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Annette Vowinckel DAS RELATIONALE ZEITALTER

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Annette Vowinckel

DAS RELATIONALE ZEITALTER

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Annette Vowinckel

DAS RELATIONALE

ZEITALTER

Individualität, Normalität und Mittelmaß in der Kultur der Renaissance

Wilhelm Fink

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Umschlagabbildung: Meister des Hausbuchs (Maler), Das Abendmahl, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin;

© Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Foto: Jörg P. Anders

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung

auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2011 Wilhelm Fink Verlag, München

(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

E-Book ISBN 978-3-8646 -5124-4 67

ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5124-8

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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG ............................................................................................... 7

1. BEGRIFFE ........................................................................................ 17

Substanz und Relation ...................................................................... 18 Individuum und Individualität .......................................................... 26 Proportion, Mittelmaß, Normalidee ................................................. 38

2. ZEITRÄUME UND POLITISCHE RÄUME ........................................ 47

Die Anfänge der modernen Geschichtsschreibung .......................... 47 Maß und Mittelmaß bei Machiavelli ................................................ 54

3. BILDRÄUME UND PERSPEKTIVEN ................................................ 61

Akzidentielle Bildräume ................................................................... 71 Blickraum und Augenblick ............................................................... 74 Neue Perspektiven ............................................................................ 79 Sacra Conversazione: Die raumzeitliche Brücke zu Gott ................ 90

4. TYPOLOGISCHE MENSCHENBILDER ............................................ 96

Anatomie: Innenansichten der Spezies Mensch ............................... 96 Physiognomik: Individualität und Typenbildung ............................. 101 Proportionslehre: Ideal und Durchschnitt ......................................... 108 Astrologie: Der Mikrokosmos im Makrokosmos ............................. 118

5. RELATIONALE WELTBILDER ........................................................ 123

Das Fegefeuer als Zwischenraum ..................................................... 123 Amerika: Die ‚Erfindung‘ einer Neuen Welt ................................... 131 Die Erde: Stern unter Sternen ........................................................... 141

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INHALTSVERZEICHNIS 6

6. DER MENSCH IM EINZELBILDNIS ................................................ 147

Relationalität .................................................................................... 147 Akzidentialität .................................................................................. 159

7. ZWISCHENTÖNE, AMBIVALENZEN, BALANCEN ....................... 162

Maria Magdalena .............................................................................. 163 Die heilige und die Hure ......................................................... 165 Prostitution und katholische Kirche ....................................... 182

Judith ................................................................................................ 190 Von der Tugendallegorie zur femme fatale ............................ 193 Die schöne Jüdin ..................................................................... 204

Michael mit der Seelenwaage ........................................................... 215 Das Gewicht der Seele ............................................................ 217 Weibliche Tugend und männliches Laster? ............................ 227

8. GENIEKULT UND DIE ANGST VOR DER MITTELMÄßIGKEIT .... 233

9. SCHLUSS: DAS RELATIONALE INDIVIDUUM .......................... 243

BIBLIOGRAFIE ............................................................................... 253

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN ................................................. 273

REGISTER.................................................................................................... 278

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EINLEITUNG

Seit geraumer Zeit ist ein guter Teil der Gegenwartskunst und -literatur erfüllt von der Sorge um die Wiedererkennbarkeit des Einzelnen in einer Welt, in der scheinbar alle das Gleiche essen, die gleichen Autos fahren, die gleichen Fil-me sehen, die gleiche Kleidung tragen, die gleichen Gespräche führen. Unge-achtet der faktischen Unmöglichkeit tatsächlicher Identität ist es die Sorge um das Befinden des Individuums in der Massengesellschaft, die die westlichen Gesellschaften umtreibt. Der Einzelne möchte anders sein als alle anderen, doch gelingt ihm dies häufig eher schlecht als recht.

Gleichwohl scheint die ernsthafte Sorge um individuelle Distinktion immer die einer Minderheit zu sein – einer Minderheit, die nach Ansicht der Mehrheit überwiegend aus Künstlern, Literaten und Stadtneurotikern besteht und die Gefallen daran findet, allen anderen (und manchmal auch sich selbst) ein Zu-viel an Gewöhnlichkeit zu diagnostizieren. Gewöhnlichkeit im Sinne von Me-diokrität ist es, die die Möglichkeit von Individualität untergräbt, denn ein In-dividuum – so die Definition des Begriffs in Meyers großem Konversationsle-xikon von 1908 – unterscheide sich „von jedem andern Wesen [seiner] Gat-tung“. Individualität trete am „mannigfachsten“ da auf, wo „das geistige Le-ben einer selbständigen Entwickelung entgegengeführt wird“.1 Und umgekehrt gelte, dass der „Mangel einer scharf hervortretenden Individualität ... als Zei-chen mittelmäßiger oder gewöhnlicher (genereller) geistiger Befähigung“2 zu deuten sei.

Eine solche Gegenüberstellung von Individualität und Mediokrität gibt es indes nicht erst seit dem 19. Jahrhundert. Während Griechen und Römer als Individuum (atom/individuum) zunächst nicht das einzigartige, sondern das unteilbare Wesen bezeichnet hatten, wurde Individualität ab dem 16. Jahr-hundert immer häufiger mit Unverwechselbarkeit gleichgesetzt, um die man sich nun ernsthaft zu sorgen begann. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts veränderte sich die Bedeutung des Wortes ex negativo: Das Individuum stand jetzt nicht mehr nur im logischen Gegensatz zum Begriff der Gattung, sondern zum Begriff des Gewöhnlichen, des Mediokren, das seinerseits einer radikalen Umwertung unterzogen wurde. Hatte mediocritas bis dahin einen festen Platz unter den Tugenden – nämlich als Inbegriff des Maßhaltens (Abb. 1)3 –, so                                            1 „Individuum“, in: Meyers großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allge-

meinen Wissens, 6. Auflage, Bd. 9, Leipzig/Wien 1908, S. 807. 2 Ebd. 3 Ripas Mediocrité trägt ein Spruchband mit den Worten Medio tutissimus ibis („In der Mitte

wirst Du am sichersten sein“), einem Vers aus den Metamorphosen des Ovid, mit dem der  

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EINLEITUNG 8

wurde sie nun erstmals zum Syno-nym für einen Mangel an Origi-nalität und Authentizität.

Historiker der Renaissance ha-ben dieser semantischen Verände-rung wenig Beachtung geschenkt. Bei ihnen herrscht noch heute die Vorstellung, das von der Renais-sance hervorgebrachte moderne Individuum unterscheide sich von dem des Mittelalters vor allem da-durch, dass es autonom und selbst-bestimmt sei und sein Leben ge-stalten könne wie der Herrscher seinen Staat oder der Künstler sei-ne Leinwand. So bezeichnete Ri-chard van Dülmen Individualisie-rung als Prozess einer ‚aufkläreri-schen Selbstbestimmung‘, das In-dividuum als ein Wesen, das sich ‚kollektiven Normen‘ und ‚tradi-

tionellem Gruppendruck‘ zu entziehen versucht, mit dem Ziel der Befreiung des Ichs von allen inneren und äußeren Zwängen. Stets wird dabei impliziert, das Individuum könne (nur) durch Negation externer Einflüsse zu sich selbst finden (wobei die Existenz des Individuums bereits vorausgesetzt wird), und Originalität und Authentizität könnten nur da sich entfalten, wo alte Fesseln abgestreift und eine historisch bis dahin unbekannte Autonomie des Einzelnen erreicht werde.4 Unverkennbar rekurriert van Dülmen hier auf Jacob Burck-hardt, der das Individuum als „Individuum ‚für sich‘, als Privat-Mensch[en]“ bezeichnete und die Freiheit des Individuums als „Unabhängigkeit, nämlich von der großen Welt des öffentlichen Geschehens“.5

Vordergründig steht diese Definition in merkwürdigem Gegensatz zu der von Burckhardt selbst vorgebrachten These, den Anstoß für den Prozess der Individualisierung hätten nicht die Künstler, sondern die politischen Umwäl-zungen des italienischen Quattrocento gegeben. Der Mensch sei sich nicht nur im Privaten, sondern als zoon politikon seiner selbst bewusst geworden, wie er

                                           

Held gewarnt wird, den von seinem Vater Helios geborgten Sonnenwagen weder zu nah an den Fixsternhimmel noch zu nah an die Erde zu manövrieren. Ovid, Metamorphosen, II, 137.

4 Richard van Dülmen, „Einleitung“, in: ders. (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u. a. 2001, S. 1, 3 und 5.

5 Karl Löwith, „Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie“, in: Gesammelte Schriften Bd. 7: Jacob Burckhardt, Stuttgart 1984, S. 17.

Abb. 1: Cesare Ripa, Allegorie des Mit-telmaßes [1593], Paris 1644 (Staatsbiblio-thek Berlin)

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EINLEITUNG 9

am Beispiel von Francesco Sforza zeigt: „Glänzender als in ihm war der Sieg des Genies und der individuellen Kraft nirgends ausgesprochen“.6

Während sich in den Tyranneien zunächst die Tyrannen selbst, dann aber auch die von ihnen protegierten Talente hervortaten, wurde den Bürgern der Republiken die Möglichkeit eröffnet, sich im öffentlichen Leben zu profilie-ren. War in den Republiken die Konkurrenz das entscheidende Ferment des Individualismus, so war es in den Tyranneien der Rückzug ins private Schaf-fen, dessen höchste Stufe nicht innerhalb des Gemeinwesens, sondern mit dem (erzwungenen) Kosmopolitismus der daraus Verbannten erreicht wurde.7 Gleichzeitig aber lobt Burckhardt über die Maßen das unabhängige und aus-sergewöhnliche Künstlergenie; während das restliche Europa noch unter dem „Banne der Rasse“ lag, hätten sich in Italien seit dem späten 13. Jahrhundert „tausend einzelne Gesichter“ differenziert. Persönlichkeiten wie Dante und Petrarca seien es gewesen, die sich auf Grund ihrer genialen Begabung aus der Masse hervorheben und zu Leitbildern in ihrer sozialen Umgebung wurden, die sich so erst der Möglichkeit von Individualität bewusst wurde.8 Hier ist es nicht das zoon politikon, sondern der von Natur und Fortuna scheinbar grund-los bevorzugte Einzelne, der kraft seiner kreativen Begabung aus der Masse der Gattungswesen heraussticht.

Ungeachtet dieser konzeptionellen Unstimmigkeiten hat Burckhardts histo-rische Individualisierungstheorie in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlassen.9 Am Beginn dieser Erfolgsgeschichte steht die Übernahme seiner Thesen durch Wilhelm Dilthey, der in den 1890er Jahren argumentierte, die Entdeckung des Individuums sei eine Folge der De-montage metaphysischer Weltbilder, die zuvor die Selbstwahrnehmung des Menschen bestimmt hätten. In einer Welt ohne moralische Autorität (wie den italienischen Stadtstaaten) gebe es „nur ein wahrhaft schöpferisches Vermö-gen, den Herrscherwillen“.10 Wie Burckhardt, der das Individuum als autono-mes und unverwechselbares Genie definiert hatte, beschrieb Dilthey Indivi-dualität als Resultat eines in Schieflage geratenen Verhältnisses von Einzel-person und Gemeinwesen im italienischen Stadtstaat: „Die Kirche [war] kor-rumpiert, ein nationaler Staat, der den einzelnen ergriffen und gebildet hätte, nicht vorhanden, Reichtum, Sinnesfreude, künstlerisches Vermögen, unbändi-ge Herrschsucht in den losgelösten Individuen.“11                                            6 Ebd., S. 23. 7 Ebd., S. 78. 8 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Wien o. J. (Phaidon Sonderausga-

be), S. 76. 9 Vgl. August Buck, „Die Kultur der Renaissance in Italien“, in: ders. (Hg.), Renaissance und

Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann, Tübingen 1990, S. 5-12. 10 Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Refor-

mation [1891/93], Leipzig/Berlin 1923, S. 33. 11 Ebd., S. 26.

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EINLEITUNG 10

Sechzig Jahre nach Erscheinen von Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien stellte der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga fest, die Epoche erscheine nunmehr als vollständig kanonisierter Bestandteil der Welt-geschichte:

Wenn das Wort Renaissance ertönt, sieht der Träumer vergangener Schönheit Purpur und Gold. ... Dann erinnert [er] sich ... , was er gelernt hat über die nähe-re Bestimmung jener historischen Erscheinung, die wir Renaissance nennen: ihre zeitliche Dauer, ihre Bedeutung für die Kulturentwicklung, ihre Ursachen, ihre Beschaffenheit, und halb widerstrebend gegen die Begriffe, die sich ihm nun doch aufdrängen, sagt er sein Credo auf. Die Renaissance ist das Aufkommen des Individualismus, das Erwachen des Schönheitsdranges, der Triumphzug von Weltlust und Lebensglück, die Eroberung der irdischen Wirklichkeit durch den Geist, die Erneuerung der heidnischen Lebensfreude, die Bewußtwerdung der Persönlichkeit in ihrem natürlichen Verhältnis zur Welt.12

Tatsächlich jedoch gebe es, so Huizinga, einen solchen Bruch weder zwischen Mittelalter und Renaissance noch zwischen Renaissance und Moderne. Viel-mehr sei die ‚Geburt des Individuums‘ eine Erfindung der Kulturgeschichte:

Es ist ein eitles Streben, den ‚Renaissancemenschen‘ beschreiben zu wollen. Viel gründlicher als der Individualismus sie vereinigen kann, werden die zahlrei-chen Typen, welche diese reiche Zeit liefert, durch andere Züge geschieden. Die besonderen Qualitäten der Renaissancegesellschaft, jede für sich genommen, sind es, auf die sich die Untersuchung richten muß.13

Den gleichen Verdacht äußerte der Historiker Ernst Walser in seinen Studien zur Weltanschauung der Renaissance:

Versucht man das Leben und Denken der führenden Persönlichkeiten des Quat-trocento, eines Coluccio Salutati, Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni, Lorenzo Valla, Lorenzo Magnifico oder Luigi Pulci rein induktiv zu betrachten, so ergibt sich regelmäßig, daß gerade für die studierte Person die aufgestellten Merkmale (die Merkmale des ‚Individualismus‘ und ‚Pragmatismus‘, des ‚Sensualismus‘ und der ‚Skepsis‘) sonderbarerweise absolut nicht passen. ... Und hält man die Resultate induktiver Forschung zusammen, so steigt allmählich ein neues Bild der Renaissance empor, nicht weniger gemischt aus Fromm und Unfromm, Gut und Böse, Himmelssehnsucht und Erdenlust, aber unendlich viel komplizierter.14

Nur wenige Jahre später schloss sich auch Ernst Cassirer dem Urteil der bei-den Historiker an. Auch er meinte, der Versuch der Grenzziehung zwischen dem mittelalterlichen Menschen und dem der Renaissance sei „um so flüssiger und flüchtiger“ geworden, „je mehr man ihn in concreto durchzuführen ver-suchte, je mehr die biographische Einzelforschung der Künstler, der Denker,

                                           12 Johan Huizinga, Das Problem der Renaissance [1920], Darmstadt 1952, S. 5. 13 Ebd., S. 60 (meine Hervorhebung). 14 Ernst Walser, Studien zur Weltanschauung der Renaissance, Basel 1920, S. 5f.

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EINLEITUNG 11

der Gelehrten und Staatsmänner der Renaissance fortschritt“.15 Anders als Huizinga und Walser begründete Cassirer seine Kritik rein philosophiege-schichtlich. Er verwies darauf, dass Nicolaus Cusanus in seinem 1440 fertig gestellten Werk De docta ignorantia (Die gelehrte Unwissenheit) die Funda-mente für die moderne Selbst- und Weltwahrnehmung der Menschen gelegt habe. Indem Cusanus erklärte, alles Endliche sei – im Gegensatz zum unendli-chen Gott – messbar und vergleichbar, habe er den Menschen gelehrt, die Grenzen seines Wissens über das Unendliche zu erkennen, ihn gleichzeitig aber auch zum Maß aller endlichen, d. h. mess- und vergleichbaren Dinge ge-macht. Diese von Cusanus formulierte und am Menschen orientierte Erkennt-nislehre jedoch steht in auffälligem Widerspruch zu der Lehre Burckhardts, in der das Individuum selbstbestimmt und unverwechselbar ist und in der Auto-nomie und Differenz schwerer wiegen als Vergleichbarkeit und die Integration des Einzelnen in die gemeinsame Welt.

Indem er diesen Widerspruch aufdeckt, begründet Cassirer eine ebenso zeit-immanente wie metahistorische Kritik am Begriff des Individuums. Dies sei gerade nicht das Genie, das sich von allen anderen unterscheidet, sondern der ‚normale‘ Mensch, der sich allein durch die spezifische Mischung der ihm ge-gebenen Talente und Eigenschaften auszeichne. Ein solches Individuum unter-scheide sich vor allem faktisch, das heißt durch physische Nichtidentität, von anderen Individuen, doch bewege es sich gleichzeitig innerhalb komplexer Bezugsmuster, die seinen Handlungsspielraum bestimmen; es wird zum Indi-viduum durch Kommunikation, Interaktion und Vergleich mit anderen – also nicht nur durch die Unterscheidung von, sondern, wie das physikalische Atom, durch die Existenz in der Masse.

Ungeachtet der substanziellen Einwände von Walser, Huizinga und Cassi-rer wird in der Renaissance-Forschung weniger darüber gestritten, was Indivi-dualität sei, sondern vielmehr, seit wann sie – in der Burckhardtschen Defini-tion von Autonomie und Unverwechselbarkeit – die Existenz des Menschen in der Geschichte bestimme. Dabei wird häufig unterschätzt, dass auch Jacob Burckhardt unter dem starken Einfluss einer Geniekultur schrieb, die im deutschsprachigen Raum seit der Mitte des 18. Jahrhunderts florierte. Von nun an gingen, wie Jochen Schmidt es formuliert, „alle Regeln und Normen über Bord, und das von allen Bindungen emanzipierte Individuum feiert[e] seinen Sieg als ‚Genie‘“.16 In diesem geistigen Klima, in dem die Bürger von der Selbstbestimmtheit ihres Denkens und Handelns zutiefst überzeugt waren,

                                           15 Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance [1927], Darm-

stadt 1994, S. 5. 16 Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philoso-

phie und Politik 1750-1945, Bd. 1, Darmstadt 1985, S. 9; vgl. Kurt Bauerhorst, Der Geniebe-griff, seine Entwicklung und seine Formen unter Berücksichtigung des Goetheschen Stand-punkts. Ein Beitrag zur neueren Geistesgeschichte, Breslau 1930.

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EINLEITUNG 12

suchte Burckhardt seine eigenen Wurzeln in der Kultur der Renaissance – und unterstellte ihr die Pflege eines Geniekults, der, wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll, eher den Niedergang der Epoche einleitete als dass er sie selbst kennzeichnete.

Einen Anknüpfungspunkt bildet dabei die Kritik verschiedener Soziologen an einer dichotomischen Gegenüberstellung von genialem Individuum und un-distinguierter Masse. Norbert Elias bemerkte im Kontext seiner Arbeit am Prozess der Zivilisation, hinsichtlich der Begriffe und der mit ihnen verbunde-nen Vorstellung von Wirklichkeit bestehe enormer Klärungsbedarf:

Es gibt gängige Begriffe wie ‚Individuum‘ und ‚Gesellschaft‘, von denen der er-ste sich auf den einzelnen Menschen bezieht, als ob er ein ganz für sich allein existierendes Wesen sei, während der zweite gewöhnlich zwischen zwei gegen-sätzlichen, aber gleich mißverständlichen Vorstellungen hin und her schwankt. Gesellschaft wird in diesem Sinne entweder verstanden als ein bloßer Haufen, als ein additives und damit strukturloses Nebeneinander vieler einzelner Men-schen, oder als ein Objekt, das in nicht weiter erklärbarer Weise jenseits der ein-zelnen Menschen existiert. Die Worte, die dem einzelnen Sprechenden vorgege-ben sind, die Begriffe selbst, die die Denkweise und die Handlungen der in ih-rem Bereich heranwachsenden Menschen entscheidend mitbestimmen, lassen es im letzteren Fall so erscheinen, als ob der als Individuum abgestempelte einzelne Mensch und die als Gesellschaft vorgestellte Vielheit der Menschen ontologisch etwas Verschiedenes seien.17

Eben dies aber treffe, wie Elias mit seiner Untersuchung zu zeigen versucht, nicht zu: Der Mensch sei immer Teil einer Gesellschaft, die Gesellschaft im-mer die Summe der Individuen, die in ihr leben.

Ähnlich argumentierte Erving Goffman 1971, das Individuum sei „eine Par-tei, die nur aus einer Person besteht, ... einer ‚selbständigen‘ Person, selbst wenn sich andere Personen in der Nähe befinden und sie Anlaß hat, mit ihnen zu sprechen. Ein einzelner ist also ein Individuum, aber nicht alle Individuen sind einzelne“.18 Damit trug Goffman dem Umstand Rechnung, dass moderne Gesellschaften nicht nur Ansammlungen von Individuen (oder auch Individua-listen) sind, sondern dass die Summe dieser Individuen eine Massengesell-schaft ergibt, in der jeder einzelne als „manipulierbares Rädchen im Getriebe“ erscheint, das „unter die Räder der Bürokratie gerät, von der verwalteten Welt auf eine Nummer reduziert oder durch immer präzisere Disziplinierungs- und Überwachungsmethoden zu einem Disziplinarindividuum geformt wird“.19

                                           17 Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a. M. 1987, Vorwort von 1987, S. 9. 18 Erving Goffman, „Das Individuum als Einheit“, in: ders., Das Individuum im öffentlichen

Austausch, Frankfurt a. M. 1982, S. 43 (engl.: Relations in Public. Microstudies of the Public Order, 1971).

19 Markus Schroer, Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspek-tiven, Frankfurt a. M. 2001, S. 11.

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EINLEITUNG 13

Hier tritt ein in der Sache selbst liegender Widerspruch zwischen der Indi-vidualisierung und der gleichzeitigen Vergesellschaftung moderner Menschen zutage – ein Widerspruch, der natürlich auch Historikern, Kunsthistorikern und Philosophen nicht entgangen ist. So hat Gottfried Boehm kürzlich darauf hingewiesen, dass das Individuum der Renaissance kein „abgespaltener Parti-kel“ sein könne, sondern dass das „Moment der Besonderung mit demjenigen der Bindung (an Gesellschaft, Gruppe, Familie etc.)“ kooperiere und dass sich die „Einzigkeit aus dem Vergleich mit anderen, im gesellschaftlichen Rollen-spiel“ ergebe.20 Die Studien von Peter Burke und Lauro Martines haben an-schaulich gezeigt, dass auch die Künstler, Gelehrten und Herrscher der Epo-che unter dem Einfluss einer Vielzahl sozialer, kultureller, familiärer und poli-tischer Faktoren standen, doch hat keiner von ihnen einen Versuch unternom-men, den Begriff des Individuums im Kontext der Renaissancegeschichte neu zu bestimmen.21

So wundert es kaum, dass die These vom Ursprung des modernen Indivi-duums in der Renaissance – abgesehen von gewissen Problemen bei der Datie-rung – auch in jüngster Zeit noch oft allzu unkritisch übernommen worden ist. In dem von Richard van Dülmen herausgegebenen Sammelband zum Thema, aus dessen Vorwort bereits zitiert wurde, wird sie von der überwiegenden Mehrheit der Autoren vertreten, auch wenn, wie eine kluge Rezensentin be-merkte, in den einzelnen Beiträgen lauter Dinge behandelt werden, die „mit dem Menschen als Gattungsexemplar zusammenhängen mögen, aber keinerlei Aufschluß über ‚Individualität‘ erteilen“ – darunter so unterschiedliche The-men wie die Geschichte der Psychologie oder die Auswirkungen der Emanzi-pation auf die Familienstruktur.22

All diese an die Burckhardtsche Individualisierungsthese anknüpfenden Ansätze stehen in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu der Tatsache, dass weder der Begriff des Individuums noch der Begriff der Autonomie oder der in späteren Wörterbüchern als Gegensatz zur Individualität definierte Be-griff der Mediokrität im Schrifttum der Renaissance eine besondere Rolle spielen. Zu deren Schlüsselbegriffen zählen nicht Unverwechselbarkeit (im Sinne von Genialität) und Autonomie, sondern das Maßhalten und die Relati-on, und dies in so unterschiedlichen Bereichen des Lebens wie in der Politik,                                            20 Gottfried Boehm, „Prägnanz. Zur Frage bildnerischer Individualität“, in: ders./Enno Rudolph

(Hg.), Individuum. Probleme der Individualität in Kunst, Philosophie und Wissenschaft, Ber-lin 1994, S. 4.

21 Peter Burke, Culture and Society in Renaissance Italy, London: B. T. Batsford 1972 (im fol-genden zitiert nach der deutschen Ausgabe: Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, Berlin 1996; Lauro Martines, The Social World of the Florentine Humanists, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1963.

22 Franziska Meier, „Jetzt träte hervor und käme zur Geltung ein schönes Ich.“ Rezension von: Richard van Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u. a. 2001, in: Süddeutsche Zeitung, 08.11.2001, S. 18.

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EINLEITUNG 14

der Familie, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Kriegsführung. Vor al-lem aber auf dem Gebiet der bildenden Kunst präsentiert sich die Renaissance als eine Epoche, die weit mehr Verständnis für das Finden des rechten Maßes, für Typologien und Harmonien aufbrachte als die darauffolgende Zeit des Manierismus, die sich durch einen Hang zur Verfremdung und Verzerrung, durch die Pointierung von Widersprüchen und die Umkehrung klassischer Stilprinzipien charakterisieren lässt; erst im Barock kam wieder ein Gefühl für ‚Normalität‘ auf, nämlich in der Genremalerei, in der die Kritik an den Niede-rungen des Alltags in den Vordergrund rückte.

Während also in den meisten Individualisierungstheorien Individualität im positiven Sinn mit Autonomie und Unverwechselbarkeit gleichgesetzt und (hi-storisch deutlich zu früh) als Gegensatz zur negativ besetzten Mediokrität de-finiert wird, möchte ich das Individuum der Renaissance mit seinem starken Interesse an der Fähigkeit des Maßhaltens und an der Entwicklung von Typo-logien als relationales Individuum beschreiben, dessen Epoche erst mit dem Aufkommen des Geniekults und der Verdrängung des positiven Maßhaltens durch einen negativ besetzten Begriff der Mittelmäßigkeit zu Ende ging. Um-gekehrt ist es meine Absicht zu zeigen, dass es gerade diese historisch spezifi-sche Konzeption von relationaler Individualität und Weltsicht war, mit deren Hilfe wir die Renaissance als Epoche eingrenzen können. Während nämlich in der Renaissance das ‚goldene Mittelmaß‘ im Sinne Ovids den Wertekanon an-führte, setzte sich später eine Haltung durch, die sinngemäß in einem 1654 von Friedrich von Logau zu Papier gebrachten und heute noch geläufigen Vers zum Ausdruck kommt: „In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod“.23 Diese Geisteshaltung, der zufolge der mittlere Weg immer der falsche, das mittlere Maß immer das Unzureichende ist, bildet bei Nietzsche später die Grundlage eines lebensphilosophischen Systems, in dem den Menschen ihre Gewöhnlichkeit als Makel vorgehalten und von ihnen gefordert wird, diese Gewöhnlichkeit zu überwinden – und sei es auf Kosten Schwächerer.

Nietzsches Kerngedanke, dem zufolge Mittelmäßigkeit stets das Bessere verhindert und deshalb zumindest ebenso schlecht ist wie das Schlechte selbst, wurde von Hannah Arendt im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem aufgegriffen.24 Anders als in früheren Schriften, in de-nen sie die nationalsozialistischen Verbrechen (in Anlehnung an Kant) als Ausdruck des radikal Bösen beschrieben hatte, sprach sie nun von der ‚Bana-lität des Bösen‘ – nicht, weil sie die Verbrechen verharmlosen wollte; viel-mehr hegte sie den Verdacht, das Böse sei unter den von ihr beschriebenen hi-

                                           23 Friedrich von Logau, „Die tapfere Wahrheit. Sinngedichte“ (nach der Ausgabe Salomons von

Golaw Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend von 1654), Leipzig 1978, S. 88. 24 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München

1987, S. 15f.

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EINLEITUNG 15

storischen Bedingungen einer totalitären Bürokratie gar nicht mehr das Gegen-teil des Guten, sondern potenziell identisch mit dem Mittelmaß als Quelle von Gedankenlosigkeit, Mangel an Interesse und Verständnis für die Belange der von Menschen gemeinsam bewohnten Welt. Angesichts des Aufruhrs, den Arendts These verursachte, ist es erstaunlich, dass es bis heute kaum Versuche gegeben hat, zu klären, seit wann und warum Mittelmäßigkeit (mediocrity, mediocrité) negativ konnotiert ist. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, so viel ist sicher, erklärte Goethe, Mittelmäßigkeit sei „von allen Gegnern der schlimm-ste“ war.25 Anders als Cusanus, der das Mittelmaß noch als das „rechte Maß“ identifiziert hatte, konnotiert er die Mittelmäßigkeit also eindeutig negativ. Gleichwohl hätte die spürbare Angst vor der Mittelmäßigkeit, die den Men-schen der Renaissance noch gänzlich unbekannt war, ohne die von Cusanus betriebene systematische Entwicklung des Prinzips der Relationalität vermut-lich nicht virulent werden können.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der von Cusanus in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts geäußerte Gedanke, der Mensch setze das Maß für alle endlichen und deshalb miteinander vergleichbaren Dinge. Hiermit ebnete er den Weg für die erst Jahrhunderte später einsetzende Erschließung moder-ner wissenschaftlicher Felder wie der Anthropometrie, der (Sozial-)Statistik, der Kriminologie, Soziologie und Anthropologie. Gleichwohl artikulierte Cu-sanus auch eine Idee, die von seinen Zeitgenossen aufgegriffen wurde bzw. sich in anderen Bereichen (z.B. in der politischen Theorie Machiavellis) zeit-gleich formierten. Die daraus sich ergebenden Fragen lauten:

1. Wann, wo und wie beginnt das Prinzip der Relationalität, die Selbstwahr-nehmung der Menschen und ihre Weltbilder zu bestimmen?

2. Welche Auswirkungen hat das Aufkommen relationalen Denkens auf die Kultur- und Wissensproduktion der Renaissance?

3. Wann und warum wird aus dem (positiven) Mittelmaß die (negative) Mittel-mäßigkeit bzw. wann kippt das auf Ausgleich bedachte relationale Denken in ein radikales, die Extreme favorisierendes Denken um, mit dem die Renaissance als Epoche zu Ende geht?

Um diese Fragen zu beantworten, werde ich im Anschluss an eine historische Herleitung der Schlüsselbegriffe ‚Individuum‘ bzw. ‚Individualität‘, ‚Sub-stanz‘ und ‚Relation‘, ‚Proportion‘, ‚Mittelmaß‘ und ‚Normalidee‘ zunächst fundamentale Veränderungen im Verhältnis der Menschen zu Politik und Ge-schichte untersuchen. Im dritten bis fünften Kapitel wird anhand verschiede-ner Quellen aus dem Bereich der Kunst und Wissenschaft die fortschreitende

                                           25 Johann Wolfgang von Goethe, „Distichen Dezember 1795-Juli 1796: Böser Kampf“, in:

Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe), Bd. 4.1: Wirkungen der Französischen Revolution 1791-1797, hg. von Reiner Wild, München 1988, S. 702.

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EINLEITUNG 16

relationale Ausrichtung von Welt- und Menschenbildern untersucht. Von be-sonderem Interesse ist dabei die Neubestimmung des Bildraums durch die Entdeckung der Zentralperspektive, die Durchsetzung der Lehre vom Fege-feuer innerhalb der katholischen Kirche, die Abkehr vom geozentrischen Stu-fenkosmos und die Entstehung neuer Selbstentwürfe auf der Grundlage von Proportionslehre, Physiognomik und Astrologie. Im Mittelpunkt steht dabei weniger die Präsentation neuen Quellenmaterials als vielmehr die neue Deu-tung bereits bekannter Bilder und Texte unter dem Aspekt der Relationalität.

Im sechsten Kapitel gehe ich auf die Portraitmalerei als Präzedenzfall ein. Darin wird die These, Individualität zeige sich vor allem in den elaborierten Einzelbildnissen der Renaissance, infrage gestellt. Vielmehr, so meine These, sind auch die Porträts der Renaissance Ausdruck eines relationalen Weltbil-des, in dem das Individuum stets als Teil verschiedener Koordinatensysteme erscheint. Im siebten bis neunten Kapitel werden für die Zeit charakteristische Strategien moralischer Klassifizierung untersucht. Während man im Hochmit-telalter noch im wesentlichen eine Einteilung der Menschen in ‚Gute‘ und ‚Schlechte‘ vorgenommen bzw. die Weltgeschichte als Resultat des Kampfes der göttlichen gegen die satanischen Kräfte interpretiert hatte, sorgte die Re-naissance für eine qualitative Erweiterung des moralischen Spektrums durch die Aufnahme einer ganzen Reihe von Grautönen; die Menschen wurden nun nicht mehr als gut oder schlecht, sondern als relativ gut oder relativ schlecht wahrgenommen. Diese Entwicklung wird anhand dreier Beispiele aus der christlichen Ikonografie gezeigt. Dabei handelt es sich um Darstellungen der Maria Magdalena, der Holofernes-Mörderin Judith und des Erzengels Michael mit der Seelenwaage.

Im zehnten und letzten Kapitel wird die Frage aufgeworfen, welche Aus-wirkungen das Aufkommen des Geniekults um Michelangelo auf die Entfal-tung relationaler Weltbilder hatte, bevor im Schlussteil der Arbeit die Ergeb-nisse der Untersuchung zusammengefasst und das ‚relationale Individuum‘ als maßgeblicher Protagonist der Zeit zwischen 1440 und 1530 vorgestellt wird. Anspruch der Arbeit ist es, eine Modifikation der Burckhardtschen Individua-litätstheorie vorzunehmen, eine alternative Terminologie und Deutung vorzu-schlagen und damit schließlich auch einen Beitrag zur Epochenbestimmung der Renaissance zu leisten.

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BEGRIFFE

Es ist vielfach bemerkt worden, dass sich auf dem Gebiet der Philosophie in der Renaissance weit weniger getan hat als in der Literatur, in der bildenden Kunst und auch in der Geschichtsschreibung.1 Viele der in dieser Zeit entstan-denen Traktate, so heißt es, leben allein von der Auslegung antiker Vorbilder, vor allem der Texte von Platon und Aristoteles.2 Allerdings hat Ernst Cassirer zu Recht darauf verwiesen, dass einer der Philosophen-Theologen des 15. Jahrhunderts, nämlich Nicolaus Cusanus, mit seiner Erkenntnislehre die Grundlagen für ein modernes Welt- und Wissenschaftsverständnis legte, als er erklärte, alles Wissen komme durch Vergleich zustande:

Über eine noch nicht gesicherte Erkenntnis urteilt jede Forschung dadurch, daß sie diese hinsichtlich ihres proportionalen Verhältnisses zu einer vorausgesetzten Gewißheit in vergleichenden Bezug bringt. Alles Forschen geschieht also durch Vergleichen. Es bedient sich des Mittels der Verhältnisbestimmung.3

Die Folgen dieser epistemologischen Wende sind kaum zu überblicken; sie zeigen sich – mit unterschiedlich großer Verzögerung – unter anderem in der veränderten Wahrnehmung des Politischen als eigenständigem Bereich menschlichen Miteinanders, in der Wiederbelebung der politischen Theorie und der Geschichtsschreibung, der Proportions- und Perspektivlehre und schließlich auch in der Revision des geozentrischen Weltbildes durch Niko-laus Kopernikus und Giordano Bruno. Um dies im Einzelnen erklären zu kön-nen bedarf es zunächst einer Einführung in das Denksystem des Cusanus unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Substanz und Relation. Es folgt ein Abschnitt, in dem ältere und neuere Forschungen zum Begriff des In-dividuums bzw. der Individualität vorgestellt werden. Daran schließt sich eine Klärung der Begriffe ‚Proportion‘, ‚Mittelmaß‘ und ‚Normalidee‘ an, in der auf frühneuzeitliche Quellen ebenso zurückgegriffen wird wie auf Texte aus dem 19. Jahrhundert.

                                           1 Zum Beispiel Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 1-3; G. W. F. Hegel, Vorlesungen

über die Geschichte der Philosophie Bd. 3, Sämtliche Werke Bd. 19, Stuttgart 1965, S. 213. Vgl. Stephan Otto (Hg.), Geschichte der Philosophie in Text und Aufklärung Bd. 3: Renais-sance und Frühe Neuzeit, Stuttgart 1984, S. 19f. Peter Burke widmet der Philosophie in Die Renaissance in Italien nicht einmal ein Unterkapitel.

2 Die Gegenposition vertritt Charles B. Schmitt in: „Towards a History of Renaissance Philo-sophy“, in: Charles H. Lohr u. a. (Hg.), Aristotelismus und Renaissance, Wiesbaden 1988, S. 9-16.

3 Nicolaus Cusanus, De docta ignorantia Bd. I, hg. von Ernst Hoffmann u. a., Leipzig/Ham-burg 1977, S. 7 (d.i. Kap. I, Abschnitt 2).

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BEGRIFFE 18

Substanz und Relation

Ausgangspunkt für die Erkenntnislehre des Cusanus ist die aristotelische Ka-tegorienlehre, die eine systematische Erklärung der Begriffe ‚Substanz‘ und ‚Relation‘ beinhaltet. Jede Substanz (auch als ‚Wesen‘ übersetzt) ist absolut und aus sich selbst heraus notwendig:

Von dem, was ohne Verbindung geäußert wird, bezeichnet jedes entweder eine Substanz oder ein Quantitatives oder ein Qualitatives oder ein Relatives oder ein Wo oder ein Wann oder ein Liegen oder ein Haben oder ein Tun oder ein Er-leiden. Um es im Umriß zu sagen, Beispiele für Substanz sind Mensch, Pferd; für etwas Quantitatives: zwei Ellen lang, drei Ellen lang; für Qualitatives: weiß, des Lesens und Schreibens kundig; für Relatives: doppelt, halb, größer ... . Nichts von dem Genannten wird für sich in einer Aussage gesagt, sondern durch die Verbindung von diesem untereinander entsteht eine Aussage. Denn jede Aussage scheint entweder wahr oder falsch zu sein, von dem aber, was ohne Verbindung geäußert wird, ist nichts entweder wahr oder falsch, wie ‚Mensch‘, ‚weiß‘, ‚läuft‘, ‚siegt‘.4

Eine Substanz hat naturgemäß keinen Gegensatz: „Denn was könnte der ersten Substanz konträr sein? Zum Beispiel gibt es nichts, das dem individuellen Menschen konträr ist, noch gibt es etwas, das dem Menschen oder dem Lebe-wesen konträr ist.“5 Gleichermaßen gibt es bei der Substanz kein Mehr oder Weniger: „Denn ein Mensch ist nicht mehr ein Mensch als ein anderer, so wie ein weißes Ding weißer ist als ein anderes und ein schönes Ding schöner als ein anderes“.6

Die Relation (auch übersetzt als ‚Qualität‘ oder ‚Verbindung‘) ist ihrer Na-tur nach nicht notwendig, sondern zufällig, und kommt mit Hilfe einer qualifi-zierenden Aussage zustande: Dieser Mensch ist weiß, dieser Stock ist drei El-len lang etc. – es sei denn, sie bezeichnet gerade die Eigenschaft selbst, also das Weiß-Sein oder die Länge. In diesem speziellen Fall ist, so paradox es klingen mag, die Relation (oder Qualität) selbst Substanz, wenn auch eine Substanz, die nur „bezüglich anderer Dinge oder in irgendeinem sonstigen Verhältnis zu andrem“ existiert – „denn die Haltung wird Haltung von etwas genannt und das Wissen Wissen von etwas und die Lage Lage von etwas und das übrige entsprechend.“7 In der Regel aber bezeichnet die Relation das Ver-hältnis von Substanzen zueinander, also etwas, das außerhalb der Substanzen selbst liegt. Dabei unterscheidet Aristoteles vier Weisen, in der zwei Dinge aufeinander bezogen sein können. Das sind neben der Relation (zu unterschei-                                            4 Aristoteles, Die Kategorien, 1 a 15ff. 5 Ebd., 3 b 20ff. 6 Ebd., 3 b 35f. 7 Ebd., 6 a 35ff.

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BEGRIFFE 19

den von der Relation als Substanz) die Kontrarietät (Gegensatz), die Privation (Entbehrung und Ausstattung) und die Kontradiktion (Behauptung und Ver-neinung).8 Als Beispiel für Kontrarietät nennt Aristoteles das Gute und das Schlechte, als Beispiel für die Privation die Unvereinbarkeit von Blindheit und Augenlicht, als Beispiel für die Kontradiktion die einander widersprechenden Sätze: ‚Er sitzt‘ und ‚Er sitzt nicht‘.

Diese aristotelische Differenzierung zwischen Substanz und Relation zog sich wie ein roter Faden durch die Philosophie des Mittelalters. Ein großes Problem ergab sich dabei allerdings in Bezug auf die christliche Trinitätslehre, die naturgemäß auf die Relation von Vater, Sohn und Heiligem Geist gegrün-det war. Augustinus erklärte es infolgedessen zum „Privileg Gottes, daß in ihm die Substanz selbst Beziehung“ sein könne.9 Diese Abweichung stellte die einzige Ausnahme vor der Regel dar und hatte keine Revision der aristoteli-schen Hierarchisierung von Substanz und Relation zur Folge, in der die Sub-stanz stets der Relation übergeordnet war. Est impossibile aliquid esse medium inter substantiam, heißt es noch bei Thomas von Aquin, und folglich ist die Relation für den Heiligen Thomas das ‚geringste Sein‘, das ens minimum.10

Eine der ersten Gegenstimmen gegen die wertende Hierarchisierung von Substanz und Relation erhob Johannes Scotus Eriugena (ca. 810-877). Er ver-trat den Standpunkt, auch Substanzen seien in sich selbst bezüglich und nannte als Beispiel die Zahlen, die ihrem Wesen nach zueinander im Verhältnis ste-hen.11 Aus dieser Überlegung folgte zum einen die rein theoretische Annahme, selbst die Erde müsse im Verhältnis zu etwas anderem stehen, und damit nahm Eriugena im Ansatz die Abkehr vom geozentrischen Weltbild vorweg.12 Zum anderen ermöglichte Eriugenas Überlegung eine Wiederaufwertung des bisher als ‚nur‘ akzidentiell etikettierten sozialen und politischen Handelns. Tatsäch-lich besteht, wie Kurt Flasch gezeigt hat, schon bei Eriugena ein „innerer Zu-sammenhang zwischen der Kritik ... an der Verdinglichungstendenz in der ari-stotelisch-stoischen Tradition, zwischen seiner Rehabilitierung der wesenhaf-ten Relation und seiner Weigerung, unser Wirkvermögen (virtus) und unsere Tätigkeit (operatio) als Akzidenzien der Substanz anzusehen“.13 Obwohl Eriu-gena im 13. Jahrhundert von der Kirche verurteilt und im gleichen Zuge die scholastische Auslegung der Kategorienlehre bestätigt worden war, nahmen                                            8 Ebd., 6 a 35-8 b 20ff. und 11 b 15-14 a 25. 9 Kurt Flasch, „Zur Rehabilitierung der Relation. Die Theorie der Beziehung bei Johannes Eri-

ugena“, in: W. F. Niebel und D. Leisegang (Hg.), Philosophie als Beziehungswissenschaft, Frankfurt a. M. 1971, S. I/6.

10 Thomas von Aquin, Summa Theologica I 76, 4. 11 Vgl. Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, 466 A. 12 Vgl. Gangolf Schrimpf, Das Werk des Johannes Scotus Eriugena im Rahmen des Wissen-

schaftsverständnisses seiner Zeit, Münster 1982. 13 Flasch, „Zur Rehabilitierung der Relation“, S. I/13, cf. Eriugena, De divisione naturae, 505 D

und 490 B.

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BEGRIFFE 20

verschiedene Theologen seine Gedanken wieder auf, darunter Bonaventura (1224-1274), Meister Eckhart (1260-1327), William von Ockham (ca. 1290-1349) und Lorenzo Valla (1407-1457). Zu einer umfassenden Revision der Hierarchie von Substanz und Relation gelangten sie jedoch nicht. Für Ock-ham, der sich intensiv mit der Bedeutung der Relationen auseinandersetzte, bezeichneten diese nicht die Beziehungen zwischen den Dingen, sondern sie waren Eigenschaften von Nomina, die diesen einfach hinzugefügt werden: „Das Doppelte ist doppelt vermöge der Doppeltheit (1. Genus). ... Der Sohn ist Sohn seines Vaters (2. Genus).“14 Ausgenommen ist das Wort ‚homo‘, das keine Relation zu anderen Worten impliziert.

Als strenger Nominalist legte Ockham Wert darauf, die Dinge als jeweils einzeln von Gott geschaffen zu betrachten und nicht den Relationen unterzu-ordnen:

Das bedeutet, dass Schöpfung nicht mehr beinhaltet, ein Geschöpf innerhalb ei-nes ganzen Seinszusammenhanges hervorzubringen, sondern unmittelbar, im bloßen Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf. In aller Konsequenz ist der Ge-danke, daß von Geschöpf nur im Zusammenhang mit einer Schöpfung gespro-chen werden kann, eliminiert. Alle Geschöpfe werden ekstatisch. ... Sie stehen untereinander nicht in einem Verbund oder gar in einem Netzwerk.15

Eigenständig ist die Relation für Ockham jedoch als direkte Beziehung eines einzelnen Menschen oder Gegenstandes zu Gott. Man mag Ockham dahinge-hend interpretieren, dass gerade er dem ‚Individuum‘ in seiner Unmittelbarkeit zu Gott eine ganz herausragende Bedeutung zukommen ließ; dabei wird aber das Individuum nicht als unverwechselbares, sondern vielmehr als isoliertes Wesen definiert:

[W]hile Thomas still insisted that some ordo ad invicem of things is necessary even if each order is contingent, Ockham relativizes the very category of order. The world consists of singulars only: they could exist without any structure of mutual relations. It is this infinite respect for the individual, the singular, which marks the epistemological and methodological criticism of the 14th century.16

Anknüpfend an Ockham entwickelte Lorenzo Valla ein System, in dem nicht nur die Relation generell zur Substanz umgedeutet wurde, sondern in dem al-les Existierende als real existierende Relation, als ‚seiende Qualität‘ gilt. Ne-

                                           14 Klaus Bannach, „Relationen. Ihre Theorie in der spätmittelalterlichen Theologie und bei Lu-

ther“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 47 (2000) 1, S. 105, cf. Will-liam von Ockham, Summa logica, Opera philosophica Bd. 1, New York: St. Bonaventure University Press 1974, S. 155.

15 Bannach, „Relationen“, S. 111f. (cf. Ockham, Scriptum in librum primum sententiarum. Ordinatio IV, New York: St. Bonaventure University Press 1979, S. 358).

16 Amos Funkenstein, „Scholasticism, Scepticism and Secular Theology“, in: Richard H. Popkin/Charles B. Schmitt (Hg.), Scepticism from the Renaissance to the Enlightenment, Wiesbaden 1987, S. 48.

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ben den an den Körper gebundenen Sinneswahrnehmungen nennt Valla noch vier weitere – geistige – Bereiche, die durch Relationen (oder Qualitäten) be-stimmt werden. Dabei handelt es sich um den Bereich der Werte, des Wissens und der Affekte, um den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Beziehung zu Gott, um den Bereich von Zahl und Ordnung und um den Bereich der Unter- und Überordnungen.17 Während bei Valla im Grunde alle Substanzen zu Relationen umgedeutet wurden, gelangte Cusanus schließlich zu einer qualitativen Aufwertung der Relation und des akzidentiellen Han-delns gegenüber den Substanzen. In De docta ignorantia (1440) erklärte er, al-le Dinge müssten auf die gleichen Maß- und Größenordnungen zurückgeführt werden. Finite et infinite nulla proportio: der Abstand zwischen Endlichem und Unendlichem bleibt stets der gleiche, weil er auch durch das Einschieben unendlich vieler Zwischenglieder nicht zum Verschwinden gebracht werden kann.

Um dies zu veranschaulichen, stellt der Theologe einen geometrischen Ver-gleich an. Der Kreis, argumentiert er, ist im Prinzip ein Vieleck mit unendlich vielen Ecken: Das Fünfeck ist ihm ähnlicher als das Viereck, das Zwölfeck ist ihm ähnlicher als das Elfeck usw. Doch so viele Ecken das Vieleck auch ha-ben mag – immer kann es sich durch Hinzufügen einer weiteren Ecke dem Kreis noch weiter annähern, ohne ihn doch jemals zu erreichen. Und ebenso verhält es sich mit dem Unterschied zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Dasein. In Anlehnung an dieses Bild entwickelte Cusanus seine allgemeine Erkenntnislehre, der zufolge „ein Aufstieg zum schlechthin Größ-ten und ein Abstieg zum schlechthin Kleinsten nicht möglich ist, da sonst ein Übergang ins Unendliche stattfände, was bei der Zahl und bei der Teilung ei-nes Kontinuums deutlich wird“.18 Deshalb könne

gegenüber jedem gegebenen Endlichen stets ein Größeres oder Kleineres, sei es der Quantität, der Kraft, der Vollendung oder sonstigen Bestimmungen nach mit Notwendigkeit gegeben werden ... , da das schlechthin Größte oder Kleinste in den Dingen nicht gegeben werden kann. Es geschieht auch kein Fortschritt ins Unendliche ... . Denn da jeder Teil des Unendlichen unendlich ist, so schließt es einen Widerspruch ein zu behaupten, man könne das Verhältnis des Größer- und Kleinerseins dort finden, wo man zum Unendlichen gelangt, da das Verhältnis des Größer- und Kleinerseins ebensowenig wie dem Unendlichen dem zukom-men kann, das in irgendeinem proportionalen Verhältnis zum Unendlichen steht, da dieses dann notwendigerweise auch selbst unendlich wäre.19

Anders als bei seinen scholastischen Vordenkern wird deshalb bei Cusanus der Mensch nicht mehr in Bezug zu Gott gedacht (was für ihn buchstäblich                                            17 Eckhard Keßler, „Die Transformation des aristotelischen Organon durch Lorenzo Valla“, in:

Lohr u.a. (Hg.), Aristotelismus und Renaissance, S. 68ff. 18 Cusanus, De docta ignorantia Bd. 2, S. 11 (Abs. 96). 19 Ebd.

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unmöglich ist), sondern stets in Bezug zu anderen Menschen – ebenso wie er die Erde in Beziehung zu anderen Himmelskörpern setzte und sie damit zu-mindest theoretisch ihres Platzes im Mittelpunkt der Welt beraubte, wie er es bei Eriugena gelesen hatte.20 Damit ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur theoretischen Fundierung eines humanistischen Menschenbildes getan – und dieser Schritt war nicht nur in erkenntnistheoretischer, sondern auch in moralphilosophischer Hinsicht von weitreichender Bedeutung. Für Cusanus ist es der Mensch, der alles Messen und Vergleichen in der Hand hat:

Denn obwohl der menschliche Intellekt dem Wert nicht das Sein gibt, so ließe sich doch ohne ihn kein Wert unterscheiden. Setzt man also den Intellekt bei Sei-te, so läßt sich nicht wissen, ob es einen Wert gibt. Ohne die Kraft der Beurtei-lung und des Vergleichens hört jegliche Schätzung auf, und mit ihr müßte auch der Wert wegfallen. Hieraus ergibt sich die Köstlichkeit des Geistes, da ohne ihn alles Geschaffene ohne Wert gewesen wäre. Wollte also Gott seinem Werke Wert verleihen, so mußte er neben anderen Dingen die intellektuelle Natur er-schaffen.21

Was im ersten Moment als höchste Blasphemie erscheint, nämlich die Be-hauptung, der Wert der Schöpfung entstehe erst im Augenblick der Wahrneh-mung durch den Menschen, ist doch gleichzeitig eine Vergewisserung über die Grenzen der Erkenntnis und folglich auch der Allmacht Gottes, denn mensch-liche Erkenntnis hört genau da auf, wo das Göttliche oder auch das Unendli-che beginnt. Und schließlich, so folgert Cusanus, hat Gott den Menschen überhaupt erst geschaffen, damit er den Wert der von Gott gegebenen Dinge erkenne. Auf der Grundlage solcher Aussagen ist Cusanus zum Kronzeugen für die frühneuzeitliche Entdeckung des Individuums gemacht worden, das sich qua Vergleich von jedem anderen Individuum unterscheidet; schließlich gibt es, so Cusanus, „nichts im Universum ..., das sich nicht einer gewissen Einzigartigkeit erfreute, die sich in keinem anderen findet, so daß keines alles in aller Hinsicht oder Unterschiedenes in gleicher Weise übertreffe“.22 Jedes Geschöpf, das nach Gottes Bild geschaffen wurde, ist einzigartig und voll-kommen, „auch wenn es im Vergleich mit einem anderen weniger vollkom-men erscheint“23 – oder, wie der Astrologe Girolamo Cardano meinte, im Ver-gleich mit sich selbst zu einem anderen Zeitpunkt:

Mein Glück in einzelnen Abschnitten meines Lebens muß man messen, indem man es in Beziehung zum Ganzen setzt – so zum Beispiel in der Zeit, da ich in dem Städtchen Sacco wohnte. Wie unter den Giganten notwendigerweise einer

                                           20 Ebd., S. 93, Abs. 162. Cusanus’ Exemplar von Eriugenas Hauptwerk De divisione naturae

mit handschriftlichen Anmerkungen befindet sich im British Museum in London (Cod. Addit. 11035); vgl. Flasch, „Zur Rehabilitierung der Relation“, S. I/11.

21 Cusanus, De ludo globi, Lib. II, fol. 236f. 22 Cusanus, De docta ignorantia Bd. 3, Abs. 188, S. 11. 23 Ebd., Bd. 2, Abs. 104, S. 21.

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der Kleinste, unter den Pygmäen einer der Größte ist, ohne daß deshalb dieser Gigant klein, dieser Pygmäe groß wäre, so war auch ich, da ich in Sacco lebte, verhältnismäßig glücklich, ohne dass daraus folgte, daß ich überhaupt je einmal glücklich gewesen wäre.24

Aus der Argumentation des Cusanus ergibt sich, dass Individuen zwar in ihrer ‚Zusammensetzung‘ unverwechselbar, im Hinblick auf bestimmte Eigenschaf-ten aber durchaus vergleichbar sind. Rein praktisch bezieht sich die Praxis des Messens und Vergleichens zunächst auf physische Dinge, wie zum Beispiel die Körpergröße und -gestalt von Menschen oder Tieren und die darauf beru-hende Unterscheidung einzelner Gattungen voneinander (auf dieser Grundlage arbeiten später die Zoologie, die Physiognomik und die Anatomie). Gleicher-maßen aber bezieht sich die Messbarkeit auf menschliche Dispositionen wie Talente, Schwächen, Vorlieben und Laster, Weisheit oder Schönheit, die der subjektiven Einschätzung der Maßnehmenden unterworfen sind:

Und wenngleich sich in jeder Art, etwa in der der Menschen, zu einem gegebe-nen Zeitpunkt einige finden lassen, die gegenüber anderen in gewissen Dingen vollkommener und ausgezeichneter sind, so wie Salomon die anderen an Weis-heit übertraf, Absalom die anderen an Schönheit, Samson die anderen an Stärke, und wenngleich jene, die mehr in geistiger Hinsicht die übrigen überragten, sich Ehre vor den übrigen verdienten, so wissen wir nicht, da unterschiedliche Mei-nungen entsprechend der Verschiedenheit von Religionen, Sekten und Regionen Urteile vergleichsweise verschieden ausfallen lassen, so daß das nach der einen Auffassung Lobenswerte nach einer andern tadelnswert ist, und da es über den Erdkreis verstreut uns unbekannte Menschen gibt, so wissen wir also nicht, wer im Vergleich mit den übrigen Menschen der Welt sich besonders auszeichnet, weil wir nicht einmal einen aus ihnen allen vollständig zu erkennen vermögen.25

Absolut gute Menschen könne es, so Cusanus, ebensowenig geben wie absolut schlechte, denn immer werde man noch jemanden finden, der besser oder schlechter, klüger oder dümmer, schöner oder hässlicher sei. „Cusanus macht“, so Cassirer,

mit dem Platonischen Wort, daß das Gute ‚jenseits des Seins‘ ... liege, wieder völligen Ernst. Keine Reihe von Schlußfolgerungen, die ... in stetigem Fortgang ein Empirisches an das andere reiht und auf ein anderes bezieht, vermag zu ihm hinauf zu führen. Denn jedes derartige Denken bewegt sich in einem bloßen Vergleich, also in der Sphäre des ‚Mehr‘ und ‚Weniger‘.26

Der Mensch wird also nicht als gut oder schlecht im Hinblick auf das Göttli-che (finite et infinite nulla proportio!), sondern als relativ gut bzw. relativ

                                           24 Girolamo Cardano, De vita propria 31, O.I.22, zit. nach Anthony Grafton, Cardanos Kosmos.

Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen, Berlin 1999, S. 375; vgl. zur zeitlichen Relativität auch Nicolaus Cusanus, De docta ignorantia Bd. 1, Ab. 68, S. 91.

25 Cusanus, De docta ignorantia Bd. 3, Abs. 189, S. 11 und 13. 26 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 21.

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BEGRIFFE 24

schlecht im Vergleich zu seinen Mitmenschen begriffen, wie es schon Aristo-teles beschrieben hatte: „alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Han-delnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir“.27 Identität kann sich deshalb „niemals als substantiale Einerleiheit, sondern ... nur relativ, nur in bezug auf die ‚Anders-heit‘ ... darstellen ... . Nur durch das Medium der Vielheit kann hier die Ein-heit, nur durch das Medium der Veränderung kann die Konstanz erfaßt wer-den.“28

Diese implizite Aufwertung der Relation gegenüber der Substanz und die Aufwertung der Vielheit gegenüber der Einheit spielen unter anderem im Rahmen der Reformationsgeschichte eine große Rolle. Für Martin Luther, der selbstverständlich Aristoteles gelesen hatte, war die Kategorienlehre vor allem da von Belang, wo es um das Verhältnis von Glauben und Vernunft ging. Aus diesem Verhältnis machte er, so Klaus Bannach,

eine Antithetik, deren Elemente aber nicht je für sich stehen – und sich so gegen-seitig nichts mehr zu sagen haben –, sondern er bezieht die Elemente antithetisch aufeinander, so dass sich für die Theologie die Aufgabe ergibt, fortwährend in der Auslegung der Hl. Schrift für ihre Freiheit von der Philosophie Sorge zu tra-gen. Man kann diese Antithetik [von Glauben und Vernunft] Dialektik nennen, wenn man sich bewußt bleibt, daß der Terminus ‚Dialektik‘ hier einen ganz neu-en, präzisen Sinn annimmt. Er bedeutet nämlich, daß zwei anscheinend einander widersprechende Aussagen durch eine Relation verbunden werden, und zwar gleichzeitig. Dies bringt das fundamentum inconcussum der Aristotelischen Phi-losophie zum Einsturz, das Nichtwiderspruchsprinzip.29

Für Luther konnte der Mensch nun Sünder und gleichzeitig Nicht-Sünder sein. Indem er logische Widersprüche, also die gleichzeitige Vielheit einander wi-dersprechender Aussagen nicht nur zuließ, sondern sie sogar als Motor des Heilsgeschehens betrachtete, grenzte er sich radikal von der Auslegung der aristotelischen Kategorienlehre durch scholastische Theologen ab. Im gleichen Zuge wandte er sich gegen die ‚heilsegozentrische Gemeinschaftsfeindlich-keit‘30 der katholischen Kirche, gegen das Ordenswesen, die Korruption und die Verlogenheit des Ablasshandels. Die katholische Kirche, die seiner Ein-schätzung nach die Privilegien des Klerus auf Kosten der Laien schützte, woll-te er abgelöst sehen durch eine Kirche, die sich in den Dienst der Allgemein-

                                           27 Aristoteles, Poetik, 1448a. 28 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 189. 29 Bannach, „Relationen“, S. 118. 30 Bernd Hamm, „Die reformatorische Krise der sozialen Werte – drei Lösungsperspektiven

zwischen Wahrheitseifer und Toleranz in den Jahren 1525 bis 1530“, in: Thomas A. Brady (Hg.), Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, München 2001, S. 93.

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heit stellt und dem Einzelnen einen unmittelbaren Zugang zu Gott gewährt. Luther betrachtete das Individuum als Träger von Widersprüchen und Unge-reimtheiten; wie Cusanus wäre er kaum auf den Gedanken gekommen, irgend-ein Individuum als unvergleichbar zu bezeichnen. Anders als für die Renais-sancehistoriker des 19. Jahrhunderts ist das Individuum für Cusanus und Lu-ther gerade nicht das Genie, sondern das ganz gewöhnliche Individuum, das dann später in der Sozialstatistik, der Volkswirtschaftslehre und der Anthro-pometrie Karriere machen sollte.

Während Historiker im 19. und 20. Jahrhundert im Anschluss an Jacob Burckhardt zunächst überwiegend mit genialischen Individualitätskonzepten operierten, wurden mittlerweile auch Zweifel an der Plausibilität solcher An-sätze laut. Dies ist nicht zuletzt dem Einfluss Ernst Cassirers zu verdanken, der auf der Suche nach dem Individuum der Renaissance hatte feststellen müs-sen, dass der Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und dem Renais-sancemenschen durchaus fließend und im Konkreten kaum zu benennen sei.31 Vor allem aber haben Mediävisten immer wieder darauf verwiesen, Individua-lität im Sinne von Unverwechselbarkeit habe es lange vor Anbruch der Mo-derne gegeben und man könne in dieser Hinsicht einen tatsächlichen Unter-schied zwischen Renaissance und Mittelalter kaum feststellen. Dieter Kart-schoke zum Beispiel hat argumentiert, dass es bereits in der Erzählung von Tristan und Isolde im Kern um die „Unverwechselbarkeit eines exzeptionellen Schicksals, Selbstbewußtsein, Reflexion und Introspektion“ gehe und dass hier das „ganze Licht der Erzählung ... auf dem auf sich selbst zurückverwie-senen Individuum“ liege.32

Nimmt man die verschiedenen Einwände ernst, so liegt es nahe, als Alter-native zum genialischen Individualitätskonzept ein an Cusanus orientiertes re-lationales Menschenbild zu entwickeln, das die Idee der Vielheit und der dar-aus sich ergebenden Vergleichbarkeit der Individuen zum Ausgangspunkt nimmt. Darin steht dann nicht mehr das Individuum als einsamer Dichter oder als ebenso einsamer Herrscher im Zentrum des Interesses, sondern das Indivi-

                                           31 Vgl. Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 5. 32 Dieter Kartschoke, „Ich-Darstellung in der volkssprachigen Literatur“, in: van Dülmen (Hg.),

Entdeckung des Ich, S. 61-78, hier S. 61. Vgl. Jan A. Aertsen und Andreas Speer (Hg.), In-dividuum und Individualität im Mittelalter, Berlin/New York: de Gruyter 1996; Hans Bayer, „Zur Soziologie des mittelalterlichen Individualisierungsprozesses“, in: Archiv für Kultur-geschichte 58 (1976) 1, S. 115-153; Dieter Kartschoke, „Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelal-ter“, in: Johannes Janota u.a. (Hg.), Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 1-24; Colin Morris, The Discovery of the Individual 1050-1200, London 1972; Gert Melville und Markus Schürer (Hg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 2002; Walter Ullmann, Individuum und Gesellschaft im Mittelalter, Göttingen 1974; Horst Wenzel, Typus und Individualität im Mittelalter, München 1983.

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duum als Relationswesen, das – kaum zufällig – gerade im hier untersuchten Zeitraum zum Gegenstand der von Machiavelli zu neuem Leben erweckten politischen Theorie heranwächst.

Individuum und Individualität

Ebenso wie das griechische Atom bezeichnet der Begriff des Individuums im Lateinischen das Unteilbare, genauer: das, was nicht geteilt werden kann, ohne sich in seinem Wesen zu verändern. In der Sprache der Biologen ist damit ein einzelnes Exemplar einer Spezies gemeint, wobei es sich in der Regel um Tie-re, zuweilen auch um Pflanzen handelt. Schwierigkeiten bereitet diese Defini-tion vor allem bei Lebewesen, die sich durch einfache Teilung (zum Beispiel durch Stecklingsbildung) fortpflanzen.33 Naturgemäß steht bei solchen biologi-schen Definitionen nicht das im Vordergrund, was die Individuen voneinander unterscheidet, sondern das, was allen gemein ist. Kulturwissenschaftliche De-finitionen hingegen arbeiten mit einem Begriff des Individuums, der nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die historisch gewachsenen Unterschiede zwischen einzelnen Menschen oder auch Völkern fokussiert. Individualität bezeichnet in diesem Fall nicht die Zugehörigkeit zur Gattung, sondern diejenigen Eigen-schaften und Charakterzüge, die eine unverwechselbare Persönlichkeit ausma-chen.

Laut Aristoteles haftet einem solchen Begriff des Individuums etwas rein Akzidentielles an, da die Vorstellung vom Individuum als Substanz einen be-grifflichen Widerspruch darstellen würde. Wenn Aristoteles unter den ersten Substanzen, d. h. den Dingen, die unteilbar und aus sich selbst heraus notwen-dig sind, dennoch den Menschen an erster Stelle nennt34, so meint er damit stets eine ganz bestimmte Person, zum Beispiel Sokrates „in diesem Fleisch und diesen Knochen“.35 Als zweite Substanzen aber, d. h. als „Arten, in denen die an erster Stelle Substanzen genannten sind“, können Individuen nicht ge-dacht werden, weil diese zweiten Substanzen qua Definition Abstraktionen sind: „Mensch zum Beispiel und Lebewesen“.36 Folglich gibt es zwar substan-zielle Individuen – nämlich Menschen von Fleisch und Blut –, aber keine sub-

                                           33 „Individuum“, in: Meyers Konversations-Lexikon, S. 216. 34 Aristoteles, Die Kategorien, 1b 25-2 a 30. 35 Aristoteles, Metaphysik, 1034a 5; vgl. Tilman Borsche, „Individuum, Individualität“, in:

Karlfried Gründer/Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1976, Sp. 300f.

36 Aristoteles, Die Kategorien, 2a 15.

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stanzielle Individualität, die sich aus dieser leiblichen Existenz abstrahieren ließe: „Darum gibt es auch von den einzelnen sinnlichen Wesen keine We-sensdefinition und keinen Beweis, weil sie Stoff enthalten, dessen Wesen dar-in besteht, daß er sein und auch nicht sein kann.“37 Unter anderem durch die Vermittlung von Plotin und Boethius erfuhr der Begriff des Individuums im 12. Jahrhundert eine Aufwertung, und mit dem von Duns Scotus und William von Ockham im 13. und 14. Jahrhundert vertretenen Nominalismus wurde ei-ne Lehre entwickelt, in der es wirkliche Erkenntnis immer nur vom Einzelnen geben kann – sei es ein Mensch, sei es sonst ein sinnlich wahrnehmbares Phä-nomen.

Voraussetzung für eine solche an das individuell Erscheinende gebundene Erkenntnislehre war die Entwicklung einer Vorstellung davon, wo das ‚Indi-viduelle‘ anfängt und wo es aufhört. So fragte Thomas von Aquin, ab wel-chem Entwicklungsstadium ein menschlicher Fötus als Mensch bezeichnet werden könne und schlug vor, den Beginn des Menschseins an die Entwick-lung von Vernunft und Persönlichkeit zu binden. Ebenso wie einige antike Kulturen, in denen Kinder oft erst einen Namen erhielten, wenn sie die ersten drei Lebensmonate überstanden hatten, sprach er dem Ungeborenen den Status des Menschseins ab.38 Dieser Gedanke, dass ein Individuum notwendigerweise ein vernünftiges Individuum sein müsse, wurde von Cusanus wieder aufge-griffen, der meinte, der einzelne Mensch als Mikrokosmos sei ein Abbild des ganzen (vernünftig aufgebauten) Makrokosmos. Die Natur des Menschen, so heißt es, ist eine „vernunfthafte und sinnenhafte Natur und faßt alles in sich zusammen, so daß sie mit gutem Grund von den Alten als Mikrokosmos oder als kleine Welt bezeichnet wurde“.39 Wie bei Thomas von Aquin ist es nicht die physische Verschiedenheit oder Unteilbarkeit, die das Individuum als sol-ches kennzeichnet, sondern der Besitz der Vernunft, der „das übrige Kör-perhafte dienstbar ist. Und demnach muß der vollkommenste Mensch nicht im Akzidentellen hervorragend sein, sondern hinsichtlich der Vernunft.“40

Diesen Kriterien der Vernunfthaftigkeit und der Repräsentation des Makro-kosmos im Mikrokosmos Mensch fügte Roger Bacon (1214-1294)41 den Be-griff der Würde hinzu, der dann von den Humanisten des 15. und frühen 16. Jahrhunderts aufgegriffen wurde. Der Begriff der Würde verweist darauf, dass der Mensch nur dann wirklich Mensch sein kann, wenn er über die Möglich-keit einer freien Entfaltung seiner Persönlichkeit verfügt. Dieser Aspekt der individuellen Entfaltung ist es, der im 16. Jahrhundert den Blick auf das krea-

                                           37 Aristoteles, Metaphysik 1039b 15f. 38 Borsche, „Individuum, Individualität“, Sp. 307f., cf. Thomas von Aquin, De causis 11, 235;

De ente 4; De ver. 11. 39 Nicolaus Cusanus, De docta ignorantia III, S. 21 (Abs. 198). 40 Ebd., Abs. 207, S. 33. 41 Vgl. Borsche, „Individuum, Individualität“, Sp. 308.

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tive Individuum lenkt.42 Erstmals haben wir es hier mit einer Vorstellung von Individualität zu tun, der es um den Nachweis der Unvergleichbarkeit be-stimmter aus der Masse herausragender Einzelpersonen geht, wobei die Un-vergleichbarkeit vor allem über die Werke der jeweiligen Personen (naturge-mäß vor allem der Musiker, Dichter, Architekten oder bildenden Künstler) eruiert wird. Ausgehend von dieser Idee entwickelt sich eine Vorstellung von Individualität, die im Prinzip mit Genialität identisch ist. Vor allem hat sie deutliche Spuren in den Werken der ersten akademischen Historiker (bis hin zu Jacob Burckhardt) hinterlassen. Ich werde deshalb im Folgenden einen kur-zen Überblick über die Geschichte des Begriffs nach der Renaissance geben, um besser zeigen zu können, dass Burckhardts Individualitätstheorie bei aller analytischen Schärfe auch eine historische Projektionsleistung darstellt.

Warum sich gerade die genialische Vorstellung von Individualität bis ins 20. Jahrhundert hinein so hartnäckig gehalten hat, ist ohne einen Blick auf Leibniz’ Monadenlehre und deren Rezeptionsgeschichte kaum zu verstehen. Für Leibniz (1646-1716) besteht die ganze Welt aus hierarchisch abgestuften Monaden (abgeleitet vom griechischen monas: Einheit), die in Form von Atomen, aber auch in Form von menschlichen Individuen erscheinen können. Eine Monade oder individuelle Substanz kann man „nicht zweiteilen“ und ebensowenig „aus zweien eine machen“, so dass sich

die Anzahl der Substanzen natürlicherweise weder vermehrt noch vermindert, wenn sie auch oft umgewandelt werden. Überdies ist jede Substanz gleichsam eine Welt im ganzen und ein Spiegel Gottes oder vielmehr des ganzen Univer-sums, das jede in der ihr eigentümlichen Weise ausdrückt, etwa so, wie sich die eine und selbe Stadt, je nach den verschiedenen Standorten des Betrachters, ver-schiedenartig darstellt.43

Individuelle Substanzen sind autonom und haben ihr Ziel in sich selbst, doch in ihrer Gesamtheit bilden sie eine prästabilierte Harmonie, in der sich die göttliche Vorsehung offenbart.44 Obwohl alle „künftigen zufälligen Ereignisse gewiß sind, weil Gott sie vorhersieht“, heißt dies nicht, dass sie auch notwen-dig sind.45 Das Eintreten des weniger Vollkommenen bleibt möglich, auch wenn es niemals eintritt, denn „nicht seine Unmöglichkeit, sondern seine Un-vollkommenheit bewirkt seine Verwerfung.“46 Freiheit ist die Freiheit des Ein-

                                           42 Hans Blumenberg datiert diese Entwicklung erst auf das 18. Jahrhundert; vgl. Hans Blumen-

berg, „Individuation/Individualität“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (3. Auflage), Tübingen 1959, S. 722.

43 Gottfried Wilhelm Leibniz, Metaphysische Abhandlung, übersetzt und hg. von Herbert Her-ring, Hamburg 1975, S. 19/21.

44 „Monade, Monadologie“, in: Metzler Philosophie-Lexikon, hg. von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard, Stuttgart/Weimar 1999, S. 377.

45 Leibniz, Metaphysische Abhandlung, S. 27/29. 46 Ebd., S. 31.

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zelnen, stets das Bestmögliche zu tun. Auf diesem Weg bewahrt Leibniz dem Individuum seine Freiheit, beraubt es aber unter der Hand der Möglichkeit echter Spontaneität und Interaktivität, die im Italien des 15. und frühen 16. Jahrhunderts das politische Denken und die Selbstwahrnehmung der Men-schen bestimmt hatte. Leibniz nämlich gewährt den individuellen Substanzen keine Möglichkeit, direkt miteinander in Kontakt zu treten, und das Zusam-menleben funktioniert nur, weil „ein jeder, der gewissen Gründen oder Geset-zen ... folgt, dem andern, der es ebenso macht, begegnet – so wie mehrere Leute, die sich für einen vorherbestimmten Tag für einen Ort verabredet ha-ben, sich ja in der Tat, falls sie es wollen, treffen können“. Nur Gott allein könne bewirken, „daß das, was einem einzelnen für sich gehört, allen gemein-sam ist; anderenfalls gäbe es keinerlei Verknüpfung.“47

Ausgleich findet nicht auf dem Weg der direkten Einflussnahme statt, son-dern auf dem indirekten Weg einander bedingender Entwicklungen. Wenn ei-ne erstarkende individuelle Substanz „ihre Macht ausübt und sich betätigt“, gibt eine schwindende Substanz „ihre Schwäche zu erkennen ... und leidet“.48 Die Geschichte, in deren Verlauf Menschen tätig werden und Dinge erleiden, ist deshalb Teil des göttlichen Plans, wobei das historisch einzigartige Indivi-duum als Exponent der prästabilierten Ordnung erscheint. So sagt Leibniz von Alexander dem Großen, es gebe in seiner Seele „jederzeit Nachwirkungen al-les dessen ... , was ihm jemals widerfahren ist und Vorzeichen für alles, was ihm je widerfahren wird, ja sogar Spuren von allem, was im Universum ge-schieht, wenngleich es nur Gott allein zukommt, dies alles zu erklären.“49

Obwohl Leibniz den Menschen nicht als Schöpfer, sondern als Geschöpf Gottes bezeichnete (so dass das Lob des schöpferischen Genies eigentlich wieder in den Hintergrund hätte treten können), hat seine Theorie in Verbin-dung mit dem im 16. Jahrhundert aufkommenden Geniebegriff lange Zeit da-für gesorgt, dass das künstlerisch tätige Individuum als ein aus sich selbst her-aus notwendiges, kraftgeladenes, vom Streben nach Vollkommenheit getrie-benes und dennoch nicht von Menschen beeinflussbares Wesen gedacht wur-de. Und als man im Verlagshaus Zedler im Jahr 1735 – knapp zwei Jahrzehnte nach Leibniz’ Tod – das Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste herausgab, hatte man sichtlich Schwierigkeiten, von einem solchen monadi-schen Individualitätskonzept zu einem allgemeinen Begriff des Individuums zu gelangen; so entschied man sich schließlich, von einer genauen Definition abzusehen bzw. den Begriff (wie schon Aristoteles) nur für jeweils einzelne Personen zuzulassen:

                                           47 Ebd., S. 35. 48 Ebd., S. 37. 49 Ebd., S. 19.