Andre Robinet Leibniz Und Heidegger

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  • Leibniz und Heidegger: Atomzeitalter oder Informatikzeitalter?Author(s): ANDR ROBINETSource: Studia Leibnitiana, Bd. 8, H. 2 (1976), pp. 241-256Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/40693808 .Accessed: 31/05/2014 04:48

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  • Leibniz und Heidegger: Atomzeitalter oder Informatikzeitalter?*

    Von ANDR ROBINET (PARIS UND BRSSEL)

    Rsum On trouve dans l'ouvrage de M. Heidegger, Der Satz vom Grund, une structure

    essentielle d'opposition entre compter et mditer. Cette opposition prend son origine dans la dualit des interprtations du principe de raison, selon qu'on P accentue dans le sens du nombre ou dans le sens de l'tre. Contrairement ce que soutient Heidegger, A. R. estime que l'interprtation du principe de raison selon Leibniz relve d'une troisime accentuation, qui exige la connivence du nombre et de l'tre, et non leur coupure. On repre au passage quelle tradition gnostique Heidegger se rfre (Eckhart, Silesius, ou bien Dom Deschamps), et comment Leibniz offre, contre le pessimisme du sol natal et la mentalit litique de Heidegger, l'esquisse d'un monde o les sciences et la mtaphysique ont la fois leur rle jouer.

    Das im Jahre 1957 erschienene Werk Martin Heideggers, Der Satz vom Grund (SG, G. Neske), wurde von A. Prau rasch unter dem Titel Le Principe de raison (Gallimard 1962) ins Franzsische bersetzt. Diese ber- setzung gibt keine sehr gute Vorstellung vom Originaltext, doch erlaubt sie immerhin, sich mit dem allgemeinen Kontext des Werkes vertraut zu machen. Die Betrachtung Heideggers ermglicht eine dreifache Perspektive. Die Konfrontierung mit dem Werk Leibnizens veranlat Heidegger, die Rolle, die der Satz vom Grund in der Geschichte der Philosophie spielt, festzulegen und anhand seiner Aufstellung in den Schriften Leibnizens, vor allem in der Monadologie (die ich nach den Manuskripten in Hannover und Wien (PUF, 1955) herausgegeben habe) zu kommentieren. Anderseits fhren die Erschtterungen der Epoche, die der Philosoph versprt, diesen dazu, eine Reihe von Urteilen ber das Atomzeitalter abzugeben, das er als charakteristisch fr das zwanzigste Jahrhundert bezeichnet. Schlielich fhrt ihn der berblick ber den Satz vom Grund und die Kategorien, die erlauben, ber unsere Zeit zu urteilen, dazu, gewisse Entwicklungen des Leibnizischen Denkens ins Licht unserer Erkenntnis und Verfahren zu stellen. Die innere Analyse des Satzes vom Grund: Nihil est sine ratio ne, bildet das zentrale Anliegen dieser 13 Vorlesun- gen und des ihnen folgenden Vortrags. Die Frage fr uns wird die sein, zu erfahren, ob die Darstellung, die

    Heidegger dem Satz vom Grund gibt, historisch statthaft ist, ob dieser

    * Manuskript eines Vortrages, der am 28. November 1974 vor der Leibniz- Gesellschaft in Hannover gehalten wurde. Die deutsche bersetzung fertigte Theodor A. Knust an.

    Studia Leibnitiana, Band VIII/2 (1976) Franz Steiner Verlag GmbH, D-6200 Wiesbaden

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  • 242 Andr Robinet

    Satz von Leibniz, was die Interpretation betrifft, so akzentuiert wird, wie es laut Heidegger der Fall ist, ob Leibniz in der Rckschau fr eine rech- nende" Ausrichtung des Satzes verantwortlich gemacht werden mu oder ob uns die Kenntnis des Leibnizischen Werkes nicht umgekehrt dazu fhrt, darin einen anderen Rahmen des besinnlichen" Denkens zu entdecken, der weit mehr Aufschlu ber unsere Epoche gibt als das, was Heidegger dazu geliefert hat1.

    Die Jahre des kalten Krieges sind von der Erinnerung an Hiroshima und dem Grauen vor einem neuen nuklearen Konflikt beherrscht. Da die Epoche die Bezeichnung Atomzeitalter bekommen hat, lt sich in- dessen nur journalistisch erklren. Und tatschlich ist es auch die Aktualitt, in der Heidegger diese Bezeichnung der fnfziger Jahre* findet.

    Die Menschheit tritt in das Zeitalter ein, dem sie den Namen ,Atomzeitalter' gegeben hat. Ein krzlich erschienenes, fr die breite ffentlichkeit berechnetes Buch trgt den Titel: ,Wir werden durch Atome leben*. Das Buch ist ... mit einem Vorwort des jetzigen Verteidigungsministers Franz Joseph Strau versehen. Am Schlu der Einfhrung schreiben die Verfasser der Schrift:

    ,Das Atomzeitalter kann also ein hoffnungsvolles, blhendes, glckliches Zeit- alter werden, ein Zeitalter, in dem wir durch Atome leben werden. Auf uns kommt es an!' " (SG, 198).

    Heidegger bezieht sich hier auf das Werk von G. Lwenthal und J. Hausen, dem ein Geleitwort von Nobelpreistrger Otto Hahn und ein Vorwort des damaligen Leiters des Bundesministeriums fr Atomfor- schung, F. J. Strau, vorausgeht. Die unverzglich von Heidegger aufge- worfene Frage ist folgende:

    Allerdings - auf uns kommt es an; auf uns und einiges andere kommt es an, darauf nmlich, ob wir uns noch besinnen, ob wir uns berhaupt noch besinnen wollen und knnen. Sollen wir indes auf einen Weg der Besinnung gelangen, dann mssen wir allem zuvor uns erst in eine Unterscheidung finden, die uns den Unterschied zwischen dem blo rechnenden Denken und dem besinnlichen Denken vor Augen hlt. Damit wir diesen Unterschied sehen, versuchen wir jetzt im Hinblick auf den Satz vom Grund eine Besinnung" (SG, 198-99).

    Das Jahr 1957 gehrt zu jener Zeit, die durch das Aufwallen der Angst vor den Atomerfahrungen in der ganzen Menschheit geprgt ist. Wir kannten das Atomzeitalter damals nur von seiner apokalyptischen Seite. Dennoch war von Anfang an bekannt gewesen, da die Freisetzung der gewaltigen Energien, die man durch die Kernspaltung erhielt, eine zwei- schneidige Sache war wie alle groen wissenschaftlichen Erfindungen.

    1 In einem Vortrag, Leibniz und wir, habe ich das Werk Leibnizens dem von Bergson, Husserl und Heidegger gegenbergestellt (Vortragsreihe der Nieders. Landesregierung, Heft 36, 1967).

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  • Atomzeitalter oder Informatikzeitalter? 243

    Die Menschheit konnte ungehindert Terrorbombardierungen wie die von Hiroshima wiederholen oder ihre Grenzen hinter Atomlinien" schtzen, gegen die die Siegfriedlinie" (Westwall) oder die Maginotlinie" freund- liche Erinnerungen wren. Sie konnte aber auch Kernzentren ersinnen und bauen, Maschinen fr See-, Luft- oder Landtransport, mit sehr hoher Ener- gie ausgestattet, schlielich die Radioaktivitt in der Medizin einsetzen, was heute dazu beitrgt, die Gesundheit der Menschheit zu sichern. Unge- hindert, denn die wissenschaftliche Entdeckung als solche enthlt nicht auch schon ihre Gebrauchsanweisung. Wieder einmal befand sich die Menschheit in ihrer Geschichte in der Situation des Zauberlehrlings: das wissenschaftliche Genie besa nicht den allerletzten Schlssel zur Finalitt der Erfindung. Die Entwicklung der Mechanismen der Natur allein sichert jedoch weder den Fortbestand noch den Fortschritt der Werte. Wie Bergson sagte, luft der technische und industrielle Fortschritt Gefahr, diese Menschheit so weit fortzureien, da sie an den Fortschritten, die sie gemacht hat, stirbt. Oder sollte man etwa mit einer friedlichen Nutzung des Atoms ein neues Verhalten herbeifhren helfen?

    *

    Die Wrdigung der zeitgenssischen Wissenschaft und Technik ist philosophisch mit jener philosophischen Situation verbunden, die Heidegger dem Rechnen in der heutigen Epistm zuweist. Im Nachwort zu seiner Arbeit Was ist Metaphysik? sagt Heidegger:

    Alles Rechnen lt das Zhlbare im Gezhlten aufgehen, um es fr die nchste Zhlung zu gebrauchen. Das Rechnen lt anderes als das Zhlbare nicht auf- kommen. Jegliches ist nur das, was es zhlt. Das jeweils Gezhlte sichert den Fortgang des Zhlens" (S. 43).

    So wird das Universum als Zahl und nicht mehr als Chiffre verstanden. Es geht ein in einen Zhlvorgang, nicht in eine Hermeneutik. Dieses zhl- bare Universum wird betrachtet, als htte es keine Dichte, sei durchschei- nend und vllig fr eine mathematische Darstellung zugnglich. Das Sym- bol verliert seinen konkreten Charakter als Zeichen fr das Sein und wird zu einer abstrakten Charakteristik der Elemente fr das rechnende Denken. Eine derartige Aufbereitung des Universums, in dem jedes Ding seine Zahl hat, in dem die Zahlen der Dinge in Beziehung zueinander gesetzt werden knnen, fhrt zu einem Netz verschiedenartige* Beziehungen, mittels dessen man Machtgewinn erlangen kann. Damit wird der Wunsch des Descartes erfllt, sich zum Herrn und Besitzer der Natur zu machen".

    Das Zhlen erzeugt das grenzenlose Wuchern der Zahl und der Zahlen- kombinationen. Das Rechnen erzeugt das endlose Wiederholen des Zhlens, daher der verzehrende Charakter" des Rechnens, wie ihn Heidegger nennt, der sich hinter den Ergebnissen des Rechnens verbirgt.

    Der ,Minotaurus Kalkl* bt eine Wirkung auf das Seiende aus. Er errtert und ordnet es nur unter der Form des Zhlbaren und des Rechen-

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  • 244 Andr Robinet

    baren. Der Gegenstand des Rechnens ist nicht mehr das Ding, nicht mehr das Sein; es ist die Beziehung, die Anordnung.

    Als einziges gelangt zu den Menschen heute der Lrm der Apparate, die sie fast fr die Stimme Gottes halten" (Feldweg). Daher:

    Ratio heit Rechnung. Wenn wir rechnen, stellen wir das vor, womit und worauf bei einer Sache gerechnet, was im Blick behalten werden mu" (SG, 168).

    *

    Indessen herrscht in unserer Epoche eine andere Technik vor, die im Jahr 1957 allerdings noch nicht so aufsehenerregend war, es aber weithin durch die umfassenden Diskussionen ber die Reichweite und die Grenzen ihrer Anwendung geworden ist: das ist die Informatik. Heidegger hat darber sprechen hren, auch in diesem Fall journalistisch. Er ordnet die Informatik unter die Auswirkungen des rechnenden Denkens ein, fr das sie etwas wie eine Erfllung wurde, d. h. etwas wie der Gipfel der Entartung und der Entfernung vom Sein.

    Heute errechnet die Denkmaschine in einer Sekunde tausende von Beziehun- gen. Sie sind trotz ihres technischen Nutzens wesenlos" (Der Satz der Identitt, in: Identitt und Differenz, Neske 1957, S. 34).

    Man wei, da jetzt im Zusammenhang mit der Konstruktion des Elektronen- hirns nicht nur Rechenmaschinen, sondern auch Denk- und bersetzungsma- schinen gebaut werden . . . Durch die genannten Maschinen hat sich die Sprach- maschine verwirklicht" (Hebel - der Hausfreund, Neske 1957, S. 35).

    Zudem unterscheidet Heidegger zwischen Sprachmaschine" und Sprechmaschine", zwischen einem technischen Apparat, der ber die Art und die Welt der Sprache als solche verfgt", und einer Apparatur, die unser Sprechen aufnimmt und wiedergibt ... die Wahrheit drfte sein, da die Sprachmaschine die Sprache in Betrieb nimmt und so das Wesen des Menschen meistert" (S. 36). Wenn die Sprache das Wesen des Menschen ist und wenn die Simulation mit ihr fertig wird, dann ist das erlangt, was ich in Le Dfi cyberntique2 le propre de l'homme" - das Eigentliche des Menschen genannt habe.

    Nebenbei weise ich hier auf die Zweideutigkeit des Heideggerschen Vokabulars im Hinblick auf das Thema Information und Informatik hin. , Information* ist freilich nur auch ein Kennzeichen des Zeitalters." Es ist ein Fremdwort" (SG, 58). Anscheinend ist Heidegger in erster Linie befremdet ber die Herauf kunft der Denkmaschinen als Informati- ons-Mittel, und er fordert, da man es angelschsisch ausspricht und hrt.

    2 Dieses Werk enthlt ein Kapitel ber die Leibnizsche Epistemologie im Verhltnis zur heutigen Informatik und ber die Wurzeln der kybernetischen Herausforderung bei Leibniz. Dieses Kapitel ist in Studia leibnitiana, IV, 3/4, 1972, S. 285-90 bernommen worden: Leibniz, P automate et la pense.

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  • Atomzeitalter oder Informatikzeitalter? 245

    Das Leitwort fr diese Grundhaltung des heutigen Daseins lautet: Information. Wir mssen das Wort in der amerikanisch-englischen Aussprache hren". Aber er reduziert den angelschsischen Sinn von information auf den der Kommunikation von Nachrichten gem den Bedrfnissen der Menschheit, wobei er an Publizitt oder Werbung denkt.

    Denn die Bestimmung der Sprache als Information verschafft allererst den zureichenden Grund fr die Konstruktion der Denkmaschinen und fr den Bau der Grorechenanlagen. Indem jedoch die Information in-formiert, d.h. benach- richtigt, formiert sie zugleich, d.h. sie richtet ein und aus" (SG, 203).

    1. Nun ruft das Wort Information bei Heidegger wieder einmal dieses Spiel mit Worten hervor, das sein Werk berwuchert: um eine verbale Beziehung zwischen benachrichtigt und richtet ein und aus zu schaffen. Heidegger vermengt auch hier zwei entgegengesetzte Anwendun- gen, die man von dem Wort Information - wie von Atom - machen kann.

    2. Vor allem wei Heidegger nicht, wie die Informationswissenschaft oder Informatik die Strukturen der Sprache selbst enthllt und anfngt, uns zahlreiche Belehrungen nicht nur ber die als Kommunikationsmittel betrachtete Sprache zu geben, sondern auch ber die natrliche Sprache, und das nicht nur ber ihre Imitation, sondern auch ber ihre inneren Strukturen.

    *

    Auerhalb des Kalkls, des Rechnens, des Berechenbaren beschreibt Heidegger ein. Gebiet des Unberechenbaren. Das Unberechenbare be- zeichnet folgendes Gebiet:

    1. Diejenige Art des Denkens, dessen Wahrheit keine Logik fassen kann, das vom Sein und nicht Seienden bestimmt wird, jene Art, die Heidegger das wesentliche Denken" im Gegensatz zum funktionellen Denken des Kalkls, oder das besinnliche Denken" im Gegensatz zum rechnenden Denken" nennt.

    2. Dieses besinnliche Denken hat die Wahrheit des Seins ohne Kalkl zum Gegenstand und verlt sich vielmehr auf ganz andere Zeichen als diejenigen der modernen mathematischen Symbolik. Heidegger beschwrt die langsamen Zeichen des Unberechenbaren" (Was ist Metaphysik? ', Nachwort, S. 45), wie er sie nennt.

    Was haben wir von diesem eigenen Gebiet des Unberechenbaren zu halten? Gibt es eine Wesenheit Unberechenbarkeit"? Stehen wir einer auseinandergebrochenen Welt, einem unmglichen Uni-versum gegenber, einer tragischen und trennenden Konzeption zwischen dem Gebiet des Berechenbaren und dem Gebiet des Unberechenbaren? Fr Heidegger gab es keinen Zweifel ber die Antwort. In der modernen Zeit hat die Mensch- heit den Weg zur Auflsung des Seins eingeschlagen. Sie hat ihren heimli- chen Boden, ihre eigenen Tiefen, ihre ursprnglichen Bedingungen, ihren wahren Grund aufgegeben.

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  • 246 Andr Robinet

    Rhren wir hier nicht an jenen Grund der negativen Theologien, von denen ich krzlich eins der aussagekrftigsten Beispiele in meiner Arbeit Dom Deschamps, le matre des matres du soupon (Paris, Seghers) untersucht habe? Whrend Deschamps seine Meditationen ber ,das Sein und das Nichts*, oder besser ber ,das Sein ist das Nichts*, nicht durchsetzen oder auch nur verffentlichen konnte, hat Heidegger eine Position, die der des atheistischen Benediktiners nahesteht, weithin bekannt gemacht. Heidegger ist ein Dom Deschamps, der Erfolg hatte. Ich habe in diesem Buch nicht von der hnlichkeit mit Heidegger, die ich hier skizziere, gesprochen, weil ich dazu ein ganzes Kapitel gebraucht htte: die Frage nach Philosophie und Metaphysik, nach dem Wesen der Wahrheit, nach dem Sein und dem Nichts. Wie Heidegger stellte auch Deschamps die ganze Philosophie in Frage, vor allem die der Aufklrung, und hielt er die Metaphysik fr un- mglich, es sei denn, man erfnde ein neues System", nicht vom positi- vistischen Standpunkt der Wissenschaft aus, sondern aus der Perspektive eines berschreitens auf eine erste Ontologie hin. Er unterschied zwischen der ausgesagten Wahrheit und dem Schrei der Wahrheit, er schrieb eine metaphysische Grammatik", in der er nach Allem (tout) und dem Ganzen (le tout) fragte usw. . . . Was den Begriff Gott betrifft, so stimmt er mit dem berein, den Heidegger aussagt, wenn er schreibt:

    Im Ungesprochenen ihrer Sprache (der Dinge) ist, wie der alte Lese- und Lebemeister Eckehardt sagt, Gott erst Gott" {Feldweg).

    Dieser Bezug auf Eckehardt, beraus selten im Werk Heideggers, ist um so aufschlureicher, als die Anerkennung des Meisters der Entuerung als tglicher Eingeber unumwunden formuliert wird. Nun liegt es in der dionysischen Tradition (aus der Eckehardt - und Angelus Silesius - schpfen), auf die sich Deschamps bezieht, wenn er seinerseits erklrt, da das, was Gott sagt, nichts von dem ist, was das Sein sagt, und da man, damit Gott wahrhaft Gott sei, damit beginnen mu, wie es spter Nietzsche wieder tat, zu erklren, da Gott tot ist.

    Man knnte sogar an die Utopien der beiden Autoren erinnern. Des- champs entwickelt in seinen Observations morales das Bild einer Welt, wie sie wre, wenn an die Stelle eines Rechtsstaates ein Staat der Sitten trte. Er flchtet sich in lndliche Gelassenheit", begngt sich mit einer ein- fachen Wirtschaft, verdammt den Fortschritt der Wissenschaften, der Technik und der Knste, die Dichtung einbegriffen, und nimmt an, da die Herrschaft des Alles erst dann beginnt, wenn die Entuerung im Ganzen wirksam geworden ist.

    Wie bei Heidegger ist die Analyse der Alltagssprache, das Hren der metaphysischen Grammatik der Angelpunkt des Herrschaftsbeginns der Moral, wo das Schweigen an die Stelle der von der klassischen Theologie ausgesprochenen Bannflche und der Theorien der Enzyklopdie" tritt, die nur die Prmissen der Ungleichheit und Knechtschaft verstrken und fortsetzen. Es ist also kein sprachlicher Zufall, wenn Heidegger diese

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  • Atomzeitalter oder Informatikzeitalter? 247

    Verdammung eines rechnenden Jahrhunderts in der Feldweg betitelten Schrift ausspricht und die Rckkehr zur besinnlichen Tradition predigt.

    Das Ganze von Deschamps im Gegensatz zu den Wechselfllen des Alles htte sein Pendant in dem Einfachen von Heidegger. Das Einfache wird die Riesenkrfte der Atomenergie berdauern, die sich das mensch- liche Rechnen erknstelt und zur Fessel des eigenen Tuns gemacht hat" (Feldweg). Das Einfache wahrt das Geheimnis dieser Kraft und dieser Gre. Das Nichtwissen erlaubt die heimliche Darlegung des Seins in Gelassenheit, was Deschamps die Existenz" nennt.

    Diese Beziehung zwischen Heidegger und Deschamps erscheint weniger verdchtig, wenn man sich an den Namen Jean- Jacques Rousseau erinnert. Deschamps ist stark vom Discours sur es sciences et les arts und vom Discours sur ly ingalit beeinflut. Man kann sagen, da sein Werk die Wirkmglich- keiten dieser beiden ersten Diskurse realisiert hat, deren Druck Rousseau bis zur Verffentlichung des Contrat social hinauszgerte. Erscheint Rousseau nicht im Titel eines der Gedichte von Hlderlin, die Heidegger vertraut waren? Wie sollte man deshalb nicht diesen doppelten Einflu Rousseaus anmerken, den auf Deschamps durch seine Diskurse und den auf Heidegger durch eine Strophe von Hlderlin wie diese:

    Vernommen hast du sie, verstanden die Sprache der Fremdlinge, gedeutet ihre Seele! Dem Sehenden war der Wink genug, und Winke sind von alters her die Sprache der Gtter."

    *

    Diese scheinbare Abschweifung fhrt uns auf den Grund des Problems. Denn Leibniz weist dem Nichts auf eine zentrale Weise keine privilegierte Stellung als dem Sein innewohnend zu. Ebensowenig verlegt er das Nichts an die uerste Grenze der ontologischen Kategorien, wie es die rationale Theologie oder die Mystik der Aufklrung tut. Wenn das Nichts weder der Widerspruch noch das Entgegengesetzte zum Sein ist, in welcher Position befindet es sich dann zu ihm? Unbedingt ist ein Vergleich mit der neuplatonischen Tradition und dem Einflu des Pseudo-Dionysius anzu- stellen, und zwar vor allem insofern, als sie der Gegenwart der Einheit in jeder Erscheinung des Seins Ausdruck zu verleihen suchen (Monas ist ein Ausdruck des Dionysius), weniger freilich dort, wo sie ber den Zu- stand des Nichts nachdenken als desjenigen, das allein bewirken kann, da das Sein vllig Sein ist.

    Damit hielten wir den Knoten in der Hand, von dem aus sich die Positio- nen von Heidegger und von Leibniz voneinander entfernen, von dem aus sich die Unterschiede im Hinblick auf den Satz vom Grund und damit auch im Hinblick auf den Platz der Naturwissenschaft und der Technik

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  • 248 Andr Robinet

    gegenber dem besinnlichen Denken erklren lassen. Fr Leibniz enthlt jede Epistm, auch wenn sie rechnend ist, jede Technik und jede Praxis Sein, hat Sein, gehrt dem Sein an. Mit Leibniz gelangt man also zu einem Begriff vom Sein, der gleichzeitig das Sein und das Seiende umfat und der komplementr das Nichts und das Sein herausarbeitet. Das ist fr ihn die metaphysische Grundlage des binren Rechnens, das die Null mit der Eins verknpft (der Dyadik), des logischen Kalkls, der nach dem Wider- spruch und der Alternative fragt, und der ars characteristica, die der Reihe nach alle mglichen Abstufungen der Einheit extrapoliert und so fort . . . Die Null, den Gegensatz oder den Punkt als einen Durchgang zum Grenz- wert zu begreifen, das ist der Weg, auf dem Leibniz die von Deschamps oder Heidegger aufgestellten Widersprche berwindet.

    Nun hat Leibniz angeblich - nach Heidegger - das Suchen nach dem Grund abgebrochen und es abgelenkt in die Richtung des principe de raison, das nur das Werk des rechnenden Denkens sttzt. Er habe es abge- brochen, da er nicht weitergelangt sei als bis zur Anerkennung des principe de raison" als Prinzip des Seienden: nihil est sine ratione, wobei er unter ratio das verstehe, was Gegenstand eines Kalkls sein knne. Er habe es abgelenkt, denn da er fr das Seiende einen ersten und die Reihe der verschiedenen Seienden bersteigenden Grund fordere, habe er den Abschlu dieser unendlichen Progression in einem ens maximum, in dem Seiendsten", gefunden, was nichtsdestoweniger immer noch ein Seiendes ist.

    *

    Die Siebente Stunde des Werkes Der Satz vom Grund ist in dieser Hinsicht sehr deutlich. Heidegger akzentuiert nihil est sine ratione auf zweierlei Weise. Wenn wir den Satz betonen: Nichts ist ohne Grund (nihil est sine ratione), dann drcken wir damit die gewhnliche Form des Prinzips aus, die gewhnliche Form, die Leibniz verdienstvoller Weise in die strenge Fassung gebracht hat: principium reddendae rationis sufficientis - alles, was ist, hat einen zureichenden Grund, den man liefern mu. Nun behauptet nach Heidegger der so akzentuierte Satz die Verkettung des Seienden, die Reihe der Seienden, und dadurch wird der Sprung ins Sein vllig verborgen. Jenes Sein ist nur, insofern es Gegen- stndiges" ist und in Wechselwirkung mit einer Subjektivitt steht, deren Vorstellungsakt im Sinne der reflektierenden Reprsentation es bedingt. Auf dieser epistemischen Grundlage entsteht das Vorstellungsfeld, in welchem die moderne Wissenschaft, der Geist der modernen Zeit, kurz, das Atomzeitalter, Platz nimmt. Nun heit dies aber, das Prinzip in Unttig- keit zu versetzen, indem wir es darauf reduzieren, die Natur zum Reich eines berechenbaren Feldes zu machen.

    Mit einem Satz: mit einem Sprung, aber auch mit einem anderen Prinzip erhielten wir eine wahre Akzentuierung des Satzes vom Grund. Nichts ist ohne Grund (nihil est sine ratione). Die Verschiebung des

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  • Atomzeitalter oder Informatikzeitalter? 249

    Akzents lt das Denken einen Sprung ausfhren hin zur Entdeckung einer Harmonie zwischen Sein und Grund. Dann dringen wir in die tiefe Natur des Prinzips ein und nicht nur zu der Gegenstndigkeit", als die es wirkt. Zum Sein gehrt dergleichen wie Grund untrennbar. Sein und Grund das ist das Selbe". Aber Grund hat einen zweideutigen Sinn, so wie Ver- nunft oder wie Logos. Im Gegensatz zu rationalistischen Vorstellungen berechtigt uns der Sprung zum zweiten Sinn des Satzes dazu, von der Begrndung des Satzes oder des Prinzips durch das Sein zu sprechen, insofern es Sein ist und nicht nur Seiendes. Wir finden hier Deschamps' feine Unterscheidung zwischen tout und le tout, zwischen dem Einen und der Einheit, wieder. Dieses Sein enthllt sich dann als Ab-Grund, der nicht mit dem Grund austauschbar ist. Nach Heidegger bleibt das Sein abseits, sein Grund ist fond perdu- dort, wo man keinen Grund mehr hat.

    Wenn uns die Vernunft den Grund des Seins nicht entschleiern kann, dann mu eine berlegung ber den Logos wiedereingefhrt werden, dann mu man auf die griechische Redeweise zurckkommen, auf das, was Deschamps seine metaphysische Grammatik nannte. Nun bezeugt der Logos den Zusammenhang zwischen dem Sein und dem Grund, da er zusammenfgt und sagt, zhlt und ausspricht, verbindet und redet.

    Die ratio sufficiens, der zureichende Grund, ist aber im Sinne von Leibniz keineswegs der Grund, der gerade noch ausreicht, um etwas als ein Seiendes so zu halten, da es nicht sogleich in Nichts zerfallt. Der zureichende Grund ist jener, der dem Seienden dasjenige zu- und darreicht, was es in den Stand setzt, sein volles Wesen, d.h. die perfectio zu erfllen. Die ratio sufficiens heit daher bei Leibniz auch die summa ratio, der hchste Grund" (SG, 124).

    Weil jedoch Leibniz und alle Metaphysik beim Satz vom Grund als einem Grundsatz ber das Seiende stehenbleiben, verlangt das metaphysische Denken dem Grundsatz gem einen ersten Grund fr das Sein: in einem Seienden, und zwar dem Seiendsten" (SG, 205).

    *

    Leibniz wre danach also der Held des Seienden, der Ritter eines Satzes vom Grund von der traurigen Gestalt. Htte er dann nicht das besinnliche Denken aus der Welt verjagt, indem er dem Satz vom Grund einen so wenig grundstzlichen Sockel formte?

    Leibniz hat niemals angenommen, da seine Gedanken eine reduzierende Bedeutung htten, ebensowenig, da die Zukunft der Philosophie in der Aufgabe des Seins zugunsten allein des Seienden liege. Ma mtaphysique est tout mathmatique", schreibt er am 27. Dezember 1694 an L'Hospital. Im Gegenteil, es stand nach dieser mathesis universali s, dieser allge- meinen Berechenbarkeit, fr ihn fest, da die Menschheit, wenn sie diese ignoriere, auf dem Niveau der knstlichen Vielfltigkeiten, der trennenden Auseinandersetzungen, des Zerfalls der Geschichte und der Ontologie

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  • 250 Andr Robinet

    bleibe. Es mu zwischen Heidegger und Leibniz mindestens ein Miver- stndnis, schlimmstenfalls eine grundstzliche Unvereinbarkeit geben. Wenn wir diesen Bruch in den Interpretationen aufdecken, sehen wir viel- leicht klarer.

    *

    Sollte man nicht auf gut Leibnizsche Weise den Satz nihil est sine ratione8 auf eine dritte Weise betonen? Wre das Leibnizsche Denken nicht viel besser gedeutet, wenn man einerseits sagte : nihil est, und ander- seits: sine ratione? Vielleicht ist es nicht nur die lexikalische berlegung, die in die Analyse des Satzes eingehen mu, sondern auch die Analyse der Syntagmen, die den Satz aufbauen.

    Nihil est. Um das zu treffen, was das Prinzip ausdrcken will, mte man diesen Satz: Nichts ist", wiedergeben durch: Nichts kann sein"; dann gibt das sine ratione positive Antwort auf das negative nihil. Leibniz behauptet nicht das Nichts, das nihil; ebensowenig behauptet er ein Ist, ein est. Er behauptet, da Nichts dem Sein nicht angehren, nicht aus dem Sein kommen kann, da, damit nicht nihil sei, sondern est, eine gewisse Bedingung erfllt werden mu, nmlich da das Sein mit Grund sei. Die Wendung des Satzes in die negative Form htte als positives Korrelat - und Leibniz versumt nicht, es zu erklren -, dies, da nmlich, wenn irgend etwas ist, dieses Seiende einen Seinsgrund hat. Heidegger hat gewi bemerkt, da da der wirkliche Sinn des Satzes liegt: den Grund liefern fr das, was ist. Doch dieser zu liefernde, dieser zuzustellende Grund ist der Grund einer Existenz, nicht die Bedingung eines Abstraktums, das Heidegger im Auge hat, indem er an die mathematische Symbolik erinnert. Nichts ist ohne Grund; von dem, was nichts ist9 ist nichts ohne Grund. Das nihil und das sine passen gewi zueinander, aber so, da sie eine Bejahung begrnden.

    Sine ratione. Nichts gehrt zum Sein oder ist im Sein ohne Grund. Alles Sein hat einen Grund zu sein, einen Seinsgrund, sagt auch Leibniz, indem er den lateinischen Aphorismus positiv bersetzt. Diese einfache bersetzung mte die Voraussetzungen und die Schlsse Heideggers bezglich des Leibnizischen Sinns des Satzes vom Grund zerstren. Der Grund wird verstanden als Bedingung der Erscheinung des Seins in der Existenz. Wenn es keinen Grund gibt, sine ratione, dann gibt es kein Sein, nihil est. Im Satz vom Grund entsteht das existentielle Sein und nicht das mathematische Sein: durch den Grund wird die Erscheinung konkret, verdrngt die Wirklichkeit das Mgliche.

    3 Ich habe diese Interpretation aufgenommen in einer Funote meiner Arbeit ber G. W. Leibniz, et la racine de /'existence, Paris, Seghers, 1962, S. 56. Ich bin in dem Aufsatz Leibniz und wir darauf zurckgekommen.

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  • Atomzeitalter oder Informatikzeitalter? 251

    Vielleicht hat Heidegger den eigentlichen Leibnizischen Inhalt des Satzes vom Grund nicht gengend bercksichtigt. Er strzt sich in eine Paraphrase ber Angelus Silesius, obwohl es doch fruchtbarer gewesen wre, nach der Bedeutung dieses Prinzips zu fragen, das fr alles, was existiert den Grund liefert"4. Hier htte man die Wurzeln des Leibnizschen Optimismus entdeckt, welcher freilich in einem Kalkl grndet, nicht jedoch in einem Kalkl des Maximum, sondern in einem Kalkl des Optimum. Diese Unterscheidung ist wesentlich, da man dann zugeben mu, da der Satz vom Grund dem moralischen Prinzip vom Besten entspricht und da infolgedessen jene Existenz, die nicht nihil ist, von einer erkennbaren Fi- nalitt durchwaltet wird, wenn sie auch in ihren Ursprngen und Wirkungen unendlich ist. Der nexus causarum ist fr Leibniz keine Verbindung nach mechanistischem oder szientistischem" Modell, wie es Heideggers fixe Idee will, sondern eine finalisierte Harmonie zwischen bergeometri- schen und berwissenschaftlichen Elementen, die ihre Wurzel in der Juris- prudentia universalis finden. Deshalb ist die ratio, der Grund - der Grund als Vernunft oder als Logos verstanden - nicht von seinem Inhalt zu trennen, und deshalb wird dieser Inhalt vllig vom Streben nach einem Ganzen durchzogen, fr das nur ein einziger Ausdruck existiert, jener nmlich, der genau hier und jetzt existiert. Leibniz verankert uns in der Welt und ldt uns ein, die Fortschritte auf dieses Optimum hin auszurichten; Hei- degger und Deschamps, die uns davon abhalten, fhren zu einem Stadium des Bruchs zurck, dem Staat der Sitten oder dem Reich Hebels.

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    Lt sich das Sein nur dichterisch sagen? Nicht auch wissenschaftlich? Ist Hlderlin der Held einer Ontologie, deren Verrter Leibniz ist? Gbe es kein wissenschaftliches Sprechen von der Welt, ebenso reich, wenn nicht reicher als das dichterische Hren, das uns das tnende Echo unserer eigenen Klage zurckgibt? Das dichterische Sprechen gefllt Heidegger wegen dessen, was es an Privatem, Nicht-Universalem, an Geheimem, Nicht-ffentlichem bewahrt. Wenn die Sprache nicht die Funktion des Denkens, sondern die Manifestierung des Seins ist, wird evident, da uns eine Epoche, die als Atomzeitalter bezeichnet wird, keine treffende Antwort geben kann. Wenn man dagegen anmerken wollte, da unsere Epoche auch als Informatikzeitalter bezeichnet werden knnte, mu

    4 Zu der historischen Interpretation der Abschnitte aus der Monadologie, die Heidegger kommentiert, vergleiche A. Robinet, Le travail de Leibniz Vienne sur le principe de raison {Note sur les 31-37 de la Monadologie) in: Akten des XIV, Internationalen Kongresses fr Philosophie, Wien, 2.-9. September 1968, Bd. V, S. 545-55. Zu diesem Punkt ist das Werk von Otto Saame ausgezeichnet: Der Satz vom Grund bei Leibniz, Mainz 1961.

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  • 252 Andr Robinet

    man dann nicht berlegungen wegen dieser Dualitt der Bezeichnungen, genauer, dieser Beziehung zwischen Informationswissenschaft und Philoso- phie anstellen, die vor allem in den von der Informationswissenschaft ber die Sprache angestellten Studien sichtbar wird? Das Problem der Sprache steht im Mittelpunkt einer solchen Debatte. Verfgen wir ber ein System derartiger Zeichen, da wir befhigt sind oder befhigt sein knnten, das Essentielle und das Akzidentelle des Denkens, das Sein und das Seiende zu bersetzen? Oder aber sind wir dazu bestimmt, nur den trennenden Unter- schied zwischen den raschen, aber leichten Zeichen der Wissenschaft und den langsamen, aber schweren der Existenzontologie anzunehmen?

    Woher kommen diese langsamen Zeichen des Unberechenbaren? Aus dem, was Heidegger das wesentliche Denken" (Was ist Metaphysik?, Nachwort, S. 44) nennt. Dieses wesentliche Denken ist selbst ein Widerhall" der Fusion des Seins. Dieser Widerhall ist wiederum die menschliche Antwort auf das Wort der lautlosen Stimme des Seins". Es gbe also ein lautloses Sein, das schweigt, dessen Zeichen folglich langsam wren, und das als solches nicht wnschen kann, ans Wort zu kommen. Vom Sein ist der Mensch indessen ans Wort gekommen, weil sein Denken diesem Sein ein Echo bildet.

    Dieses Echophnomen scheint in der Physiologie der Heideggerschen Ontologie grundlegend zu sein. Das menschliche Wort erhebt sich als Echo aus dem Schweigen des Seins, dieses Seins, dieses Ganzen, das wir nach Deschamps und der Tradition der negativen Theologien in der schweigenden Betrachtung, um nicht zu sagen, in der Gelassenheit, wiederfinden. Im Grunde ist das Sein Schweigen, Sammlung, Einfalt, Ergebung. Aber da das Sein lautlos ist, bedeutet keineswegs, da es ohne Stimme bleibt. Das Schweigen ist nicht Fehlen von Sprache; es ist nicht allein das Fehlen jeder uerung; es ist innere Sprache, das intimior intimo meo des Augustinus. Das Sein braucht im Nichts seiner Flle nichts vorzubringen, da es nicht mehr zu teilen hat, da es Anwesenheit des Ungeteilten ist. Derjenige, der teilt, und der teilt, um eine berflssige Herrschaft einzusetzen und aufrechtzuerhalten, ist der Mensch, der Mensch, dessen ontologische Situation sich auf dem Grund der Angst entrollt, im Versuch, sich der Dinge mit Hilfe der sie meisternden Symbole zu be- mchtigen. Das Wort tritt gegen die lautlose Stimme des Seins an, und zwar auerhalb des begrenzten Gebiets des besinnlichen Denkens. Die- ses Ausgehen des Wortes aus dem Schweigen wird von Heidegger fol- gendermaen verkndet: Die Antwort des Denkens ist der Ursprung des menschlichen Wortes, welches Wort erst die Sprache als die Verlautung des Wortes in die Wrter entstehen lt" (Was ist Metaphysik?, Nachwort, S. 44f.). Die Beziehung zu den hier aufgeworfenen Fragen wird darin vollkommen ausgedrckt: Das Opfer duldet keine Berechnung", denn solches Verrechnen verunstaltet das Wesen des Opfers" (ebd.). Diese Verunstaltung, die von der dichterischen Sprache nicht vorgenommen wird, bringt die wissenschaftliche Sprache zustande: mit ihren Projekten

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  • Atomzeitalter oder Informatikzcitalter? 253

    und ihren Absichten, die immer ehrgeiziger und unersttlicher werden, zer- strt sie diese ursprngliche und schweigende Ordnung der Dinge, indem sie uns vom Sein und vom Ur-Grund entfernt.

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    So wird die Debatte ber die Charakteristik unserer Epoche mehr zu einer Befragung ber die Bedeutung der Informatik fr die Sprache als ber die Kraft des Atoms5.

    Zunchst werden - aus einem ueren Grund - Erforschung, Entdeckung, Ausbeutung des Atoms vllig abhngig von denjenigen Gebieten der Informatik, deren Anwendung ein Rechnen von hchster Leistung im Hinblick auf Schnelligkeit, Zuverlssigkeit und Verschiedenartigkeit erlaubt, das allen anderen Verfahren weit berlegen ist. Der wahre Sprung, den unsere Epoche und unsere Gattung geschafft haben, betrifft nicht die Vermehrung der Kraft des Atoms, sondern die Intelligenz der Auto- maten, die seinen Aufbau aufspren. In dem einen wie dem anderen Fall sind die Fhigkeiten des Menschen, sowohl in der Wirksamkeit als auch in der Erkenntnis, sublimiert worden, und durch die Informatik wird der Mensch zum Golem des Menschen. Die forschende Informatik macht durch ihre Simulationen evident, da das Eigentliche des Denkens, das trotz allem ein Rechnen war, heute durch die automatisch erhaltenen Ergebnisse vllig lcherlich geworden ist. Aber selbst wenn das Eigentliche des Denkens nicht das ist, wenn es in diesem verschwiegenen Anruf an die Sprache des Seins wohnt, ntigen die Erkenntnis der Sprache und ihre Simulation dazu, einzugestehen, da diese Sprache imitierbar ist und da infolgedessen dieses Echo des Seins, das mit dem menschlichen Denken erfolgt, nachgeahmt werden kann. Es bliebe dann als letzte Zuflucht fr die Innerlichkeit dieses Wissen oder Verstndnis der Sprache, deren Akt nicht simulierbar wre. Aber ist da noch etwas, was sich dem Rech- nen entzieht? Ja, wenn man sich eilends in den Bruch zwischen Sein

    5 Wenn ich den Vortrag vor dem ersten Leibniz-Kongre im Jahr 1966 Leibniz und wir tituliert habe, knnte man ein Expos, das am Ende des zweiten Leibniz-Kongresses : L'explosion leibnizienne : l'opration Monado 72, in: Akten des IL internationalen Leibniz-Kongresses, Hannover 17 -22. Juli 1972, Band IV, S. 115-28, Wiesbaden, 1975, vorgelegt wurde, Wir und Leibniz nennen. Zahlreiche Artikel sind ber dieses Thema publiziert worden. Indem wir diese informatischen Verfahren auf das Werk Leibnizens anwendeten, haben wir eine Sammlung Philosophie et informatique" vorbereitet, die bei Vrin in Paris erschien und 1974 mit Monado 74, G. W. Leibniz, Discours de mtaphysique et Monadologie erffnet wurde. Es handelt sich um die definitiven Texte mit automatisch herge- stelltem Register, alphabetischer Tabelle der lexikalischen Formen, Hufigkeits- tabelle, Konkordanzen, Tabelle von Kookurenzen. Ein erster Kommentar ist in dieser Sammlung erschienen, angefertigt von Anne Becco, Monado 74, Du simple selon G.W. Leibniz, Etude comparative critique des proprits de la substance , appuye sur l'opration informatique Monado 74, 1975, 210 S.

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  • 254 Andr Robinet

    und Seiendem, 2wischen Schweigen und Wort, zwischen Meditation und Wissenschaft flchtet. Nein, wenn man den Berhrungspunkt des Biologi- schen und des Psychologischen analysiert, wo sich das Charakteristische des Denkens" verliert, um das des Lebens" zu werden. Die Simulation des Lebens - einschlielich der Fortpflanzung - nimmt ihren Lauf, ob man es will oder nicht, und zwar dergestalt, da man nicht mehr begreift, was Sein bedeutet, es wre denn die Zugehrigkeit des Menschen zu dem, was ist, wenn man darunter diese lautlose" Stimme versteht, deren langsame Zeichen den Fhigkeiten der rechnenden Krfte nicht mehr entgehen.

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    Zu Heideggers Sein ist der Zutritt vorbehalten, es ist ein ausschlieendes Sein, ein Sein fr Eliten, fr seltene Existenzen, ein Sein, das das nicht zult, was einem allgemein zugnglichen Rechnen zugehrig ist. Aber man mu die Untersuchung noch weiter treiben. Wie steht es mit einem Sein, das gleichzeitig das besinnliche Denken und das rechnende Denken zult, mit einem Sein des Aufnehmens und des Diversifizierens, einem Sein der Toleranz und des kumenischen Denkens, einem Sein der Stadt und des Landes, der Autobahn und des Feldwegs?

    Man kann mit Recht frchten, da dieses private Sein Heideggers - privat, wie es privates Eigentum" gibt - einen mitleidigen Blick fr die Mensch- heit verbirgt und einen Unterschied dem Wesen (wenn nicht gar der Natur) nach schafft, zwischen den Heroen, die fhig sind, das Echo des Seins zu vernehmen, und den einfachen Sterblichen, die durch den Lrm der schwat- zenden Zivilisation taub geworden sind. Dieser verdchtige Hochmut lt die Ttigkeit jener wenig rhmlich erscheinen, die sich bemhen, die menschliche Lage zu verbessern, indem sie in der Nachfolge Leibnizens eine Interpretation der Zahl, die die Chiffre wieder ins Spiel bringt, eine Konzeption des Lebens, die das Denken umfat, und eine Auffassung vom Sein, die das Seiende nicht ausschliet, einfhren.

    Htte Leibniz also sehr viel grndlicher als Heidegger erkannt, was das Charakteristische der modernen Zeit ausmacht und was das Eigentmliche unserer Epoche sein wird? Bringen wir da nicht in der Tat das zur Vollen- dung, was in der Ars combinatoria oder in der Monadologie im Keim vorhan- den war?

    So haben wir in diesem Aufsatz ber das nachgedacht, was man passen- derweise zwei Konzeptionen der Welt - oder vielmehr drei - nennen knnte. Das Wesen der Freiheit selbst fhrt uns dazu, unser individuelles oder gemeinschaftliches Schicksal kontinuierlich nachzuspielen. Von unserer berlegung und von unserer Entscheidung hngt es ab, in welcher Weise wir unsere Erfindungen verwenden, von ihnen rhrt das Gleichge- wicht her, das wir unseren Berechnungen und unseren Meditationen geben. Heidegger praktiziert eher Absonderung und Rckzug; Leibniz preist die Harmonie und das Sich-Einsetzen fr die Toleranz. Mte man deshalb

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  • Atomzeitalter oder Informatikzeitalter? 255

    unterscheiden zwischen dem funktioneilen, dem essentiellen und dem existentiellen Kalkl?

    Wir wollen unter dem funktionellen Kalkl die Attribute verstehen, die Heidegger dem rechnenden Denken zuschreibt und im Zusammenhang mit der ersten Bedeutung des Satzes vom Grund darlegt. In dieser Zone entfalten sich unsere Ttigkeiten, die das Technische betreffen, die An- passungen unserer Werke an unsere Bedrfnisse. Das ist die Serienferti- gung, das Sprechen in Formeln, das Denken als Reprsentation seiner selbst, kurz all das, was nach Leibniz zu menschlicher Erfindung im Bereich der artificialia beitrgt.

    Ein essentieller Kalkl wrde eher unseren Wnschen als unseren Bedrfnissen entsprechen und stnde in bereinstimmung mit jener harmonisierenden Finalitt, die Leibniz in jedem Ding entdeckte, brigens eher in der Art einer Chiffre als der einer Zahl. Der essentielle Kalkl ist jener, der die Individuation betrifft, diesmal eher im Sinn der Vielfalt der gemeinsam erschaffenen Monaden verstanden als in dem der Einheit des gesamten Seins. Dieser Kalkl drckt durch das Objekt, das er charak- terisiert, gerade das Gegenteil des uniformen und allgemeinen Gesetzes aus. Die Variation seiner Parameter ist derartig, da sie die hohe Anforderung des principium indis cernibilium erfllt. Wir befinden uns nun bei den naturalia.

    Dieser essentielle Kalkl fhrt uns zur Einmaligkeit des Seienden, ohne uns dessen Sein zu enthllen. Unter existentiellem Kalkl mchten wir das verstehen, was die Verwirklichung der getrennten Existenzen in der Einheit des Seins betrifft. Nehmen wir an, dieser hchste Grad der Weisheit sei erreicht. Wie wrden sich dann diese langsamen und schweren Zeichen zeigen - die uns dennoch berhren und zu uns gelangen, wenn auch nur in Gegenwart des Wesens der Wahrheit, des Unaussprechlichen oder des Nichts? Ist das, was existiert, nicht mit einem organischen Index ausgestattet?

    Mu die Vorstellung sowohl von den Seienden als auch vom Sein oder die Erfahrung der Seienden und des Seins, selbst im Schweigen, nicht eine Existenz voraussetzen, die widerhallt und die, um widerzuhallen, unhrbar rechnet in dem Sinn, wie sich die penses sourdes" Leibnizens berechnen lassen? Ist die Intuition des Seins etwas anderes als dieses langsame Sprechen des Seins, dessen Echo, so taub es auch sein mag, dennoch Aussenden und Aufnehmen, Bewahren und Reagieren biologischer Stromkreise voraus- setzt? Wir berhren da das, was Leibniz metaphysische Punkte" genannt hat, um sie von mathematischen und physikalischen Punkten zu unter- scheiden. Der metaphysische Punkt unterscheidet sich weder von seinem Zentrum noch von seiner Peripherie. Dort schneiden sich alle intra- und extramundanen Reihen wieder in dem koordinierten Ausgleich der uni- versellen Kompossibilitt. Wie man wei, war Leibniz der berzeugung, da jedes Denken an ein Zeichen gebunden sei, da auch die zarteste Intuition immer noch ihre Spur im Fleisch habe.

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  • 256 Andr Robinet

    Das Problem wird dann zu einem Problem der organischen Zulnglich- keit oder Unzulnglichkeit. Da liegt die wirkliche Frage unserer Zeit, die zu ergrnden wir fhig werden, indem wir uns auf die Simulation der Informa- tik sttzen. Und warum sollen wir von diesen Leibnizschen berlegungen aus nicht einen anderen, von Heidegger bevorzugten Dichter zitieren, der eine seiner Gestalten im Laboratorium" {Faust II) vorhersagen lt:

    Ein groer Vorsatz scheint im Anfang toll; doch wollen wir des Zufalls knftig lachen, und so ein Hirn, das trefflich denken soll, wird knftig auch ein Denker machen . . . Gebt diesem Laute nur Gehr, er wird zur Stimme, wird zur Sprache.

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    Article Contentsp. [241]p. 242p. 243p. 244p. 245p. 246p. 247p. 248p. 249p. 250p. 251p. 252p. 253p. 254p. 255p. 256

    Issue Table of ContentsStudia Leibnitiana, Bd. 8, H. 2 (1976), pp. 153-316Am 13. August 1976 verstarb in Paris Herr Professor Dr. MARTIAL GUEROULT [pp. 153-153]Psychicalism and the Leibnizian Principle [pp. 154-159]Der Begriff des Organismus bei Leibniz: biologische Tatsache und Fundierung [pp. 160-186]Language and Money. A Simile and its Meaning in 17th Century Philosophy of Language [pp. 187-218]Leibniz on Personal Identity and Moral Personality [pp. 219-240]Leibniz und Heidegger: Atomzeitalter oder Informatikzeitalter? [pp. 241-256]The Role of the Malignant Demon [pp. 257-264]ber Leibniz' Logik und Metaphysik. Zu Martin Schneiders Analysis und Synthesis bei Leibniz [pp. 265-287]RezensionenReview: untitled [pp. 288-291]Review: untitled [pp. 291-293]Review: untitled [pp. 293-295]

    Leibniz-Bibliographie: Neue Titel 19741976 [pp. 296-316]