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Anna Benedek, Elisabeth Luif, Georg Luif

Anna Benedek, Elisabeth Luif, Georg Luif - 70er Haus · Anna Benedek, Elisabeth Luif, Georg Luif. 2 Familie Unger: Mutter und Vater Unger in der Mitte, Maria Unger rechts Familie

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Anna Benedek, Elisabeth Luif, Georg Luif

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Familie Unger: Mutter und Vater Unger in der Mitte, Maria Unger rechts

Familie Berczeller (von links): Bruder Arpad, Mutter Sidonie, Vater Adolf, Richard um 1908 in Ödenburg

Familie Berczeller 1936 (von links): Robert Breuer, Maria, Sohn Peter, Richard, Zahnarzt Dr.Gieskann

Richard Berczeller 1970 mit seinen Enkelkindern John und Paul

Familienbilder

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Dr.Richard Berczeller1902 Richard Berczeller wird am 4. Feber 1902 in

Ödenburg (Sopron) geboren. Sein Vater Adolf Berczeller ist in Ungarn ein führender Sozialde-mokrat und Gewerkschaft er.

1919 Matura in Ödenburg, Obmann der „Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler in Westungarn“. 1919 kurzzeitig in Haft . Flucht der Familie nach Baden bei Wien, als das Horthy Regime die Macht in Ungarn übernimmt. Danach siedelt sich die Familie in Sauerbrunn an.

1920 – 1926 Studium der Medizin in Wien. Er wird Mitglied des Verbandes der sozialdemokratischen Studenten und Akademiker“ (aus dem 1925 der „Verband Sozialistischer Studenten Österreichs“ hervorgeht) und der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ (SDAP).

1922 Während des Studiums Ausfl ug in die Schau-spielerei. Richard Berczeller wird von der Sascha Filmgesellschaft zunächst als Statist engagiert, spielt dann die Figur des Lot im Film „Sodom und Gomorrha“ - ein Monumentalwerk von Mi-chael Kertesz (später berühmt als Michael Curtis mit dem Film „Casablanca“).

1926 Abschluss seines Medizinstudiums am 25.Juni

1926 Erkrankung an Tuberkulose und Kuraufenthalt in Grimmenstein

1927 – 1930 Klinische Ausbildung im Krankenhaus der Stadt Wien ab Mai 1927. Er wird Personalreferent der Ärzte.

1929 – 1938 Antritt einer Arztstelle in Mattersburg im Dezember 1929. Bildungsreferent der „Sozialde-mokratischen Arbeiterpartei“ (SDAP) des Bur-genlandes und medizinischer Beauft ragter des Burgenländischen Republikanischen Schutzbun-des.

1930 Heirat mit Maria (Mutzi) Frances Unger am 27. April 1930 im Seitenstetten-Tempel in Wien

1931 Geburt des Sohnes Peter Hanns am 11. August.

1934 Niederlage der Arbeiterbewegung in den Febru-arkämpfen. Richard Berczeller wird Mitglied der burgenländischen Landesleitung der illegalen „Revolutionären Sozialisten“ und verantwort-lich für die „Sozialistische Arbeiterhilfe“. Er wird mehrfach verhaft et. Der wird der Krankenkas-senvertrag wird ihm entzogen.

1938 Verhaft ung in Mattersburg, Gestapo-Haft und Vertreibung. Er muss sich verpfl ichten, innerhalb von 14 Tagen auszureisen. Zunächst fi ndet er Un-terschlupf bei der Familie seiner Frau in Wien. Über Vermittlung einer Tante, die bei Sigmund Freud als Privatsekretärin arbeitet, erhält die Fa-milie über die Pariser Freud-Schülerin Prinzessin Marie Bonaparte ein französisches Visum.

1938 Richard Berczeller fl üchtet im Mai 1938 nach Paris. Seine Frau und sein Sohn treff en am 1. Juli 1938 in Paris ein. Er arbeitet gelegentlich und ohne Arbeitsgenehmigung eine Zeit lang in einem Bordell zur ärztlichen Betreuung. Er gehört dem Kreis um die von Josef Buttinger geleitete Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES) an.

Maria Unger

Promotionsurkunde 1926

Herbst 1932 Mutter Maria mit ihrem Sohn Peter in Mattersburg

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Leben in Mattersburg im Fotoalbum

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1938 Noch im selben Jahr nimmt er eine Stelle als „Arzthelfer“ im französischen Kolonialdienst an der Elfenbeinküste an.

Dr.Richard Berczeller mit Dr.Gieskann in Paris 1938

1939 Nach Verdacht auf neuerlicher Erkrankung an Tu-berkulose kehrt die Familie nach Paris zurück. Er wird Mitglied der „Féderation des Emigrés pro-venant de l’Autriche“.

1939 Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird Ri-chard Berczeller als „feindlicher Ausländer“ am 4. September verhaft et und zunächst im Stadion von Colombes nahe von Paris und dann im Lager Montargis und Bruder Paul in Meslay du Maine interniert. Er wird entlassen, als Zeichen einer neuerlichen Tuberkuloseerkrankung auft reten.

1940 Die Deutsche Wehrmacht marschiert am 14. Juni in Paris ein. Kurz davor gelingt Richard Berczel-ler die Flucht mit dem Zug in die südfranzösische Stadt Montauban, wo auch die AVÖS damals ih-

Zwischenstopp in Dakar auf der Reise nach Abidjan, Elfenbeinküste

Auf dem Schiff in Richtung Elfenbeinküste 1938 Peter auf seinem Fahrrad in Montauban 1940

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ren Sitz hatte. Er arbeitet unter der Vichy Regie-rung halb legal als Arzt. Er erhält ein amerikani-sches Notvisum.

1941 Im Juli kann sich die Familie in Marseille auf das Schiff Wyoming in Richtung USA einschiff en. Das französische Schiff wird aber von den Allier-ten in Casablanca aufgebracht. Die Familie wird im marokkanischen Fremdenlegionslager Sidi el Ajachi interniert.

Familie Berczeller (von links Peter, Richard, Mutter Sidonie und Vater Adolf im Frühjahr 1941 in Montauban

1941 Durch Intervention der „Hebrew Immigrant Aid Society“ (HIAS) gelingt am 1. August 1941 die Weiterreise nach New York auf dem Schiff Nyassa.

1941 Nach der Ankunft in den USA am 9. August ist die wirtschaft liche Situation prekär: Die Familie wohnt in New York auf der Upper West Side.

Schlafstätten auf Stroh im Lager von Sidi el Ajachi

Marokkanische Hilfstruppen bewachen das Lager

Richard Berczeller mit Sohn Peter auf dem Schiff Nyassa

Eine Gruppe von Flüchtlingen aus einem anderen marokkanischen Lager Oud-Zem auf dem Schiff Nyassa

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Arzthelfer in der französi-schen Kolonie Elfenbeinküste in Abidjan 1938/1939

Internierung im Stadion Colombes, Paris Sept. 1939

Flucht Mai 1938 nach Paris

Internierung im Lager Montargis vom 14.11.1939 bis 10.2.1940

Flucht nach Mon-tauban Juni 1940

Rückkehr Juli 1939 aus Abidjan

Ankunft in Casab-lanca Juli 1941

Ankunft in New York am 9.August 1941

Internierung im La-ger Sidi-el-Ajachi bei Azzemour

Notvisum und Schiff zur Ausreise Juni 1941 in Marseille

Abfahrt von Casab-lanca nach New York am 1.August 1941

Flucht und Vertreibung der Familie Berczeller

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Richard Berczeller wird 1902 in Sopron geboren

Flucht 1920 vor dem Horthy Regime nach Wr.Neustadt und Baden

Medizinstudium in Wien von 1920-1926

Arzt in Mattersburg 1929-1938

Vertreibung 1938 nach Wien

Nach Angliederung des Burgenlandes an Österreich Wohnsitz in Sauerbrunn

Richard Berczeller schlägt sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durch. Seine Frau arbeitet in einer Fabrik. Er lernt mühsam Englisch und

muss ein staatliches Examen ablegen, um seinen Arztberuf ausüben zu dürfen. 1944 Er eröff net eine Privatpraxis als Ar-menarzt in der Lower East Side. Gleich-zeitig wird er Schularzt und macht Dienst

am Beth Israel Hospital. Er beteiligt sich an Pilotversuchen zur Schaff ung eines allgemeinen Krankenversiche-

rungssystems. Mitglied des „Associated Relief Committees“.

1946 Richard Berczeller wird zur Rückkehr ins Bur-genland eingeladen. Man bietet ihm eine leiten-de Stelle im Gesundheitswesen an. Er lehnt aus familiären Gründen ab, hält aber regen Kontakt zu seinen Freunden in Österreich und kommt oft auf Besuch.

1955 In den 1950er Jahren veröff entlicht er Artikel in der Zeitung „Burgenländische Freiheit“ und in der Emigrantenzeitschrift „Aufb au“, die in der USA herausgegeben wird. Später auch in der Wiener Arbeiter-Zeitung und im sozialistischen Magazin Zukunft .

1960 Richard Berczeller widmet sich zunehmend der Schrift stellerei, beginnend mit Veröff entlichungen von Kurzgeschichten in Th e New Yorker.

1976 Er wird Chairman der 1946 in New York als Nachfolgeorganisation des „Austrian Labor Committes“ gegründeten „American Friends of Austrian Labor“, die die Zeitschrift „Th e Austrian Republic“ herausgibt.

1978 Dr.Berczeller erhält am 7. November 1978 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.

1984 Bundeskanzler Sinowatz überreicht Richard Ber-czeller am 19. September 1984 die Victor Adler Plakette.

1994 Am 3. Jänner stirbt Richard Berczeller in New York.

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Richard Berczeller eine sozialistische Perspektive auf die

österreichische ZeitgeschichteRichard Berczeller ist Zeit seines Lebens überzeugter Sozialdemokrat. Bereits in der Mittelschulzeit in Ödenburg betätigt er sich politisch, wie auch im Österreich der Zwischenkriegszeit. Als die Sozialdemokratie während des Austrofaschismus in die Illegalität gezwungen wird, setzt er seine Tätigkeit im Untergrund fort. Nach der Vertreibung durch die Nazis im Jahr 1938 unterhält er weiterhin enge Kontakte zur sozialdemokratischen, österreichischen Emigration. Richard Berczeller kann sich mit seiner Familie eine neue Existenz in New York aufbauen. Er bleibt Österreich, dem Burgenland und der Sozialdemokratie aber immer eng verbunden, verfolgt aufmerksam die österreichische Politik und kommentiert diese in Büchern und Artikeln.

„Als Zaungast der Politik“ Die Zwischenkriegszeit aus der

RetrospektiveAb den 1960er Jahren schreibt Richard Berczeller literarische Geschichten, aber auch politische Artikel für die ‚Arbeiter-Zeitung‘ und die ‚Burgenländische Freiheit‘. Später verfasst er gemeinsam mit Norbert Leser, dem Neffen des wichtigen burgenländischen Sozialdemokraten der Zwischenkriegszeit Ludwig Leser, zwei Bücher. In diesen beschreiben sie die österreichische und burgenländische Politik und die Entwicklung der Sozialdemokratie als Zeitzeugen und Beobachter.

1975 erscheint „...mit Österreich verbunden. Burgenlandschicksal 1918-1945“, mit einem Vorwort von Fred Sinowatz. Das Buch handelt von burgenländischer Geschichte bis 1945 und befasst sich detailliert mit verschiedenen Institutionen und Gruppen – der Kirche, den politischen Parteien, Gewerkschaften, wichtigen Personen wie Ludwig Leser, Ernst Hoffenreich oder Ignaz Till. Auch die ‚burgenländischen Besonderheiten‘ als kulturell und ethnisch heterogenes Gebiet sind ein Thema. Außerdem schreibt Richard Berczeller über seine Erlebnisse als Burgenländer in der Emigration.

1977 erscheint „Als Zaungäste der Politik. Österreichische Zeitgeschichte in Konfrontationen“ die retrospektivisch die Politik der Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit beleuchtet – aus einer kritisch-solidarischen Perspektive. Richard Berczeller schildert seine Erlebnisse mit wichtigen sozialdemokratischen Politikern, wie Otto Bauer, Karl Renner, Friedrich Adler oder Julius Deutsch.

Er steht auch in Kontakt mit österreichischen Politikern,

vor allem der Sozialdemokratie, aber auch der ÖVP. Hervorzuheben ist seine persönliche und politische Freundschaft mit Fred Sinowatz. In regelmäßigem (Brief-)kontakt kommentieren und diskutieren sie burgenländische, österreichische und internationale Politik.

Ödenburg: Kindheit und Jugend in einer sozialistischen FamilieRichard Berczeller wächst Anfang des 20.Jahrhunderts in Ödenburg/Sopron auf. Das Gebiet gehört damals zum ungarischen Teil der Monarchie, die westlichen Komitate Pressburg, Ödenburg und Wieselburg sind allerdings mehrheitlich deutschsprachig. Die Region ist zu dieser Zeit in einer sozialen Umbruchsituation: Agrarkrisen und die Bauernbefreiung von 1848 führen zu zunehmender Landflucht. Viele Menschen migrieren in die USA oder gehen als Wanderarbeiter in Städte wie Wien, wo im Industrie- und Bausektor zunehmend Arbeitskräfte gebraucht werden. Frauen und Kinder bleiben meist in den Dörfern und bewirtschaften Klein- und Kleinstlandwirtschaften, der Großteil des Landes ist im Besitz des Adels.

Wie im übrigen Teil der Monarchie entsteht auch in Westungarn ab den 1870er Jahren die Arbeiter*innenbewegung. Die wichtigsten Zentren sind Preßburg und Ödenburg, aber auch am Land werden sozialistische Ideen, vor allem durch die am Wochenende heimkehrenden Wanderarbeiter, verbreitet. Die dortige politische Stoßrichtung wendet sich neben sozialen Forderungen auch gegen die Magyarisierungsbestrebungen des ungarischen Staats, die die mehrheitlich deutschsprachigen Arbeiter*innen benachteiligen. 1890 gibt es den ersten Streik in Neufeld, damals ein Industrieort, wo kleine Verbesserungen erreicht werde können.

Richard Berczeller kommt schon von klein auf mit sozialistischen Ideen in Berührung. Sein Vater Adolf ist ein wichtiger westungarischer sozialdemokratischer Politiker. Er stammt aus einer bürgerlichen Familie im Komitat Nográd (heutige Slowakei), wird in Budapest Sozialist und nach Ödenburg geschickt, um die Gewerkschaftsbewegung aufzubauen. Dort ist er 1892 an der Gründung des Arbeiterbildungsvereins sowie der Krankenkasse beteiligt, dessen Direktor er wird. Bereits 1911, zur Zeit der Károlyi-Regierung, ist er für die sozialdemokratische Partei im Ödenburger Stadtrat vertreten. Auch an der Räteregierung ist er führend beteiligt. Richard Berczeller begleitet seinen Vater öfter zu politischen Treffen und betätigt sich bereits in der Mittelschulzeit in der Sozialdemokratie.

Nach dem Ersten Weltkrieg zerfällt die österreichisch-ungarische Monarchie in mehrere Nationalstaaten. Dies ist Resultat der schon länger bestehenden nationalen Bewegungen, wird aber auch von den Siegermächten

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befürwortet und mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker argumentiert. Die neue Grenze zwischen Österreich und Ungarn bringt für viele westungarische Arbeiter, die in Österreich arbeiten, Probleme. Die westungarische Sozialdemokratie und auch die Großdeutschen fordern den Anschluss der mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete Westungarns (Teile der Komitate Pressburg, Ödenburg und Wieselburg) an Österreich.

In diesem Kontext wird in Mattersdorf im Dezember 1918 die ‚Republik Heinzenland‘ durch den Sozialdemokraten Hans Suchard ausgerufen. Es ist der Versuch, einen autonomen Staat in Westungarn mit der Hauptstadt Ödenburg zu gründen. Die ‚Republik‘ scheitert und wird schon nach 2 Tagen von ungarischen Truppen beendet. Richard Berczeller ist noch als Schüler an der „Eroberung“ des Heinzenlandes und der Verhaftung Hans Suchards beteiligt.

„Eines Morgens wurden einige Dutzend von uns in ein Lastauto mit zwei Maschinengewehren geladen, und wir fuhren in Richtung Mattersdorf. Unser Kommandant war ein Oberleutnant der alten Armee, der ständig nach Soldaten des Heinzenlandes Ausschau hielt. Jedoch die Ortschaften, durch die wir fuhren, sahen friedlich aus, und selbst als wir in Mattersdorf ankamen, fanden wir keinen Widerstand. Im Zentrum des Ortes hielten wir und gingen zum Gasthaus Schreiner. Mit zwei Schulkameraden, mit aufgepflanztem Bajonett, folgten wir unserem Kommandanten in das Gastlokal, wo um einen Tisch sechs junge Männer saßen. Wir fragten sie, wo sich die Regierung des Heinzenlandes befinde. Einer der Männer, dünn, mit kleinem Schnurrbart, stand auf und sagte: ‚Wir sind die Regierung.‘ - ‚Ich verhafte Sie im Namen der Ungarischen Republik‘, knurrte in militärischem Ton unser Kommandant. ‚Wie heißen Sie?‘ - ‚Suchard – Präsident Hans Suchard‘, antwortete der Mann.“ (aus „...mit Österreich verbunden, S.232)

Am 21. März 1919 wird in Budapest die ungarische Räterepublik durch Béla Kun ausgerufen. Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen schließen sich zusammen, die ersten politischen Handlungen der Räteregierung umfassen die Enteignung von Großgrundbesitz und die Verstaatlichung von Industrieunternehmen, Banken, Spitälern, etc. Dies verändert auch die Position der westungarischen Sozialdemokratie bezüglich des Anschlusses an Österreich: Die Räterepublik ist bereit, den deutschsprachigen Gebieten weitgehende Autonomie zu gewähren; auch erscheint es jetzt sinnvoller, in der ungarischen Räterepublik zu verbleiben als an ein Österreich mit unklaren politischen Verhältnissen beizutreten.

Währenddessen erreicht die österreichische Regierung, vertreten unter anderem durch Staatskanzler Renner bei den Friedensverhandlungen mit den Alliierten den

Anschluss der mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete der Komitate Wieselburg, Ödenburg und Eisenburg an Österreich am 20. Juli 1919.

Kurz darauf bricht die ungarische Räterepublik zusammen, unter Miklós Horthy wird ein autoritäres konservatives Regime errichtet. Im August 1919 erreicht der „weiße Terror“ Westungarn, führende Persönlichkeiten der Räterepublik werden verhaftet, es setzt eine große Fluchtbewegung nach Österreich ein. Auch Richard Berczeller wird kurzzeitig verhaftet und aus dem Realgymnasium ausgeschlossen. Die Familie flüchtet nach Österreich - nach Wien, Baden und schließlich Bad Sauerbrunn.

Wien: Medizinstudium in der jungen RepublikRichard Berczeller beginnt 1920 ein Medizinstudium in Wien. Dort ist er im Verband der sozialdemokratischen Studenten aktiv. Er wird auch mit antisemitischen Attacken durch deutschnationale Burschenschafter konfrontiert. Er verfolgt weiterhin die politische Situation im Burgenland, wo nach wie vor über den Anschluss des Burgenlands verhandelt wird. Er fährt öfter nach Baden, wo seine Eltern und andere westungarische Sozialist*innen Sitzungen zur zukünftigen Lage abhalten. An den Tagen der Landnahme durch die österreichische Gendarmerie arbeitet er gerade als Statist in der Filmproduktion von „Sodom und Gomorrha“ bei Regisseur Michael Curtiz – damals noch Kertész. Richard Berczeller möchte dabei sein und bittet um Urlaub, Michael Kertézs kommt kurzerhand mit, um die Landnahme zu filmen.

Die darauf folgende Landnahme des Burgenlands wird durch den Widerstand von ungarischen Freischärlern erschwert. In Wien wird eine „Verwaltungsstelle für das Burgenland“ gegründet, um die spätere Landesverwaltung aufzubauen und eine Rechtsordnung zu erarbeiten. Bereits am 9. Jänner 1921 wird die burgenländische Sozialdemokratische Partei in Wr. Neustadt gegründet. Dabei sind nicht nur westungarische Sozialisten, sondern auch Genossen aus Wien und Niederösterreich beteiligt, unter anderem Johann Fiala, Adolf Berczeller, Hans Suchard und Ignaz Till, etwas später Ludwig Leser und Ernst Hoffenreich.

Ende 1921 findet eine Volksabstimmung in Ödenburg/Sopron und den umliegenden Gemeinden zur Anschlussfrage an Österreich statt – Ödenburg verbleibt bei Ungarn. Der interimistische Sitz der Landesregierung wird nun Bad Sauerbrunn, ab 1925 wird Eisenstadt zur neuen Landeshauptstadt bestimmt.

Auch Richards Vater, Adolf Berczeller ist in der Zwischenkriegszeit im neuen Burgenland politisch aktiv. Gemeinsam mit Ludwig Leser baut er die burgenländische Arbeiterkrankenkasse mit Sitz in

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Bad Sauerbrunn auf, später spendet Sándor Wolf ihnen ein Grundstück in Eisenstadt für ein neues Krankenkassengebäude. Nach dem Tod Adolf Berczellers 1966 in New York schreibt sein Sohn:

„Als er dann mit nahezu neunzig Jahren starb, standen nur vier Personen um sein Grab: Sein ältester Sohn und dessen Frau, seine zweite Gattin und sein Enkelkind. Aber Tausende Kilometer entfernt, vom Gebäude der Gebietskrankenkasse in Eisenstadt, wehte eine große, schwarze Fahne.“ (aus „...mit Österreich verbunden“, S.241)

Die österreichische Sozialdemokratie ist zu dieser Zeit vom Richtungsstreit zwischen Otto Bauer und Karl Renner geprägt. Ein Diskussionspunkt ist die Frage nach der Regierungsbeteiligung. Der ‚linke Flügel‘ um Otto Bauer argumentiert für Abwarten, bis die objektiven Verhältnisse reif für eine Alleinregierung der SDAP sind. Karl Renner, dem rechten, pragmatischen Flügel zugehörig, vertritt die Position einer Koalition mit den Christlich-Sozialen und betont Kooperation statt Konfrontation. Nach einer kurzen Koalition mit den Christlich-Sozialen verlässt die SDAP die Koalition 1920. 1932 macht Kanzler Seipel der Sozialdemokratie ein Angebot zur Koalitionsbeteiligung, was aber abgelehnt wird. Richard Berczeller schätzt dies später als einen schweren Fehler ein:

„Die Macht darf man nicht leichtfertig aufgeben. Meine Generation hat schwer fuer den Fehler den wir im Jahre 1920 gemacht haben, gezahlt, auch fuer unseren fatalen Fehler im Jahre 1932, als wir das Koalitionsangebot Seipels ablehnten.“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 6.5.1985)

Er kritisiert auch ein Buch von Julius Deutsch:

„Die Schlusszeilen, aus geschichtlicher Perspektive betrachtet, zeigen die falsche Strategie nicht nur von [Julius] Deutsch sondern der Partei, die die ganze Macht dem Buergertum ueberliess und sich auf Zukunftshoffnungen in der Opposition verliess. Diese Illusion scheint auch noch heute in gewissen Kreisen innerhalb der Partei zu geistern. Die Koklusion (sic):man soll die Macht nicht aus der Hand geben solange nur Kompromisslösungen moeglich sind.“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 14.9.1984)

Die SDAP tritt für einen Anschluss an Deutschland ein, ein Großdeutschland erhöhe die Chancen der sozialen Revolution. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 wird diese Forderung revidiert.

Im Burgenland sind die stärksten Kräfte in der Zwischenkriegszeit die Sozialdemokratie und die Christlich-Sozialen, relevant sind weiter noch der Landbund und die Großdeutsche Partei. Die Zeit ist geprägt von oft wechselnden Regierungszusammensetzungen, Versuchen der

Zusammenarbeit, die jedoch zunehmend in eine Radikalisierung umschlagen und in einem starken Wechselverhältnis zur Bundespolitik stehen. Die wichtigsten politischen Themen zu dieser Zeit sind die wirtschaftliche Entwicklung des Burgenlandes, die Landreform und das Verhältnis von Staat und Kirche am Beispiel der Schulen und der Ehe.

Ab 1926 werden die politischen Auseinandersetzungen in Österreich gewalttätiger. Politisch gegensätzliche, para-militärische Verbände werden gegründet, wie die christlich-sozial bis deutschnationalen Heimwehren und Frontkämpfer sowie der sozialdemokratische Republikanische Schutzbund.

Am 30. Jänner 1927 verhindert der Schutzbund eine Versammlung der Frontkämpfervereinigung im burgenländischen Schattendorf. Daraufhin attackieren Frontkämpfer eine Gruppe von Schutzbündlern und ermorden den 7-Jährigen Josef Grössing sowie den Kriegsinvaliden Matthias Csmarits. Auf dieses Ereignis gibt es österreichweite Reaktionen wie Protestkundgebungen und Streiks. Im darauf folgenden Prozess werden die Täter freigesprochen. Am 15.Juli 1927 findet eine große Demonstration gegen dieses Urteil statt, im Zuge dessen der Justizpalast in Brand gesetzt wird. Die Polizei schießt in die Menge, es gibt 90 Tote und hunderte Verletzte.

Die globale Wirtschaftskrise 1929 verschlechtert die Situation der österreichischen und insbesondere burgenländischen Arbeiter*innen.

Mattersburg: Ärztetätigkeit und AustrofaschismusNach seinem Studium und der Spitalspraxis in Wien nimmt Richard Berczeller 1929 einen Posten als praktischer Arzt in Mattersburg an. Neben seiner Tätigkeit als Arzt ist er auch politisch aktiv, insbesondere zur Zeit des Austrofaschismus, den er in Mattersburg miterlebt.

Im März 1933 wird durch die Ausschaltung des Parlaments durch Kanzler Dollfuss ein autoritäres, ständisches Regime in Österreich etabliert, unter anderem werden der Schutzbund, die KPÖ sowie die NSDAP verboten, die Arbeiterkammern aufgelöst und Zeitungen zensuriert.

Am 12. Februar 1934 wird durch den bereits verbotenen Republikanischen Schutzbund sowie Teilen der Sozialdemokratie ein Generalstreik ausgerufen. Die Führung der SDAP zögert, eine Erhebung des größten Teils der Arbeiter*innenschaft bleibt aus. In Wien und Linz kommt es zu Kämpfen zwischen Arbeiter*innen und der Polizei, dem Heer und den Heimwehren. Die Kämpfe greifen nicht ins Burgenland über. Der Aufstand wird nach wenigen Tagen blutig niedergeschlagen.

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Richard Berczeller kritisiert später die Entscheidungen der sozialdemokratischen Parteiführung:

„Ende März [1933] wurde der Republikanische Schutzbund aufgelöst, während die Heimwehr unangetastet blieb. Daß dies ohne Widerstand des Schutzbundes zur Kenntnis genommen wurde, hat eine weite Bresche in den Glauben der Unbesiegbarkeit der Arbeiterbewegung geschlagen. Es wäre richtig und notwendig gewesen, zur Verteidigung des Parlaments und eines Regierens auf demokratischer Grundlage mit den Kampf- und Abwehrmaßnahmen Ernst zu machen, mit denen die sozialdemokratische Führung stets gedroht hatte. Statt dessen ließ man es mit leeren Worten und papierenen Protesten bewenden.“ (aus „mit Österreich verbunden“, S.266)

Nach den Februarkämpfen kommt es zu Verhaftungswellen. Im Burgenland werden führende Sozialdemokraten verhaftet, darunter Ignaz Till, Koloman Tomsich, Ernst Hoffenreich, Hans Suchard, Adolf Berczeller und Hans Bögl. Es folgt ein Verbot der SDAP, der Gewerkschaften und aller anderen Arbeiter*innenorganisationen. Adolf Berczeller wird von seinem Posten in der Landeskrankenkasse zwangspensioniert, Ludwig Leser flüchtet in die Tschechoslowakei, die Krankenkasse wird fortan nach den Prinzipien des Ständestaats verwaltet. Richard Berczeller verliert seine Anstellung als Kassenarzt. Am 1. Mai 1934 – symbolisch am Kampftag der Arbeiter*innenbewegung – tritt die sogenannte Mai-Verfassung in Kraft, das Recht geht nicht mehr vom Volk aus, sondern von Gott.

In einer Gruppe um Otto Bauer werden im Exil in der Tschechoslowakei die „Auslandsvertretung der österreichischen Sozialdemokratie“ (AVOES) und die „Revolutionären Sozialisten“ gegründet. Dort wird die Arbeiter-Zeitung weiter produziert und ab Sommer 1936 auch die Burgenländische Freiheit wieder herausgegeben. Richard Berczeller nimmt an geheimen Bezirkstreffen in Mattersburg teil, die in abgelegenen Waldstücken stattfinden. Er wird außerdem Obmann der „Sozialistischen Arbeiterhilfe“, die Geld für die Familien verhafteter Genossen sammelt. Er verteilt auch die jetzt illegale „Arbeiter-Zeitung“ und die „Burgenländische Freiheit“, die in Preßburg gedruckt werden und über Ödenburg ins Burgenland gelangen. Richard Berczeller schreibt später über ein Erlebnis, das er zu dieser Zeit mit dem Genossen Jean Morawitz und dem Großdeutschen Fred Walheim hatte:

„Einmal fuhren Jean Morawitz und ich mit dem Geld [Anm.: Spenden für die Arbeiterhilfe] und auch Flugschriften, die ich immer in einem Ersatzreifen verborgen hielt, von Wien nach dem Burgenland. Bei der ‚Spinnerin am Kreuz‘ wurden wir plötzlich von einem Polizeiwagen überholt und gestoppt. Jean und ich wußten, was das bedeutete. Was sollten wir tun?

Wir schauten einander an. ‚Schmeißen wir das Geld hinaus‘, sagte Jean. Ich gab ihm den gesamten Betrag. Es war bereits finster. Im Scheinwerferlicht stand ein Polizeioffizier. ‚Servus‘, rief er mir zu. ‚Ich habe deine Wagennummer erkannt und bin dir nachgefahren. Fast hätte ich dich nicht eingeholt.‘ Es war Fred Walheim, der nach seinem Doktorat die Polizeilaufbahn gewählt hatte. Jean stopfte das Geld in seine Tasche. Ich hörte seine tiefen Atemzüge. ‚Ich fahr mit dir bis Wiener Neustadt. Dort werden wir im ‚Kaffee Bank‘ einen guten Kaffee trinken. Wir haben uns schon lange nicht gesehen. Was macht die Maria, und der Peter?‘ sagte Fred Walheim. Und so sind Jean und ich unter Polizeischutz mit dem Geld und den Flugschriften nach Hause gekommen.“ (aus „...mit Österreich verbunden“, S. 273f)

Richard Berczellers schwieriges Verhältnis zu Österreich

Vertreibung, Emigration und der Kampf um Anerkennung

Die Machtübernahme der Nationalsozia-listen und die Vertreibung aus ÖsterreichBei einem Putschversuch der illegalen NSDAP im Juli 1934 wird Kanzler Dollfuss umgebracht. Der Putsch scheitert jedoch und Kurt Schuschnigg wird neuer Kanzler. Im Juli 1936 gibt es ein Abkommen zwischen Hitler und Schuschnigg, mit dem inhaftierte Nationalsozialisten amnestiert werden und das dem nationalsozialistischen Deutschen Reich gewissen Einfluss in Österreich zusichert, dafür aber die Unabhängigkeit Österreichs anerkennt.

Versuche der Querfrontpolitik zwischen sozialdemokratischer, kommunistischer und christlich-sozialer Partei gegen die Nazis scheitern. Im Februar übergibt Schuschnigg auf Druck von Hitler das Innenministerium an den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart. Es soll eine Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs an Deutschland am 13. März 1938 stattfinden. Die SDAP spricht sich dafür aus, gegen den Anschluss zu stimmen – zuerst müsse der Hitler-Faschismus bekämpft werden, danach der Austrofaschismus. Doch bereits am Abend des 11. März beginnt die Machtübernahme durch die Nazis, wenige Tage später verkündet Hitler den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich vor einer jubelnden Menge.

„Österreich hat vor den Nazis kapituliert. Dieses Nachgeben des damaligen Bundeskanzlers Schuschnigg gegenüber der Gewalt war ein verhängnisvoller Fehler, denn ein Widerstand Österreichs, und wenn er auch nur schwach oder symbolisch gewesen wäre, hätte für den weiteren Gang der Ereignisse der Weltgeschichte eine unter Umständen entscheidende Bedeutung gehabt.“ (aus „...mit Österreich verbunden“, S.278)

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Unmittelbar beginnt die Verfolgung politischer Gegner*innen des nationalsozialistischen Regimes, sowie die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung Österreichs, die schließlich mit Deportationen in die Vernichtungslager mündet. Ein großer Teil der österreichischen Bevölkerung ist passiv oder aktiv an der Aufrechterhaltung des Systems bzw. an der NS-Vernichtungsmaschinerie beteiligt. In geringerem Ausmaß gibt es aber auch Widerstand, von Vertreter*innen der ehemaligen Parteien, den Partisan*innen in Südkärnten oder Einzelpersonen.

Das Burgenland wird im Herbst 1938 aufgelöst und auf die Gaue Niederdonau und Steiermark aufgeteilt. Die jüdische Bevölkerung wird vertrieben, Burgenland-Roma werden verfolgt und in Vernichtungslager deportiert. Die Familie Berczeller wird wegen ihrer politischen Einstellung und ihres Judentums aus Mattersburg vertrieben.

Emigration und politische VernetzungRichard, Maria und ihr Sohn Peter Berczeller schaffen über Wien die Flucht zunächst nach Paris. In Paris und später Montauban arbeitet Richard Berczeller als Arzt, betätigt sich aber weiterhin politisch im Umfeld der österreichischen sozialdemokratischen Emigration. Er ist mit vielen österreichischen Sozialdemokraten in Kontakt, darunter Ludwig Leser, mit dem er einige Monate ein Zimmer teilt.

Die Familie Berczeller schafft es schließlich nach New York. Die Reise bis dorthin ist aber langwierig und von steter Unsicherheit geprägt. Ihr Weg führt sie über Frankreich, die Elfenbeinküste, Marokko und schließlich nach New York. Richard Berczeller schreibt über ein Erlebnis während der Flucht, auf einem Schiff von Frankreich an die Elfenbeinküste:

„Meine Frau ordnete unsere Habseligkeiten in einen Schrank, während ich auf dem Bettrand saß. ‚Wir müssen uns umstellen‘, sagte sie. ‚Wir sind Emigranten, und das ist eben nicht so, wie wenn man zu Hause ist. Man ist unter Fremden.‘ Ein plötzlicher Ruck, das Schiff setzte sich in Bewegung. Wir gingen an Deck. Unten am Pier standen Leute, anscheinend Angehörige und Freunde, die den Passagieren zum Abschied zuwinkten. Das Schiff bewegte sich langsam vom Pier weg. Auf einmal hörte ich Schluchzen: es war meine Frau. ‚Uns winkt niemand‘, sagte sie, sich die Tränen aus dem Gesicht wischend.“ (aus „...mit Österreich verbunden“ S.341)

Nachkriegszeit – Rückkehr nach Österreich?Der Zweite Weltkrieg und das NS-Regime enden in Österreich, als die Rote Armee im März 1945 die burgenländische Grenze überschreitet. Am 12. April

wird Wien befreit. Die sozialdemokratische Bewegung kann sich schnell wieder organisieren. Am 13. April 1945 kommt es zur Neugründung der Sozialistischen Partei Österreichs. Im Burgenland sind daran einige schon vor 1934 aktiven Sozialdemokraten wie Ludwig Leser, Ignaz Till, Alois Wessely oder Ernst Hoffenreich involviert, aber auch jüngere, in der Illegalität aktive Genossen.

Burgenländische Politiker verschiedener Parteien setzen sich erfolgreich für die Wiedererrichtung des Burgenlands ein. Ludwig Leser bringt erneut das Thema des Anschlusses von Ödenburg als Hauptstadt des Burgenlands auf. Am 7. Juni 1946 schreibt er in einem Brief an Richard Berczeller: „löst sich die Ödenburg Frage so wie ich hoffe, ändert sich die ganze Lage“. Er findet jedoch nicht viel Resonanz, weder in Österreich noch bei den Alliierten.

Nach dem Ende des Krieges wird Richard Berczeller, als einer der wenigen, von burgenländischen Genossen wie Ernst Hoffenreich und Alois Wessely zur Rückkehr nach Österreich eingeladen. Ihm wird eine Chefarzt-Position in der Gebietskrankenkasse angeboten, sowie ein sicheres Nationalratsmandat in Aussicht gestellt. Er lehnt jedoch ab, er und seine Familie haben sich endlich eine neue Existenz in New York aufgebaut, die er nicht aufgeben will. Er ist enttäuscht von der fehlenden Anerkennung der österreichischen, sozialdemokratischen Emigration und der schleppenden Entnazifizierung in Österreich.

Zwischen New York und Burgenland Der Kampf um AnerkennungRichard Berczeller verbringt sein weiteres Leben in New York, er arbeitet als Arzt und Schriftsteller und ist aktiv in der politischen Organisation „American Friends of Austrian Labor“. Er kommt aber fast jeden Sommer nach Österreich, verbringt den Urlaub in Seefeld/Tirol und besucht Wien und das Burgenland. Auch sonst hält er engen politischen wie persönlichen Kontakt zu Österreich. Er versteht sich weiterhin als Burgenländer und Österreicher steht aber in einem ambivalenten Verhältnis zu Österreich.

„Der Schmelztiegel Amerika verschlingt die Einwanderer. Die Italiener, die Irländer, die Juden. Die Burgenländer aber haben Heimweh. Es ist eine unerfüllte Liebe. Der Schmerz wird geringer, hört aber nie auf. Man denkt immer wieder an eine Burgruine, halb mit Moos bedeckt, an kleine Häuser mit Blumentöpfen vor den Fenstern, an die Baumblüte, wenn die ganze Landschaft wie mit hauchdünnem Schnee bedeckt liegt, an den Frühsommer, wenn es überall nach Ananaserdbeeren duftet...und die alte Liebe ist wieder erwacht.“ (aus „...mit Österreich verbunden, S.334)

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„Es ist aber traurig die oesterreichische Politik – Sturm im Wasserglas – auch aus der Ferne zu beobachten. Drei bis vier Generationen sind schon vergangen aber in Kleinoesterreich ist man sich immer noch nicht bewusst, dass man in einem Kleinstaat lebt. Das sich-zu-ernst-nehmen, alles besser wissen, das Schimpfen.“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 25.4.1989)

Die Enttäuschung über die Vertreibung und fehlende Anerkennung bleibt. In einem Brief an Alois Wessely, Hans Bögl und Ernst Hoffenreich vom 4. Dezember 1951 kritisiert er, dass nichts über die Rolle seines Vaters für die Arbeiter*innenbewegung des Burgenlands in der Jubiläumsausgabe der „Burgenländischen Freiheit“ geschrieben wird:

„Wie gesagt ich schrieb diesen Brief, weil ich menschlich stark mit meinem Vater verbunden bin und ich die Tendenz fuehle, die vielfach im Burgenlande vorhanden ist, ihn vergessen zu wollen. Ich habe die vielen Jahre des schweren Aufstiegs der vielen Verfolgungen bis zum Umsturz 1918 gemeinsam mit ihm durchgemacht, ich bin als Jugendlicher neben ihm im Oedenburger Arbeiterrat gesessen. Er hat Euren Triumph nach der schweren Niederlage im Jahre 1934 nicht miterleben koennen, da er vertrieben war. Ihr wisst es ebenso wie ich, dass er Anspruch auf Anerkennung hat. Missversteht meinen Brief nicht.“

In den 1970er Jahren wird die Errichtung eines Ärztezentrums in Mattersburg geplant. Die Stadt möchte Richard Berczeller anlässlich der 50-Jahrfeier der Stadtwerdung von Mattersburg ehren. Das Ärztezentrum soll daher „Richard-Berczeller-Hof “ heißen.

„Ehrungen für Dr.Richard Berczeller. Professor Dr.Richard Berczeller, unser New-Yorker Kulturkorrespondent, erhielt in Gegenwart von Bundesminister Dr.Firnberg das goldene Doktordiplom. In Mattersburg wird ein Ärztezentrum erbaut, das den Namen „Richard-Berczeller-Hof “ tragen wird. Doktor Berczeller nahm den ersten Spatenstich vor. Dr.Berczeller, Arzt und Schriftsteller, arbeitet mit Norbert Leser gemeinsam an einem neuen Buch ‚Als Zaungäste der Politik‘, das 1977 erscheinen wird.“ (in: Arbeiter-Zeitung vom 22.9.1976)

Aus der Benennung wird aufgrund politischen Zögerns jedoch nichts, Richard Berczeller korrespondiert mit Fred Sinowatz darüber, er ist sehr enttäuscht:

„Du hast meine emotionelle Reaktion sicher voll verstanden, und auch gewusst, dass die Hausbenennung eine Art Wiedergutmachung des Unrechts von 1938 bedeutet hätte. Dass es nicht dazu kam war eben, wie Du sagtest ueberhebliche Provinzialismus schuld. Daneben die psychotische Hass-Vendetta Parises die der schwache Wessely nicht abwehren konnte. Aber, nun

soll Mattersburg von der Tagesordnung verschwinden, denn vom Erhabenen zum Laecherlichen waere nur ein Schritt.“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 6.10.1980)

Jahrzehnte später reflektiert Richard Berczeller in einem Brief an Fred Sinowatz seine Entscheidung, nicht nach Österreich zurückzukehren:

„Gerade gegenwaertig als sich faszinierende Ereignisse in meiner Welt von gestern abspielen lebe ich ferne von ihnen in einem Milieu von Sicherheit mit wenig Dynamik. Der alte Wanderer ist an seine neue Scholle gebunden, ferne von wenn auch tragischem Abenteuer das von grossen Hoffnungen erfüllt war. Das alte Dilemma taucht auf: Haette ich nach dem Krieg zurueckgehehen (sic) sollen? Von Freunden wurde ich wiederholt dazu eingeladen. Nicht nur aus dem Burgenland sondern auch aus Wien. […] Man brauchte auch Intellektuelle da es kaum einen gab der nicht in irgendeiner Weise mit dem Naziregime verbandelt war. Ich haette Chefarzt der Wiener Gebietskrankenkasse werden sollen und als ich hinueber kam, sagte Wessely und auch Boegl (darin waren sie einig) dass ich an sicherer Stelle fuer den Nationalrat kandidieren wuerde. Andererseits: Nach schweren Jahren im Kampf um ein Stueck Brot ich wieder nachdem ich das Medizinstudium durchgemacht hatte meinen Beruf ausueben konnte. Die Staatsbuergerschaft. Es zeigten sich auch Ansaetze fuer eine andere Karriere, Schriftstellerei, die mir Anerkennung und auch viel Freude bereitete. Und Maria wollte nicht. Sie hat die schreckliche Zeit der Naziherrschaft nie ueberwinden koennen, da sie mit dem 6-jaehrigen Peter buchstaeblich aus der Wohnung herausgeworfen wurde, waehrend ich im Gefaengnis war. Trotzdem es war schwer fuer mich nicht nach Oesterreich zurückzukehren.“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 4.1.1990)

Die politische Freundschaft zwischen Richard Berczeller

und Fred Sinowatz Innenansichten der österreichischen

Politik in den 1970er/80er Jahren1961 lernen sich Richard Berczeller und Fred Sinowatz, damals aufstrebender sozialdemokratischer Funktionär, im Schwechater Hof in Eisenstadt kennen. Daraus entwickelt sich eine enge Freundschaft, die beiden treffen sich regelmäßig und unterhalten Briefkontakt. Fred Sinowatz stammt auch aus dem Burgenland (Neufeld and der Leitha), ist unter Bruno Kreisky lange Zeit Unterrichtsminister und Vizekanzler und folgt diesem 1983 als Bundeskanzler. Richard Berczeller und Fred Sinowatz sowie andere Mitglieder der beiden Familien verbindet eine enge persönliche Beziehung.

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„Es ist bedauerlich, dass wir so weit voneinander leben! Ihr seid unsere besten, nahezu einzigen Freunde-und werden es immer bleiben. In treuer Freundschaft und Verbundenheit auch fuer Kinder und Kindeskinder“ (Maria und Richard Berczeller and Hermi und Fred Sinowatz, 4.1.1990)

„Lieber Richard! Ich grüße Dich und Maria sowie Deine Kinder und Enkelkinder. Wir freuen uns schon auf ein Wiedersehen im Sommer! Schließlich bist du der beste Begleiter meines politischen Wirkens!“ (Fred Sinowatz an Richard Berczeller, 20.12.1987)

Richard Berczeller unterstützt Fred Sinowatz und gibt ihm Ratschläge für seine politische Karriere, umgekehrt unterstützt Sinowatz ihn beim Kampf um Anerkennung in seinem Heimatland und seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Weiters tauschen sie sich über vergangene und aktuelle politische Ereignisse, in Österreich und international, aus.

SPÖ Alleinregierung unter Kreisky1970 erreicht die SPÖ unter Kreisky die relative Mehrheit, Kreisky wird Bundeskanzler einer Minderheitsregierung mit Unterstützung durch die FPÖ. Sinowatz kommentiert den Wahlsieg von Kreisky:

„Was aber neben dem politischen Erfolg besonders ausschlaggebend ist, will ich Dir als persönliche Meinung sagen, nämlich der Umstand, daß in diesem spießbürgerlichen katholischen Österreich, das sich vielfach noch immer im geistigen Raum der Gegenreformation befindet und die ärgste Brutstätte des primitivsten Antisemitismus gewesen ist, daß es hier also möglich wurde, einen jüdischen Intellektuellen zum Bundeskanzler zu wählen. Das ist zweifellos eine kulturgeschichtliche Revolution, die mich mit den jungen Menschen dieses Landes und zum Teil sogar mit der sogenannten ‚gebildeten Schicht‘ versöhnt.“ (Brief von Fred Sinowatz an Richard Berczeller, 5.3.1970)

Die 1970er Jahre sind geprägt von der SPÖ-Alleinregierung unter Kreisky. Sinowatz und Berczeller bewerten diese Zeit sehr positiv. Es gibt nahezu Vollbeschäftigung, die Inflation ist niedrig. Auch im Burgenland hat die SPÖ nun die Mehrheit unter Landeshauptmann Theodor Kery. Am 22. Mai 1979 schreibt Sinowatz an Berczeller: „Es gibt für mich keinen Zweifel, die österreichische Sozialdemokratie befindet sich auf ihrem Höhepunkt“

Ab Anfang der 1980er verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage in Österreich durch die internationale Wirtschaftskrise. Auch Kreisky hat zunehmende gesundheitliche Probleme. Richard Berczeller steht Kreisky skeptisch gegenüber:

„Kreisky, ein unglaubliches staatsmaennisches Talent, ist nun ein schwerkranker Mann. Wir wissen, dass er

schwierig und unberechenbar ist, und seine Krankheit, die ihn alter gemacht hat als es seinem Alter entspricht, hat seine Fehler nicht verringert. Wir muessen aber beten, dass er den schweren Wahlkampf durchhaelt. Als Arzt habe ich Bedenken. Bezueglich einer absoluten Mehrheit bin ich optimistisch.“ (Richard Berczeller and Fred Sinowatz, 11.1.1983)

In den späten 1980er Jahren kritisiert er Kreiskys weiterhin bestehende Führungsansprüche:

„Was Kreisky betrifft, so wird er es nie ueberwinden, dass er nicht mehr die erste Geige spielen kann. […] Er versteht nicht, oder will es nicht verstehen, dass alle Groessen der Geschichte wie z.B. Metternich und auch Bismarck es erfahren mussten. Seine emotionale Reaktion huellt er in einen ideologischen Mantel.“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 25.1.1987)

Rot-Blaue Koalition unter SinowatzNach dem Verlust der absoluten Mehrheit nach den Nationalratswahlen 1983 tritt Kreisky zurück und übergibt Sinowatz den Posten als Kanzler in einer SPÖ-FPÖ Koalition. Richard Berczeller unterstützt Fred Sinowatz auf persönlicher und moralischer Ebene, teilt aber auch seine politischen Positionen in Abgrenzung zur Politik der Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit:

„Es folgt der Dialektik des gesellschaftlichen Geschehens und ist nicht nur ein geschickter taktischer Kurs. Die Arbeiterschaft hat keine Ketten mehr zu verlieren, und breite Schichten des frueheren Mittelstandes sind unseren Vorstellungen einer gerechten, pluralistischen Gesellschaft naeher gerueckt. Lehrer, Kuenstler, Aerzte, auch hoehere Bundesbeamte muessen sich nicht mehr von der ‚Roten Katze‘ fuerchten, und auch ihr Standesbewusstsein ist nicht mehr gefaehrdet. […] Ich glaubte auch in den schlechtesten Tagen der Vergangenheit, dass dein von der Vergangenheit loesgeloester Kurs uns Erfolg bringen wird.“ (Brief von Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 5.10.1984)

„Die ‚linke‘ in der Partei ist […] eine Karikatur von anachronistischen Vorstellungen der Zwischenkriegsjahre, und ist nicht ernst zu nehmen. Meine Generation muss für die falschen Hoffnungen, obwohl sie moralisch gerechtfertigt waren, Abbitte leisten, da sie in den Abgrund fuehrten. Die Dialektik Ideologie-Pragmatismus muss verstanden werden, und dies tust du. […] „Auch dass wir auf keinen Fall, soweit es der demokratische Prozess erlaubt, die Regierung aus der Hand geben. Der Fehler des Jahres 1920 soll nicht wiederholt werden!“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz 17.12.1984)

Im Jänner 1985 ereignet sich unter Sinowatz‘ Kanzlerschaft die ‚Frischenschlager-Reder-Affäre‘. FPÖ-

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Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager begrüßt den NS-Kriegsverbrecher Walter Reder bei seiner Ankunft in Graz per Handschlag. Dieses Ereignis erreicht hohe internationale und nationale Medienaufmerksamkeit, auch die ÖVP schlachtet das Thema aus. Sinowatz kritisiert die ÖVP, da es ihnen nicht um Vergangenheitsbewältigung geht, sondern um die Sprengung der kleinen Koalition:

„Du kennst mich zu genau, um nicht zu wissen, daß ich gegen jede faschistische Entwicklung in Österreich eintreten würde. Aber den Kampf gegen Faschismus als Denkmalpflege oder gar als politische Nostalgie, das halte ich für das gefährlichste überhaupt. Der Faschismus kommt nicht in den alten Kleidern und es wäre schrecklich, wenn wir uns in einen Kampf gegen eine winzige Minderheit einlassen würden und gleichzeitig übersehen, daß die Demokratie aus einer ganz anderen Richtung gefährdet wird.“ (Fred Sinowatz an Richard Berczeller, 26.4.1985)

Die Waldheim-Affäre1986 finden in Österreich Präsidentschaftswahlen statt, ÖVP-Kandidat ist der ehemalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim, Kurt Steyrer tritt für die SPÖ an. Im Wahlkampf wird die NS-Vergangenheit Kurt Waldheims zum bestimmenden Thema und zu einem internationalen Skandal. Waldheim war noch 1938 der NSDAP beigetreten, Mitglied einer SA-Reiterstandarte und während des Krieges zunächst an der Ostfront, später in Südosteuropa stationiert, wo er Berichte von Massakern gegen Zivilist*innen überarbeitete. Waldheim argumentierte, er habe nichts gewusst und nur seine Pflicht getan. Sinowatz kommentiert: „Nehmen wir also zur Kenntnis, dass nicht Waldheim bei der SA war, sondern nur sein Pferd.“ Die ÖVP und die Medien orten eine Verschwörung gegen Waldheim, betrieben durch die SPÖ und die ‚Ostküste‘. Zweiteres ist ein antisemitisches Codewort, und meint eine jüdische Weltverschwörung an der Ostküste der USA. Waldheim stellt den weiteren Wahlkampf den Slogan „Jetzt erst recht“ in den Mittelpunkt. Er gewinnt die Stichwahl im Juni gegen Steyrer mit 54% der Stimmen. Daraufhin tritt Sinowatz als Kanzler zurück und übergibt an Franz Vranitzky, er bleibt aber noch SPÖ-Parteiobmann bis 1988.

Die Waldheim-Affäre wird auch in den drauf folgenden Jahren intensiv diskutiert, Waldheim kommt auf die ‚watch list‘ der USA und darf nicht mehr einreisen. Richard Berczeller berichtet Fred Sinowatz darüber:

„Das ultrakonservative State Department hat Waldheim auf die Watchlist gesetzt und dabei bleibt es ob sich die ‚Presse‘ darueber aergert oder nicht. […] Der Papstbesuch in Oesterreich (auch Eisenstadt) wurde gestern in der ‚New York Times‘ kritisch vermerkt wegen Waldheim. Die oeffentliche Meinung ist ungeteilt

in der Kritik ueber ihn.“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 8.1.1988)

Der Aufstieg der FPÖ unter HaiderAls Jörg Haider im September 1986 neuer FPÖ-Parteiobmann wird, beendet Franz Vranitzky die Koalition und ruft Neuwahlen aus. Bei den Wahlen im November kann die FPÖ ihre Stimme verdoppeln und kommt auf knapp 10%, die Grünen ziehen erstmals in den Nationalrat ein. Die SPÖ bleibt stimmenstärkste Partei, Vranitzky koaliert mit der ÖVP unter Alois Mock.

In den folgenden Jahren kann die FPÖ zunehmend Stimmen gewinnen. Richard Berczeller glaubt nicht an eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie durch Haider und hält nichts von Vergleichen mit der NS-Zeit. Er ist dennoch besorgt und sieht keine politische Aufbruchsstimmung.

„Da bin ich mit Dir einer Meinung dass die Demokratie hier [in den USA] nicht gefaehrdet ist – ich wuenschte, dass sie in Oesterreich so verankert waere als hier, obwohl ich-zumindest von hier aus gesehen- Haider eher als eine Art von Aergernis als eine Gefahr fuer die Demokratie ansehe. Alle pseudo-historischen Vergleiche mit wie es vor 50 Jahre gewesen ist, sind falsch. […] Dies heisst aber nicht, dass man nicht auf der Hut sein muss. Die Stimmung hier ist Waldheim gegenueber unveraendert und es wird auch so bleiben.“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 13.11.1988)

„Es ist alles viel schlechter als ich nach dem Krieg das erstemal nach Oesterreich kam, mit Hoffnungen, dass ein neues Leben beginnen wird, eines mit den Erfahrungen der vergangenen boesen Zeit. Und was ist daraus geworden? Ich, der ewige Optimist versuche geschichtliche Betrachtung einer lebenslangen Erfahrung kombinierend, mir ein Bild ueber die Entwicklung, ich moechte sagen Verwirrung, die drueben herrscht zu machen. Die einzige Konklusion: Der Wohlstand hat die Leute nicht besser gemacht als sie in meiner Zeit der Not und Elend waren. Ich bin am Ende meiner Weisheit, Fred, angelangt in vielen Sachen (…). Welche Fehler wurden gemacht die sich jetzt raechen, wie Abraham Lincoln sagte, dass man der Geschichte nicht entweichen kann. Wir glaubten, dass nach Niederlage des Faschismus er tot ist, auch, dass das Bürgertum die Lehre aus ihrer eigenen Niederlage gezogen hat. Du sagtest, dass der Faschismus in anderen Formen wieder auftreten kann. Trotz Haider besteht momentan in dieser Richtung keine Gefahr – die Welt hat andere Sorgen.“ (Richard Berczeller an Fred Sinowatz, 21.5.1989)

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Studium an der Universität WienDie Wiener Universität des 18. und 19. Jahrhunderts wirkt vor allem als eine Erziehungsanstalt der Jesuiten und dient der Ausbildung von loyalen Staatsdienern. Die absolutistische Regierungsform in Verbindung mit der Katholizität der Habsburger verhindert die Ent-stehung von Wissenschaft . Die katholische Kirche be-stimmt den Lehrkörper.

Mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 wird die Freiheit der Wissenschaft und Lehre erklärt. Der Einfl uss der katholischen Kirche wird zurückgedrängt. Es kommen evangelische und jüdische Lehrende an die Universität. Ab 1870 kommt es zu einem starken Anstieg der wis-senschaft lichen Mitarbeiter. Die Universität Wien be-kommt die höchste Reputation in der Monarchie und ein reger wissenschaft licher Austausch fi ndet zwischen den Universitäten in der Monarchie statt.

Es entsteht ein wissenschaft liches Mäzenatentum, das insbesondere vom jüdisch assimilierten Judentum ge-tragen wird. Gegen Ende der 19. Jahrhunderts stam-men rund 58% der Anwälte, 60% der Ärzte und 50% der Journalisten aus jüdischen Familien. Die jüdischen Studenten bevorzugen Medizin und Jus als Studium. Medizin gilt bei den weltlichen Berufen als eine jüdische Tradition. Die Mediziner übernehmen die Meinungs-führerschaft beim kulturellen Wandel. Sie können sich in der bürgerlichen Gesellschaft behaupten und werden auch in der nichtjüdischen Welt anerkannt.

Die Eröff nung des Universitätsgebäudes 1884 spie-gelt diesen wissenschaft lichen Aufb ruch wieder. 1900

besitzt die Wie-ner Universität die zweitgrößte univer-sitäre Bibliothek der Welt. Auf Wiener Boden entstehen die Zweite Wiener me-dizinische Schule, die Österreichische Schule der National-ökonomie und die Wiener Kunsthis-torische Schule, die die Wissenschaft des 20.Jahrhunderts prä-gen.

Die Universität fordert auch die Vermittlung des Wissens an die Bevölkerung, es geht um Liberalität und

Aufk lärung. Die entstehenden Volkshochschulen sind das Ergebnis dieser Bemühungen. Wissenschaft ler werden wertgeschätzt und sind gesellschaft lich anerkannt. Die Universität tritt so in Widerspruch zum christlich-sozialen Bürgermeister Lueger, der diese Art der Volksbildung ablehnt.

In seiner Publikation von 1875 spricht der Chirurg Billroth sich gegen jüdische Studenten an der medizinischen Fakultät aus, da sie aus kulturellen Gründen nicht reif für die medizinische Ausbildung an einer deutschen Universität wären. Die steigende Anzahl jüdischer Lehrender lässt Karl Lueger die Forderung aufstellen, an der Universität mögen nicht jüdische, sondern christliche Professoren lehren.

1907 sind an den weltlichen Fakultäten 16% Professoren, 29% außerordentliche Professoren und 46% Privatdozenten jüdischer Herkunft . Diese Wissenschaft er lehren vor allem an der medizinischen Fakultät.

Nachdem 1897 der Zugang für Frauen zur philosphischen und 1900 zur Medizinischen Fakultät ermöglicht wird, steigt der Anteil der Studentinnen stetig an und erreicht 1914 einen Anteil von rund 35% der Studierenden. Vor allem an der medizinischen Fakultät studieren Frauen, was teilweise durch den Einsatz der Medizinstudenten an der Front bedingt ist. 1916 sind von den 496 Medizinstudentinnen 76% jüdischer Herkunft , die vor allem aus Galizien stammen. Zahlreiche Zuwanderer*innen aus den Kronländern fl üchten vor den Pogromen der russischen Herrschaft . Wien gleicht einem Flüchtlingslager.

Das Ende des Ersten Weltkrieges führt zu einer Auf-

Auf der Universitätsrampe: Richard Berczeller in der Mitte, links von ihm Ferry Hacker, rechts Ludwig Heller

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It was wiser to wait, if you were a Jew, until the Studentenkrawalle abated. I had been in one brawl,

and when I tried to register for the last semester I got into another. An unpleasant fellow wearing the cap of the nationalist student society stopped me. „Let‘s see your credentials,“ he said. I have a Semetic face - at any rate, a prominent nose - but I wasn‘t usually taken for a Jew, probably because of my provincial accent when speaking German. „None of your business,“ I said. „We‘re just checking on Jews,“ he explained,“ he explained with a fraternal smile. „I am a Jew,“ I said. „Get out of my way.“ „What!“ he said. „Why, you damn kike!!“I was muscular from much swimming, soccer-playing, and other athletic activities, and I started to punch him in his Christian nose, but unfortunately one corner of my heavy gynecology atlas somehow became involved and hit him below the left eye. Blood spurted out of a gaping wound. The sight of blood was too much for him, and he fainted. A gang of his friends surrounded me, and I would have been

beaten up if proctors‘ men hadn‘t interfered.

lösung des österreichischen Vielvölkerstaates. Die daraufhin einsetzende Zuwanderungswelle aus den deutschsprachigen Ostgebieten wie Galizien und der Bukowina, die durch eine nationalistische Rumäni-sierungswelle ausgelöst wird, kommen viele jüdische Studenten*innen an die Universität. Der bereits beste-hende Antisemitismus der katholischen Kirche führt zu einer Radikalisierung der nationalen und klerikalen Studentenkreise.

Der „moderne“, rassische und sekuläre Antisemitis-mus hat seine Wurzeln an der Wiener Universität. Er wird zu einer Integrationsideologie für das katholische und deutschnationale Lager. Dieser Antisemitismus wird bei den Inskriptionen zu den Semestern virulent. Deutschnationale und klerikale Studenten versuchen, jüdische Studenten an der Inskription zu hindern. Stu-dentenkrawalle sind die Folge.

Zentrum der Gewalt ist das Erste Anatomische Insti-tut unter der Leitung von Professor Tandler. Es können Beschränkungen für den Zugang jüdischer Studierende aus dem Ausland faktisch durchgesetzt werden. So gibt es Erhöhungen der Inskriptionsgebühren, diskriminie-rende Verteilung der Laborplätze oder die Nichtaner-kennung von Maturazeugnissen.

Gleichzeitig wird vom Professorenkollegium insbeson-ders an der Philosophischen und Rechtswissenschaftli-chen Fakultät die Zulassung von sozialdemokratischen und jüdischen Wissenschaftlern zu Habilitation und Ernennung zu Professoren hintertrieben. An der me-dizinischen Fakultät tritt die Häufung von abgelehnten Habilitationen erst ab 1929 auf. Diese abgelehnten Wis-senschaftler arbeiten außeruniversitär bzw. emigrieren

und machen im Ausland Karriere.

1931 erhält der Nationalsozialistische Deutsche Stu-dentenbund die Mehrheit im Deutschen Studenten-bund, die Katholisch-Nationalen müssen sich mit dem zweiten Platz zufriedengeben. Es kommt zu heftigen Ausschreitungen an der Universität, die mit Duldung durch den Rektor erfolgen. Dieser Terror erfolgt zur Einschüchterung der Studierenden mit dem Ziel, die Universitäten judenfrei zu bekommen und sozialdemo-kratisches Lehrgut zu verbannen.

Von 1934 bis 1938 kommt es zur größten Vertreibungs-welle aus rassischen und politischen Gründen an der Universität Wien. Unter der ständischen Diktatur wer-den vor allem Pensionierungen unter dem Vorwand von Sparnotwendigkeiten durchgeführt und die Ge-samtzahl der Lehrenden um ein Viertel gekürzt. Unter den Nationalsozialisten werden dagegen die Lehrenden durch regimetreue ersetzt. Mehr als 300 Lehrende müs-sen die Universität verlassen. An der medizinischen Fakultät werden allein 175 von 321 Lehrenden (rund 55%) entlassen. Die Zahl der Studierenden sinkt von 1930 bis 1938 um 42%. Die Universität dient einer Elite der Bevölkerung, da nur 0,3% eine Universität besu-chen. Die Vertreibung von nicht erwünschten Studie-renden erfolgt zuerst mit physischer Gewalt und in der Zeit des Austrofaschismus durch explizite Verbote von politischer Betätigung und damit verbundenen Diszip-linierungsmaßnahmen.

Es kommt zu einem wissenschaftlichen Niedergang und zur Provinzialität der Universität Wien. Da auch nach 1945 die nationalen und klerikalen Netzwerke weiter bestehen, erholt sich die Wiener Universität von diesem Aderlass an wissenschaftlicher Exzellenz bis in die heutige Zeit nicht mehr.

Brief 13.11.1988, New York, Richard Berczeller an Fred Sinowatz:

„Wir haben im Jahr 1945 große Fehler begangen, dass wir den Universitäten und Hochschulen keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Die Medizin, die Jurisprundenz, usw., blieb das Gebiet der konserva-tiven Reichshaelfte. ‚Der Kaiser geht, die Generaele bleiben,‘ hiess es in der Weimarer Republik. Im oe-sterreichischen Wohlfahrtsstaat, den wir geschaffen haben, sind wir auf den obigen Gebieten Stiefkinder

geblieben.“

Brief 8.7.1988, New York, Richard Berczeller an Fred Sinowatz:

„Die Uni muss volksnahe gemacht werden. Die einzige positive Errungenschaft der Revolution 1848-49 war die Autonomie der Universität, die zum Schluss zum konservativsten Sektor und schliesslich

zu einer Hochburg des Nazifaschismus wurde.“

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Professoren an der Wiener Universität

Richard Berczeller beginnt im September 1920 sein Medizinstudium an der Wiener Universität. Die Familie lebt zu dieser Zeit in Baden bei Wien. Die finanzielle Lage der Familie ist schwierig, da sie nach der Machtergreifung durch das Horthy Regime in Ungarn aus Sopron flüchten muss.

Von einem Freund und Medizinstudenten erhält er den Tipp, das Café Klinik Spitalgasse 21 vis-à-vis vom Institut der Pathologie zu besuchen. Dieses Café und sein Kellner Franz begleiten ihn während seines Medizinstudiums.

Die Wiener Fakultät der Medizin ist zu dieser Zeit eine wichtige Lehrstätte und weltberühmt. Die Professoren kommen aus allen Teilen der vergangenen Monarchie. Berczeller schildert seine Eindrücke über die Professoren in seinem Buch „Time Was“ von 1971.

Heinrich Neumann (Otologe) und Maximilian Hayek (Halsmedizin)

Diese beiden weltbekannten jüdischen Professoren aus Ungarn arbeiten als Hals-, Nasen- und Ohrenspezialisten. Die beiden sind spinnefeind und so erhält jeder der beiden ein eigenes Spital.

Professor Neumann ist ein vierschrötiger Mann, der immer vor einem vollem Auditorium spricht. Die Studenten warten in seinen Vorlesungen auf die Erzählung einer Anekdote, wofür er berühmt ist. Oftmals besteht seine Vorlesung nur aus Anekdoten und die Studenten biegen sich vor Lachen. 1938 emigriert Neumann in die USA über Paris, wo ihn Berczeller in Straßencafes trifft. Er ist weltbekannt.

Dagegen ist Hayek von kleiner Statur und trägt einen Bart. Er ist der Begründer der modernen Sprachthe-rapie. Seinen Vorlesungen ist schwer zu folgen. Außer den Fachbüchern kennt er keine andere Literatur.

Hayek‘s cellar was addidtionally famous among students. Fuel was scarce in postwar Vienna;

sometimes even the Café Klinik was so cold you could see your breathe, and of course the rooming houses were freezing; but in the cellar of Hayek‘s hospital the blessed steam-heat pipes crisscrossed the ceiling and breathed a gentle tropical heat on the hundreds of students crammed below. The „Hayek Keller“ became as famous as the Herr Professor. Many a night I fell

asleep there over my books.

Clemens von Pirquet (Kinderheilkunde)Pirquet ist ein schmächtiger Mann in seinen späten 40er Jahren. Er ist ein Nachfahre französischer Aristokraten, die vor der Französischen Revolution flüchteten. Er arbeitet zu Hautreaktionen und führt den Begriff Allergie in die Medizin ein. Er entwickelt den Tuberkulin Hauttest, der zur Früherkennung der Tuberkulose dient. Durch seinen bereits großen Ruf erhält er für zwei Jahre eine Professorenstelle an der Johns Hopkins University in Baltimore. 1911 erhält er den Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der Wiener Universitäts-Kinderklinik. Eine Rückkehr nach Baltimore scheitert trotz Intervention von Dr.William Welch an seinen finanziellen Vorstellungen.

Durch seine Kontakte in den USA organisiert er nach dem Ersten Weltkrieg ein Ausspeisungsprojekt der amerikanischen Kinderhilfsorganisationen in Österreich. Im Rahmen der Beschäftigung mit Ernährung entwickelt er das NEM- System (Nähreinheit Milch), um einen Standard für den Nährwert von Nahrung zu schaffen. Das System wird später durch die Kalorienangabe abgelöst.

Kinderheilkunde wird für Dr.Berczeller ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit als Landarzt in Mattersburg. Er erinnert sich an den Satz von Pirquet „Die Behandlung von Kindern ist einfach. Aber die Behandlung der Mütter ist eine Kunst. Sie müssen lernen, ein Künstler der Geduld zu werden.“

Albin Haberda (Gerichtsmedizin)Albin Haberda stammt aus Galizien und promoviert 1891 an der Universität Wien. 1916 erhält er den Lehrstuhl für Gerichtsmedizin. Auf sein Betreiben wird das ehemalige K.u.K. Garnisonsspital für sein Institut in der Sensengasse 2 umgebaut. Er veröffentlicht zahlreiche Studien über Kindesmord, gewaltsame Todesursachen und Abtreibungen.

We doubted that forensic medicine would be of much use on our practices; how often does a

doctor have to deal with murder or suicide? And yet during my years as a country practitioner one of old Haberda‘s lectures was vividly brougt back. I was called to a peasant home deep in the Rosalia Mountains. With tears in his eyes the young man told me that when he had waked up that morning his wife was not in bed. He found her in the barn, a knife stuck in her chest. I examined the body. The knife was still there, piercing throug the fabric of blouse and chemise. What had Haberda said? „Suicides never stick the blade through the fabric - always into the naked body.“ I reported the case to the police; the

young peasant went to jail for life.

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Julius Wagner-Jauregg (Psychiater)Professor Wagner-Jauregg ist ein großer, schlanker Mann mit buschigen Augenbrauen und trägt einen breitrandigen schwarzen Hut. Er promoviert 1880 and der Universität Wien. 1889 kommt er an die Neuropsychiatrische Klinik der Universität Graz. Hier beschäftigt er sich vor allem mit Kretinismus und der Kropfbildung. 1893 wird Wagner-Jauregg außerordentlicher Professor für Psychiatrie und Nervenkrankheiten und Direktor der Niederösterreichischen Landesheil- und Pflegeanstalt in Wien.

Für seine Malariatherapie - erhöhtes Fieber wird durch künstliche Malaria herbeigeführt und soll dadurch Krankheiten, insbesondere Syphilis, heilen - wird er 1927 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Wagner-Jauregg ist ein Vertreter der Rassenhygiene. Sein Schwerpunkt liegt auf der Verhinderung der Fortpflanzung von Erbkranken und der Förderung von erbgesundem Nachwuchs. Er spricht sich aber gegen Schwangerschaftsabbruch und Zwangssterilisation aus. Er betont die Bedeutung der Umwelteinflüsse auf die menschliche Entwicklung.

Nach Berczeller ist Wagner-Jauregg ein konservativer Liberaler. Wagner-Jauregg glaubt zwar, dass psychische Erkrankungen einmal durch Medikamente heilbar sein werden, lehnt aber die Lehren von Breuer, Freud, Alfred Adler ab. Berczeller kommt mit der modernen Psychiatrie erst in Frankreich und den USA in Kontakt.

Ernst Finger (Dermatologe)Ernst Finger stammt aus Prag und promoviert 1878 an der Universität Wien. 1904 wird er zum ordentlichen Professor und Vorstand der II.Klink für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Wien. Im Wien der Nachkriegszeit sind Geschlechtskrankheiten als Kriegserbe reichlich vorhanden. Die Behandlung ist schwierig. Finger führt mit Landsteiner Syphilisstudien durch.

„Ja meine Herren, dies ist die Liebe!“ And Finger pointed at a corkscrew-like spirochete,

the Treponema pallidum, which causes syphilis, rotating on its long axis on a slide under the darkfield micrscope. Hardly twenty years before, Schaudinn had discovered the pale little monster, proving that syphilis came from a microorganism; five years after that a German professor, Ehrlich, found that arsphenamine - the „magic bullet“ - was effective in treating it. During my years of practice in Europe and Africa I gave thousands of intravenous arsenic injections, and also injections of bismuth, a treatment

originated by Finger and used all over the world.

Berczeller beschreibt ihn als Mann mit eleganten Manieren, humorvoll mit dünner, piepsender Stimme. Berczeller erinnert sich an die Behandlung von Hauterkrankungen mit Hydrotherapie, die vor allem bei Juckreiz erfolgreich ist. Erst 1905 hat Schaudinn entdeckt, dass Syphilis durch ein Bakterium entsteht.

Josef Meller (Augenarzt)In Wien gibt es eine große Tradition in der Augenheilkunde. Carl Stellwag von Carion entwickelt das Stellwag-Zeichen zur Diagnose einer Schilddrüsenüberfunktion. Karl Koller schlägt 1884 Kokain als Lokalanästhesie bei Augenoperation vor.

Josef Meller stammt aus Krems. Er trägt einen Zwicker und hat ein rundes Gesicht. Er repräsentiert den typischen Wiener Bürger. 1912 erhält er eine außerordentliche Professur und nach einem Intermezzo in Innsbruck übernimmt er von 1918-1944 den Lehrstuhl für Augenheilkunde in Wien. Er wird von den Studenten nicht geliebt, da er ein Perfektionist ist.

Ernst Pick (Pharmazeut)Ernst Pick stammt aus Böhmen. Er promoviert in Prag. 1904 habilitiert er in Wien im Bereich angewandte medizinische Chemie. 1919 erhält er die Lehrberechtigung für Pharmakologie. 1932 wird er zum Dekan gewählt. Die Deutsche Studentenschaft schreibt daraufhin einen offenen Brief: „Die Deutsche Studentenschaft nimmt mit Entrüstung davon Kenntnis, dass Sie wider Erwarten ihre Wahl zum Dekan der medizinischen Fakultät angenommen haben. Nach wie vor steht die Deutsche Studentenschaft auf ihrem 1923 kundgetanen Standpunkt, dass Professoren jüdischer Volkszugehörigkeit akademische Würdenstellen nicht bekleiden dürfen.“

In those damned little torture chambers the eye-ground was to be explored with the

ophthalmoscope. The source of light, a candle, was in one corner. The problem was to catch the light and get it through the lense into the ophthalmoscope, a terrible maneuver! Often I lost the light and couldn‘t even see the patient‘s eye, to say nothing of the eye-ground. Another time I lost the lens. At the beginning of these miseries I seriously considered switching to another profession, which I had never thought of before, even in my lowest moments. Meller didn‘t trust anyone. The instructors were mere bystanders. The formidable Herr Professor walked tirelessly from cubicle to cubicle, muttering that our whole generation of medical students was no damn good.

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Pick wird 1938 entlassen und pensioniert. Er muss aus der Akademie der Wissenschaften austreten. Mit Hilfe österreichischer Freunde erhält er eine Ausreisegenehmigung nach Paris. Von dort emigriert er in die USA. Mit Hilfe ehemaliger Studenten wird ihm ein wissenschaftliches Labor finanziert.

Er ist ein enthusiastischer Lehrer, insbesondere hat es ihm das Insulin angetan. Er glaubt an die Heilung der Diabetes durch das von Bantin entdeckte Pankreas Extrakt.

Josef Schaffer (Histologe)Josef Schaffer wird in Trient geboren. 1886 promoviert er an der Universität Graz. Dort wird er Assistent an der Lehrkanzel für Histologie und Embryologie unter Viktor von Ebner-Rofenstein und folgt ihm

an die Universität Wien. 1899 leitet Schaffer das embryologische Institut der Universität Wien, 1911 wird er Professor für Histologie und Embryologie an der Universität Graz. 1913 kommt er an die Universität Wien als Nachfolger seines Lehrers Ebner-Rofenstein.

Roland Graßberger (Hygieniker)Roland Graßberger stammt aus Salzburg. 1897 wird er Assistent am Hygienischen Institut der Universität Wien. 1906 wird er außerordentlicher, 1917 ordentlicher Professor.

Als technischer Experte fördert er den Bau der Wiener Hochquellenwasserleitung. Der Abfall wird auf seine Anregung hin in Koloniakübeln gesammelt.

Für die Studierenden sind Fragen über Hygiene ein weites Feld und vor allem bei den Prüfungen gefürchtet! Die Durchfallsrate ist hier die höchste. Grassberger beschäftigt sich mit der Pestplage in Wien. Unter der Regierung von Leopold I. gegen Ende des 17.Jahrhunderts - der Hochblüte des Wiener Barocks - kommt es zu einem heftigem Pestausbruch, der die Bevölkerung dezimiert. Auf Einladung von Leopold I kommt der belgische Arzt Paul de Sorbait zur Höhe des Pestausbruchs 1679 nach Wien. Er fordert die Isolierung der Kranken, die Bestattung der Toten in Gräbern mit vier Metern Tiefe und das Bestreuen der Leichen mit Kalk. Zur Prävention müssen die gesamte Bekleidung und alle Haushaltsgegenstände der Toten verbrannt und die Häuser mit Schwefel ausgeräuchert werden. Es gibt großen Widerstand gegen diese Maßnahmen. Für die katholische Kirche ist die Pest eine Strafe Gottes für das sündige Leben der Wiener. Der Mensch soll dabei nicht eingreifen. Die Kaufleute fürchten durch eine 40-tägige Isolation der Bewohner den Verlust ihrer

I still feel butterflies in my stomach when I think of the somber Institute of Histology building.

Professor Schaffer‘s monotonous voice practically invited his students to take a nap. The only time his voice rose above its dull drone was when he had occasion to speak of his predecessor, Victor Ritter von Rofenstein, who had started the research in the growth of bone tissue, spermatogenesis. In the histology lab we bent over the microscope, learning how to handle it. It seemed to be an impossible undertaking even to reflect light from the source, a candle; but little by little I learned how to differentiate the tissues of the various parts of the body by deciphering the tiny elements of which they were composed. Certainly I never had the talent to become one of the great histologists; I ask myself what I would do now, after forty-four years in practice, if I had to make a microscopic differentiation of the pancreas,

the kidney, the intestine, a blood vessel.

To my misfortune, Pick‘s attention was focused on me. A first cousin of my father was

an outstanding physiologist, who became famous when he discovered the nutrional value of soy beans during World War I; the discovery came as a blessing to starving Central Europe, and the German government gave Lászlo the Iron Cross. Pick, the optimist, the enthusiast, assumed that Lászlo‘s genius had flown to my brow. Looking straight at me, he glowingly described the virtues of the opiates, digitalis leaves, cathartics, and so on and on, and waited for an affirmative move of mine. I would nod and smile. In later life - he died and is buried in New York - he even confused me with Làszlo, who had died in Marseille during World War II. „Well! And what‘s new in the soy-bean world?“ he would cheerfully greet me at medical meetings and social gatherings; and again, as

so many years before, I would nod and smile.

I remember one of the examinations, when a perspiring student was struggling to answer the

intricate questions, and Grassberger asked, „How is it that it is easier to get tanned on a mountain than in a valley?“„Because,“ the student replied with a thin air of confidence, „your are much nearer to the sun.“Everyone laughed; the student tried to hide under the desk. Grassberger bit his mustache. „You‘re Hungarian, aren‘t you?“ he asked„Ja, Herr Professor.“„Do you know what day of the week it is?“„Monday, Herr Professor.“„Correct. There was a Hungarian gypsy who was taken to the gallows on a Monday. ‚The week is not starting too well,‘ he observed as they put the rope around his neck. The next time you come to take the exam, choose another day,“ Grassberger said gently.

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Geschäfte. Die Angehörigen protestieren gegen das Verbrennen der wertvollen Kleidung und Möbel.

Julius Tandler (Anatom)Julius Tandler stammt aus Iglau, Mähren. Er maturiert in Wien und ist ab 1910 Leiter der 1. Anatomischen Lehrkanzel an der Wiener Universität. 1920 wird er Stadtrat für Wohlfahrts- und Gesundheitswesen in Wien. Sein Hauptaugenmerk richtet sich auf die Bekämpfung der Tuberkulose. In Wien errichtet Tandler viele Sozialeinrichtungen wie die Mütterberatung, Eheberatung und Kinderübernahmestelle als Vertreter der sozialistischen Eugenik. Für alle Neugeborene gibt es ein Säuglingspaket. „Wir werden die Armen nicht diskriminieren, auch wenn die Reichen etwas erhalten, was sie nicht brauchen.“

Er errichtet mit dem Chirurgen Schönbauer die erste Krebsberatungsstelle. Die Finanzierung sichert ihm der Wiener Stadtrat Breitner. Er predigt: „Keine Almosen! Gesellschaftliche Verantwortung!“

Er ist ein stämmiger Mann mit einem riesigen Schnauzbart und ein starker Zigarrenraucher. Studentenverbindungen agitieren gegen seine universitäre Lehre und seine jüdische Herkunft. 1934

It was a strange feeling to touch a dead body for the first time. Here was the supreme test of

whether the medical student would be able to stand the strain of the profession. The first sight of the corpses on the dissecting tables did not encourage youngsters with weak nerves. Most of us were pale and quiet, quiet as death, when we entered those vast gloomy chambers and sniffed the strange smell in the air - alcohol and formalin, to prevent decomposition. Some keeled over and were carried out, perhaps to try again, perhaps not. My friend Kurt the goalkeeper (sitting on the soccer ball, as all goalkeepers do) had warned me, and I had wondered: was I to be one of the weaklings? No, but even now, half a century later, I still have that feeling of nausea and fear—and also of pride. Here I was, eighteen, only yesterday a boy in the Gymnasium, reading the unforgettable words above the professor‘s podium:HIC LOCUS EST UBI MORS GAUDET SUCCURERE VITAE (Here death is happy to help

the living)

wird er im Zuge der Februar-Kämpfe verhaftet und verliert seine Professorenstelle. Er emigriert in die Sowjetunion, wo er 1936 stirbt.

Julius von Hochenegg (Chirurgie)Hochenegg wird in Wien geboren und promoviert 1884. 1894 wird er Professor für Chirurgie und 1904 Vorstand der II. Chirurgischen Klinik, ein Nachfolger Billroths. Er beschäftigt sich mit der Krebschirurgie, erichtet ein Röntgeninstitut und die ersten Unfallstationen der Welt.

Hochenegg ist Bartträger und hat einen dicken Bauch. Seine Vorlesungen sind geistvoll und brillant. Er ist ein großer Verehrer Billroths. Vor der Zeit Billroths sind Magen- und Blinddarmoperationen für einen Chirurgen tabu.

Karel Frederik Wenckebach (Kardiologe)

Wenckebach wird in Den Haag geboren und promoviert 1881 an der Universität in Utrecht. 1901 wird er Professor an der Universität in Groningen und 1911 Professor an der Universität in Straßburg. 1914 wird er an die Universität in Wien berufen. Er wird zu einem der wichtigsten Vertreter der Wiener Medizinischen Schule.

Despite these advances, the mortality rate from tuberculosis remained high. What was it Professor

Tandler had said? „The notion that tuberculosis is caused by the bacilli which my distinguished colleague Koch discovered is only partially correct. One has only to consider the percentage of TB among

the poor and among the rich.“

We watched Professor Hochenegg operate in the amphitheater. He was a brilliant lecturer. He still

relied first on the clinical impression, before using X-rays. The Kraske-Hochenegg Operation, removal of a rectum carcinoma, is the accepted method to this day.Tall, heavy-set, with a substantial paunch, gesticulating, stroking his long beard, he liked to tell anecdotes drawn from his and his colleagues practice. „A lady approached my friend and asked him if the appendix was an essential organ. `Definitely, madam,‘ he replied ‚for the surgeon.‘ “ He had a whole catalogue of jokes about clerical patients. „There was this priest from a little town out in the woods somewhere who came to me for the removal of his diseased gall bladder. ‚Once more our good Lord has helped His humble servant,‘ he said piously just before he left, and folded his hands and raised his eyes to heaven. ‚Well,‘ I said, `I‘m damned if I know why He couldn‘t have helped you while you were still at home, instead of making you come all this way.‘ “But often enough Hochenegg was in no mood for jokes. Can one visualize an operation today without blood ready for transfusion? Sometimes the patient became paler and paler while the Operation was in progress. „The Operation was a success, but the patient died.“ Old Hochenegg‘s giant head would drop; he

would lift his hands in a gesture of helplessness.

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Er ist immer elegant gekleidet und spricht mit leiser Stimme. Sein Hauptgebiet sind die Rhythmusstörungen des Herzens.

Franz Chvostek (Internist)Franz Chvostek stammt aus Wien und promoviert 1888 an der Universität Wien. Er ist Bekenner des Studentenwaffentums und Mitglied der Burschenschaft Olympia. 1909 wird er Professor an der III. Medizinischen Klinik in Wien.Er ist ein Gegner des Studiums von Frauen und setzt dies in seinen Lehrveranstaltungen durch. Er schließt sich den antisemitischen völkischen Bewegungen an. Die III. Medizinische Klinik wird in den 1920er Jahren bereits Hakenkreuzklinik genannt.

Er ist von stämmiger Natur und trägt Brille. In seinen Vorlesungen erweist er sich als glühender und wortgewandter Vertreter der Internen Medizin. Das Klopfen und Abhören zur Erkennung von Lungenkrankheiten insbesondere der Tuberkulose wäre schon von Auenbrugger im 18.Jahrhundert verwendet worden und dann in Vergessenheit geraten.

In his auditorium we saw a giant machine (a giant, that is to say, in comparison with the

machines to which it would lead), the original electrocardiograph. An electrode was placed on each of the subject‘s forearms, and one on the left leg; with a mysterious whirring and ticking the machine began to operate, and zigzag lines on small stripes wrote the electrocardiogram. „By this method one can detect arryhthmias,“ Wenckebach explained. (In his book, published in 1921, he stated this. Later he was one of the cardiologists whose attention was drawn to peculiarities shown on those lines; deviations, upand-downward deflections: the „P“ waves, the „T“ waves, the „Q“ waves, the diagnostic criteria of myocardial damage, heart attacks. I did not learn about the present twelve-lead EKG until twenty years later, in

America.)

Beispiel des Verlustes an Wissenschaftern am Institut der Pharmazie 1934-1938

Emigration der Wissenschaftler am Pharmakologischen Institut unter Leitung von Ernst Pick:Ernst Pick (1872-1960), 1911 Eintritt, 1938 Emigration nach Paris und darauf in die USA, 1938 Aberkennung der HabilitationAlfred Fröhlich (1871–1953), 1906 Eintritt, 1910 Habilitation, 1939 Emigration in die USAHans Mautner (1886–1963), 1911 Eintritt, 1938 Emigration in die USALeo Pollak (1878–1946), in den 1920er Eintritt, 1939 Emigration nach EnglandHans Molitor (1895–1970), 1922 Eintritt, 1927 Habilitation, 1932 Emigration in die USA, 1938 Aberkennung der HabilitationSusi Glaubach (1893–1964), 1925 Eintritt, 1938 Emigration in die USAHans Sigmund Heller (1905–1974), 1931 Eintritt, 1934 Emigration nach EnglandKlaus Robert Walter Unna (1908–1987), 1933 Eintritt (Flucht aus dem Deutschen Reich), 1937 Emigration in die USADavid Lehr (1910–2010), 1934 Eintritt, 1938 Emigration nach Schweden und 1939 in die USA

Erkrankung an Tuberkulose 1926

His shirt cuffs often rolled up and down his arms as he listened to the patient‘s chest and gestured

and thundered his observations to us. From him I first heard the word „hyperthyroidism.“ The son of a world-famous physician (the „Chvostek sign“ in tetanus was named for his father), he lived up to his father‘s reputation as a clinician. When he lectured and demonstrated, the auditorium was always crammed. He was implacably against women in medicine. „In der Küchen, in der Kirchen, mit Kinder, ja“ but not as physicians. Otherwise he was understanding and wonderfully tolerant of his students‘ ignorance. „I don‘t know much more than you do,“ he would shout. It counted practically as a miracle to flunk one of his

exams (I achieved the miracle).

Am Morgen des 18. September — für mich ein unvergeßliches Datum — rasierte ich mich

gerade, als ich zu husten begann. Hervor kam ein wenig hellrotes Blut. Ich schaute in den Spiegel wie auf einen Geist: ganz bleiches Gesicht, die Backenknochen standen noch schärfer hervor als sonst. Ich nahm das Thermometer aus dem Schrank, in wenigen Minuten zeigte es 38,5 Grad. Irgendwie beendete ich die Rasur; ich trocknete die Rasierklinge, als ich wieder husten mußte und abermals Blut spuckte. Ich wusch das Blut ab, zog mich rasch an und ging durch die Seitentür hinaus, um Mutter nicht treffen zu müssen, die gerade im Vorzimmer aufräumte.Ich ging in Vaters Büro und erzählte ihm alles. Er war kein Arzt, hatte aber in seinem ganzen Leben stets mit Doktoren zu tun gehabt. Die Hälfte der von seiner Krankenkasse betreuten Patienten war lungenkrank. Seine sonst ruhigen Züge zuckten zusammen, beruhigten sich aber schnell wieder.

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„Vielleicht ist es nur ein Schnupfen. Wir gehen zu Dr.Nindl, damit er dich ein bißchen anschaut.“

Dr.Nindl, Chefarzt der Krankenkasse, sagte nach meiner Untersuchung genau das, was ich von ihm erwartete, dasselbe, was ich an seiner Stelle gesagt hätte: „Wir brauchen noch einige weitere Untersuchungen.“ Er ging mit Vater ins Nebenzimmer; als sie zurückkamen, rief Dr.Nindl das Sanatorium in Grimmenstein an. Für mich war das auch keine Überraschung, denn Bluthusten ist ja schließlich ein Zeichen fortgeschrittener Tuberkulose.Mit Herrn Butschek am Lenkrad und Mutter neben mir auf dem Rücksitz kletterte der Daimler die Serpentinen hinauf; Mutter hielt meine Hand, als wäre ich wieder sechs Jahre alt und murmelte immer wieder: „Wird schon alles gut werden, wird schon alles gut werden.“ Auf den Fichten lag früher Schnee, die Luft war scharf. Ich erinnerte mich an Veras gerötetes Gesicht, als wir auf den Schneeberg kraxelten, an ihre kalten Lippen, an den Wolfsappetit, mit dem wir Brot und Salami verschlangen, nachdem wir uns geliebt hatten, und an den Anblick des Tales weit unter uns. Hier war nun ein anderer Berggipfel.Grimmenstein war ein Sanatorium für TBC-kranke Angestellte. Das hochmoderne Spital war ständig voll, galt doch damals die Tuberkulose als „Killer“ Nummer Eins. Ich hätte gewiß nicht so schnell einen Platz bekommen, wäre es nicht aus Rücksicht auf Vaters Stellung gewesen; dies erklärte auch den Umstand, daß wir von Chefarzt Dr.Mändl höchstpersönlich empfangen wurden. Er war erst in den Dreißigern, hatte sich aber schon einen beachtlichen Ruf als TBC-Spezialist erworben. Ich kann mich noch sehr gut an ihn erinnern, an seinen hohen, kräftigen Körper, sein rötliches Gesicht, seine Manieren.Er nahm mich in sein Zimmer, wo ich mich für die Untersuchung auszog. „Atmen. Husten. Atmen. Husten.“ Er drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch, herein kam eine hübsche Krankenschwester. Ich erinnere mich noch, daß ich selbst in meinem damaligen Elend daran dachte, ob ich sie wiedersehen werde. „Brustaufnahme AP und lateral. Sputum. Sedimentrate“ , sagte Dr.Mändl. Später, als ich zurückkam, fand ich ihn beim Entziffern eines feuchten Filmes Er drehte sich um, als ich eintrat. „Setzen Sie sich.“ Ich tat wie geheißen. „Also, wann hatten Sie zum Erstenmal das Gefühl, daß irgendwas nicht stimmt?“„Heute in der Früh.“„Und früher? Kein Gewichtsverlust, kein Schwitzen in der Nacht, Husten — die Frühsymptome halt?“„Nun - ja und nein.“„Typische Doktoren! Wenn ein Patient nur eines

dieser Symptome nicht bemerkt, würden Sie ihn

für einen Idioten halten, nicht wahr?“„Jawohl, Herr Primarius.“Dann bleiben wir bei den Tatsachen - ich mag keine Zeit verlieren. Können Sie eine Brustaufnahme ablesen?“„Ein wenig.“„Dann schauen Sie sich‘s mal an.“Ein denkbar einfacher Fall: Tuberkulöse Gewebeveränderungen von beiden oberen Lungenlappen, eine Kaverne von der Größe einer Walnuß unter dem linken Schlüsselbein.Die hübsche Krankenschwester brachte die Laborergebnisse. Dr.Mändl warf einen raschen Blick auf die Papiere. „Sputum positiv auf Säure. Sedimentrate: fünfzig. Klar?“Ziemlich klar. „Ja, Herr Primarius.“„Dann wollen wir die Sache besprechen; Sie sind ja schließlich Doktor, mußten doch etwas an der Universität gelernt haben. Zuerst werden wir Pneumothorax probieren — wenn‘s klappt, sind wir überm Wasser. Gibt es Verwachsungen, so kann vielleicht der Jacobeus herhalten. Und als ultimum refugium: Thorakoplastik. Verstanden?“„Ja, Herr Primarius.“„Und jetzt marsch ins Bett!“....

Der September verging, ebenso der Oktober, der November und der Dezember. Im Jänner war es mir erlaubt, im Labor zu arbeiten, aber nicht mit den anderen Doktoren im Speisesaal zu essen. Mändl entdeckte mich einmal dort. „Hinaus! Ein Patient ist ein Patient!“Am 15. März ließ mich Mändl zu sich rufen. Sein Gesicht war freundlich, oder beinahe. „Die Zeit zum Faulenzen ist vorbei“, sagte er. „Pneumothorax funktioniert. Im Krankenhaus der Stadt Wien werden Sie die nächsten drei Jahre dreimal im Monat aufgefüllt, verstanden! Und noch eines: Leben Sie maßvoll! Mit Maß! Alkohol, Sex, Rauchen - alles mit Maß. Und jeden Nachmittag eine Stunde ruhen.“ Ich ruhe noch heute jeden Nachmittag eine Stunde.„Danke sehr, Herr Primarius.“ Ich verneigte mich und ging zur Tür. Er rief mich zurück. „Also passen Sie auf. Merken Sie sich das als eine Regel für den Rest Ihres Lebens. Keine Freunderlwirtschaft mit Patienten! Eine klare, unpersönliche Haltung ist das beste für die Patienten und auch für Sie. Nur wenn ihr Doktor den Abstand wahrt, werden sie sich in Sicherheit fühlen.“Der zweite Name meines Sohnes ist Hanns. Hanns Mändl starb im Alter von dreiundvierzig Jahren an einer zu spät erkannten Nierenkrankheit. Sich selbst hat er vernachlässigt, wie übrigens die meisten Ärzte..

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Gesundheitswesen am LandIm 18.Jahrhundert sind die Grundherren mit der Gesunderhaltung der Bevölkerung am Lande betraut. Sie stützen sich auf die Bader mit der Badstube als Gesundheitszentrum, Wundärzte mit chirurgischen Praxen und Hebammen. Grundherrschaft liche Apotheken stellen die Arzneien zur Verfügung. In Spitälern werden vor allem Menschen mit körperlichen Gebrechen und Schlaganfallpatienten betreut.

Die Bader sind in Zünft en organisiert. Die Bader- und Wundarztverordnungen von Wr.Neustadt bzw. Ödenburg regeln die Rechte und Pfl ichten der Bader. So wird nach drei Jahren Lehre eine Wanderzeit von 3-5 Jahren gefordert. 1770 erlässt Maria Th eresia das Sanitätshauptnormativ, wodurch die medizinischen Versorgung unter die Aufsicht der Medizinischen Fakultät gestellt wird. Die Bader und Wundärzte müssen sich einer Prüfung durch die medizinische Fakultät der Universität unterziehen. Die Hauptverantwortung tragen nun staatliche Stellen und nicht mehr der Grundherr. Studierte Ärzte sind mit den innerlich angewandten Th erapieformen (Cura Interna) beauft ragt. Für die äußerliche Behandlung der Kranken (Cura Externa) sind der Bader, Wundarzt oder Chirurg, Brucharzt und Zahnarzt zuständig.

In Mattersburg wird das Vorhandensein eines Baders und einer Badstube um 1530 dokumentiert. Um 1650 wird durch einen Bader ein Spital gegründet, das bis in das 19.Jahrhundert vom Pfarrer verwaltet wird.

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Verordnung vom Komitat Ödenburg von 1842 : An Arme verabreichte Medikamente sind durch die Gemeinde zu bezahlen

Text über Rettungsmittel aus dem Jahre

1820

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das künstliche Kollabieren eines Lungenfl ügels soll die Lunge zur Ausheilung der erkrankten Stellen angeregt werden. Aber erst sozial- und gesundheitspolitische Maßnahmen reduzieren die Tuberkuloseerkrankun-gen. Erst nach 1945 kann durch chirurgische und me-dikamentöse Behandlung die Tuberkulose wirksam be-kämpft werden.

TrachomDiese bakterielle Infektion des Auges vor allem bei Kin-dern führt unbehandelt zur Erblindung. Schlechte hy-gienische Verhältnisse fördern die Übertragung dieser Krankheit.

DiphterieDiphterie ist eine stark ansteckende Infektionskrank-heit. Die Atmung wird durch das Anschwellen des Halses erschwert. So muss bei Verschluss der Atmen-wege ein Luft röhrenschnitt erfolgen. Es muss strenge Bettruhe eingehalten werden, damit es zu keiner Herz-schädigung kommt. Die Unterscheidung der Diphterie von anderen Halsinfektionen ist schwierig. In Matters-burg tritt die Krankheit häufi g auf.

CholeraDie Krankheit zeigt sich durch Brechdurchfall, Flüs-sigkeitsverlust und darauf folgendem Koma und Haut-ausschlag. Komplikationen können dazukommen. Die Verbreitung dieser Infektionskrankheit ist vor allem auf Hygieneprobleme wie verunreinigtes Trinkwasser zurückzuführen. Unbehandelt besteht eine 60% Sterb-lichkeitsrate. In den 1830er Jahren wütet eine schwere Choleraepidemie in Mattersdorf, die aus Asien nach Europa eingeschleppt wurde.

Zähne ziehenFür einen Landarzt ist das Zähneziehen Teil seiner Aufgaben. Dr.Berczeller verlangt dafür ohne Betäu-bung 3 Schilling, mit Betäubung 5 Schilling - es heißt Zahnziehen mit oder ohne Schmerz. Der Nachbar von Dr.Berczeller ist Dr.Gieskann, der vor allem Zahnbe-handlungen durchführt.

Kleine OperationenDurch die landwirtschaft lichen und handwerklichen Arbeiten treten viele Verletzungen und Knochenbrüche auf. Es ist Aufgabe des Landarztes, Wunden zu nähen und Knochenbrüche zu schienen.

EntbindungenÜblicherweise erfolgen die Entbindungen durch eine Hebamme, die von der Gemeinde bezahlt wird. In schwierigen Fällen oder auf Wunsch der Frau wird die Entbindung durch den Arzt durchgeführt.

Krankheiten Aufgaben eines Landarztes

Die kalte Jahreszeit bringt auch die meisten Krankhei-ten. Es treten vor allem Lungentzündung, Herzinfarkt, Bronchitis, Diphterie, Masern und Grippe vermehrt auf. Daneben sind die Tuberkulose, Typhus und Diph-terie endemische Krankheiten in Mattersburg.

Ein Arzt hat auch soziale Aufgaben zu lösen. So schildert Berczeller, wie er durch den neuartigen Blutgruppentest von Dr.Landsteiner einen Vater zur Anerkennung eines Kindes veranlassen kann. Das Kind hatte die Enkelin der Hebamme Handler vom Förster bekommen. Er ist Universalarzt und Seelenarzt in einem.

InfektionenInfektionen bedeuten ein hohes Risiko, da keine Anti-biotika zur Verfügung stehen. So sind Mittelohrenent-zündungen eine gefährliche Krankheit. Wird das Eiter nicht zeitgerecht punktiert, muss das Ohr beim Schlä-fenbein operiert werden. Sonst besteht die Gefahr einer Hirnhautentzündung bzw. Sepsis.

Für Halserkrankungen wird die Einnahme von Aspirin und zum Gurgeln Peroxid verwendet. Da es keine Imp-fungen gibt, grassieren Keuchhusten, Masern, Schaf-blattern, Röteln. Viele Kinder sterben daran.

TyphusIn den Winterjahren 1930-1931 tritt Typhus in Mat-tersburg epidemieartig auf. Die Krankheit äußert sich in Husten, Bauchschmerzen, Darmverstopfung und hohem Fieber. Der Krankheitsverlauf kann bis zu 6 Wochen dauern. Diese Infektionskrankheit ist vor al-lem auf die Situation der Trinkwasserversorgung und Abwasserbehandlung zurückzuführen. Sie wird haupt-sächlich durch verunreinigte Lebensmitteln oder ver-schmutztes Wasser übertragen.

Tuberkulose Robert Koch entdeckt den Erreger der Tuberkulose. Die Übertragung erfolgt durch Tröpfcheninfektion. Die Rohmilch ist eine Infektionsquelle, da Rinder an Tuber-kulose erkranken können.

Tuberkulose ist vor der Anwendung von Antibiotika die häufi gste Todesursache vor allem der ärmeren Bevölke-rungsgruppen. Durch schlechte Ernährung, ungesunde Wohnverhältnisse ist der Ausbruch der Krankheit be-günstigt. 1867 sterben 26.5% der Wiener an Tuberku-lose. Sie wird auch als „Morbus Viennensis“ (Wiener Krankheit) bezeichnet.

Die Behandlung erfolgt zu Beginn des 20.Jahrhunderts durch eine Luft kur in Lungenheilstätten und durch ei-nen chirurgischen Eingriff , die Pneumothorax. Durch

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LandarztDr.Richard Berczeller erfährt, dass durch den Tod des jüdischen Arztes Dr.Max eine Arztstelle in Mattersburg zu besetzen ist. Gleichzeitig stirbt auch der zweite Arzt in Mattersburg Dr.Dinda. Seine positiven Erinnerun-gen an das Burgenland und das Leben mit seiner Fami-lie in Sauerbrunn treiben ihn dazu, in der Wiener Kli-nik um eine Beurlaubung für sechs Monate anzusuchen und die Stelle eines Landarztes anzunehmen. Er kann sich noch an das zweistöckige, eigelbe Haus des Dr.Max im Zentrum von Mattersburg erinnern.

Dr.Max hatte ihn manchmal auf seine Patientenvisiten mitgenommen. Er war ein kleiner Mann mit großem Bauch. Mit seinem mächtigen Pelzmantel und stets ernstem Gesicht sah er Ehrfurcht gebietend aus. Seine Diagnose entsprach einem Urteilsspruch. Er hätte seine Landpraxis mit keiner „Nichtstuer“ Arztstelle in Wien getauscht.

Da Frau Max die Ordination ihres verstorbenen Mannes nicht vermieten will, entdeckt Dr.Berczeller am Hauptplatz von Mattersburg ein modernes Haus, das einem Herrn Wilfing gehört. Die Familie Wilfing

Gemeinde Mattersdorf bezahlt die verschriebenen Medikamente an die Apotheke

A r z n e i v e r -s chre ibungen von Dr.Dinda

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besitzt eine große Landwirtschaft . Richard Berczeller mietet den Oberstock des Hauses am Hauptplatz 2. Im Erdgeschoss befi ndet sich ein Lebensmittelgeschäft . Eine schwarze Namenstafel mit Goldbuchstaben wird am Tor angebracht. Die Wohnung wird in Ordination und Wohnbereich geteilt. In einer Ecke installiert er ein Röntgengerät, das erste im Burgenland in einer Arztpraxis.

Seine erste Patientin ist eine Frau Sonnenschein. Sie hat Brustkrebs. Sein zweiter Patient ist der Wildhüter des Fürsten Esterházy, der starkes Vertrauen in jüdi-sche Ärzte hat. Erst nach einiger Zeit erhält er Kontakt mit der jüdischen Bevölkerung. Er wird in das Haus des Rabbi Sobelstein gebeten. Das Haus liegt gegen-über der Synagoge. Das Tor stammt aus der Barockzeit und das Gebäude selbst mit seinen Höfen, Lauben und bröckelnden Wänden aus der Renaissance. Nach einem Gespräch mit dem Rabbi wird er nun auch als Arzt der jüdischen Gemeinschaft anerkannt. Da Berczeller die orthodoxen jüdischen Vorstellungen der Gemeinde nicht annimmt, erklärt ihn der Oberrabbiner zu einem

geheimen Zaddik (Gelehrten), wodurch er auch die Anerkennung als Arzt für die jüdsche Bevölkerung er-hält. In der orthodoxen jüdischen Gemeinde ist außer-dem die Behandlung durch einen nichtjüdischen Arzt untersagt.

Nach der Machtergreifung durch Dollfuß und die Vaterländische Front werden Sozialisten verfolgt. So verliert Dr.Berczeller seinen Krankenkassenvertrag und in der Folge muss er sein Auto, einen Opel Steyr, verkaufen. Die Patientenvisiten in Marz, Rohrbach, Forchtenau erfolgen nun zu Fuß. Sein Vater Alfred Berczeller, Direktor der burgenländischen Krankenkasse, wird pensioniert.

Die Arzthonorare werden zumeist nicht gleich bezahlt, da die vornehmlich landwirtschaft liche Bevölkerung erst nach der Ernte genügend Geld besitzt. Oft mals kommt es auch zu einem „Taschgeschäft .“ So bringt ihm Herr Schwarz, der Seltzer (Sodawassererzeuger), als Bezahlung blaue Flaschen mit Sodawasser. Auch ist es üblich, dass die bäuerliche Bevölkerung ihm die Honorare mit Früchten wie Ananas, Kirschen bezahlt. Dies ist auch eine Wertschätzung der bäuerlichen Be-völkerung für den Arzt und hat den Charakter einer Opfergabe. Arzt und Priester ergänzen sich.

Da nicht alle in Mattersburg ein Radio besitzen, gibt es den „Radio“ Patienten. So kommt der Vater von Iles Gelles, dem Schuhmacher, der Berczeller später bei der Schilderung des Aaron Pate steht, regelmäßig als Pati-ent, um im Warteraum die Radionachrichten anzuhö-ren. So hört er auch die Abdankungsrede von Schusch-nig bei Dr.Berczeller.

Der Arzt kennt das Leben der Bevölkerung und deren familiäre Verhältnisse. Gleichzeitig wird er nicht nur während der Ordination auf Krankheiten angespro-chen. So kommt es zu einer intensiveren Betreuung der Patienten. Die Einlieferung in ein Spital bedeutet für die Menschen ein Herausreißen aus der gewohnten Umgebung und die Auslieferung an „unwissende“ Ärz-te. Zudem sind den Landärzten auch die lokalen Rezep-te und Heilkräuter gegen Krankheiten bekannt.

Die Fahrt zu den Patient*innen dauert mit dem kleinen Auto von Berczeller zum Beispiel nach Rohrbach eine halbe Stunde. Aber ab der Ortseinfahrt ist die Gemein-destraße praktisch zu jeder Jahreszeit unbefahrbar, so-dass der Dr.Berczeller den Weg zu Fuß fortsetzt. Die Si-tuation in der Rosalia ist noch schwieriger. Die Anfahrt kann bis zu 4 Stunden dauern.

Dr.Richard Berczeller mit seinem Opel Steyr in Mattersburg 1933 - am Lenkrad sein Sohn Peter

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Arzt in Emigration Displaced doctor

Nach seiner Emigration nach Paris 1938 wohnt Dr.Berczeller im Hotel Liberté in der Rue Nancy. Dort trifft er Herrn Gárdos, einen ehemaligen Minister der kurzlebigen ungarischen Republik. Dieser vermittelt ihm ein Treffen mit dem Ungarn Dr.Kalmár, Direktor des kleinen Spitals Clinique Royale in der Rue Richer. Als Dr.Berczeller entdeckt, dass dies eine Abtreibungsklinik ist, sagt er ab.

Dr.Kalmár bietet ihm nun eine Arbeit in einem Labor bei einem Herrn Sultan an. Sultan emigrierte aus der Türkei, da er in einen Putsch gegen Kemal Atatürk verwickelt war. Diese Arbeit als Urlaubsvertretung in einem Labor ermöglicht ihm, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und die Ankunft seiner Familie vorzubereiten.

Ab und zu besucht er Dr.Kalmár in seiner Klinik. Eines Morgens findet er ihn tot in seinem Büro auf. Nun stellt sich heraus, dass Dr.Kalmár eigentlich Remecky hieß und kein Arzt, sondern Makler war.

LaborarztNach der Ankunft seiner Frau und seines Sohnes sucht Dr.Berczeller eine neue Arbeitsstelle. Er findet die Möglichkeit, Zahnarztmaterial zu verkaufen. Trotz vieler Telefonanrufe schafft er es nicht, etwas zu verkaufen. So lässt er davon ab. Er sieht dann die Möglichkeit, in der Fremdenlegion als Arzt zu arbeiten. Auch hier erhält er eine Absage, da die Fremdenlegion keine Ärzte ohne entsprechende Papiere beschäftigt. Aber ihm wird die Möglichkeit eröffnet, in den Westafrikanischen französischen Kolonien in der Elfenbeinküste als Arzt tätig zu sein. Er erhält aber die Warnung, dass dort Malaria, Gelbfieber und Pocken endemisch seien und erst ein Beschluss einer Kommission dafür nötig ist.

Bordell-Arzt in ParisDr.Berczeller trifft Herrn Lupescu, einen singenden Zauberer in den Varietés. Er hätte eine Freundin in einem Etablissement in der Rue Blondel, das einen Arzt benötigen würde. Diese Freundin, genannt La Merveilleuse sucht einen Arzt, der ihre Damen auf Geschlechtskrankheiten untersucht. Die Behandlung der Gonorrhö hat sich zu dieser Zeit durch das Medikament mit dem Wirkstoff Sulfapyridine vereinfacht.

Dr.Berczeller kann sich nun durch sein regelmäßiges Einkommen nach einer besseren Unterkunft für seine Familie umschauen. Gegenüber dem Friedhof Père Lachaise findet er ein günstiges Appartement, das er für 5 Jahre mietet.

Hilfsarzt in Abidjan, AfrikaIm November 1938 erhält er die Nachricht, dass er zwar nicht als Arzt, aber als Arzthelfer in die Elfenbeinküste Abidjan gehen kann. Er nimmt die Stelle an. Mit seiner Familie reist er an die Elfenbeinküste. Die ersten Eindrücke nach seiner Ankunft machen ihn nachdenklich. Im Spital von Abidjan liegen die Kranken auf Matten. Es gibt praktisch keine Krankenbetten. Er findet hier Patienten mit Schwarzfieber (Leishmaniose), Gelbfieber, Syphilis und sehr oft Pocken. In den Entbindungsstationen sind vor allem Hebammen tätig. Kinder zeigen fortgeschrittene Rachitis. Eine Station beherbergt die Leprakranken. In ländlichen Gebieten befinden sich Gesundheitsstationen „Maternités“, die die Gesundheitsversorgung sicherstellen sollen.

Sie wohnen in einem vier Zimmer Appartement mit zwei Dienern. Seine Frau Maria etabliert eine Wiener Küche mit Strudel, Mohnstriezel, Schnitzel und Nudeln. Das Lebensmittelgeschäft einer syrischen Familie besorgt ihr die dafür notwendigen Mohnsamen und Zwetschkenmarmelade. Sein Sohn Peter sieht keinen Grund, in die Schule zu gehen: „Es hat keinen Sinn, in die Schule zu gehen, nirgends sind wir lange.“

Ein möglicher Wiederausbruch der früheren Erkrankung an Tuberkulose erfordert die Rückkehr nach Paris. Mit einem Frachtschiff kehren sie nach Frankreich zurück.

Rückkehr nach ParisIm September 1939 findet die Familie ein Zimmer im Bvd. Richard Lenoir. Der Wiederausbruch der Tuberkulose kann durch ein Röntgenbild nicht bestätigt werden. Bei Kriegsbeginn, als deutsche Truppen in Polen einmarschieren, werden alle feindlichen Ausländer wie auch Dr.Berczeller verhaftet und im Stadion von Colombes interniert. Am 14. November 1939 werden sie in das Lager von Montargis gebracht. Am 10. Feber 1940 wird er mit Tuberkuloseverdacht entlassen.

Nach dem Vormarsch der Deutschen nach Paris flüchtet die Familie Berczeller am 10. Juli 1940 mit einigen wenigen Habseligkeiten. Im Bahnhof Gare d‘Orléans können sie einen Zug in den Süden ergattern. Wohin die Reise gehen wird, wissen sie nicht. Sie steigen bei der letzten Station des Zuges in Mountauban aus. Die Stadt ist voller Flüchtlinge.

Hotelarzt in MontaubanIm Hotel des Pyrenees erhalten sie ein Zimmer. Da alle Ärzte geflüchtet sind, kann Dr.Berczeller den Einwohnern und Flüchtlingen ärztlich beistehen. Da das Gebiet unter dem Regime der Vichy-Regierung steht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis alle Flüchtlinge

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den Deutschen ausgeliefert werden. Es werden Überlegungen angestellt, wohin sie sich in Sicherheit bringen sollen. In die Schweiz oder nach Spanien? Visa nach Übersee sind nicht zu erhalten.

Im März 1941 eröff net sich die Möglichkeit, in Marseille im Konsulat der USA Visa zu erhalten, falls ein Schifft icket vorgewiesen werden kann. Sie fahren nun nach Marseille und nach vier Wochen gibt es einen Frachter, der nach Martinique fährt. Daraufh in erhalten sie die Visa. Wyoming heißt das Schiff . Das Schiff wird aber in Casablanca an der Weiterfahrt gehindert und beschlagnahmt. Es wird ihnen die Möglichkeit angeboten, nach Frankreich zurückzukehren oder in ein Internierungslager zu gehen.

Milchlieferant und LagerarztDie Familie kommt in ein Lager der Fremdenlegion in Sidi al Ajachi. Die Berczellers leben in Baracken mit rund fünfzig Familien. Das Klima ist heiß und schwül. Dr.Berczeller erhält den Auft rag, täglich die Milch für die Kinder aus Azzemour in das Lager zu bringen. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal und Durchfallserkrankungen nehmen überhand. Sohn Peter erkrankt schwer.

Glücklicherweise erhalten sie über die Hebrew Immigrant Aid Society ein Ticket in die USA mit dem Schiff Nyassa. Am 1. August 1941 brechen sie nach New York City auf und am 9. August betreten sie New Yorker Boden.

Sprachschüler und Arzt im SommercampAuf der Suche nach Arbeit bietet ihm ein Geschichtslehrer in einer Mittelschule in der Bronx eine Stelle als Arzt in einem Sommercamp für Kinder an, Camp Naivelt in den Catskill Mountains. Das Gehalt

ist gering, jedoch haben er und sein Sohn Peter freie Kost und Logis. Richards mangelnde Sprachkenntnisse erfordern die Übersetzung durch Peter. Seine Arbeit besteht im Aufb ringen von Salben auf Gelsenstiche, Behandeln von Halsentzündungen und der Betreuung von fi ebernden Jugendlichen. Vier junge Mädchen nehmen sich seiner an und versuchen, ihn im Camp Englisch zu lehren.

Botendienst und LadenhelferEin Lebensmittelgeschäft bietet Dr.Berczeller an, seine Bestellungen auszuliefern. Mit einem Handkarren muss er die Waren über Kopfsteinpfl aster ziehen, was einen Höllenlärm verursacht. Bald erhält er die Möglichkeit, im Laden zu arbeiten. Der Besitzer, Herr Siegfried, meint, er hätte einen guten Lebensmittelhändler abgeben können, wenn er nicht Arzt geworden wäre. Seine Frau Maria hat inzwischen eine Arbeit in einer kleinen Werkstätte gefunden. Herr Siegfried versucht ihm eine Praktikantenstelle in einem Spital zu verschaff en. Da er aber nur ein Emergency Rescue Visa hat, kann er nicht als Praktikant beschäft igt werden.

Arzt im Altenheim

Dr.Berczeller erhält eine Arztstelle in einem Altenheim. Die Stimmung dort ist sehr depressiv. Mit ihm arbeitet ein Arzt, ein deutscher Flüchtling, der ihn bei der Behandlung der Alten unterstützt. Gleichzeitig studiert er für die State Board Prüfung. Im September 1944 erhält er die Arztlizenz.

Dr.Richard Berczeller als Arzt in Camp Naivelt

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Praktischer Arzt in New YorkIm Jänner 1945 eröff net Dr.Berczeller in der 18th Street in einem Armenviertel im Gas House District

eine Praxis. Seine Frau Maria hätte eine Praxis in einer kleinen Stadt vorgezogen, da es in New York schwierig sein werde, Patient*innen zu gewinnen. Patient*innen würden in einer Stadt eher einen Spezialisten als einen praktischen Arzt aufsuchen. Zusätzlich müsste eine entsprechende Ordination ausgestattet und eine Schwester beschäft igt werden.

Trotz den Mahnungen seiner Frau Maria übernimmt er die Ordination eines 90-jährigen deutschen Arztes, der vor kurzem gestorben ist. Da innerhalb von drei

Dr.Richard Berczeller vor seiner Ordination in New York 1945

Wochen nur ein Patient erscheint, wird die fi nanzielle Situation kritisch und die Raten für die Kredite werden fällig. Seine Frau Maria hat die Arbeit in der Fabrik aufgegeben und will in der Praxis helfen. Durch einen glücklichen Zufall eröff net sich für sie die Möglichkeit, eine Catering Firma aufzumachen. Leider zeigt sich nach einigen Monaten, dass die Kosten für den Betrieb zu hoch sind.

SchularztUm das Einkommen aufzubessern, nimmt Dr.Berczeller eine Stelle als Schularzt an. Er hat wenig Erfahrung mit Schulkindern. Er muss vor allem Impfungen gegen Pocken, Immunisierungen gegen Diphterie, Tetanus und Keuchhusten durchführen.

Drei Nachmittage in der Woche arbeitet er noch in der Klinik Beth Israel, die Patienten versorgt, die nur geringes oder kein Honorar zahlen können.

Arzt der österreichischen Ausländer Durch seine rege Tätigkeit in Verein und seine schrift stellerische Arbeit wird er Arzt von Auslandösterreichern und durch die österreichische Botschaft werden ihm Patienten geschickt. So betreut er auch Bundeskanzler Klaus. Sein Sohn Peter behandelt Bundespräsident Klestil, der in New York ständiger Vertreter Österreichs bei der UNO ist und als österreichischer Botschaft er in Washington arbeitet.

„In Paris langten wir mit zwanzig Mark an - genug für zwei Tage. Ich dachte, ich würde in

Frankreich meine Praxis ausüben können. Doch da irrte ich. Mein Doktordiplom, das Diplom der berühmten Wiener Medizinischen Fakultät, auf die ich so stolz war, wurde in Frankreich nicht anerkannt. Zu meinem Glück waren genügend Flüchtlinge aus Österreich in Paris, die einen Arzt brauchten, und ich übte meinen Beruf illegal aus. Ich kam drauf, daß man mit einem Stethoskop und einer Injektionsspritze auch ohne Diplom Hausvisiten machen kann. Meine ‚Praxis‘ breitete sich aus, und auch Franzosen konsultierten den billigen Arzt.“ (aus

„...mit Österreich verbunden“ S.338)

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Arzttasche von Dr.BerczellerFolgende medizinische Instrumente befi nden sich in der Ärztetasche für Hausbesuche:

Ohrenspritze zur Reinigung und Spülen der Ohren

Klemme zum Abklemmen von Blutgefäßen

Nasenspekulum zur Durchführung einer Nasenspiegelung

Amputationsmesser

Ohrenpinzette zur Entfernung von Fremdkörpern aus dem äußeren Gehörgang

Verbandschere zum Aufschneiden von Verbänden mit gerundeter Spezialspitze

Ref lexhammer für neurologische Tests

Stethoskop dient zur Beurteilung der Geräusche des Herzens, der Lunge und des Darmes

K e h l k o p f s p i e g e l zur Untersuchung des Kehlkopfes

E p r o u v e t t e oder Reagenzglas mit Volumenskala zur Messung der Blutsenkung

Ref lexhammer für neurologische Tests

Klemme zum Abklemmen von Blutgefäßen

Amputationsmesser

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Das literarische Leben des Dr.B.In den 1960er Jahren, mehr als 20 Jahre nach seiner Vertreibung aus Mattersburg, beginnt Richard Berczel-ler ein Leben als Schrift steller. Er schreibt in englischer Sprache, die er nur schwer erlernte und mit starkem Akzent spricht. Englisch ist seine vierte Sprachwelt. Ungarisch und Deutsch in Kindheit und Jugend, Fran-zösisch auf der Flucht vor den Nazis, Englisch im Exil. Sein Englischlernen bezeichnet er als „Wanderung durch die Labyrinthe der englischen Sprache“.

Am 24. August 1963 erscheint seine erste Erzählung „A Trip Into the Blue“ im Magazin Th e New Yorker, eine anerkannte Intellektuellenzeitschrift . Es folgen weitere. Seine Autobiographie „Displaced Doctor“ wird 1964 publiziert. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Die sieben Leben des Dr.B.“ erscheint 1965.

Verarbeitung eines LebenswegsDie Geschichten von Richard Berczeller sind autobiographisch, sicher oft mit fi ktiven Episoden vermischt. Im Schreiben verarbeitet er seine Existenz als Jude, Student, Arzt, Sozialist, Emigrant. Im Zentrum seines Schaff ens stehen Geschichten aus Ungarn und Österreich, Erzählungen über seine Kindheit und Jugend in Ungarn, seine Studienzeit in Wien, das Leben als jüdischer Landarzt in Mattersburg, die Flucht über drei Kontinente, seine Internierungen, seine Tuberkulose-Erkrankung, die mühevolle Visabeschaff ung für die USA, das zunächst sehr ärmliche Leben in New York, die Integration in einem fremden Kontinent, die Besuche in Österreich

Dr.Richard Berczeller mit

Dr.Gieskann in Paris 1938

Familie Berczeller in ihrem Garten in Mattersburg 1936

Ödenburg ist der Geburtsort von Dr.Richard

Berczeller

Dr.Richard Berczeller und

Sohn Peter mit ihrem

amerikanischen Plymouth 1945

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nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Er schreibt auch über seine Begegnungen mit Sozialdemokraten, Parteifunktionären und anderen Persönlichkeiten aus der sozialistischen Bewegung und refl ektiert seine Haltung zur Entwicklung der Sozialdemokratie. Man erfährt viel über die Geschichte und Geschicke Österreichs. Oft gibt er regelrechte medizinische Abhandlungen für jedermann verständlich wieder, berichtet über Krankheiten und deren Behandlung und die Fortschritte in der medizinischen Forschung.

Erinnerungsinseln auf dunklem GrundRichard Berczeller erzählt über ein verlorenes Leben. Mit der Vertreibung aus Österreich geht sein Umfeld verloren, das soziale Experiment mit Gleichgesinnten ist zerstört, die Partei zertrümmert, sein Leben als Arzt im Mattersburg brutal beendet. Von heute auf morgen ist Schluss.

Eine der wenigen Stellen, in denen Richard Berczeller zu den Geschehnissen 1938 seine Person betreff end direkt Stellung nimmt, fi ndet man in einem Beitrag zu Adi Wimmers Sammelband Strangers at Home and Ab-road: Recollections of Austrian Jews Who Escaped Hitler:

Nicht ohne Satire und WitzEr schreibt jedoch ohne Klagen und ohne Zorn, er rechnet nicht ab und wird nie polemisch. Wenig erfährt man über die Demütigungen durch Enteignung, Ver-treibung, Misshandlung, politische Verfolgung. Seine Aufzeichnungen sind stets von Satire und Witz durch-zogen.

Ein armer Mann ging zum Schneider, um seine zerrisse-ne Jacke fl icken zu lassen; der Schneider sagte, die Jacke wird in einigen Tagen fertig sein. Sie war es aber nicht, die Reparatur dauerte insgesamt dreißig Tage. Als der arme Mann seine Jacke endlich zurückbekam, sagte er: „Sie brauchen dreißig Tage, um eine Jacke zu fl icken, und Gott brauchte nur sieben Tage zur Schöpfung der Welt!“ „Sehen Sie sich doch die Prachtarbeit an, die ich an Ihrer Jacke geleistet habe“, so der Schneider, „und dann schau-en Sie sich einmal die Welt an!“

Solche Anekdoten aus dem reichen Schatz des jüdi-schen Witzes lassen nicht nur schmuntzeln, sie haben auch Tiefsinn und bergen Erkenntnis. Diese Art von Humor ist auch sehr typisch für Richard Berczellers Er-zählweise.

Streben nach WürdeSeine Existenz als Jude und Emigrant hat ihm satirisch nutzbares Material geliefert. Aber seine Erinnerungen sind auch mit Wehmut, Verbitterung und Kränkung über die Demütigungen durch Vertreibung und Verlust seiner Existenzgrundlage gewürzt. Mit der Vertreibung und dem erzwungenen Leben im Exil hat er seine An-erkennung und seine authentische Würde verloren. In der lockeren und feinsinnigen Art, seine Erinnerungen und Phantasien auf Papier festzuhalten, geht er seinem Streben nach Wiedererlangung seiner authentischen

„Ich brüllte meinen Namen. Er stellte die Presse ab und schaute mich respektvoll an. „Tut mir leid,

daß ich Sie noch nicht getroff en habe, Herr Doktor; es ist meine Schuld — ich bin halt nie krank.“ Er grinste über seinen Witz.

„Könnten Sie mir einige Mahnungen drucken?“, fragte ich.

„Mahnungen?“, fragte er erstaunt.

„Sie sind doch ein Drucker, nicht wahr?“

„Ja freilich. Aber . . .“

Als ich seine fragenden Stirnrunzeln erblickte, konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken — nicht wegen der Pickelhaube, sondern wegen einer alten Geschichte, die mir plötzlich einfi el. Die Uhr eines Mannes bleibt stehen; er sucht einen Uhrmacher und fi ndet ein Fenster voller Uhren; er geht hinein ins Geschäft , wo er einen alten Juden mit einem mächtigen Bart hinter dem Ladentisch fi ndet. „Können Sie mir das reparieren?“, fragte er und schnallte seine Armbanduhr ab. „Das reparieren? Ich bin doch kein Uhrmacher“ , sagte der alte Mann. „Ja, was denn sonst?“ „Ich bin ein Moil (der die Beschneidungen durchführt).“ „Was suchen dann diese vielen Uhren in Ihrem Fenster?“ „Ja, könnten Sie mir vielleicht sagen, was ich sonst hinstellen sollte?“

Das Gehirn war gegen die Kollektivschuld, hat po-litisch, weltanschaulich in der ganzen Sache argu-

mentiert. Und das Herz hat die ganze Geschichte anders miterlebt. Ich war Landarzt, der die Roten, Schwarzen, Juden und Christen alle gleich behandelt hat, und eines Tages kommt man hin, verhaft et ihn, bringt ihn ins Ge-fängnis, wo die Leute geprügelt werden, die Wohnung wird ausgeräumt und alles, was man noch gehabt hat, alles ist weggeschleppt worden. Wir waren drei Brüder,

der jüngste ist umgebracht worden.

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Identität nach. Mit seinem Schreiben restituiert er eine Würde, die ihm die Realität verweigert. Das berührt und verzaubert, gibt Einblick in die Gewalt der Zerstö-rung und in die Kraft des Kampfes, die Kränkung zu überwinden. Dieser Kampf kann nie ganz gewonnen werden. Wir können von ihm lernen und die Chance nutzen, seine Warnungen zu verstehen.

Zitate von Joachim Riedl (Schriftsteller und Journalist in Wien) aus der Festschrift „.. denn sie töten den Geist nicht ihr Brüder“ zum 90ten Geburtstag von Richard Berczeller

„Exil ist ein Ort ohne Wiederkehr. Exil ist ein unheilba-res Leiden der Seele, eine Krankheit zum Tode hin ... Es ist immer erbärmlich und jämmerlich, eine Existenz am Rande. Sicher, man lebt sich ein, man fasst Fuß. Ein neu-es Leben beginnt … Doch schließlich bleibt man zwischen zwei Stühlen, besitzt weder ganz das Gestern noch voll-kommen das Morgen, man lebt vogelheutefrei.“

„Er ist ein sanfter Aufklärer. Zwar ein Jakobiner, doch einer, auf dessen Mütze eine Narrenschelle rasselt und der auch die dicken Bürger mag und die naschsüchtigen Prinzessinnen.“

Bücher von und über Dr.Richard Berczeller

Displaced Doctor; New York 1964

Die sieben Leben des Dr.B. Odysee eines Arztes; Mün-chen 1965

Doctors of all Trades; London 1965 (identisch mit Dis-placed Doctor)

Time was; New York 1971

Verweht; Eisenstadt-Wien 1981

A Trip Into the Blue and Other Stories; New York 1980

Eine Fahrt ins Blaue und andere Geschichten aus dem New Yorker; Wien 2012 (Hrsg. Peter Berczeller)

Richard Berczeller gibt gemeinsam mit Norbert Leser zwei Bücher heraus:

…. Mit Österreich verbunden; Wien 1975

Als Zaungast der Politik; Wien 1977

… denn sie töten den Geist nicht ihr Brüder, Festschrift zum 90. Geburtstag von Richard Berczeller; Wien 1992

Schreibmaschine von Dr.Richard Berczeller

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Th e New YorkerAm 24. August 1963 erscheint die erste Kurzge-schichte von Richard Berczeller im New Yorker. Bis 1974 werden weitere in dem Magazin publiziert.

Th e New Yorker ist ein ab 1925 erscheinendes US-amerikanisches Magazin. Er ist bekannt für seine Kurzgeschichten, Kritiken, Essays und Cartoons sowie für seinen Journalismus. Das Magazin rich-tet sich an ein eher anspruchsvolles, intellektuelles Publikum. Es erscheint heute 47 Mal pro Jahr.

Im dem Magazin schrieben und schreiben unter vielen anderen so berühmte Leute wie

Woody Allen – Humorist, Filmemacher u.v.m.

Hannah Arendt – Politologin, Philosophin, Jour-nalistin (Autorin des Werkes Elemente und Ur-sprünge totaler Herrschaft )

Truman Capote – Schrift steller und Drehbuchau-tor (Autor von Frühstück bei Tiff any)

John Herseys – Journalist (u.a. Reportage über Hi-roshima)

J. D. Salinger – Short-Story-Autor (Autor von Der Fänger im Roggen)

John Updike – Schrift steller, Essayist (Autor von Die Hexen von Eastwick)

Ab 1963 werden Kurzgeschichten von Richard Berczeller im New Yorker, beginnend mit „A Trip Into the Blue“, veröff entlicht. Diese Geschichten erschienen 2012 auf Deutsch im Czernin Verlag, herausgegeben von Sohn Peter Berczeller.

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Ehrungen für Dr.Berczeller

Überreichung der großen Victor-Adler-Plakette 19.

September 1984 durch Bundeskanzler Sinowatz

Diözesanbischof DDr.Laszlo verleiht den St.Martins-

Orden in Gold im September 1985 Das Goldene Ehrenzeichen

für das Burgenland wird Dr.Berczeller am 11. November 1963 vom

Landeshauptmann Lentsch in Eisenstadt überreicht.

ProfessorAm 2. September 1974 überreicht der Bundesminister für Unterricht und Kunst das Dekret über den ihm vom Bundespräsidenten verliehenen Professorentitel.

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Anerkennung für 50 Jahre Mitgliedschaft in

der SPÖ

Der österreichische Generalkonsul überreicht

am 7. November 1978 in New York das vom Bundespräsidenten

verliehene Österreichische Ehrenkreuz für

Wissenschaft und Kunst

Dr.Richard Berczeller erhält im März 1978

den Förderpreis für sein literarisches Gesamtwerk der Burgenland-Stift ung

Th eodor Kery Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien

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Mattersburg und Dr.Berczeller

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Im Literaturhaus (gegründet im Kulturzentrum im Juni 1994) fi ndet die Ausstellung vom 24. Feber bis 31. Mai

1995 über Richard Berczeller „Sopron-M a t t e r s b u r g -New York“ statt. Die Ausstellung wird durch Bundespräsident Dr.Klestil am 24. Feber 1995 eröff net.

Am 25. März 1995 fi ndet aus Anlass der Ausstellung ein Symposium statt, das durch Landes-hauptmann Stix er-

öff net wird. Unter den prominenten Referenten befi n-den sich Dr.Sinowatz, Dr.Leser, Univ.Prof. Pelinka und Dr.Peter Berczeller..

Buchpräsentation Im Badhaus beim Krischan in Großhöfl ein wird am 29. April 1975 das gemeinsame Buch von Dr.Berczeller und Dr.Leser „Mit Österreich verbunden“ vorgestellt,

Die Reihe „Literatur im Rathaus - Leseabende“ startet am 25. April 1975 mit einer Veranstaltung mit Dr.Richard Berczeller, der aus seinen Werken lesen wird.

Literaturhaus in Mattersburg

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Enthüllung einer Erinnerungstafel am Haus der Ordination Hauptplatz 2 in

MattersburgUnter Bürgermeister Eduard Sieber wird die Idee einer Wiedergutmachung an der Familie Berczeller betreffend der Brüskierung anlässlich der Benennung des Ärztezentrums überlegt. Nach Diskussionen im Gemeinderat spricht Bürgermeister Sieber ein Machtwort. Eine Gedenktafel wird am 4. September 1987 zum 85. Geburtstag von Dr.Berczeller an seiner früheren Ordinationsstelle angebracht.

Frau Morawitz gibt dann auch ihre Zustimmung zur Anbringung der Tafel an ihrem Haus. Zur feierli-chen Enthüllung kommt eine starke Politprominenz: Bundeskanzler Sinowatz, Landeshauptmann Kery, Bürgermeister Sieber. Es ist auch eine Vielzahl von Mattersburger*innen anwesend.

Dr.Berczeller wird von seiner Frau Maria begleitet, ob-wohl sie im Jahre 1938 von heute auf morgen aus der Wohnung geworfen und vertrieben wurde.

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Impressum:

Herausgeber und Verantwortlicher:Dr.Georg Luif, Hinterg. 70, 7210 Mattersburg.

Druck:online Druck GmbH, Brown-Boveri-Straße 8, 2351 Wr. Neudorf

Fotonachweis:

Briefe und Fotomaterial kommen aus dem Archiv von Dr.Peter Berczeller, Dr.Hans Pusch, Eva Sinowatz

Das 70er Haus der Geschichten veröffentlicht zu seinen Ausstellungen begleitendes schriftliches Material. Dies dient einerseits als Dokumentation und andrerseits zum Nachlesen.Das „70er Haus der Geschichten“ in Mattersburg, Hinterg.70 ist Informationsstelle, Archiv, Kontakt- und Ansprechort für diejenigen, die die Vergangenheit erforschen und daraus Fragen für die Zukunft stellen.

Quellen und Literatur:Gespräche mit Dr.Peter BerczellerBücher von Dr.Richard BerczellerKorrespondenz Sinowatz-Berczeller von Hans PuschKorrespondenz Sinowatz-Berczeller von Eva SinowatzStadtarchiv Gemeinde MattersburgLandesarchiv

Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus, Wien 2015Werner Hanak-Lettner, Die Universität. Eine Kampfzone, Jüdisches Museum WienTraude Horvath / Milena Snowdon-Prötsch, Richard Berczeller 1902-1994 sopron, mattersburg, new york, Mattersburg 1996Margit Franz / Heimo Halbrainer (Hg.), Going east – going south, Graz, 2014Die Österreichische Satire (1933-2000) / hrsg. Von Jeanne Benay, Alfred Pfabigan und Anne Saint Saveuer, Bern, 2003Monika Grass, Medizinische Versorgung in den Herrschaften Forchtenstein, Eisenstadt 2007

Gerald Schlag / Fred Sinowatz / Walter Feymann: Aufbruch an der Grenze. Die Arbeiterbewegung von ihren Anfängen im westungarischen Raum bis zum 100-Jahre-Jubiläum der Sozialistischen Partei Österreichs, Eisenstadt 1989

Unterstützung durch

Diesen Katalog haben Anna Benedek, Elisabeth Luif und Georg Luif erstellt.

Unsere Intention ist es, das Leben des Mattersburgers Dr.Richard Berczeller aus verschiedenen Facetten zu beleuchten: Sozialist, Arzt und Schriftsteller. Wir lassen dabei Richard Berczeller selbst ‚sprechen‘ und stellen seine Perspektive aus seinen umfangreichen Schriften und dem literarischem Werk dar.

Richard Berczeller wurde von den Mattersburger*innen 1938 vertrieben. Trotzdem bleibt er dieser Stadt sein Leben lang verbunden und stellt Mattersburg ins Zentrum seiner Geschichten.

Mattersburg Juni 2016.