliche Abhandlungen. Auf Vorsokratikerzitate bei entlegeneren, sprich in der Forschung weniger behandelten, bekannten Autoren stößt man bisweilen nur durch kursorische Lektüre oder Hinweise in irgendeiner Fußnote. Der Faktor Glück bzw. Zufall spielt somit eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es ist daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon aus-zugehen, dass eine Neuauflage in 50 oder 100 Jahren ein vielleicht nicht gänzlich anderes, auf jeden Fall aber weitaus materialreicheres und damit repräsentativeres Bild vom Fortleben der Vorsokratiker im Orient liefern dürfte. Aber es kann natürlich nicht schaden, wenn irgendeiner irgendwann einmal mit dem Sammeln anfängt.

Eine systematische Zusammenstellung der orientalischen Zeugnisse zu Ana-ximander und Anaximenes gibt es bisher nicht, insofern stellt die vorlie-gende Sammlung tatsächlich etwas Neues dar.

6 Die vergleichsweise umfangreiche Studie von de Smet 1998 zu Empedokles vermit-telt annähernd ein Bild vom Fortleben eines Vorsokratikers im Orient. Allerdings sagt der Autor selbst: „Notre corpus de l’Empedocle arabe, qui n’a nullement la prétention d’ être exhaustif …“ (loc. cit., 37). Zudem bietet die Studie nur eine Aus-wahl der Testimonien und konzentriert sich in erster Linie auf die arabische Über-lieferung. An weiteren Untersuchungen, die sich dezidiert mit Vorsokratikern im Orient beschäftigen, wären noch – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – der kurze Beitrag von Daiber 1984a zu nennen, der eine kommentierte Auflistung von Texten von und über Demokrit in der syrischen und arabischen Tradition enthält. Rosenthal 1937 bietet außerdem eine kleine Auswahl an Sprüchen und Biographica zu Zenon, Pythagoras und Solon.

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5Vorwort zur orientalischen Tradition (Oliver Overwien)

Die aufgeführten Quellen umspannen ziemlich genau einen Zeitraum von 500 Jahren. Das früheste Zeugnis ist der Liber scholiorum des Theo-doros bar Kōnī aus dem Jahre 792 n. Chr. (As 193), während die späteste Quelle, Zerachya ben Isaak Chens hebräische Übersetzung von Aristo-teles’ De caelo, auf 1284 n. Chr. datiert werden kann (As 241). Aus die-sem Rahmen fällt nicht nur sprachlich, sondern vor allem auch zeitlich Jacob Mantinus’ (gest. 1549) lateinische Übersetzung von Ibn Rušds (Averroes’) Mittlerem Physikkommentar (Ar  277). Sie wurde ebenfalls berücksichtigt, weil sie zum einen auf ein Werk aus dem 12. Jh. zurück-geht und alle Vorgängerversionen entweder verloren oder nicht ediert sind und weil zum anderen Anaximander und Anaximenes besonders in den mittelalterlichen arabischen Kommentaren oftmals  – man hat fast den Eindruck: systematisch – übergangen wurden (s. u.) und man gera-dezu froh sein muss über jede Erwähnung ihrer Personen innerhalb dieser Literaturgattung.

Die meisten der hier vorgelegten Zeugnisse finden sich in Schriften, die von den jeweiligen Autoren selbst konzipiert wurden, in denen die Infor-mationen über Anaximander und Anaximenes also eigenständig weiter-verarbeitet wurden. Einige von ihnen sind Teil syrischer und arabischer Übersetzungen von Texten, die im griechischen Original verloren sind. Zu nennen wären hier die Meteorologie Theophrasts (As 11), das Aristoteles-kompendium des Nikolaos von Damaskos (As 19), Alexander von Aphro-disias’ Kommentar zu De generatione et corruptione (As 69), die De caelo-Paraphrase des Themistios (As  99), ein dem Aristoteles zugeschriebenes Meteorologiekompendium aus spätantiker Zeit (As 194), vielleicht auch der Olympiodor zugeschriebene Kommentar zur Meteorologie (As 199–200) und die Chronik des Johannes Grammatikos (As 234). Übersetzungen von erhaltenen griechischen Werken wurden dagegen nur in Ausnahmefällen herangezogen, und zwar immer dann, wenn die betreffenden Einträge von besonderem Wert für die orientalische Überlieferung sind. Dies ist bei-spielsweise für einige Testimonien aus den Plutarch zugeschriebenen Placita philosophorum der Fall (As 203–206).

Ein Vergleich der orientalischen mit der antiken Überlieferung zeigt zwei Auffälligkeiten:

1. Im Gegensatz zur antiken Tradition sind uns für Anaximenes deutlich mehr orientalische Zeugnisse erhalten als für Anaximander.

2. Insgesamt betrachtet finden sich im Orient nur wenige Zeugnisse zu Anaximander und Anaximenes. Dies liegt darin begründet, dass sie einen zweifachen Filter durchlaufen mussten: So sind zunächst überhaupt nur

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6 Vorwort zur orientalischen Tradition (Oliver Overwien)

wenige der antiken Autoren, die Testimonien zu Anaximander und Ana-ximenes bewahrt haben, ins Syrische oder Arabische übersetzt worden. Hier wären vor allem Aristoteles und seine spätantiken Kommentatoren zu nennen. Gelangten entsprechende Schriften in den Orient, wurden die Aussagen der beiden Vorsokratiker zudem nicht selten als unwichtig ange-sehen und übergangen. Nur so ist es zu erklären, dass z. B. in den Kom-mentaren des Ibn Rušd (Averroes) die Lehren eines Pythagoras, Parmenides oder Ana xagoras regelmäßig aufgegriffen, paraphrasiert und/ oder erläutert werden, nur selten aber die des Anaximander und Anaximenes.

Doch selbst wenn die Ansichten der beiden Vorsokratiker einmal nicht außen vor gelassen wurden, bedeutete dies noch lange nicht, dass ihre Na-men fortwirkten. Zwei Beispiele aus den Aristoteleskommentaren des Ibn Rušd (Averroes) sollen ein weiteres Problem kurz veranschaulichen: die Verschreibung von wenig bekannten antiken Eigennamen. Bereits in der arabischen De caelo-Übersetzung des Yaḥyā ibn al-Biṭrīq ist Anaximenes an einer Stelle zu Am-x-ās verstümmelt.7 Unklar ist jedoch, wie aus dieser Lesung von Anaximenes und dem unmittelbar folgenden Namen Anaxa-goras, der zumindest in der arabischen Übersetzung noch gut erkennbar war, in der lateinischen Übersetzung des Großen De caelo-Kommentares des Ibn Rušd, der die gerade erwähnte Übersetzung des Yaḥyā ibn al-Biṭrīq in seine Lemmata übernommen hat, „Pitagorici“ werden konnte.8 Ähnlich ist der Fall in Ibn Rušds Mittlerem Kommentar zur Meteorologie gelagert, der große Teile der arabischen Meteorologie-Übersetzung des Yaḥyā ibn al-Biṭrīq nahezu wortwörtlich übernommen hat (As 194), darunter auch die Anschauungen des Anaxagoras, Demokrit und Anaximenes zur Ent-stehung der Erdbeben.9 Nun wird in Ibn Rušds Fassung die Erdbebenthe-orie des Anaximenes allerdings ebenfalls dem Anaxagoras zugeschrieben, was sicherlich daran liegt, dass in der Vorlage seiner arabischen Überset-zung der ursprüngliche Name nicht mehr lesbar war und er entsprechend

7 Badawī 1961, 285.4 m. app. crit. (= De caelo 2.13, 294b13; die Abfolge -x- bedeu-tet, dass der entsprechende Buchstabe aufgrund der fehlenden diakritischen Zeichen nicht identifizierbar ist). Hierbei handelt es sich um die so genannte Fassung B der arabischen Übersetzungen. Auch in den übrigen, von Badawī nicht benutzten Hand-schriften dieser Fassung B ist der Name Anaximenes ähnlich verstümmelt bzw. ohne diakritische Zeichen geschrieben und entsprechend nicht mehr erkennbar (mündli-che Mitteilung von Prof. G. Endress). Zu den verschiedenen Fassungen der arabi-schen De caelo-Übersetzung siehe im Übrigen Endress 1966, 31–45.

8 Arnzen 2003, 426, T 81.1. Die entsprechende Passage ist in der arabischen Fassung des Großen De caelo-Kommentares nicht erhalten.

9 Lettinck 1999, 12–3; 223–4.

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7Vorwort zur orientalischen Tradition (Oliver Overwien)

interpretiert wurde.10 Man fragt sich allerdings schon, aus welchen Grün-den nicht weiter aufgefallen ist, dass auf diese Weise zwei (unterschiedliche) Erdbebentheorien des Anaxagoras im Mittleren Kommentar zur Meteoro-logie vorkommen. In diesem Kontext der Verschreibung von Eigennamen ist schließlich auch die Beobachtung des Albertus Magnus zu sehen, dass einige Araber Anaximander „corrupte“ Kalsamydus nannten (Ar 266). Wei-tere Beispiele dieser Art sind in den Fußnoten zu den Texten angegeben, wobei man berücksichtigen sollte, dass die Dunkelziffer an Korruptelen noch weit höher ausfallen dürfte, da nicht jeder Herausgeber die korrupten Namensformen aus den Handschriften angegeben, sondern die ursprüng-lich gemeinte stillschweigend wiederhergestellt hat.

Wir müssen daraus schließen, dass die beiden Vorsokratiker nicht mehr als Namen aus einer weit entfernten Vergangenheit waren, Namen, die den mittelalterlichen Kopisten und Autoren so wenig vertraut waren, dass sie nicht erkannt bzw. bis ins Unkenntliche verschrieben wurden. Im Ergebnis hatten die Leser dieser Werke oftmals gar keine Vorstellung mehr davon, mit welchen Weisen sie es hier gerade zu tun hatten.

Das Material zu Anaximander und Anaximenes hätte um einige Einträge er-weitert werden können, wenn auch all diejenigen Texte noch miteinbezogen worden wären, die die hier genannten rezipiert haben. In der Regel handelt es sich dabei aber um bloße Abschriften, die kaum etwas Neues beizutragen haben. Auf sie wurde gegebenenfalls summarisch bei den einzelnen Autoren in einer Anmerkung verwiesen. Ausnahmen von dieser Regel wurden nur wenige gemacht, so z. B. bei al-Šāhrastānīs Anaximeneskapitel im Buch der Religionsgemeinschaften und Philosophenschulen, das im Prinzip durchge-hend auf der Doxographie des Pseudo-Ammonios basiert (As 195–197). Es wurde mit aufgenommen, weil es letztlich in nahezu derselben Weise für die Verbreitung des Materiales sorgte wie die Ursprungsfassung.

Hat uns die orientalische Tradition nun bisher unbekannte Schätze der beiden Vorsokratiker bewahrt? Eine Beantwortung dieser Frage liegt ganz im Auge des Betrachters. Im Sinne der Ausrichtung des „Traditio-Praesocratica“-Projektes ist jedes Testimonium so bedeutend wie auch neu,

10 Al-Alawī 1994, 122, Nr. 135 bzw. As 194 Anm. Diese Ersetzung ist auch noch an-derweitig belegt. Siehe Ar 250 (Ibn Bāǧǧa). Wir müssen daraus folgern, dass selbst Anaxagoras im Orient bekannter gewesen zu sein schien als Anaximander oder Ana-ximenes.

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8 Vorwort zur orientalischen Tradition (Oliver Overwien)

da es in seiner Zeit die Lehre des Anaximander bzw. Anaximenes repräsen-tiert und somit eine ganz eigene bzw. neue Wirkung entfaltet hat. Für den orientalischen Leser oder Hörer hat ein Anaximander oder Anaximenes dies eben so gesagt. Die Frage nach dem historischen Wert wird in keiner Quelle gestellt. Verlorene Schriften oder wenigstens bisher unbekannte Lehrsätze aus vorsokratischer Zeit befinden sich jedoch sicherlich nicht darunter. Mit der von Aristoteles etwas abweichenden Darstellung der Erdbebentheorie des Anaximenes nach Theophrast haben wir immerhin noch ein Zeugnis aus dem Übergang von der klassischen in die hellenistische Epoche vor-liegen (As 11). Der Ursprung aller übrigen Zeugnisse ist dagegen deutlich später anzusetzen. Manches davon kennen wir bereits von antiken Autoren in abgewandelter Form. Anderes wiederum scheint neu, wie beispielsweise die Sprüche des Anaximenes (As 210; 231) – sofern hier nicht ohnehin An-aximenes aus Lampsakos11 gemeint ist –, oder Anaximanders alchemistisch geprägte Äußerungen in der Turba philosophorum (Ar 242). Doch auch dies sind späte bis spätantike Zuschreibungen an eine philosophische Autorität aus längst vergangener Zeit. Derartige Dinge sollen jedoch ausführlich in einem geeigneteren Rahmen erläutert werden.

11 Zu Anaximenes aus Lampsakos in der Spruchtradition siehe Overwien 2005, 379–80.

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