3
Altersepilepsie Antiepileptika Antikonvulsiva Retentionsrate/ Abbruchrate Nebenwirkungen Compliance KEYWORDS E pilepsien erfordern in jedem Lebensalter meist eine dauerhafte antikonvulsive Therapie. Diese kann gerade bei älteren Patienten spezielle Probleme mit sich bringen, denn nicht nur physio- logische Veränderungen im Alter, auch die bei älte- ren Patienten häufige Polymedikation erschweren die Behandlung. So ändert sich im Verlauf des Älterwerdens die Aufnahmefähigkeit des Magen-Darm-Kanals für die antiepileptische Medikation. Außerdem ist die Pro- teinsynthese reduziert und die Ausscheidung von Substanzen über die Niere (renale Ausscheidung) ebenfalls vermindert. Ältere Patienten können daher eine höhere, nicht gebundene Serumkonzentration von Antiepileptika aufweisen als aufgrund der totalen Serumkonzentration vermutet [1,2]. Daher müssen bei unklaren Intoxikationen auch nicht an Eiweiß gebundene Antiepileptika-Fraktionen gemessen wer- den. Des Weiteren ist häufig die pharmakodyna- mische Rezeptorempfindlichkeit für Antiepileptika erhöht, so dass häufiger Nebenwirkungen auftreten. Diese Besonderheiten im Vergleich zu jüngeren Pa- tienten haben auch Konsequenzen für die Behand- lung: So sollte bei der Einstellung des Patienten auf seine antiepileptische Medikation mit niedrigeren Dosierungen von Antikonvulsiva begonnen und auch die Dosiserhöhung langsam durchgeführt werden. Denn ältere Patienten können unter Umständen ihre Nebenwirkungen nicht so gut berichten wie jüngere Patienten und das Nebenwirkungsrisiko für Medika- mente ist erhöht [3]. Bezüglich des Antiepileptika-Einsatzes bei Alters- epilepsien existieren nur relativ wenige kontrollierte Studien. Im Hinblick auf die Valproinsäure-Therapie werden 30–40 % niedrigere Dosen als bei jüngeren Patienten empfohlen [4,5,6,7]. Im Vergleich zu Car- bamazepin Standardtabletten hatte Lamotrigin we- niger Nebenwirkungen und eine höhere Beibehal- © Klaus Rose DOI: 10.1007/s00058-013-1086-0 Altersepilepsie Anfallsfrei leben – sicher leben Epilepsien stellen nach Schlaganfällen und demenziellen Erkrankungen die dritthäu- figste neurologische Erkrankung im Alter dar. Neuerkrankungen treten heute bei älteren Menschen öfter auf als bei Kindern und Jugendlichen: Jede vierte neu diagnostizierte Epilepsie betrifft Menschen jenseits des 60. Lebensjahrs. Mit dem veränderten Patienten- spektrum gehen auch Besonderheiten in Therapie und Pflege einher. 59 Heilberufe / Das Pflegemagazin 2013; 65 (10)

Anfallsfrei leben — sicher leben

  • Upload
    hermann

  • View
    216

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Anfallsfrei leben — sicher leben

AltersepilepsieAntiepileptikaAntikonvulsivaRetentionsrate/AbbruchrateNebenwirkungenCompliance

KEYWORDSEpilepsien erfordern in jedem Lebensalter meist eine dauerhafte antikonvulsive Therapie. Diese kann gerade bei älteren Patienten spezielle

Probleme mit sich bringen, denn nicht nur physio-logische Veränderungen im Alter, auch die bei älte-ren Patienten häufige Polymedikation erschweren die Behandlung.

So ändert sich im Verlauf des Älterwerdens die Aufnahmefähigkeit des Magen-Darm-Kanals für die antiepileptische Medikation. Außerdem ist die Pro-teinsynthese reduziert und die Ausscheidung von Substanzen über die Niere (renale Ausscheidung) ebenfalls vermindert. Ältere Patienten können daher eine höhere, nicht gebundene Serumkonzentration von Antiepileptika aufweisen als aufgrund der totalen Serumkonzentration vermutet [1,2]. Daher müssen bei unklaren Intoxikationen auch nicht an Eiweiß gebundene Antiepileptika-Fraktionen gemessen wer-den. Des Weiteren ist häufig die pharmakodyna-

mische Rezeptorempfindlichkeit für Antiepileptika erhöht, so dass häufiger Nebenwirkungen auftreten. Diese Besonderheiten im Vergleich zu jüngeren Pa-tienten haben auch Konsequenzen für die Behand-lung: So sollte bei der Einstellung des Patienten auf seine antiepileptische Medikation mit niedrigeren Dosierungen von Antikonvulsiva begonnen und auch die Dosiserhöhung langsam durchgeführt werden. Denn ältere Patienten können unter Umständen ihre Nebenwirkungen nicht so gut berichten wie jüngere Patienten und das Nebenwirkungsrisiko für Medika-mente ist erhöht [3].

Bezüglich des Antiepileptika-Einsatzes bei Alters-epilepsien existieren nur relativ wenige kontrollierte Studien. Im Hinblick auf die Valproinsäure-Therapie werden 30–40 % niedrigere Dosen als bei jüngeren Patienten empfohlen [4,5,6,7]. Im Vergleich zu Car-bamazepin Standardtabletten hatte Lamotrigin we-niger Nebenwirkungen und eine höhere Beibehal-©

Kla

us R

ose

DO

I: 10

.100

7/s0

0058

-013

-108

6-0

Altersepilepsie

Anfallsfrei leben – sicher leben

Epilepsien stellen nach Schlaganfällen und demenziellen Erkrankungen die dritthäu-figste neurologische Erkrankung im Alter dar. Neuerkrankungen treten heute bei älteren Menschen öfter auf als bei Kindern und Jugendlichen: Jede vierte neu diagnostizierte Epilepsie betrifft Menschen jenseits des 60. Lebensjahrs. Mit dem veränderten Patienten-spektrum gehen auch Besonderheiten in Therapie und Pflege einher.

59Heilberufe / Das P� egemagazin 2013; 65 (10)

Page 2: Anfallsfrei leben — sicher leben

▶ Immer öfter treten Epilepsien heute erstmalig im Alter auf. Die Zahl der Neuerkrankungen ist mittlerweile höher als bei Kindern und Jugendlichen. Aufgrund von Begleiterkrankung und physiologischen Veränderungen müssen bei älteren Epileptikern verschiedene Therapiebesonderheiten berücksichtigt werden.

▶ Wichtig ist ein möglichst einfaches Behandlungsregime, das sich auch von alten Menschen mit kognitiven Einschränkungen umsetzen lässt.

▶ Häufig gestaltet sich die regelmäßige Antiepileptika-Einnahme bei alten Menschen schwierig. Daher sind therapieunterstützende Maßnahmen von Pflegekräften umso wichtiger. Dazu zählen Beratung, Erinnerungshilfen oder das Führen eines Anfallstagebuchs.

FA Z IT FÜ R D I E PFLEG E

Ein Drittel der Patienten mit

Altersepilepsie weist eine

Polytherapie auf. Interaktionen sind hier

daher gehäuft zu finden.

tensrate (Retentionsrate). Carbamezepin retard-Me-dikationen wiesen weniger Nebenwirkungen und eine bessere Beibehaltensrate als nicht retardierte Carba-mazepin-Tabletten auf [8]. Im Verlauf der Lamotri-gin-Behandlung wurden 52 % der Patienten anfalls-frei, unter Carbamazepin retard 57 % in den letzten 20 Behandlungswochen. Ein Behandlungsabbruch aufgrund von Nebenwirkungen erfolgte bei Lamo-trigin-Behandlung in 14 % und bei Carbamazepin retard-Behandlung in 25 % der Fälle. Die Retentions-rate von Lamotrigin betrug 73 % und unter Carba-mezepin retard-Behandlung 67 % [9].

Im Rahmen eines Expertenratings Deutsch-Öster-reichisch-Schweizer Neurologen wurden 2007 auch Empfehlungen zur Behandlung von Altersepilepsien ausgesprochen: Demnach gelten Levetiracetam, La-motrigin und Gabapentin als Medikamente der ersten Wahl, gefolgt von Topiramat und Valproat. Oxcarba-zepin und Carbamazepin wurden bei Altersepilepsien weniger empfohlen, da hier in verstärktem Maße Hyponatriämien auftreten können sowie Reizlei-tungsstörungen des Herzens [10].

Valproat wird vor allem bei generalisierten Epilep-sien angewandt. Hierbei muss jedoch auch auf die Entwicklung einer Enzephalopathie, Tremor oder Nebenwirkungen durch Interaktion mit Antikoagu-lantien geachtet werden. Bei Anwendung von Gaba-pentin oder Pregabalin ist vor allem die Nierenfunk-tion zu berücksichtigen. Ist diese eingeschränkt, müssen diese renal auszuscheidenden Substanzen besonders vorsichtig und reduziert dosiert werden. In Anbetracht der gehäuft auftretenden Osteoporo-sen, Herzerkrankungen und Antikoagulations-Ko-medikation ist bei erhöhter Sturzgefahr, z.B. bei einem tonisch-klonischen Anfall, bereits u.U. nach einem Anfall die Indikation zur antikonvulsiven Einstellung gegeben [11,12]. Bei Komedikation mit Antidepres-siva, Antipsychotika, Kalziumkanalblockern, Gerin-nungshemmern sollte die Serumkonzentration der angewendeten Antiepileptika kontrolliert werden. Sedierende Substanzen wie Phenobarbital, welches

zudem stark mit anderen Medikamenten interagiert, sollten vermieden werden. Es gibt Hinweise dafür, dass Frakturen gehäuft unter Phenobarbital-Medi-kation auftreten.

Ein Drittel der Patienten mit Altersepilepsien wei-sen eine Polytherapie, manchmal von zehn Substan-zen auf. Hierbei sind natürlich Interaktionen, Sedie-rung und Nebenwirkungen gehäuft zu finden. Gang-störungen treten besonders unter Phenobarbital-, Phenytoin- und Carbamazepin-Behandlung auf. Auch bei Kombinationen mit trizyklischen Antide-pressiva, Benzodiazepinen und anderen sedierenden Substanzen werden gehäuft Stürze und Verletzungen beobachtet. Weiterhin können sich die kognitiven Funktionen der Patienten verschlechtern [13,14,15].

Therapie – möglichst einfachBei vielen Patienten mit Altersepilepsien ist eine Mo-notherapie erfolgreich. Eine möglichst einfache Ver-abreichung der Medikation pro Tag hilft bei der Überwachung der regelmäßigen Tabletten-Einnahme. Als einfaches Therapieregime kann bei vielen älteren Patienten eine Valproat-Therapie als abendliche Ein-malgabe und Lamotrigin als morgendliche Einmal-gabe erfolgreich eingesetzt werden. Die Einnahme-treue ist gerade bei Epilepsien für den Erfolg der Langzeitbehandlung von großer Bedeutung. Beson-dere Schwierigkeiten im Hinblick auf eine regelmä-

Epilepsien im höheren Lebensalter

▶ Definition: Im engeren Sinne handelt es sich um Epilepsien, die sich nach dem 60. oder 65. Lebensjahr manifestieren. Im weiteren Sinne sind es auch Epilepsien, die in jüngerem Alter erstmals aufgetreten sind, aber bis ins höhere Lebensalter fortbestehen. Bei 50–70 % der Epilepsien im höheren Lebensalter handelt es sich um eine Erstmanifestation.

▶ Ursachen: Altersepilepsien entwickeln sich häufig in Folge eines durchlebten Schlagan-falls, aufgrund von Hirntumoren oder neuro-degenerativen Erkrankungen. Vielfach lässt sich aber auch keine Ursache feststellen.

▶ Anfallsformen: Da häufig eine organische Ur-sache für das Anfallsleiden vorliegt („sympto-matische Epilepsie“), handelt es sich bei Erst-manifestationen meist um (komplex)-fokale Anfälle, aus denen sich aber sekundär auch ge-neralisierte Anfälle entwickeln können.

▶ Achtung: Verwirrtheitszustände bei alten Menschen können auch von einem nichtkon-vulsiven Status epilepticus herrühren. (Quelle: Dt. Gesellschaft für Epileptologie e.V.)

60

PflegeKolleg Epilepsie

Heilberufe / Das P�egemagazin 2013; 65 (10)

Page 3: Anfallsfrei leben — sicher leben

ßige Medikamenteneinnahme ergeben sich bei älteren Patienten mit kognitiven Störungen, Sehproblemen oder Problemen mit der Feinmotorik, also beispiels-weise Schwierigkeiten Medikamentenpackungen zu öffnen.

Die Medikation sollte mit ausreichend Flüssigkeit oral verabreicht werden (z.B. 250 ml Wasser). Auf Schluckprobleme muss besonders geachtet werden . Schluckstörungen treten bei älteren Patienten in cir-ca 11 % auf und können neben Begleitsymptomen einer neurologischen Erkrankung auch durch die Einnahme von Psychopharmaka (trockener Mund) zustande kommen. Im Falle von Schluckstörungen können Minitabletten hilfreich sein. Diese sind nicht nur leichter zu schlucken (z.B. aufgelöst in Wasser), sondern haben auch eine ungestörtere Pyloruspassa-ge, so dass ein Dumping Syndrom vermieden werden kann.

Ältere Epileptiker betreuenBei der Betreuung von Patienten mit Altersepilepsien ist das Führen eines Anfallskalenders unerlässlich. Wichtig sind Eintragungen zum Anfallstyp sowie zum zeitlichen Auftreten am Tag. Außerdem sollte – falls vorhanden – ein Familienmitglied zum Anfallsablauf und den Umständen des Auftretens befragt werden. Gab es bestimmte Auslösefaktoren? Anschließend sollten die Patienten gefragt werden, welcher Einnah-memodus für sie am leichtesten durchzuhalten ist. Weiterhin sollte über Erinnerungshilfen zur regel-mäßigen Medikamenteneinnahme gesprochen wer-den. Das können Dosierungsbehälter sein, SMS, Klingeltöne o.ä.

Nur zwei Drittel der Patienten mit Altersepilepsien erhalten eine hinreichende und gut verständliche Information im Hinblick auf die erforderliche Ein-nahmetreue. Daher ist es wichtig, sie auf die Zeit außerhalb des Krankenhauses mit den notwendigen täglichen Aktivitäten vorzubereiten und eine feste Anbindung an eine ambulante Versorgung zu ge-währleisten. Reduzierte Mobilität, weite Entfernung zum nächsten ambulanten Arzt oder zur Apotheke müssen im Hinblick auf ein Altersepilepsie-Patien-tenmanagement erkannt und frühzeitig im Behand-lungsplan berücksichtigt werden. Daher sind Ver-wandte, Hausarzt, Neurologe und speziell trainierte Pflegekräfte in das Behandlungsnetzwerk einzube-ziehen [16,17].

Interview

Fortbildung notwendig

HEILBERUFE: Herr Prof. Stefan, immer häu�ger begegnen P�egekrä�e Patienten mit einer Altersepilepsie. Sind sie ausreichend darauf vorbereitet?Stefan: Eher nicht, P�egende in Krankenhäusern oder P�egeeinrichtungen sollten vermehrt mit den Besonderheiten von Patienten mit Altersepi-lepsien vertraut gemacht werden. Dies betri�t nicht nur das Erkennen der Anfälle, beispielsweise in Form des nicht konvulsiven Sta tus, sondern auch Durchführung und Überwachung der Therapie. Was zeichnet denn Anfälle im Alter aus?Stefan: Epileptische Anfälle laufen bei alten Men-schen eher als �uktuierende Bewusstseinsstörung ab – mit oder ohne Automatismen. Die sekundäre Generalisation zu tonisch-klonischen – also den „typischen“ epileptischen Anfällen – fehlt häu�g. Zudem bestehen nach Anfällen häu�g länger anhaltende kognitive De�zite, die sich als Ge-dächtnisstörung, Sprachstörungen oder auch in Form von Stimmungsschwankungen äußern.

Und wie können P�egende dann erkennen, dass es sich um einen Anfall handelt?Stefan: Das ist nicht einfach. Aber bei jeder unkla-ren Verwirrtheit, die nicht auf Exsikkose, Hypogly-kämie, Elektrolytstörung oder Intoxikation zurückzuführen ist, sollten P�egekräfte hellhörig werden und den Arzt verständigen. In diesen Fällen ist eine EEG-Ableitung angezeigt. Damit ist eine epileptiforme Aktivität nachweisbar, auch wenn sich das Anfallsgeschehen nicht zuordnen lässt.

Was empfehlen Sie P�egeeinrichtungen? Stefan: Zunächst sollten sie in ihren Fortbildun-gen Altersepilepsien einschließen. Hierzu gehören auch Video-Demonstrationen von epi-leptischen und nicht epileptischen Anfällen, die Dokumentation von Anfallskalendern, die einfach handbare Einnahme von Antiepileptika sowie sozialmedizinische Aspekte. Patienten mit Sturz-anfällen benötigen einen Sturzhelm. Zudem sollte ein Patient mit epileptischen Anfällen ohne entsprechende Überwachung nicht im Einzelzim-mer untergebracht werden.Das Interview führte Nicoletta Eckardt

Prof. Dr. Hermann StefanUniversitätsklinikum ErlangenNeurologische Klinik Biomagnetismus – MEGSchwabachanlage 10, 91054 [email protected] beim Verfasser

61Heilberufe / Das P�egemagazin 2013; 65 (10)