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Andreas Georg Scherer, Ina Maria Kaufmann, Moritz Patzer (Hrsg.) Methoden in der Betriebswirtschaftslehre

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Andreas Georg Scherer, Ina Maria Kaufmann, Moritz Patzer (Hrsg.)

Methoden in der Betriebswirtschaftslehre

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GABLER EDITION WISSENSCHAFT

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Andreas Georg Scherer, Ina Maria Kaufmann, Moritz Patzer (Hrsg.)

Methoden in der Betriebswirtschaftslehre

GABLER EDITION WISSENSCHAFT

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2009

Alle Rechte vorbehalten© Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009

Lektorat: Claudia Jeske / Nicole Schweitzer

Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.www.gabler.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbe-sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und dieEinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/MainGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-8349-1524-5

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Vorwort der Herausgeber

Andreas Georg Scherer, Ina Maria Kaufmann und Moritz Patzer

Die betriebswirtschaftliche Forschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr stark ausdifferenziert und kann heute auf ein vielfältiges Methodenarsenal zurückgreifen, das teils von den Sozialwissenschaften, teils von den Naturwis-senschaften inspiriert ist. Die Wahl einer geeigneten Methode und deren regel-gerechter Einsatz gelten als notwendige Bedingungen zur erfolgversprechenden Bearbeitung einer Forschungsfrage und für die Begründung der gewonnenen Erkenntnisse. Der Einsatz von Methoden, d.h. systematischer Vorgehensweisen und Verfahrensschritten bei der Erkenntnisgewinnung, erlaubt nämlich erst die schrittweise, zirkel- und widerspruchsfreie Begründung des Wissens. Die Be-gründung des Wissensbestandes ist nicht nur für die Betriebswirtschaftslehre, sondern für die Wissenschaften allgemein ein konstitutives Merkmal und unter-scheidet sich damit vom Know-how des Praktikers, der sein auf Erfahrung ge-stütztes Können zur Problemlösung einsetzt, ohne häufig zu wissen, warum bestimmte Handlungsrezepte zum Ziel führen, andere aber nicht.

Fasst man den Begriff der Methode sehr weit, so fallen darunter nicht nur die traditionellen Erhebungs- bzw. Auswertungsverfahren der empirischen Sozialforschung (quantitative und qualitative Verfahren) und die analytischen Methoden der Modelltheorie (Logik und Mathematik), sondern auch die zum Teil innovativen Techniken zur Erhebung und Auswertung von Daten, wie z.B. Labor- und Feldexperimente, Interneterhebungstools (z.B. zur Analyse von Internetdomains oder des Email-Verkehrs), Online-Befragungen, Netzwerkana-lysen, Diskursanalysen oder postmoderne Verfahren (z.B. Dekonstruktion).

Das Methodenspektrum der BWL wird durch die Entwicklung neuer Erhe-bungs- und Auswertungstechniken stetig erweitert. Neue Impulse kommen aus den Fortschritten in den Kommunikationstechnologien (z.B. Internet, Rechner-gestützte und Web-basierte Verfahren) sowie insbesondere aus der fachlich übergreifenden interdisziplinären Forschung. So ist die betriebswirtschaftliche Forschung längst nicht mehr auf die Methoden der Sozialwissenschaften be-schränkt. Vielmehr findet durch die Kooperation mit naturwissenschaftlichen Disziplinen ein reger Import naturwissenschaftlicher Verfahren statt. Jüngstes Beispiel hierfür ist der Erfolg der Neuroökonomie, die mittels apparativer Ver-fahren (beispielsweise fMRI als bildgebendes Verfahren) neue Erkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten liefert. In der Betriebswirtschafts-lehre spiegelt sich dies in der Herausbildung neuer Teilgebiete wieder; man denke hier beispielhaft an „Neuromarketing“ „Consumer Neuroscience“, „Neu-rofinance“ oder auch „Organizational Cognitive Neuroscience“.

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VI Andreas Georg Scherer, Ina Maria Kaufmann und Moritz Patzer

Vor dem Hintergrund dieser Situation widmete sich die Tagung der wissen-schaftlichen Kommission „Wissenschaftstheorie“ des Verbandes der Hoch-schullehrer für Betriebswirtschaft e.V. im Frühjahr 2008 einer aktuellen Be-standsaufnahme des Methodenarsenals in der BWL. Dabei wurde das Ziel verfolgt, die Vielfalt der Methoden im Rahmen konkreter Forschungsprojekte zu illustrieren. Dadurch soll aufgezeigt werden, welche Erkenntnisgewinne mit Hilfe bestimmter Verfahren in der BWL erreicht werden können und wo mögli-che Grenzen und zukünftige Herausforderungen liegen. Die Ergebnisse dieser Anstrengungen sind im vorliegenden Tagungsband dokumentiert.

Ein Teil der Beiträge setzt sich auf einer Meta-Ebene in theoretisch reflek-tierender Absicht kritisch mit der Anwendung bestimmter Methoden auseinan-der. In anderen Beiträgen versuchen die Autoren, mittels eines innovativen methodischen Zugangs die Potentiale neuer Verfahren aufzuzeigen und einen inhaltlichen Erkenntnisbeitrag zu einem betriebswirtschaftlichen Teilgebiet zu leisten. Einen weiteren Themenschwerpunkt bildet schließlich der Transfer betriebswirtschaftlicher Forschung in die Praxis. Aufgrund der Vielfalt und Heterogenität der Methodenlandschaft betriebswirtschaftlicher Forschung kann und will die vorliegende Sammlung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhe-ben. Sie will stattdessen exemplarisch und selektiv diese Vielfalt demonstrieren und Anregungen zur Diskussion geben.

An dieser Stelle danken wir den Autorinnen und Autoren für ihr großes En-gagement und die fristgerechte Lieferung der Beiträge. Der Stiftung der Schweizerischen Gesellschaft für Organisation und Management (SGO), vertre-ten durch Herrn Dr. Markus Sulzberger, gebührt für die großzügige finanzielle Unterstützung zur Drucklegung dieses Bandes ebenfalls unser Dank.

Wir hoffen, dass dieses Buch dazu beiträgt, die reflektierte Methodendiskus-sion in der Betriebswirtschaftslehre weiter voran zu treiben, und in diesem Sin-ne auf ein breites Interesse stößt.

Andreas Georg Scherer Ina Maria Kaufmann

Moritz Patzer

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Inhaltsverzeichnis

Missbrauch mathematischer Methoden durch Messwut, Qualitäten als Quantitäten abzubilden ................................................................................... 1 Dieter Schneider A sketch of a mechanism-based explanation of cognitive path processes, lock-in of individual mental models and institutional rigidity ...................... 21 Michaela Haase, Marc Roedenbeck und Albrecht Söllner Zur Methodologie der technologischen Forschung in der Betriebswirtschaftslehre................................................................................ 47 David Seidl, Werner Kirsch und Dominik van Aaken Die Analyse von Gruppenkognitionen im Rahmen der kognitiven Strategieforschung ........................................................................................ 71 Thomas Wrona und Maren Breuer The stories metaphors tell - Metaphors as a tool to make sense of individual narratives...................................................................................... 97 Thomas Steger Der Einfluss erst seit kurzem verfügbarer Datenzugänge auf die empirische Forschungsagenda in der BWL ................................................ 113 Johannes Mure und Thomas Zwick

Neuroökonomik als Impulsgeber für die betriebswirtschaftliche Forschung? – Der Beitrag der Neuroökonomik zur betriebswirtschaftlichen Forschung ............................................................ 117 Peter Kenning und Mirja Hubert

Exemplarische Anwendungen neurowissenschaftlicher Methoden in der Wirtschaftsinformatik ................................................................................. 127 René Riedl

Benötigt die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre empirische Forschung? .. 149 Ute Schmiel

Controlling und experimentelle Forschung................................................. 167 Bernhard Hirsch

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VIII Inhaltsverzeichnis

The Practice-Turn in Organization Studies: Some Conceptual and Methodological Clarifications..................................................................... 187 Daniel Geiger

The Quest for Relevance: Management Research that Matters to Academics and Practitioners ....................................................................... 207 Christina Hoon und Stefan Krummaker

Hierarchical Structures of Communication in a Network Organization ..... 229 Achim Oberg und Peter Walgenbach

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................... 261 Die Stiftung der Schweizerischen Gesellschaft für Organisation und Management SGO-Stiftung......................................................................... 269

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Missbrauch mathematischer Methoden durch Messwut, Qualitäten als Quantitäten abzubilden

Dieter Schneider

1 Problemstellung

Spricht man heute von der Anwendung „mathematischer Methoden“ in der Betriebswirtschaftslehre, so ist vor allem gemeint, durch Techniken aus der Mathematik Implikationen zwischen Modellannahmen aufzudecken und opti-male Lösungen zu ermitteln. Nach gängiger Ansicht findet die mathematische Wirtschaftstheorie ihren Ausgangspunkt in der britischen und französischen Grenznutzenschule mit vereinzelten Vorläufern bis ins 18. Jahrhundert1.

Indes wurde schon in der Scholastik Mathematik für eine Quantifizierung von „Qualitäten“ herangezogen: von Dankbarkeit, Barmherzigkeit oder Gottes Gnade bis hin zur Fruchtbarkeit des Kapitals; alles Merkmale, die einer umfas-senden Nutzentheorie zugrunde liegen könnten.

In eine schiere „Meßwut“, alles zu quantifizieren2, steigern sich im 14. Jahr-hundert Gelehrte der Merton School der Universität Oxford3 und der Pariser Universität. Ähnliches findet sich in manchen Bereichen heutiger betriebswirt-schaftlicher Forschung wieder. Teil 2 dieser Untersuchung behandelt dazu ein

1 Vgl. z. B. Reghinos D. Theocharis: Early Developments in the mathematical Economics. 2nd ed.

London 1983; ders.: The Development of Mathematical Economics, The Years of Transition: From Cournot to Jevons. Houndsmills-London 1993.

Kritisch dazu Dieter Schneider: Betriebswirtschaftslehre, Band 4: Geschichte und Methoden der Wirtschaftswissenschaft. München-Wien 2001, S. 415-446.

2 „the near frenzy to measure everything imaginable“, John Murdoch: From Social into Intellec-tual Factors: An Aspect of the Unitary Character of Late Medieval Learning. In: The Cultural Context of Medieval Learning, ed. by J. Murdoch and E. Sylla. Dordrecht and Boston 1975, S. 271-348, hier S. 287.

3 Dazu zählen die an Mathematik und Naturwissenschaft interessierten Theologen John Dumble-ton, Richard Swineshead, Thomas Bradwardine und William Heytesbury, alle um 1330-40 Fel-lows der Merton School. Thomas Bradwardine (ca. 1295-1349), war später Kanzler von Saint-Paul in London, Beichtvater König Edwards und schließlich Erzbischof von Canterbury (nach The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, ed. N. Kretzmann. Cambridge 1982), S. 887.

Vgl. Edith Sylla: Medieval Quantifications of Qualities: The „Merton School“. In: Archive for History of Exact Sciences, Vol. 8 (1971), S. 9-39, hier S. 24. Später zieht sie die Bezeichnung „Oxford calculators“ vor, vgl. Edith Dudley Sylla: The Oxford calculators. In: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, ed. by N. Kretzmann u. a. Cambridge 1982, S. 540-563, hier S. 541.

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2 Dieter Schneider

dem Anschein nach einfaches Beispiel: die Informationsfunktion des Jahresab-schlusses, soweit diese über Dokumentation und Einkommensmessung hinaus-reicht. Teil 3 erörtert die scholastische Methode, Qualitäten zu quantifizieren4.

Teil 4 fasst zusammen: Die heute rechtlich verordnete Informationsfunktion des Jahresabschlusses und die scholastische Messwut zur Quantifizierung von Qualitäten sind Beispiele für einen Missbrauch mathematischer Methoden. Während beim Stand der Wissenschafts- bzw. Erkenntnistheorie im 14. Jahr-hundert Fehlanwendungen der damals auf Arithmetik und Geometrie be-schränkten Mathematik verständlich erscheinen, wirft im 20./21. Jahrhundert ein Missbrauch mathematischer Methoden ein beschämendes Bild auf die Ver-ankerung wissenschaftstheoretischer Einsichten bei Prognosen, ja Messproble-men allgemein.

2 Eine heutige Messwut zur Quantifizierung von Qualitäten: die sog. Informationsfunktion des Jahresabschlusses

2.1 Ein Rückgriff auf Zahlenmystik: „Prognosekraft“ durch Addition von Zahlen aus unterschiedlichen Messbarkeitsstufen?

Bilden in einem Jahresabschluss die Bewertungen in € stets quantitative Begrif-fe ab, denen Prognosekraft zukommt (wie ein tatsächlich vorhandener Kassen-bestand)? Oder sind die Zahlen nur als Aussagen über eine Rangordnung zu verstehen (wie ein gleich hoher Betrag an Vorräten und an Grundstücken hin-sichtlich der Glaubwürdigkeit ihrer Wiedergeldwerdung)? Oder verkörpern die Zahlen nur eine Benennung (vergleichbar der Nummerierung von Fußballspie-lern, was bei „sonstigen Rückstellungen“ nicht selten ist)? Oder sind die Zah-lenabgaben gar nur als Fiktion anzusehen (wie mitunter bei immateriellen Wer-ten)?

Jahresabschlüsse bieten Beispiele für alle Messbarkeitsstufen (quantitative bzw. „kardinale“ Messung, ordinale Messung, nominale Messung und eine vorgetäuschte Messung durch Fiktionen). Indes hängt die Informationsfunktion des Jahresabschlusses, davon ab, dass in einer Jahresabschlussanalyse keine Fehlurteile über die Messbarkeitsstufen eintreten, die den einzelnen Zahlenan-gaben innewohnen. Und es bleibt zu fragen: Welcher Sinn (außer dem der Täu-schung anderer) liegt darin, quantitativ, ordinal, nominal Gemessenes miteinan-der und mit Fiktionen zu addieren?

4 Teil 3 überarbeitet und verkürzt die S. 127-138 aus Dieter Schneider: „Von der Notwendigkeit

einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften“, soweit diese Mathematik verwenden. In: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXI. Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 115. Berlin 2007, S. 125-148.

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Missbrauch mathematischer Methoden durch Messwut, Qualitäten als Quantitäten abzubilden 3

In naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten versprechen quantitative Begriffe ein zahlenmäßiges Abbild der künftigen Wirklichkeit (z. B. die For-meln zur Planetenbewegung). Werden demgegenüber €-Angaben im Jahresab-schluss als quantitative Begriffe missdeutet, obwohl sie nur auf Rangordnungen, Benennungen oder Fiktionen beruhen, wird mit sinkender Begründbarkeit von der Vergangenheit auf die Zukunft geschlossen.

Aus der Einsicht des Cusanus5, Erkennen heißt Messen, folgt, dass eine ma-thematische Formalisierung erst durch Mess- bzw. Konstruktionsangaben zur empirisch prüfbaren Erkenntnis wird, wie ab dem 17. Jahrhundert in der Lehre von der genetischen Definition die Erkenntnistheoretiker Spinoza, Hobbes und Leibniz herausgestellt haben6.

Messen heißt seiner Bedeutung nach7: Eine geordnete Menge an Begriffen und Aussagen, die über die Wirklichkeit unterrichten soll, sei strukturgleich in eine geordnete Menge an Zahlen abzubilden. Da jeder Versuch zur Erklärung der Wirklichkeit Begriffe enthält, deren Sinn nur mittels Theorien zu verstehen ist, hilft es, die Aussagen in einer geordneten Menge an reellen Zahlen abzubil-den und zu prüfen, ob es sich um quantitative Abhängigkeiten, Rangordnungs-aussagen oder nur Auflistungen handelt. Dazu bedarf es Maßgrößen, über wel-che theoretische Begriffe (wie z. B. Insolvenzrisiko) in Begriffe für in Zahlenfolgen beobachtbare und reproduzierbare Sachverhalte übersetzt werden können. Da die Maßgrößen selbst auf Theorien aufbauen, wenngleich auf ande-ren als die zu messenden Sachverhalte, werden bekanntlich Begriffe für beob-achtbare Sachverhalte durchweg selbst theoriebeladen sein.

Die Suche nach Maßgrößen beugt der Überschätzung der Arithmetik als Methode zum Gewinnen neuer Erkenntnisse über die Wirklichkeit vor8. Eine solche Fehlanwendung der Arithmetik als „Entdeckungszusammenhang“ spricht schon im 5. Jahrhundert v. Chr. Philolaos einer der Pythagoreer, so aus: „Alles … was ein Gegenstand des Wissens werden soll, muss an der Zahl und ihrer Wesenheit teilhaben“ 9. Ein Rückgriff auf die Zahlenmystik des Pythagoras wird auch für die als Planungsrechnungen zu deutenden, ansatzweisen Lust-

5 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren

Zeit. Erster Band. Berlin 1906, S. 26. 6 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren

Zeit. Zweiter Band. Darmstadt 1974, S. 89, 127. 7 Vgl. mit Quellen Dieter Schneider: Betriebswirtschaftslehre, Band 1: Grundlagen, 2. Aufl.

München-Wien 1995, S. 204-211. 8 Vgl. Ewald Schams: Zur Geschichte und Beurteilung der exakten Denkformen in den Sozial-

wissen-schaften. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 85 (1928), S. 491-520, hier S. 497-505.

9 Zitiert nach Cassirer, Erster Band, S. 261.

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und Leid-Messungen des Protagoras behauptet10, eine der frühen Quellen eines Utilitarismus.

2.2 Prognosekraft des Jahresabschlusses bei Ungleichverteilung des Wissens?

Eine Abart der Zahlenmystik des Pythagoras hält sich als Zahlengläubigkeit bis heute vor allem in Politikdiskussionen. Zahlen, vor allem Prozentzahlen, wird eine empirisch gestützte Beweiskraft unterstellt, obwohl die Prognosekraft der Zahlen nicht überprüft worden ist. Eine solche Zahlengläubigkeit verkörpert eine Versuchung zum Nicht-Nachdenken bei Zuhörern (Nachrichtenempfän-gern).

Wie weit wohnt Zahlengläubigkeit den Rechtsetzungen zur Informations-funktion des Jahresabschlusses inne, wie sie in den letzten zwei Jahrzehnten durch ausgeweitet worden sind?

Die Empfänger der Rechnungslegung sind in mindestens zwei Wissens-gruppen zu teilen: das breite Kapitalmarktpublikum und die Kapitalmarktin-sider, die beruflich oder aus Neigung alles öffentlich zugängliche Wissen für sich sammeln und auswerten. Ob eine Häufung an Zahlen und Erläuterungen, etwa im Konzernanhang, Wertpapierkäufer und -verkäufer zu Entscheidungen führt, die ihre Ziele verwirklichen helfen, ist eine offene Frage; denn kaum ein nicht-berufsmäßiger Kapitalmarktteilnehmer nimmt sich die Zeit, etwa den Konzernanhang zu lesen und auszuwerten. Deshalb bauen strengere Rech-nungslegungs- und Publizitätsvorschriften nicht zwingend die Ungleichvertei-lung des Wissens unter den Empfängern der Rechnungslegung ab, die schließ-lich unterschiedlich geschult und engagiert sind.

Wann erlaubt ein Jahresabschluss aus zum geringen Teil mit Zahlen beleg-ten Fakten in Form quantitativer Begriffe und nicht wenigen mit Zahlen ge-spickten Fiktionen, also ein Gemenge aus Messgenauigkeit vortäuschenden Zahlenangaben, verlässliche Prognosen? Die Antwort hängt von den Funktio-nen ab, die Regelsystemen zur Rechnungslegung zugrunde gelegt werden.

Rechnungslegung bedarf es zur Dokumentation und zur Einkommensbemes-sung, fälschlicherweise oft Zahlungsbemessung genannt; denn Rechnungsle-gung bestimmt nicht die Gewinnsteuer- oder Dividendenzahlung, sondern nur Teile der zu versteuernden Einkünfte bzw. eine rechtliche Ausschüttungsober-grenze, erwirtschaftet in einem Jahr. Während die Einkommensbemessungs-funktion der Rechnungslegung neue wirtschaftliche Tatsachen mitbestimmt, in dem sie Grenzen für gewinnabhängige Zwangsausgaben und Wahlausgaben setzt, schafft eine über die Einkommensbemessung hinausreichende Informati-onsfunktion keine neuen Tatsachen, sondern hilft bestenfalls beim Erarbeiten

10�� Vgl.�S.�Todd�Lowry:�The�Archeology�of�Economic�Ideas.�Durham�1987,�Kap.�II�und�IV.��

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von begründeten Prognosen über die Glaubwürdigkeit künftiger Ausschüttun-gen, Börsenkurse bzw. Marktpreise für Anteile und für andere wirtschaftlicher Sachverhalte, die in theoretischen Begriffen ausgedrückt werden, wie z.B. In-solvenzrisiko.

Aus dem Satz, alles Erkennen sei als „Messen“ zu denken, folgt, dass prog-nosefähiges Wissen auf Hypothesen aus erklärenden Theorien aufbauen muss.

Rechnungslegung informiert dabei nur über die Anfangsbedingungen, die in Hypothesen zur Prognose einzusetzen sind. Rechnungslegung liefert niemals selbst eine Prognose. Es war ein grober Fehler der älteren Bilanzlehre, der Karl Käfer zu dem Slogan verführte: „Die Bilanz als Zukunftsrechnung“11. Rech-nungslegung bietet bestenfalls bedingtes Tatsachenwissen, gewissermaßen das Kellergeschoß, auf dem mittels Hypothesen aus erklärenden Theorien Progno-sen errichtet werden können.

Die Eigenschaft des „bestenfalls bedingten Tatsachenwissens“ ist dabei an den Ausschluss von Wahlrechten und anderen Verfälschungen des Inhalts der Rechnungslegung für die Messung von Sachverhalten geknüpft. Selbst in die-sem, meist jenseits der IFRS-Praxis liegenden Fall sagt Rechnungslegung ledig-lich, wie bei dieser oder jener Unternehmung eine bestimmte Finanzierungs-hypothese sich ausprägt, wie: In diesem Jahr dürfen gewinnabhängige Ausgaben, ohne das Insolvenzrisiko zu erhöhen, jenen Betrag erreichen12.

Für eine Prognose der Glaubwürdigkeit künftiger Ausschüttungen oder Marktpreise, also das, was eine Informationsfunktion des Jahresabschlusses zu leisten erträumt, bedarf es zusätzlich wissensökonomischer Einsichten über die Prognosekraft von Zahlen.

Dabei sieht sich eine anwendungsbezogene, auf Handlungsempfehlungen hin zielende Wissenschaft, wie die Betriebswirtschaftslehre überwiegend ver-standen wird, in ihrer Forschungsstrategie folgendem Problem gegenüber:

Handlungsempfehlungen zur Unternehmenspolitik oder allgemeiner Emp-fehlungen zur Rechtspolitik versucht die derzeitige Wissenschaft vor allem mit Modellen zu begründen, die von Planungssicherheit ausgehen. Dies gilt für Empfehlungen zu einer Ausweitung vermeintlicher Informationen im Jahresab-schluss ebenso wie z. B. in der Lehre von den Steuerwirkungen. Gängig, weil bequem, ist, die Erfahrungstatbestände der Unsicherheit und Ungleichverteilung von Wissen und Können zunächst auszuklammern, um später zu vergessen, sie in die Theorie einzubauen.

Ein erster Einwand gegen diese Vorgehensweise in der anwendungsbezoge-nen Betriebswirtschaftslehre lautet: Handlungsempfehlungen ebenso wie Prog-nosen dürfen nicht aus quantitativen Modellen unter angenommener Planungs-

11 Vgl. Karl Käfer: Die Bilanz als Zukunftsrechnung. Zürich 1962. 12 Vgl. näher Dieter Schneider: Betriebswirtschaftslehre, Band 2: Rechnungswesen. 2. Aufl.

München-Wien 1997, S. 112-117, 376-390.

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6 Dieter Schneider

sicherheit übernommen werden, weil sicheres Wissen über die wirtschaftliche Zukunft nicht besteht. Prognosen seien vielmehr aus Planungsmodellen unter Unsicherheit herzuleiten, die zugleich die Ungleichverteilung des Wissens unter den Handelnden berücksichtigen.

Eine Gegenrede verkündet: Unsicherheit reicht weit über entscheidungslo-gisch handhabbares Risiko (also die Anwendungsvoraussetzungen der Wahr-scheinlichkeitsrechnung) hinaus, und schließt insbesondere Ex-Post-Überraschungen nicht aus, d. h. in der Planung das Nicht-Auflisten-Können sämtlicher denkbaren künftigen Zustände der Welt und ihrer zahlenmäßigen Auswirkungen auf die Zielerreichung. Was für so verstandene Unsicherheit „vernünftig handeln“ heißt, ist keineswegs geklärt. Da je nach den Annahmen in Modellen unter Unsicherheit Unterschiedliches herauskommt, werden allgemei-ne Handlungsempfehlungen kaum mehr möglich. In einem solchen Fall hätte die Wissenschaft entweder zu Politikempfehlungen zu schweigen. Oder die Wissenschaft hätte statt Entscheidungswirkungen von Rechtsetzungen zu be-haupten, deren Verteilungsfolgen hervorzuheben, auch auf die Gefahr hin, sich in Werturteilen zu verheddern. Die Antwort auf dieses Problem der For-schungsstrategie dürfte in der Betriebswirtschaftslehre umstritten sein.

Nur für das Detailproblem der Prognosekraft des Jahresabschlusses soll hier die derzeitig vorherrschende Forschungsstrategie diskutiert werden.

2.3 Wann wäre eine bestmögliche Prognose des „inneren Wertes“ eines Finanztitels möglich?

Die heutige Wertpapieranalyse schließt die Auswertung von Jahresabschlüssen ein und legt dabei für die Planung ein entscheidungslogisch handhabbares Risi-ko, also Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, zugrunde, um Preise für Finanztitel in einem Kapitalmarktgleichgewicht zu bestimmen. Wohlweis-lich wird die Frage nach dem empirischen Gehalt eines der Rechnerei zugrunde liegenden Kapitalmarktmodells selten gestellt, z. B. werden Kapitalmarktbetas für Wertpapiere errechnet, ohne die Prämissen dieser Art einer Risikomessung auf ihren Wirklichkeitsbezug zu prüfen.

Auf Marktgleichgewichtstheorie wird auch zurückgegriffen, wenn die Preise für Finanztitel mit der Behauptung prognostiziert werden: Durch eine Auswer-tung von Jahresabschlüssen und anderen Informationen bilde sich ein Investor ein Urteil über den „inneren Wert“ eines Wertpapiers. Des Investors Urteil über den inneren Wert z. B. einer Aktie bestimme seine Preisgrenzen für Kauf oder Verkauf. Aus den Kauf- und Verkaufsaufträgen sämtlicher Kapitalmarktteil-nehmer bilde sich der jeweilige Börsenkurs. Dieser schwanke angeblich um den „inneren Wert“.

Doch welche Sachverhalte bestimmen für wie lange denselben „inneren Wert“? Was begründet in welchem Ausmaß das Schwanken eines Marktpreises

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Missbrauch mathematischer Methoden durch Messwut, Qualitäten als Quantitäten abzubilden 7

um einen stillschweigend als existent vorausgesetzten „inneren Wert“? Der innere Wert ist ein Denkkonstrukt, dessen Ursprung vom natürlichen Preis, z.B. bei Adam Smith, bis in die Antike zurückreicht und dabei eine unausgegorene Harmonie- bzw. Gleichgewichtsvorstellung impliziert. Heute wird der innere Wert durch Definition dem Ertragswert als Barwert künftiger Zahlungen gleichgesetzt13.

Aber diese Kennzeichnung enthält kein Erklärungsmodell für eine Markt-preisbildung, sondern verkörpert nur eine Tautologie: Wenn als empirische Sachverhalte sichere Kenntnis über die künftigen Zahlungsströme eines Unter-nehmungsanteils oder einer anderen Investition und das Wissen um einen Kal-kulationszinsfuß als Marktpreis für die Überlassung einer Geldeinheit in jeder Periode vorgegeben sind, dann wird der Barwert dieser Zahlungen Ertragswert oder innerer Wert genannt und als Marktpreis der Investition gedacht.

Ob man von „Ertragswert“ oder „innerem Wert“ spricht, bleibt inhaltlich dasselbe. Beide Male handelt es sich um einen modelltheoretischen Begriff. Wie weit dieser Modellbegriff „innerer Wert“ vom jeweiligen Marktpreis für die Verfügungsrechte an einer Unternehmung abweicht, falls ein solcher Marktpreis existieren sollte, lässt sich empirisch nicht überprüfen, allenfalls durch mehrdeutige Messmodelle begutachten, also bezahlt erahnen.

Das Schweben des Begriffs „innerer Wert“ im Tautologischen wandelt sich vermeintlich in einen Erfahrungssachverhalt durch eine Umdefinition, wie sie Samuelson und Mandelbrot in ihren Untersuchungen zur Spekulation vortra-gen14: Der Börsenkurs schwanke nicht um einen theoretischen Begriff von unsi-cherer Höhe mit Namen „innerer Wert“. Vielmehr sei die bestmögliche Schät-zung des inneren Wertes eines Verfügungsrechts in jedem Zeitpunkt der jeweilige Marktpreis selbst. Durch diese definitorische Setzung „Ein jetzt ge-zahlter Kapitalmarktpreis misst als zufallsbestimmte Schätzgröße einen theore-tischen Begriff“ scheint der Begriff „innerer Wert“ auf einen empirischen Sach-verhalt zurückgeführt.

Doch leider ist damit das Problem nicht gelöst; denn selbst in den wenigen Fällen, in denen in geringen Zeitabständen ein durch Umsätze belegter Markt-preis für einen Finanztitel zu beobachten ist, kann dieser Preis durch Markt-macht einzelner, durch Insidergeschäfte, Notverkäufe usw. mitbestimmt sein: Einflüsse, die für eine Prognose nicht begründet sein mögen.

Der jeweilige Marktpreis verkörpert nur dann die bestmögliche Prognose, wenn er sich dem zufallsbestimmten Wert einer fairen Wette gleichsetzen lie- 13 Vgl.� Stephen� F.� Le� Roy:� Efficient� Capital� Markets� and� Martingales.� In:� Journal� of� Eco�

nomic�Literature,�Vol.�23�(1989),�S.�1583�1621,�hier�S.�1588,�1591.�14�� Vgl.�Paul�A.�Samuelson:�Proof�that�Properly�Anticipated�Prices�Fluctate�Ramdomly.�In:�

Industrial�Management�Review,�Vol.�6�(1965),�S.�41�49;�Benoit�Mandelbrot:�Forecasts�of�Future�Prices,�Unbiased�Markets�and�„Martingale“.�In:�The�Journal�of�Business,�Vol.�39�(1966),�S.�242�255.��

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8 Dieter Schneider

ße15. Damit ein aktueller Marktpreis dem Preis einer fairen Wette entspräche, müssten sämtliche Marktteilnehmer über dasselbe Wissen und Können verfü-gen, alle Informationen in gleicher Weise für ihre Preisgrenzen auswerten, glei-che und konstante Zeitpräferenzen haben und sich alle risikoneutral verhalten.

Aus der Deutung des inneren Werts als faire Wette folgt dasselbe wie aus der sog. Informationseffizienz des Kapitalmarkts: Im Hinblick auf eine Informa-tionsfunktion werden Jahresabschlüsse überflüssig; denn niemand kann hoffen, durch deren Studium mehr zu verdienen oder weniger Verluste zu erleiden, wenn im jeweiligen Kurs das gesamte Wissen aller Marktteilnehmer über die Zukunft ausgewertet ist16.

Daraus zu schließen, eine Informationsfunktion der Rechnungslegung exis-tiere nicht, wäre freilich ein Fehler, weil nicht behauptet wird, der Jahresab-schluss biete keine Informationen, sondern nur: Soweit der Jahresabschluss Informationen enthält, wird deren unerläutertes „Kursprognosepotential“ von allen Marktteilnehmern unverzüglich erkannt, gleich beurteilt und fließt, ge-wichtet nach ihren Präferenzen, in ihre Kauf- oder Verkaufsentscheidungen ein.

Über die Verwertung von Wissen aus Jahresabschlussinformationen erfah-ren wir durch diese Theorie der Spekulation und die These einer Informations-effizienz nichts; denn die Frage, welche Jahresabschlussinformationen in wel-cher Weise die Preisgrenzen und damit die Kauf- und Verkaufsaufträge zu einem gerade verwirklichten Austauschverhältnis verändern, wird überhaupt nicht gestellt. Uner-

läutert bleibt, worin das „Kursprognosepotential“ besteht, also wie aus einer tautologischen Definition von „Ertragswert“ oder „innerem Wert“ Aussagen über den Erwerb und die Verteilung von Wissen gewonnen werden können.

Aus dieser Erkenntnislücke lässt sich jedoch die Notwendigkeit einer Infor-mationsfunktion des Jahresabschlusses herleiten: Kapitalmarktteilnehmer wün-schen Entscheidungshilfen, ob und wann sie kaufen oder verkaufen sollen. Solche brauchen sie zur vor allem dann, wenn die jeweiligen Marktpreise für Anteilsrechte und Schuldtitel kein verlässliches Signal für die allgemeine Ein-schätzung der künftigen Gewinne oder Verluste liefern.

Ein Wissensdefizit für Investitions- und Desinvestitionsentscheidungen tritt nicht nur dann auf, wenn keine Marktpreise für bestimmte Verfügungsrechte bestehen, wie bei der Bewertung von Anteilen an Personengesellschaften, 15 Die Beweisführung geht auf eine mathematische Dissertation zur Theorie zur Spekulation

zurück, die Optionsgeschäfte als Anschauungsbeispiel wählt, vgl. Louis Bachelier: Théorie de la Spéculation. In: Anales de l’École Supérieure, Série 3, Tome XVII (1900); englisch in: The random character of stock market prices, ed. by P.H. Cootner. Cambridge 1964, S. 17-78, das folgende S. 26-28.

16 Vgl. mit Quellen Dieter� Schneider:� Fördern� internationale� Rechnungslegungsstandards�Wettbewerb� als� Verwertung� von� Wissen?� In:� Wettbewerb� und� Unternehmensrech�nung,�Sonderheft�45�der�zfbf�2000,�S.�23�40.��

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Missbrauch mathematischer Methoden durch Messwut, Qualitäten als Quantitäten abzubilden 9

GmbHs und anderen nicht börsennotierten Unternehmungsanteilen. Das Wis-sensdefizit besteht auch dann, wenn zwar Marktpreise existieren, diese Markt-preise aber auf unvollkommenen und unvollständigen Märkten zustande kom-men, wie in der Börsenrealität. Diese Marktpreise verlocken zwar zu Käufen oder Verkäufen, aber in diesem Glücksspiel ist der einzelne, mit Wissenslücken belastete Käufer oder Verkäufer im Nachteil, weil der jeweilige Marktpreis nicht den Bedingungen einer fairen Wette gegen den Rest der Marktteilnehmer genügt.

Jahresabschlussanalysen bedarf es also, damit der einzelne Kapitalmarktteil-nehmer modellmäßig jenes Wissen nachzubilden vermag, welches die Kapital-marktpreise der Realität nicht bieten, weil die wenigen und durch Marktunvoll-kommenheiten beeinflussten Kapitalmarktpreise gerade nicht das gebündelte Wissen aller Marktteilnehmer in einem quantitativen Ausdruck wiedergeben. Selbst wenn für diesen Zweck geeignete Modelle existieren sollten: Die Mühen, durch Jahresabschlussanalysen jenes Wissen zu erzeugen, welches die Kapital-marktpreise der Realität nicht bieten, werden wohl nur berufsmäßige Kapital-marktinsider auf sich nehmen und so die Preisbildung in Kapitalmärkten zu ihren Gunsten beeinflussen.

Mit dem Anspruch, die Informationsfunktion zu verbessern, ist die Rech-nungslegung in den letzten zwei Jahrzehnten durch Konzernanhang, ad hoc Publizität und vieles andere aufgebläht worden. Strittig mag sein, in welchem Ausmaß sich dadurch ein Wissensabstand zwischen Unternehmungsleitung und Kapitalmarktinsidern verkürzt hat. Unstreitig hat sich dadurch die Ungleichver-teilung des Wissens zwischen Kapitalmarktinsidern und dem breiten Kapital-marktpublikum verschärft, zumal die Marktmacht institutioneller Anleger sich laufend verstärkt.

Deshalb hat die „Messwut“ durch Aufblähung der Rechnungslegungsvor-schriften für das breite Kapitalmarktpublikum nicht zu einer faireren Chance im Glücksspiel über Finanzinvestitionen geführt. Zu vermuten steht, dass die Rechtsetzungen zum Ausbau der Informationsfunktion zwar zeitweise die Ar-beitsplätze zahlreicher Wirtschaftsprüfer und Finanzanalysten sichern, aber sonst viel bürokratische Verschwendung verwirklichen.

3 Die scholastische Messwut zur Quantifizierung von Qualitäten

3.1 Wissenschaftstheorie in der Scholastik

Scholastiker suchen Ratschläge für ein gottgefälliges, sündenarmes Leben zu geben. Gleichwohl wäre es vordergründig zu schließen, Scholastiker wollten nur eine „Kunstlehre“ („art“) entwickeln, keine erklärende (positive) Theorie; denn diese Trennung ist ihrem Denken fremd. „Alles Gesollte ist“ für Thomas

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von Aquin „nichts als Entfaltung des Wesens“17. Deshalb besteht für das Erken-nen, was wovon abhängt, und für die Herleitung von Handlungsempfehlungen ein und dieselbe Erkenntnismethode: Von der Antike bis teilweise über das 18. Jahrhundert hinaus wird rationale Wissenschaft mit Anwendung von Mathema-tik gleichgesetzt. In einer heute für nicht-mathematische Ökonomen befremdli-chen Überschätzung als Erkenntnisquelle gilt Mathematik in Form der Arithme-tik als Methode zum Gewinnen neuer Erkenntnisse, als „Entdeckungszusammenhang“, und zwar durch Gedankenexperimente, die keinen Bezug zur Realisierung haben18.

Im scholastischen Denken sind Lust- und Leid-Messungen Rationalisierun-gen der Selbstsucht und folglich eine Todsünde, weil dieses Denken, betont auf das Jenseits bezogen, Vergebung der irdischen Sünden erhofft. Erst Perversio-nen der katholischen Lehre, wie der Ablasshandel, beinhalten eine „religiöse“ Lust- und Leid-Messung, z. B. in dem Festpreis, den Papst Clemens V. für den Nachlass eines Jahres Fegefeuer bestimmt19. Erleichtert wird der Weg zu sol-chen Perversionen einer Religion durch wissenschaftliche Bemühungen zur Quantifizierung von Qualitäten.

Die scholastische Quantifizierung von Qualitäten entwickelt sich an Übun-gen in formaler Logik, vor allem für Disputationen. Die „Meßwut“ stützt sich auf eine Art „Gedankenexperiment“ (secundum imaginationem) zur Erzeugung neuer logischer „puzzles“. Sie bezweckt nicht die Konfrontation eines Kalküls mit der (naturwissenschaftlichen) Erfahrung20. Das primär logische Anliegen erklärt, dass ethische Fragen zeitlich vor physikalischen Anwendungen mit dieser Methodik angegangen werden. Die ethischen Gesichtspunkte werden als gesellschaftlich objektivierte „Nutzenmerkmale“ (nicht als subjektive) verstan-den, die Bestandteile eines gerechten Preises bilden können.

Die Forschungen der „Oxford calculators“ bieten wenig an Rechnungen und Gleichungen, sondern ergehen sich überwiegend im Verbalen. Heytesbury (1335) und Swineshead schreiben zwar längere Ausführungen über Maximum und Minimum; aber damit sind keine Extremwertbestimmungen von Funktio-nen gemeint, sondern Bezeichnungen von Begrenzungen schlechthin: „Under

17 Nikolaus Lobkowicz: Thomas von Aquin – Leben, Werk und Wirkung. In: Ökonomie, Politik

und Ethik in Thomas von Aquins »Summa theologica«, hrsg. von P. Koslowski u. a. Düsseldorf 1991, S. 17-21, hier S. 20; Arthur F. Utz: Die Ethik des Thomas von Aquin, ebenda, S. 23-32, hier S. 24 f.

18�� Vgl.� Alain� de� Libera:� Le� développement� de� nouveau� instruments� conceptuels� et� leur�utilisation�dans�la�philosophie�de�la�nature�au�XIVe�siecle.�In:�Knoweldge�and�the�Sci�ences�in�Medieval�Philosophy,�Vol.�I.�Edited�by�M.�Asztalos,�J.�Murdoch,�I.�Niiniluoto.�Helsinki�1990,�S.�158�197,�hier�S.�161�f.��

19�� Vgl.�William�E.�Lunt:�Papal�Revenues�in�the�Middle�Ages,�Vol.�1,�New�York�1965,�S.�111�125.�

20�� Vgl.�Sylla:�Oxford�calculators,�S.�542,�547,�558,�561�f.;�de�Libera,�S.�162,�166�f.��

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„maximum“ and „minimum“ are ... subsumed such terms as „first“ and „last“, „quickest“ and slowest“, „strongest“ and „weakest“, „most intense“and „most remiss“21. Swinesheads „Liber calculationum“ bezweckt, “to derive surprising or counter-intuitive results and to determine whether or not these must be ac-cepted”22.

Zwar verwendet z. B. Bradwardine in Übungen zur Logik mathematische Funktionen für physikalische Abhängigkeiten23, aber seine Formel für die Ab-hängigkeit zwischen Geschwindigkeit einerseits, dem Quotienten aus Kraft und Widerstand andererseits, ist völlig falsch24.

Im Anwendungsbezug wird die Quantifizierung von Qualitäten auf alle Be-reiche scholastischer Wissenschaft ausgedehnt; denn zwischen physikalischen und mentalen Eigenschaften wird nicht unterschieden. Die Scholastik „hat grundsätzlich alles für direkt meßbar gehalten und auf der anderen Seite nichts oder fast nichts wirklich gemessen ... es wird stattdessen von Anfang an und meist völlig willkürlich eine Zuordnung zwischen der zu messenden Grösse und einer beliebigen Zahl vorgenommen, wobei die Vorstellung der physikalischen Dimension überhaupt nicht auftaucht. Man kommt so zu einem Rechnen, das keinerlei Kontakt mit der Erfahrung und keinerlei Möglichkeit der Verifizierung an dieser hat, und das andererseits über das auf diesem Gebiet tatsächlich Er-reichbare und Erreichte falsche Vorstellungen gibt“ 25.

3.2 Versuche zur Quantifizierung religiöser, ethischer und wirtschaftlicher Sachverhalte

Theologie leitet das Denken der Gelehrten in der Scholastik, und so entwickelt sich anfangs ein Schwerpunkt in der versuchten Quantifizierung religiöser Be-

21�� Curtis�Wilson:�William�Heytesbury.�Medieval�Logic�and�the�Rise�of�Mathematical�Phys�

ics.�Madison�1960,�S.�69�f.,�zu�Swineshead�S.�7.��22�� Vgl.� Sylla:� Oxford� calculators,� S.� 561,� 568.� Das� „Liber� calculationum“� ist� um� 1340/50�

geschrieben,� gedruckt�Venedig�1520;�vgl.� auch�Anneliese�Maier:�Zwei�Grundprobleme�der�scholastischen�Naturphilosophie.�2.�Aufl.�Roma�1951,�S.�235,�und�Murdoch:�Unitary�character,� S.� 318.� Joel� Kaye:� Economy� and� Nature� in� the� fourteenth� Century.� Money,�market� exchange,� and� the� emergence� of� scientific� thought.� Cambridge� 1998,� S.� 251,�nennt� als� vollständigen� Titel� „Subtillissimi� Ricardi� Suiseth� Anglici� Calculationes� no�viter�emendaste�atque�revise“�[Suiseth�=�Swineshead].��

23�� Vgl.�Thomas�Bradwardine:�De�proportione�velocitatum�in�motibus�(1328),�zitiert�nach�der�Übersetzung�durch�H.�Lamar�Crosby:�Thomas�of�Bradwardine�His�Tractatus�de�Propor�tionibus.�University�of�Wisconsin�Press�1955.��

24�� Vgl.�Anneliese�Maier:�Rezension�zu�H.�Lamar�Crosby,�Jr.:�Thomas�of�Bradwardine,�His�Tractatus� de� proportionibus,� Its� Significance� for� The� Development� of� Mathematical�Physics,�abgedruckt�in�dies.:�Ausgehendes�Mittelalter,�Gesammelte�Aufsätze�zur�Geist�esgeschichte�des�14.�Jahrhunderts�II.�Roma�1967,�S�.�458�461,�hier�S.�459.��

25�� Anneliese�Maier:�Die�Vorläufer�Galileis�im�14.�Jahrhundert.�2.�Aufl.,�Roma�1966,�S.�114�f.��

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griffe, wie Liebe, Gnade, Barmherzigkeit26. Dieser Forschungsansatz musste mangels interpersonell nachprüfbarer Maßgrößen scheitern.

Jenseits religiöser Begriffe bildet Geld in der Funktion als Tauschmittel die allgemein benutzte Maßgröße für die Quantifizierung von Qualitäten. So kalku-liert der Magister der „Artistenfakultät“ (Philosophie und Naturwissenschaften) und mehrmalige Rektor der Pariser Universität Jean Buridan (um 1300-nach 1358, vor 136127) den ethischen Wert eines „Danke schön“ (grates domine): Wenn jemand 10 Währungseinheiten verschenke und dafür ein „Danke schön“ empfängt, so scheint keine Gleichwertigkeit (Gerechtigkeit) in diesem Tausch von Geld gegen einen verbalen Dienst vorzuliegen. Aber angenommen, der Schenker sei sehr reich und bedürfe des Geldes nicht, wohl aber der Anerken-nung, während der Empfänger des Geldes ein armer Mann von hoher Ehre und Güte sei, so sorge das „Danke schön“ durchaus für einen „gerechten“ Preis, für Gleichwertigkeit des „Tausches“ zwischen beiden28. Da Buridan in seiner „E-thik“ die bis dahin am besten ausgebaute Lehre von den Geldfunktionen vor-trägt (Geld als Wertträger durch Raum und Zeit, von beliebiger Teilbarkeit usw.29), stützt das Beispiel nicht die These Kayes von der Verbreitung der Geldwirtschaft als Anstoß für die Messung von Qualitäten. Vielmehr bietet Buridan nur ein theoretisches Beispiel für den gerechten Preis eines Dienstes, das schon bei Aristoteles stehen könnte, wenn Aristoteles nicht Dienste aus seinen Überlegungen zum gerechten Preis ausgeklammert hätte.

Buridans Bekanntheit beruht noch heute hauptsächlich auf der Metapher von Buridans Esel: Ein Esel, der sich nicht entscheiden könne, welches von zwei ihm gleich genußvoll erscheinenden Heubündeln er fressen solle, verhun-gere letztlich. Der seinen Nutzen maximieren wollende Esel ist entscheidungs- und handlungsunfähig, weil er nur in einem statischen Modell denkt und über-sieht, dass Heubündel auch nacheinander vertilgt werden können. Zur Ironie in der Wissenschaftsgeschichte gehört, dass diese Metapher in Buridans zahlrei-chen Schriften nicht zu finden ist, wohl aber bei anderen: bei Marsilius von Inghen, einem Schüler Buridans und Gründer der Universität Heidelberg, in der

26�� Vgl.�Rega�Wood:�Calculating�Grace:�The�Debate�about�Latitude�of�Forms�According�to�

Adam� de� Wodeham:� In:� Knowledge� and� the� Sciences� in�Medieval�Philosophy,Vol.�2,�ed.�by�M.�Asztalos�u.�a..�Helsinki�1990,�S.�373�391;� Janet�Coleman:� Jean�de�Ripa,�OFM,�and�the�Oxford�Calculators.�In:�Medieval�Studies,�Vol.�37�(1975),�S.�130�189;�Kay,�Econ�omy�and�Nature,�S.�166�f.�

27�� Vgl.�Bernd�Michel:�Johannes�Buridan:�Studien�zu�seinem�Leben,�seinen�Werken�und�zur�Rezeption�seiner�Theorien�im�Europa�des�späten�Mittelalters,�Teil�1.�Berlin�1985,�S.�401�f.��

28�� Vgl.�Jean�Buridan:�Quaestiones�in�decem�libros�ethicorum�Aristotelis�ad�Nicomachum.�Oxford�1937,�V.�14.,�423�425;�zitiert�nach�Kaye,�Economy�and�Nature�S.�143.��

29�� Vgl.�S.�P.�Altmann:�Buridan(us),�Jean.�In:�Handwörterbuch�der�Staatswissenschaften.�4.�Aufl.�Dritter�Band.�Jena�1926,�127�f.��

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Gestalt eines Hundes, der zwischen zwei Broten zu wählen hat, und 1396/7 bei Blasius von Parma (zu dieser Zeit Professor der Artistenfakultät in Bologna), bei dem an die Stelle des Esels und zweier Heubündel ein Hund und zwei Fleischstücke treten30.

Die Quantifizierung von Qualitäten setzt eine Maßgröße voraus, nach deren Einheiten unterschiedliche Qualitäten abgestuft und addierbar aufgelistet wer-den können. Das Finden von addierbaren Qualitätsabstufungen verlangt erfah-rungswissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten mit reproduzierbaren Ergebnissen.

Ein erster Schritt zur Quantifizierung von Qualitäten besteht darin, innerhalb einer Qualität(sart) eine Spannweite zulässiger Qualitätsabweichungen (latitudo qualitum) zuzugestehen. Für die Ethik prägt Thomas von Aquin den Begriff der latitudo als Spanne, innerhalb derer qualitative Unterschiede noch als eine Qua-lität verstanden werden: Die Erfordernisse der Tugend seien erfüllt, wenn die Handlungen und Gedanken einer Person innerhalb dieser Tugend- oder Gerech-tigkeitsspanne liegen31.

Ob Thomas von Aquin den gerechten Preis als eine genau zu beziffernde Zahl versteht oder als Preisspanne, ist wegen sich widersprechender Zitate kaum zu entscheiden32; jedenfalls verwendet er den Begriff latitudo nicht für die Spanne, in der sich ein gerechter Preis bewege.

Spätere Scholastiker verstehen den gerechten Preis als Preisspanne33. Latitu-do als Bezeichnung für den zulässigen Abstand von einem Mittelpunkt des gerechten Preises benutzen erstmals Pierre Olivi, General des Franziskaner-Ordens und zeitweilig als Ketzer geltend (um 1248-1298), und der in Oxford, Paris und Köln lehrende Franziskaner Duns Scotus (um 1266-1308)34. Diese augenscheinlich praxisnahe Aufweichung gibt jedoch den anfänglichen Norm-gehalt des gerechten Preises teilweise auf, der als bewusstes soziales Aus-tauschverhältnis im Voraus fixiert sein sollte und nicht als Marktpreis im Sinne eines ungeplanten Ergebnisses eines machtfreien Handelns gedacht wird35. 30�� Vgl.�Maier:�Vorläufer�Galileis,�S.�249�f.,�297.��31�� Vgl.�Edith�Sylla:�Medieval�Concepts�of�the�Latitude�in�Forms:�The�Oxford�Calculators.�

In:� Archive� d’histoire� doctrinale� et� litéraire� du� moyen� age,� Vol.� 40� (1973),� S.� 223�283,�hier�S.�228.��

32�� Entgegen�Kaye:�Economy�and�Nature,�S.�99�f.,�vgl.�dessen�Zitate�S.�99�mit�denen�S.�95�f.��33�� Noch� Lessius� (1554�1623),� dem� Antwerpener� Finanzmarkt� aufgeschlossen� gegenüber�

stehender�Jesuit�betont,�dass�der�gerechte�Preis�zwischen�einem�Minimum�und�einem�Maximum�liege,�vgl.�Leonhardus�Lessius:�Liber�secundus�De�iustitia�et�jure,�et�virtutibus�annesis�institae,�vitisque�contrariis.�Lüttich�1605,�hier�zitiert�die�Ausgabe�von�Antwer�pen�1626,�XXI,�19.�

34�� Vgl.� Petrus� Johannis� Olivi:� Tractatus� de� emptionibus� et� venditionibus,� de� usuris,� de�restitutionibus,�hrsg.�von�G.�Todesschini.�Roma�1980,�S.�53;�John�Duns�Scotus:�Quaestio�nes� in� quattuor� libros� sententiarum� (Opus� Oxoniense),� hrsg.� von� L.� Wadding.� Paris�1894,�sent.�IV,�283b;�beide�zitiert�nach�Kaye,�Economy�and�Nature,�S.�126,�184,�249�f.��

35�� Vgl.�George�O’Brien:�An�Essay�on�Medieval�Economic�Teaching.�New�York�1967,�S.�117.��

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14 Dieter Schneider

Die Ungenauigkeitsspanne bei Beobachtungen und die Zuordnung, welche Qualitätsabweichungen noch in einer Qualitätsstufe liegen, bleiben im Bereich der begrifflichen Abgrenzungen und a priori-Setzungen. Demgegenüber führt eine Quantifizierung von Qualitäten durch den Gedanken: Eine größere Hitze wird durch eine längere latitudo abgebildet, d. h. gleiche Abstände in der Maß-größe latitudo stehen für gleiche Änderungen in der qualitativen Intensität36, eine Maßgröße ein, mit der qualitative (ordinal zu messende) Begriffe als quan-titative abgebildet werden können. Erst die Annahme addierbarer Qualitätsab-stufungen, wie sie für einen Teil ihres physikalischen Denkens die Oxford cal-culators voraussetzen, sichert logisch die Quantifizierung, während die Ungenauigkeitsspanne bei Beobachtungen und die Zuordnung, welche Quali-tätsabweichungen noch in einer Qualitätsstufe liegen, im Nominell-Begrifflichen oder qualitativ zu Ordnenden bleibt.

Die zweite methodische Neuerung durch das „Forschungsprogramm“ der Quantifizierung von Qualitäten besteht in einer Denkstiländerung für die Erklä-rung von Bewegungs- oder Erzeugungsprozessen. Grundlegend von Aristoteles abweichend, entwickeln verschiedene Scholastiker eine Theorie der Bewe-gungs-ursachen: die Impetustheorie, nach der eine gleichförmige Bewegung durch eine besondere „Kraft“, eben den Impetus, verursacht wird. Nicht körper-liche Dinge übertragen die Bewegung und Geschwindigkeit von einem Körper auf einen anderen, sondern eine unkörperliche „Kraft“ verleiht die Geschwin-digkeit, die der bewegende Körper dem zu bewegenden gleichsam einpflanzt. Damit ist noch keine Maßgröße gefunden, um Qualitätsänderungen (wie die Übertragung der Geschwindigkeit von einem Körper auf einen anderen) zu quantifizieren, sondern nur ein möglicher Erklärungsweg. Die klassische Me-chanik verwirft später diesen Erklärungsweg; „denn eine gleichförmige Bewe-gung bedarf zu ihrer Erhaltung keiner Kraft“37.

Wirtschaftswissenschaftlich bedeutsam ist, dass bereits vor der Entfaltung der Impetustheorie in der Physik sich eine, dieser Theorie ähnliche38 ökonomi-sche Anwendung in Olivis Ethik findet: Bei Bewegungs- oder Erzeugungspro-zessen entstehe eine Art Kraftübertragung, sowohl beim abgeschossenen Pfeil als auch bei Lebewesen39. Die vermittelnde Kraft nennt Olivi ratio seminalis,

36�� Vgl.�die�Zitate�aus�Dumbleton�bei�Kaye:�Economy�and�Nature,�S.�188.�37�� Maier:�Zwei�Grundprobleme,�S.�123.��38�� Maier:�Zwei�Grundprobleme,�S.�153,�behauptet,�daß�die�Auffassung�Olivis�„verschieden�

...�von�der�eigentlichen�Impetustheorie�ist“.��39�� Vgl.�Petrus�Johannis�Olivi:�Quaestiones�in�secundem�librum�Sententiarum,�quas�primum�

ad� fidem,�hrsg.�von�B.� Jansen.�Quaracchi�1922,�quaestio�31,�zitiert�nach�Michael�Wolff:�Mehrwert� und� Impetus� bei� Petrus� Johannis� Olivi.� Wissenschaftlicher� Paradigmen�wechsel�im�Kontext�gesellschaftlicher�Verände�rungen�im�späten�Mittelalter.�In:�Sozia�ler�Wandel�im�Mittelalter,�hrsg.�von�J.�Miethke�und�K.�Schreiner.�Sigmaringen�1994,�S.�413�423,�hier�S.�416�f.��

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und er spricht in seiner Ethik dem damals als unfruchtbar geltenden Geld eine seminales ratio lucrosi, also eine keim- oder samenartige Kraft der Vermehrung zu, wenn dem Geld Fleiß und Arbeit im Sinne einer gemeinnützigen Investiti-onsabsicht beigegeben wird40. Olivi rechtfertigt mit dieser Kopplung von Geld mit Fleiß (Einfallsreichtum), der auf Gemeinnützigkeit zielt, in der scholasti-schen Wucherzins-Ethik einen Grund für Zinszahlungen als eine Kompensation für entgangenen Gewinn (lucrum cessans). Olivi schafft damit eine Keimzelle für die spätere „Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege“ und schlägt eine Bresche gegen das Zinsverbot, bei dessen Weitergelten eine Kapitalmarkttheo-rie und eine Informationsfunktion des Jahresabschlusses sich erübrigt hätten41.

Zwei Denkmuster zur Quantifizierung von Qualitäten, die Spanne zulässiger Qualitätsabweichungen und die Lehre von einer unkörperlichen Kraft, die Be-wegung erzeugt, werden also ursprünglich in der Ethik angewandt, und diese schließt damals Ökonomik ein.

Im Laufe des 14. Jahrhunderts folgt auf die Denkstiländerung von der Punkt-Gerechtigkeit zur Spannen-Gerechtigkeit ein Wechsel in der mathemati-schen Methodik: An die Stelle der Arithmetik und Wortalgebra42 in Oxford tritt in Paris die Geometrie, nachdrücklich vollzogen durch Buridans Schüler Nico-las Oresme (1323-1382), der in der Geschichte der Geldtheorie meist Buridan unberechtigterweise vorgezogen wird43. Geometrie gilt im Unterschied zur Arithmetik nicht als „Entdeckungskunst“ neuer Tatsachen, sondern nur als „Beweiskunst“ für Einsichten in Längen-, Flächen-, Winkel- und Raumverhält-nisse. Die Anschaulichkeit der Geometrie legt nahe, bei vermuteten Naturge-setzmäßigkeiten Geometrie als Beweismittel einzusetzen. Aus dieser Sicht folgt ein gegenüber der Arithmetik anderer Erkenntnisanspruch: Mathematik wird nicht mehr der Wunsch beigelegt, ein Gewinnen sicherer neuer (punktgenauer)

40� Vgl.�Olivi:�Tractatus,�S.�85;�Wolff:�Mehrwert�und�Impetus,�S.�420�f.��� � Auf�Olivi�bauen�(ohne�ihn�zu�zitieren)�Bernhardino�von�Siena�(1380�1444)�und�der�zum�

Erzbischof�von�Florenz�aufsteigende�Dominikaner�Antonino�von�Florenz�(1389�1459)�auf,�vgl.�Odd�Langholm:�Economics�in�the�Medieval�Schools:�Wealth,�Exchange,�Value,�Mo�ney�&�Usury.�Leiden�1992,�S.�345.�Deshalb�überrascht�nicht,�bei�Bernhardino�wortgleiche�Aussagen�über�die�keimartige�Kraft�der�Vermehrung�zu�finden,�die�Geld�zu�(Investiti�ons�)Kapital� macht,� vgl.� die�Zitate�bei�Oswald�von�Nell�Breuning:�Grundzüge�der�Bör�senmoral�(1928).�Neudruck�Münster�u.a.�2002,�S.�113�f.��

41�� Wolff:� Mehrwert� und� Impetus,� S.� 423,� behauptet,� das� scholastische� Denken� zu� Bewe�gungs��und�Erzeugungsprozessen�sei�ein�Ursprung�der�Mehrwerttheorien,�die�„Stan�dardwerke� zur� Geschichte� ökonomischer� Theorien� nicht� bis� ins� 13.� Jahrhundert“� zu�rückführen.�Dies�tun�Standardwerke�zu�Recht,�da�nicht�jeder�Gewinn�aus�Kapital�dem�Marxschen�Mehrwert�unterzuordnen�ist.��

42 Wortalgebra verwendet Buchstaben für Größen, mit denen gerechnet wird, kennt aber noch keine Symbole für die Beziehungen zwischen diesen Größen, z.B. fehlt das Gleichheitszeichen; es muss durch einen Satz ausgedrückt werden, vgl. Maier: Vorläufer Galileis, S. 83.

43 Vgl. dazu Bernd Michel: Johannes Buridan , Teil 2. Berlin 1985, S. 895.

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16 Dieter Schneider

Erkenntnisse zu bieten. Vielmehr wird das Ideal einer absoluten Exaktheit auf-gegeben44.

Mathematik als Beweismittel ebnet drei Jahrhunderte später den Weg zur Deduktion aus Erfahrungssätzen, die für wahr gehalten werden. Diesen Er-kenntnisanspruch für quantitative Methoden erheben die Logik von Port Royale zur Zeit Descartes45 und noch später Hobbes, Locke und Hume. Teils über Ent-scheidungslogik, vor allem aber durch sklavische Anlehnung an die klassische Mechanik wandert Mathematik nach und nach in die noch heute gelehrte Wirt-schaftstheorie.

Die vor und in der Scholastik gängige Sichtweise, Mathematik als „Entde-ckungskunst“ neuer Tatsachen zu verstehen, ist der derzeitigen Wissenschafts-praxis in Mikroökonomie und Betriebswirtschaftslehre keineswegs fremd. An-hänger der Spieltheorie46 oder der „calibration“ von Steuerwirkungen auf Grundlage der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie47 benutzen zahlenmäßige Abbilder für lediglich Erdachtes als Erkenntnismethode, wobei sie ihr Erdachtes irrtümlich für Erklärungsmodelle halten. Zahlreiche Planungsmodelle als Able-ger von Gleichgewichtsmodellen werden nicht selten zugleich als Erklärungen für eine äußerst ungleichgewichtige Realität angesehen, etwa das Capital Asset Pricing Model für Börsenkurse oder die Berechnung eines Unternehmenswerts mittels Weighted Average Costs of Capital (WACC-Salbereien)48.

44 Vgl. Amos Funkenstein: Theology and the Scientific Imagination from the Middle Ages to the

Seventeenth Century. Princeton 1986, S. 309-315, hier S. 312-317. 45 Als Logik von Port Royale wird Antoine Arnauld, Pierre Nicole: La logique, ou l’Art de penser

(1662), Nachdruck hrsg. von P. Clair, F. Gibral. Paris 1965, bezeichnet. Vgl. dazu Ian Hacking: The Emergence of Probability. Cambridge u.a. 1975, S. 70.

46 Zur Kritik daran vgl. Dieter Schneider: Betriebswirtschaftslehre, Band 3: Theorie der Unter-nehmung. München-Wien 1997, S. 134-158.

47 Vgl. z. B. M. Rose, W. Wiegard: Zur optimalen Struktur öffentlicher Einnahmen unter Effizienz-und Distributionsaspekten. In: Zur optimalen Besteuerung, Schriften des Vereins für Socialpoli-tik, N. F., Bd. 128. Berlin 1983, S. 9-162; M. Rose, H.-D. Wenzel: Aufkommensneutrale Substi-tution von Einkommen- gegen Mehrwertsteuer – Eine Analyse der Beschäftigungs-, Output- und Infla-tionseffekte. In: Beiträge zur neueren Steuertheorie, hrsg. von D. Bös u.a. Berlin usw.1984, S. 162-188.

48 Kritisch dazu Dieter Schneider: Marktwertorientierte Unternehmensrechnung: Pegasus mit Klumpfuß. In: Der Betrieb, Jg. 51 (1998), S. 1473-1478; ders.: Substanzerhaltung bei Preisregu-lierungen: Ermittlung der „Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung“ durch Wiederbe-schaffungs-abschreibungen und WACC-Salbereien mit Steuern? In: Neuere Ansätze der Be-triebswirtschaftslehre – in memoriam Karl Hax, Sonderheft 47 der zfbf 2001, S. 37-59, bes. ab S. 45.

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Missbrauch mathematischer Methoden durch Messwut, Qualitäten als Quantitäten abzubilden 17

4 Missbrauch von Mathematik durch Nichtbeachten einfacherwissenschaftstheoretischer Einsichten über Messbarkeitsstufen

In der Wissenschaftstheorie, wie sie schmalspurig in die heutige betriebswirt-schaftliche Lehre noch eingeht, spielen Messprobleme eine vernachlässigte Rolle, vergleichbar etwa in der Betriebswirtschaftslehre mit der Unbeflissenheit gegenüber der eigenen Wissenschaftsgeschichte.

Im Vorstehenden wurde ein in der heutigen Praxis und Lehre strittiges The-mas, die Prognosekraft des Jahresabschlusses (dessen sog. Informationsfunkti-on) einem weithin unbekannten Kapitel aus der scholastischen Ethik und Natur-philosophie gegenübergestellt (Qualitäten im Sinne objektiv verstandene Nutzenmerkmale als Quantitäten zu messen). Belegt werden sollte dadurch eine Form des Missbrauchs mathematischer Methoden, die auf Nichtbeachtung ein-facher wissenschafts-theoretischer Einsichten über Messbarkeitsstufen zurück-zuführen ist.

Während der Übermut der Oxford calculators und ihrer Nachfolger an der Pariser Universität, alles mögliche über logische Rätsel für quantitativ messbar zu halten, bei dem damaligen Stand der Wissenschafts- bzw. Erkenntnistheorie verständlich, ja in den Beispielen teilweise amüsant erscheint, dürfte ein solches nachsichtiges Urteil gegenüber der heutigen Messwut zur Quantifizierung von Qualitäten über die vermeintliche Informationsfunktion des Jahresabschlusses nicht berechtigt sein. Prognosekraft kann aus der arithmetischen Umformung von quantitativ Gemessenem gemeinsam mit Zahlenangaben in €, die allenfalls als Rangordnungen oder Auflistungen Sinn ergeben, und erst recht nicht von vorgetäuschten Messungen durch Fiktionen erwartet werden.

Modelle, die faire Wetten unterstellen müssen, um beobachtete Preise als „innere Werte“ von Finanztiteln zu deuten, erzwingen zwar, vergleichbar dem Bernoulli-Prinzip in der Entscheidungslogik, nach Gewährleisten der Prämissen tautologisch einen quantitativen Begriff. Aber diese Modelle lösen nicht das Problem, beobachtete Preise für Finanztitel als bestmögliche Schätzung eines „inneren Wertes“ anzusehen, weil die Gleichsetzung eines beobachteten Preises mit dem Preis einer fairen Wette genau die Merkmale ungleicher Wissensvertei-lung wegdefiniert: Marktteilnehmer verfügen nicht über das gleiche Wissen und Können, werten Nachrichten keineswegs in gleicher Weise aus, besitzen unter-schiedliche Zeit- und Unsicherheitspräferenzen. Anders gewendet: Bisher sind es die mathematischen Existenzbedingungen für ein Gleichgewicht in einem Modell eines vollkommenen und vollständigen Marktes, die in anderer Um-schreibung dazu dienen, Qualitäten als Quantitäten abzubilden.

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