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Josef Jackle In einem vorausgegangenen Artikel;) wurden Glaser als Stoffe charakterisiert, welche die mechanische Konsistenz von Festkorpern mit der unregelmagigen atomaren Strulitur von Fliissigkeiten vereinen. Es wurde ge- zeigt, dai3 sich Glaser nicht nach der ublichen Einteilung in die Aggregatszustande fest - fliissig - gasformig klassifizieren lassen, da die scharfe Trennung zwischen Flussigkeit und Festkorper aufgehoben ist. Was kristalli- ne Festkorper auszeichnet - eine regelmaflige periodische Anordnung der Atome als Gitter und eine scharfe Obergangstemperatur zwi- schen Schmelze und Kristall - fehlt bei den Glasern. Gleichwohl sind Glaser bei Tempe- raturen weit unterhalb des Glasubergangs nach dem elementaren Kriterium der mecha- nischen Festigkeit als Festkorper zu bezeich- nen. Dai3 sich verschiedene makroskopische physikalische Eigenschaften von Glasern bei normalen Temperaturen (um die Zimmer- temperatur) sowie bei sehr tiefen Temperatu- ren auf ungewohnliche Weise von denen kri- stalliner Festkorper unterscheiden, davon soll in diesem Beitrag die Rede sein. Glaser sind zwar alltagliche Stoffe, doch wei- sen sie eine Reihe von Effekten und Eigen- schaften auf, welche vom Standpunkt der konventionellen Festkorperphysik - die ja an kristallinem Material orientiert ist - vollig unerwartet sind. Man spricht deshalb in die- sen Fallen von ,,Anomalien" von Glas. Sol- che Anomalien von makroskopischen Glasei- genschaften bei normalen Temperaturen sind bereits seit langerem bekannt. Die Tieftem- peratureigenschaften von Glasern wurden aber erst in den letzten zehn bis zwanzig Jah- ren systematisch untersucht. In den dabei gefundenen Anomalien manifestiert sich die Eigenart des Glaszustandes auf besonders augenfallige Weise. Der vorliegende Artikel beschrankt sich im wesentlichen auf die Dar- stellung anomaler thermischer und elasti- scher Eigenschaften, die elektronischen Ei- genschaften von Halbleiterglasern sind dage- gen nicht beriicksichtigt. Elastische Eigenschaften bei normalen Temperaturen Betrachten wir zuerst die Dampfung elasti- scher Wellen, die sich in Glas ausbreiten. Diese Dampfung kann als Mag der elasti- schen Qualitat des Materials betrachtet wer- ::J. Jackle in Physik in unserer Zeit 12, 82 (1981). Anomalien Dhvsikalischer I/ Eigenschaften von Glasern den und wird durch die freie Weglange I cha- rakterisiert, also diejenige Lange, uber welche die Intensitat der sich ausbreitenden ebenen Welle auf den e-ten Teil abfallt. Bei Zimmertemperatur ist die in reinem Quarz- glas gemessene freie Weglange sehr lang: uber 2 km (Abbildung 1). Die freie Weglange in Einheiten des inversen Wellenvektors k-' = hMjc der elastischen Welle (h ist ihre Wel- lenlange) bezeichnet man als die elastische Giite Q des Materials bei der entsprechenden Frequenz: Q = 2 xllh. Sie hat hier einen Wert von etwa lo5 und liegt nur um einen Faktor 2 unter der elastischen Gute eines perfekten Quarzkristalls. Eine wesentlich starkere Dampfung tritt im Glas bei hoheren und bei tiefen Temperaturen auf (Abbildung 1). Der Anstieg bei hoheren Temperaturen (T > SOO0C) kundet die Nahe des Glasiibergangs an. Die Zunahme der Schalldampfung in diesem Bereich ist ganz naturlich, da das Glas beim Erwarmen all- mahlich weich wird und schliefilich seine fe- ste Konsistenz verliert. Oberraschender ist dagegen die hohe Dampfung bei tiefen Tem- peraturen. Bevor wir uns den tiefen Temperaturen zu- wenden, soll der ,,mittlere" Temperaturbe- reich noch genauer untersucht werden. Die geringe mechanische Dampfung in reinem Quarzglas bei Zimmertemperatur, welche Abb. 1. Inverse freie Weglange I-' von lon- gitudinalen Ultraschallwellen der Frequenz 37 kHz in reinem Quarzglas als Funktion der Temperatur. Abb. 2. Abklingrate t-' (inverse Abkling- zeit) von Torsionsschwingungen eines Glasfadens aus Natronkalkglas (0,4 Na20 . 0,6 KzO .35 SO*) als Funktion der Tempe- ratur. dem kristallinen Wert nahe kommt, ist nam- lich keineswegs fur alle Glaser typisch. In den mit Metalloxiden versetzten Silikatgla- sern 2.B. ist die elastische Giite bei normalen Temperaturen um Grogenordnungen gerin- ger und zeigt aui3erdem eine eigentumliche Temperaturabhangigkeit. Abbildung 2 gibt die zeitliche Abklingrate t-l (inverse Ab- klingzeit) von Torsionsschwingungen eines Fadens aus einem Mischsilikatglas (Natron- kalkglas) an. Die Schwingungsfrequenz be- tragt v = 0,4 Hz. Bei etwa 100°C besitzt die Dampfung ein ausgepragtes Maximum mit einer Abklingzeit von nur 12 s. Der entspre- chende Wert der elastischen Gute, welche hier als Schwinggute Q durch die Abkling- zeit in Einheiten der inversen Kreisfrequenz o = 2xv definiert ist, betragt Q = 'c. w = 30. Der Vergleich der Q-Werte ergibt, dad die Ultraschallwelle im reinen Quarzglas mehr als das I04-fache ihrer Wellenlange zuriickle- gen kann, bevor ihre Intensitat auf den e-ten Teil abnimmt. Bei der Torsionsschwingung Physik in unserer Zeit / 12. Jahrg. 1981 / Nr. li 0 Verlag Cbemie GmbH, 0-6940 Weinbeim, 1981 0031-92~2/81/0~09-01~1 $ 02.50 151

Anomalien physikalischer eigenschaften von gläsern

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Josef Jackle

In einem vorausgegangenen Artikel;) wurden Glaser als Stoffe charakterisiert, welche die mechanische Konsistenz von Festkorpern mit der unregelmagigen atomaren Strulitur von Fliissigkeiten vereinen. Es wurde ge- zeigt, dai3 sich Glaser nicht nach der ublichen Einteilung in die Aggregatszustande fest - fliissig - gasformig klassifizieren lassen, da die scharfe Trennung zwischen Flussigkeit und Festkorper aufgehoben ist. Was kristalli- ne Festkorper auszeichnet - eine regelmaflige periodische Anordnung der Atome als Gitter und eine scharfe Obergangstemperatur zwi- schen Schmelze und Kristall - fehlt bei den Glasern. Gleichwohl sind Glaser bei Tempe- raturen weit unterhalb des Glasubergangs nach dem elementaren Kriterium der mecha- nischen Festigkeit als Festkorper zu bezeich- nen. Dai3 sich verschiedene makroskopische physikalische Eigenschaften von Glasern bei normalen Temperaturen (um die Zimmer- temperatur) sowie bei sehr tiefen Temperatu- ren auf ungewohnliche Weise von denen kri- stalliner Festkorper unterscheiden, davon soll in diesem Beitrag die Rede sein.

Glaser sind zwar alltagliche Stoffe, doch wei- sen sie eine Reihe von Effekten und Eigen- schaften auf, welche vom Standpunkt der konventionellen Festkorperphysik - die ja an kristallinem Material orientiert ist - vollig unerwartet sind. Man spricht deshalb in die- sen Fallen von ,,Anomalien" von Glas. Sol- che Anomalien von makroskopischen Glasei- genschaften bei normalen Temperaturen sind bereits seit langerem bekannt. Die Tieftem- peratureigenschaften von Glasern wurden aber erst in den letzten zehn bis zwanzig Jah- ren systematisch untersucht. In den dabei gefundenen Anomalien manifestiert sich die Eigenart des Glaszustandes auf besonders augenfallige Weise. Der vorliegende Artikel beschrankt sich im wesentlichen auf die Dar- stellung anomaler thermischer und elasti- scher Eigenschaften, die elektronischen Ei- genschaften von Halbleiterglasern sind dage- gen nicht beriicksichtigt.

Elastische Eigenschaften bei normalen Temperaturen

Betrachten wir zuerst die Dampfung elasti- scher Wellen, die sich in Glas ausbreiten. Diese Dampfung kann als Mag der elasti- schen Qualitat des Materials betrachtet wer-

::J. Jackle in Physik in unserer Zeit 12, 82 (1981).

Anomalien Dhvsikalischer I /

Eigenschaften von Glasern

den und wird durch die freie Weglange I cha- rakterisiert, also diejenige Lange, uber welche die Intensitat der sich ausbreitenden ebenen Welle auf den e-ten Teil abfallt. Bei Zimmertemperatur ist die in reinem Quarz- glas gemessene freie Weglange sehr lang: uber 2 km (Abbildung 1). Die freie Weglange in Einheiten des inversen Wellenvektors k-' = hMjc der elastischen Welle (h ist ihre Wel- lenlange) bezeichnet man als die elastische Giite Q des Materials bei der entsprechenden Frequenz:

Q = 2 xllh.

Sie hat hier einen Wert von etwa lo5 und liegt nur um einen Faktor 2 unter der elastischen Gute eines perfekten Quarzkristalls. Eine wesentlich starkere Dampfung tritt im Glas bei hoheren und bei tiefen Temperaturen auf (Abbildung 1). Der Anstieg bei hoheren Temperaturen (T > SOO0C) kundet die Nahe des Glasiibergangs an. Die Zunahme der Schalldampfung in diesem Bereich ist ganz naturlich, da das Glas beim Erwarmen all- mahlich weich wird und schliefilich seine fe- ste Konsistenz verliert. Oberraschender ist dagegen die hohe Dampfung bei tiefen Tem- peraturen.

Bevor wir uns den tiefen Temperaturen zu- wenden, soll der ,,mittlere" Temperaturbe- reich noch genauer untersucht werden. Die geringe mechanische Dampfung in reinem Quarzglas bei Zimmertemperatur, welche

Abb. 1. Inverse freie Weglange I-' von lon- gitudinalen Ultraschallwellen der Frequenz 37 kHz in reinem Quarzglas als Funktion der Temperatur.

Abb. 2. Abklingrate t-' (inverse Abkling- zeit) von Torsionsschwingungen eines Glasfadens aus Natronkalkglas (0,4 Na20 . 0,6 KzO . 3 5 SO*) als Funktion der Tempe- ratur.

dem kristallinen Wert nahe kommt, ist nam- lich keineswegs fur alle Glaser typisch. In den mit Metalloxiden versetzten Silikatgla- sern 2.B. ist die elastische Giite bei normalen Temperaturen um Grogenordnungen gerin- ger und zeigt aui3erdem eine eigentumliche Temperaturabhangigkeit. Abbildung 2 gibt die zeitliche Abklingrate t-l (inverse Ab- klingzeit) von Torsionsschwingungen eines Fadens aus einem Mischsilikatglas (Natron- kalkglas) an. Die Schwingungsfrequenz be- tragt v = 0,4 Hz. Bei etwa 100°C besitzt die Dampfung ein ausgepragtes Maximum mit einer Abklingzeit von nur 12 s. Der entspre- chende Wert der elastischen Gute, welche hier als Schwinggute Q durch die Abkling- zeit in Einheiten der inversen Kreisfrequenz o = 2xv definiert ist, betragt Q = 'c. w = 30. Der Vergleich der Q-Werte ergibt, dad die Ultraschallwelle im reinen Quarzglas mehr als das I04-fache ihrer Wellenlange zuriickle- gen kann, bevor ihre Intensitat auf den e-ten Teil abnimmt. Bei der Torsionsschwingung

Physik in unserer Zeit / 12. Jahrg. 1981 / Nr. li 0 Verlag Cbemie GmbH, 0-6940 Weinbeim, 1981 0031-92~2/81 /0~09-01~1 $ 02.50

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des Silikatglases im Temperaturbereich des Dampfungsmaximums (100OC) dagegen er- folgt dieselbe Xntensitatsabnahme bereits nach 5 Schwingungsperioden!

Es ist bemerkenswert, dafi ahnliche Eigen- schaften von Silikatglasern bereits vor iiber hundert Jahren untersucht wurden, aller- dings in anderer Form. Anstatt die Damp- fung einer sinusformigen Schwingung zu messen, bestimmte man die ,,elastische Nachwirkung" auf eine kurzzeitige Verdril- lung eines Glasfadens. Dieser Effekt ist von praktischer Bedeurung und beeinflufit z.B. die Genauigkeit der Messung rnit einem ball;- stischen Galvanometer, dessen Spiegel an ei- nem Glasfaden hangt. Kein Geringerer als Ludwig Boltzmann selbst hat solche Messun- gen durchgefuhrt (1874). Abbildung 3 zeigt seine Meflpunkte fur die nach Entfernung des Drehmornents zuruckgebliebene Verdrillung eines Glasfadens in Abhangigkeit von der da- zwischen verstrichenen Zeit (,,Erholungs- zeit"). Wegen der langsamen Riickkehr des Fadens in den urspriinglichen unverzerrten Zusrand, welche viele Minuten dauert, spricht man auch von ,,elastischem Krie- chen". Boltzmann kam es dabei besonders auf die Priifung des Superpositionsprinzips an. Darunter ist zu verstehen, dafs sich die gemeinsame Wirkung zweier zu verschiede- nen Zeiten angelegter Drehmomente auf die nach einer bestimmten Zeit zuriickbleibende Verdrillung streng additiv aus den Wirkun- gen der einzelnen Momente zusammensetzt; fur ein einzelnes Drehmoment bedeutet es die Proportionalitat zwischen dessen Ampli- tude und der verbleibenden Restverdrillung. Im Fall von Boltzmanns Messungen folgt aus dem Superpositionsprinzip, dafi die Grofie der Resrverdrillung der Zeirdauer Z, der auf- erlegten Verdrillung proportional ist. In Ab- bildung 3 stellen die ausgezogenen Kurven die unter dieser Annahme berechnete elasti- sche Nachwirkung dar. Die gute Oberein- stimmung mit den Mefipunkten bestatigt die Gultigkeit des Superpositionsprinzips. Aus diesern Ergebnis folgt, dafi die untersuchten Glaser sich trotz des lang anhaltenden Nach- wirkungseffekrs elastisch linear verhalten. Das bedeutet, dafs die Beziehung zwischen Spannung und Dehnung (Verzerrung) wie nach dern Hookeschen Gesetz linear ist, ob- wohl diese Beziehung nicht mehr die Form einer einfachen Proportionalitat zwischen dem augenblickiichen Spannungs- und Deh- nungswert hat. Boltzmann gab ausgehend vom Superpositionsprinzip eine allgemeine mathernatische Beschreibung der elastischen

Nachwirkung, welche auf dem Begriff der ,,Gedachtnisfunktion" beruhr". Die in Ab- bildung 3 gezeichneren Kurven srellen gerade die zeitliche Ableitung einer solchen Ge- dachtnisfunktion dar.

Ionendiffusion und elastische Nachwir- kung

Aus dem Vergleich rnit den Dampfungsmes- sungen an reinem Quarzglas geht hervor, dafi man die relativ starke elastische Nachwir- kung in den Silikatglasern nicht auf das Ver- halten des statistischen SiOz-Netzwerks'F-;g zuriickfuhren kann. Vieimehr sind dafiir die eingelagerten Kationen der Metalloxide, z. B. Na', verantwortlich. In der offenen Struktur des Quarzglases stehen fur jedes Kation rneh- rere Platze zur Verfiigung, zwischen denen es auf Grund seiner thermischen Energie mit einer gewissen Sprungfrequenz I i to (dem In- versen der mittleren Verweilzeit zo an einem einzelnen Platz) umherhupft. Entsprechend der Arrheniusbeziehung

= oo . exp[-V/(k~T)].

ist die Sprungrate stark temperaturabhangig. 00 stellr eine charakteristische Oszillatorfre- quenz und V die zwischen zwei Platzen zu uberwindende Potentialbarriere dar; kg ist die Boltzmannkonstante. Im thermischen Gleichgewicht besitzt jeder PIarz eine be- stimmte mittlere Besetzungswahrscheinlich- keit, welche davon abhangt, wie giinstig die- se Position fur ein Kation energerisch ist. Bei einer elastischen Verzerrung des Glases wird auch das statistische Netzwerk, welches ja das atomare Geriist des Glases bildet, ver- zerrt. Dabei wird das Besetzungsgleichge- wicht gestort, da sich die energetischen Ver- haltnisse auf den verschiedenen Platzen an- dern. Ein energetisch begunstigter Platz kann z.B. durch Verkleinerung des fur das Kation verfugbaren Zwischenraumes ungunstig wer- den und umgekehrt. Die Kationen stellen sich dann natiirlich auf diese gekderten Energieverhaltnisse ein. Dabei ergeben sich neue mittlere Besetzungswahrscheinlichkei- ten fiir die Ionenplatze, welche einem ther- mischen Gleichgewicht in dem verzerrten statistischen Netzwerk entsprechen. Die Einstellung des neuen, geanderren Gleichge-

" B o h n a n n selbst gebrauchte aber keine ver- balen Bezeichnungen fur die in seiner mathe- matischen Beschreibung eingefuhrten Funk- tionen.

wichts bezeichnet man als Relaxation. Sie be- notigt eine gewisse Zeit, da sie sicher nicht schneller vonstatten gehen kann als die ein- zelnen Sprunge der Kationen, deren mittlere Rate gleich t0-l ist. Deshalb hat diese Sprungrate auch die Bedeutung einer Relaxa- tionsrate. Die zeitliche Verzogerung, mit der sich die Gleichgewichtsverteilung der Ionen der elastischen Verzerrung anpafit, ist die Ursache der elastischen Nachwirkung; denn die raumliche Verteilung der Metallionen wird nicht nur durch die Verzerrung des sta- tistischen Netzwerks beeinflufit, sondern wirkt auch umgekehrt auf diese Verzerrung zuriick. So wird auf Grund der Erinnerung an die urspriingliche Verdrillung, welche in der raumlichen Verteilung der Ionen gespei- chert ist, auch nach Wegnahrne des Drehmo- ments noch ein gewisser Bruchteil dieser Verdrillung aufrechterhalten. Die erwahnte Gedachtnisfunktion, wefche das Abklingen der Erinnerung an das ursprungliche Gleich- gewicht beschreibt, ist im einfachsten Fall proportional zur Exponentialfunktion

worin die mittlere Sprungrate TO-' die Bedeu- tung einer Abklingkonstante besitzt. Die ge- messene Gedachtnisfunktion (siehe Abbil- dung 3) ist allerdings von etwas anderer Form; sie strebt fur lange Zeiten t weniger rasch gegen Null als die Exponentialfunk- tion.

Bei einer periodischen Torsionsschwingung der Kreisfrequenz o hinkt die Einstellung ei- nes Gleichgewichts der raumlichen Vertei- lung der Ionen stets hinter der osziliierenden elastischen Verzerrung nach. Durch dieses Nachhinken wird die Schwingung gewisser- mafien abgebremst und gedampft. Die Starke der Dampfung wird bestimmt durch die An- teile der Besetzungswahrscheinlichkeiten, welche gegenuber der Torsionsschwingung urn 90" phasenverschoben sind. Die Ampli- tude dieser Komponente ist proportional zu

wobei TO wiederum die mittlere Ionen- sprungrate darstellt. Die Dampfung ist maxi- mal, wenn die Bedingung

0 x 0 = 1

""kiehe J. Jackle, Physzk zn unserer Zeit 12, 82 (1981).

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erfiillt ist. Dementsprechend kann man aus dem Maximum der Abklingkonstante in Ab- bildung 2 schlieflen, daf3 in dem verwendeten Natronkalkglas bei ca. 100°C die mittlere Sprungrate der Ionen to-' = 2 ~ r . 0,4 s-' =

2,5 s-' betragt.

Die Sprungbewegung der Metall' ionen, vor allem des Na+-Ions, ist auch die Ursache der elektrischen Leitfahigkeit der Silikatglaser. Diese ist zwar sehr gering (bei 250°C betragt sie etwa den IO-''-ten Teil der Leitfahigkeit von Kupfer bei Zimmertemperatur) und bei normalen Temperaturen nur insofern von praktischer Bedeutung, als sie die Qualitat des Glases als Isolatormaterial bestimmt. Auf der Ionenleitung beruht aber auch die Wir- kungsweise von Glaselektroden, mit denen man elektrochemische Spannungsdifferenzen in wadrigen Losungen messen kann. Als elektrische Bauelemente verwendet man aber nur Glaser mit elektronischer Leitung, vor allem Chalkogenidglaser::. Diese Halbleiter- glaser finden noch zusatzliches Interesse we- gen eines elektrischen Schalteffekts, bei dem die Leitfahigkeit in einem geniigend starken elektrischen Feld von einem relativ niedrigen auf einen hoheren Wert springt.

Vor allem die elastischen Eigenschaften von Glasern bei normalen Temperaturen werden also durch die Diffusion der zugesetzten Me- tallionen wesentlich beeinflufit. Obwohl da- bei in der Abhangigkeit von Temperatur und Ionenkonzentration spezielle Effekte auftre- ten, ist allerdings der Mechanismus der Ionendiffusion als solcher keine spezifische Eigenschaft von Glas. Auch geloste Fremd- atome in Metallen, z.B. Kohlenstoff, Stick- stoff oder Wasserstoff, konnen diffundieren und zur elastischen Nachwirkung beitragen (Snoek-Effekt). Demgegeniiber findet man bei sehr tiefen Temperaturen eine Reihe von glasspezifischen Eigenschaften, welche eine Folge der amorphen atomaren Struktur von Glas sind.

Tiefternperaturanornalien

Spezifsche Warrnekapazitat

Bei sehr tiefen Temperaturen - die Rede ist von Temperaturen des fliissigen Heliums, unterhalb 4 K - ist nicht nur der Glasuber- gang langst abgeschlossen, sondern auch un- terhalb der Glastemperatur noch vorkom-

"siehe Physik in tllzse~er Zeit 12, 82 (1981).

Abb. 3. ,Erholung" eines Glasfadens nach einer kurzdauernden konstanten Verdril- lung in Abhangigkeit von der Erholungs- zeit und der Zeitdauer z, der Verdrillung (z, in Minuten).

mende atomare Umlagerungen kleineren Ausmafies (,,sekundare Relaxationsvorgan- ge") sind ,,eingefroren". Man wiirde deshalb erwarten, da8 sich ein Glas in seinen makro- skopischen Eigenschaften, wie 2.B. der spe- zifischen Warme, vollig wie ein gewohnli- cher kristalliner Festkorper verhalt. Fur die spezifische Warmekapazitat eines kristallinen Festkorpers gilt bei tiefen Temperaturen weit unterhalb der Debyetemperatur das Debye- sche Gesetz (siehe Informationskasten De- bye-Modell)

C, = B . T'

Trager der inneren thermischen Energie eines nichtmetallischen kristallinen Festkorpers sind die langwelligen Phononen, die Schwin- gungs-Quanten elastischer Wellen darstellen. Bekanntlich kann die Konstante B aus den Ausbreitungsgeschwindigkeiten dieser WeI- len berechnet werden. Bei einer Temperatur T = 1 K ist die mittlere Wellenlange der ther- misch angeregten Phononen von der Gro- fienordnung 50 nm, also sehr grofi gegen den mittleren interatomaren Abstand und etwa zehnmal kleiner als die Wellenlange von Licht im sichtbaren Spektralbereich. Da wir

Inforrnationskasten Debye-Modell:

In einem kristallinen Festkorper konnen die Vibrationen der einzelnen Atome um ihre Gleichgewichtslagen als Summe von Auslen- kungen UA gedeutet werden, wobei jede die- ser Auslenkungen UA als harmonische Welle bestimmter Wellenlange h des gesamten Kri- stalls beschreibbar ist. Die Endlichkeit des Kristalls macht das Spektrum der Wellenlan- gen diskret. Nach dem Debye-Model1 ist je- de Wellenlange h mit einer Frequenz v uber v = h - v verbunden. v ist die Ausbreitungsge- schwindigkeit dieser Gitterwellen. Die ange- gebene Beziehung ist exakt giiltig im Bereich langer Wellenlangen, in dem der Kristall als elastisches Kontinuum beschrieben werden kann. Man hat hier genau genommen trans- versale (v,) und longitudinale Wellen (vl) zu unterscheiden. Die V-Werte sind ebenso wie die h-Werte diskret. Die Anzahl der mogli- chen diskreten V- Werte im Interval1 zwischen v und v + dv pro Volumeneinheit heifit die Zustandsdichte g(v). Fur das Debye-Mode11 ergibt sich g(v) - v*, wobei in den Proportio- nalitatsfaktor die Ausbreitungsgeschwindig- keiten v eingehen. Diese v2-Abhangigkeit ist eine direkte Folge der Proportionalitat v - Uh. Die Quantisierung der Gitterwellen erlaubt fur jede Wellenlange nur diskrete Energiewerte, namlich die des harmonischen Oszillators: En@) = (n+1/2)h~(h), wobei h das Plancksche Wirkungsquantum und n eine ganze Zahl darstellt. Das Energiequantum der Grofie hv(h) tituliert man als ,,Phonon" zur Wellenlange h oder - nach der quanten- mechanischen de Broglie-Beziehung - zum (Quasi-)Impuls p = h/h. Wieviele Phononen fur jedes h vorhanden sind, wird durch die Temperatur T geregelt.

Die spezifische Warmekapazitat c ist die An- derung der in dem Phononensystem stecken- den inneren Energie E mit der Temperatur T: c = aE/aT. Bei tiefen Temperaturen, wo nur Phononen aus dem unteren Teil des Fre- quenzspektrums vorhanden sind, ergibt sich aus der quadratischen Zustandsdichte g(v) fur die innere Energie E - T4. Daraus folgt sofort fur c die Proportionalitat zu T'. Der Proportionalitatsfaktor hangt von den Aus- breitungsgeschwindigkeiten v ab. Dieses fur kristalline Korper abgeleitete Mo- dell wird nun auch auf Glaser angewandt. Im Bereich niedriger Frequenzen (bzw. tiefer Temperaturen) sollte es auch dafiir exakt giil- tig sein, weil bei grof3en Wellenlangen auch fur amorphe Korper die Beziehung v = h.v erfiillt ist.

Physik in unserer Zeit / 12. Jahrg. 1981 / Nr. S 153

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wissen, da8 Quarzglas ebenso ,klar", d.h. transparent wie Quarzkristall ist, konnen wir annehmen, da8 Glas auch noch im Langen- maastab der Wellenlange thermischer Pho- nonen bei 1 K ein sehr homogenes Medium darstellt, das sich nicht prinzipiell von einem kristallinen Medium unterscheidet . Dieser Vergleich liefert also eine noch bessere Be- griindung unserer Erwartung, da8 die spezi- fische Warmekapazitat eines Glases sich qua- litativ nicht von der eines Kristalls unter- scheiden sollte. Diese Erwartung wird nun aber vom Experiment nicht bestatigt.

In Abbildung 4 sind die gemessenen spezifi- schen Warmekapazitaten von Quarzglas und Quarzkristall bei tiefen Temperaturen mit- einander verglichen (Zeller und Pohl 1971). Die gestrichelten Linien geben jeweils den aus den Ausbreitungsgeschwindigkeiten der elastischen Wellen berechneten Wert der Konstanten B an. Wahrend die Kurve fur C,/ T3 von Quarzkristall ziemlich genau mit dem berechneten Wert von B iibereinstimmt (die kleine Abweichung diirfte von Verunreini- gungen herriihren), findet man bei Quarzglas bei tiefen Temperaturen eine immer starkere Abweichung, die bei einer Temperatur T =

0,1 K bereits mehr als zwei Zehnerpotenzen ausmacht. Bei den tiefsten Megtemperaturen um 25 mK liegt die spezifische Warmekapa- zitat von Quarzglas sogar um drei Zehnerpo- tenzen iiber dem Wert nach der Debyeschen Theorie. Unterhalb von T = 1 K laf3t sich die gemessene spezifische Warme von Quarzglas naherungsweise durch den Ausdruck

C, = AT + BT3 oder C,/T = A + B T2

beschreiben, welche an die Stelle der Debye- schen Beziehung tritt. Es hat sich gezeigt, da8 derselbe Unterschied zur Debyeschen Theorie auch bei den meisten anderen Gla- sern auftritt. Dies sieht man in Abbildung 5, in der die spezifischen Warmekapazitaten verschiedener anorganischer und organischer Glaser in einer Auftragung, welche dem zweiten oben angegebenen Ausdruck ent- spricht, dargestellt sind. Der Ordinatenab- schnitt gibt den Koeffizienten A des linearen Terms der spezifischen Warme; er ist fur alle vier gezeigten Glaser von derselben Gro- 8enordnung.

Es ware natiirlich denkbar, da8 es sich bei dieser Erhohung der spezifischen Warmeka- pazitat um einen extrinsischen Effekt han- delt, der durch bestimmte Verunreinigungen erzeugt wird. In diesem Fall sollte die Gro8e

Abb. 4. Spezifische Warmekapazitat Cp/T3 von Quarzglas verglichen rnit Quarzkri- stall.

Abb. 5. Spezifische Warmekapazitat Cp/T vier verschiedener Glaser, aufgetragen iiber T2 (Se: amorphes Selen, PMMA: Plexi- glas).

Abb. 6. Inverse freie Weglange Z-' von lon- gitudinalen Ultraschallwellen der Frequenz

940 MHz verschiedener Intensitat I in Bor- silikatglas (BK7) bei tiefen Ternperaturen (nach Hunklinger, Arnold, Dransfeld u.a., 1972).

Abb. 7. Dampfung aufeinanderfolgender Echopulse von Ultraschall von a) mittlerer und b) von extrem kleiner Amplitude in Borsilikatglas.

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des linearen Terms AT bei kontrollierter Zu- gabe von Verunreinigungen in weiten Gren- Zen variieren. Man findet zwar eine gewisse Variabilitat von A mit dem Verunreinigungs- gehalt, 2.B. dem Gehalt an Wasser, doch zeigt die Extrapolation auf den reinen Fall, dai3 es sich im wesentlichen um einen intrin- sischen Effekt handelt.

Da unsere Erwartung der Giiltigkeit des Debyeschen Gesetzes gut begriindet schien, weist die gefundene Diskrepanz auf eine fun- damentale Liicke in unserem Verstandnis der physikalischen Eigenschaften von Glasern hin. Wir konnen zunachst nur schlieflen, dai3 es im Glas als Folge der unregelmagigen atomaren Struktur bei tiefen Temperaturen noch andere Formen der thermischen Bewe- gung der Atome gibt als die langwelligen ela- stischen Wellen. Bevor wir ein mogliches Modell fur diese zusatzlichen ,,thermischen Anregungen", das sogenannte Tunnelmo- dell, schildern, sol1 erst ein weiteres iiberra- schendes experimentelles Ergebnis an Gla- sern beschrieben werden.

Ultraschalldampfung

Wie bereits erwahnt, riihrt der durch die De- byesche Theorie beschriebene Beitrag zur spezifischen Warmekapazitat eines Festkor- pers bei tiefer Temperatur von langwelligen Phononen her, welche bei T = 1 K eine Wel- lenlange von der Grogenordnung 50 nm ha- ben. Man kann solche Phononen rnit einer besonderen Technik auch von aui3en in das Glas injizieren. Dazu wird der Tunneleffekt von Elektronen zwischen zwei supraleiten- den, durch eine diinne Oxidschicht getrenn- ten Metallfilmen ausgeniitzt. Phononen rnit einer hundertmal groi3eren Wellenlange von etwa 5 pm, welche elastische Wellen mit ei- ner Frequenz von etwa 1 GHz darstellen, konnen mit Ultraschallsendern wie diinnen Schwingquarzen oder auf die Glasoberflache aufgedampften piezoelektrischen CdS-Fil- men auf einfacherem Wege erzeugt werden. Man kann damit die Ausbreitung koharenter Wellenziige, der Ultraschallpulse, nach Ge- schwindigkeit und Dampfung untersuchen. Ausbreitungsgeschwindigkeit c und Damp- fung a ergeben sich aus dem zeitlichen Ab- stand und der Intensitatsabnahme aufeinan- derfolgender Echopulse, die durch Reflexion am Probenende zustande kommen. Die Dampfung von Ultraschallwellen kann na- tiirlich eine Reihe verschiedener Ursachen haben, wie 2.B. den geometrischen Effekt nicht vollig planparalleler Probenenden auf

die Richtung der reflektierten Pulse, oder die Streuung der Schallwelle an Inhomogenitaten in der Probe. Da diese Effekte aber tempera- turunabhangig sind, lassen sie sich von dem- jenigen Dampfungsbeitrag abtrennen, wel- cher von der Wechselwirkung der Welle mit den verschiedenen Arten von thermischen Anregungen in der Probe herriihrt. Aus die- sem Beitrag erhalt man Aufschliisse iiber die Art und Eigenschaften dieser Anregungen. Angesichts der Entdeckung zusatzlicher thermischer Anregungen in der spezifischen Warmekapazitat von Glasern kommt daher der Messung der Ultraschalldampfung in Glasern besonderes Interesse zu.

In Abbildung 6 zeigt die untere Kurve den in einem konventionellen Ultraschallexperi- ment gemessenen Temperaturverlauf der Dampfungskonstante a von Borsilikatglas". Verglichen mit Quarzkristall, wo in diesem Temperaturbereich kein temperaturabhangi- ger Beitrag zur Schalldampfung existiert, stellt bereits dieses Ergebnis eine Besonder- heit des Glases dar. Das iiberraschendste Er- gebnis aber ist die Beobachtung einer starken Intensitatsabhangigkeit der Schalldampfung. Reduziert man namlich die Intensitat der Schallwelle um mehrere Grogenordnungen von einigen mW/cm2 bis auf Bruchteile von pW/cm2, dann beobachtet man eine wesent- lich starkere Dampfung (obere Kurve in Ab- bildugng 6). Dieser Unterschied ist so grog, dai3 er bereits unmittelbar am Muster der Echopulse zu erkennen ist (Abbildung 7). Zur Illustration der hierbei charakteristi- schen Schallintensitaten sei die Schallschnel- le, das ist die Geschwindigkeitsamplitude u im Ultraschallfeld, angegeben. Sie betragt in Quarzglas bei W/cm2 nur 5 . cm/ s . Zum Vergleich hat ein Schallfeld in Luft mit der Horfrequenz von 1 kHz und mit dem gleichen Verhaltnis von Schallschnelle und Ausbreitungsgeschwindigkeit u/c = nur eine Lautstarke von 10 dB, was einem Blat- tersauseln entspricht. Bei so schwachen Schallamplituden treten in normalen Fest- korpern keinerlei nichtlineare Effekte wie die hier gefundene Intensitatsabhangigkeit der Ultraschalldampfung auf.

Ein vergleichbarer Effekt ist in der Physik kristalliner Festkorper nur von magnetisch

"Dieses Kurvenstiick liegt noch weit unter- halb des in Abbildung 1 angedeuteten Ab- sorptionsmaximums bei tiefen Temperatu- ren.

dotierten Kristallen bekannt. Dort wird in der magnetischen Resonanz bei hinreichen- der Intensitat des eingestrahlten Mikrowel- lenfeldes eine Sattigung der Absorption be- obachtet, welche einer Abnahme des Ab- sorptionskoeffizienten Q (als absorbierter pro eingestrahlter Energie) entspricht. Diese Analogie zu Spinsystemen weist heuristisch den Weg zu einem physikalischen Mechanis- mus, der die Intensitatsabhangigkeit der U1- traschalldampfung in Glasern erklart. Der entscheidende Punkt in der Erklarung der Sattigung der Absorption in der magneti- schen Resonanz ist die Tatsache, dai3 ein Spin in einem konstanten Magnetfeld nur eine re- lativ kleine Zahl von aquidistanten Energie- niveaus besitzt (namlich 2S+1, wenn S die Spinquantenzahl ist; Zeeman-Aufspaltung). Wird durch starke Einstrahlung resonanter Strahlung soviel Energie angeboten, dai3 alle diese Niveaus gleich stark besetzt werden, dann kann die pro Zeit absorbierte Energie auch bei einer weiteren Erhohung der einge- strahlten Intensitat nicht mehr weiter zuneh- men, und die Absorption pro Zeit erreicht ei- nen Sattigungswert. Darin unterscheidet sich ein Spin von einem harmonischen Oszillator, in dem eine unendliche Folge von aquidistan- ten Energieniveaus vom Abstand hv (wenn v die Frequenz des Oszillators ist!) zur Verfii- gung steht, so dai3 eine Gleichbesetzung und damit auch eine Sattigung der Absorption unmoglich ist. Wir schliei3en daraus, dai3 zur Erklarung der Intensitatsabhangigkeit der Ultraschallabsorption in Glasern ein Modell gefunden werden mu& welches quantenme- chanische Systeme mit einer relativ kleinen Zahl (3 2) aquidistanter Energieniveaus ent- halt.

Tunnelsysteme als Tieftemperaturanregun- gen

Das Modell zur Erklarung dieser bemerkens- werten Effekte, einschliei3lich des im Infor- mationskasten J'hononenecho" geschilder- ten, ist durch Abbildung 7 in dern vorausge- gangenen Artikel"" inspiriert, welches das Zu- fallspotential im Konfigurationsraum sche- matisch darstellt. Beriicksichtigt man, dai3 bei den vorliegenden tiefen Temperaturen ein Ubergang iiber die Potentialbarrieren durch thermische Aktivierung ade r s t unwahr- scheinlich ist, bleibt als Moglichkeit fur die atomare Bewegung aui3er der Oszillation in

'5'5iehe J. Jackle, Physzk in unserer Zeit 12, 82 (1981).

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den Potentialminima, welche den Normal- schwingungen des statistischen Netzwerks um seine Gleichgewichtslagen entspricht, nur der Tunneleffekt. Damit sind wir beim sogenannten ,,Tunnelmodell" zur Erklarung der Tieftemperatureigenschaften von Gla- sern. Da die Rate, mit der eine Potentialbar- riere ,,durchtunnelt" wird, exponentiell von deren Breite und Hohe abhangt (siehe Infor- mationskasten: ,Tunneleffekt"), ist es plausi- bel, daB nur die besonders schmalen und niedrigen Barrieren dabei eine Rolle spielen. Fur eine solche ,,durchlassige" Barriere ha- ben wir dann das Bild eines Doppelmulden- potentials, wie es in Abbildung 8 dargestellt ist. 1st der Energieunterschied zwischen bei- den Minima gleich E und die Tunnelfrequenz gleich A/h, dann erhalt man als quantenme- chanische Eigenzustande eines solchen ,,Tun- nelsystems" zwei Zustande mit der Energie- differenz

Man bemerkt sofort, daf3 das Tunnelmodell thermische Anregungen mit kleinen Anre- gungsenergien E liefert, wie sie fur tiefe Tem- peraturen relevant sind. Da hier die Tunnel- bewegung von Atomen und nicht von Elek- tronen ausgefiihrt wird, sind fur A/h relativ niedrige Frequenzen zu erwarten. Zum Bei- spiel hat bei der Inversion des Ammoniak- molekiils NH, die Tunnelfrequenz den Wert von 24 GHz. Diese Frequenz entspricht nach der Beziehung hv = kBT einer Temperatur von etwa 1 K. Im statistischen Netzwerk ei- nes Glases ist kein scharfer Wert der Tunnel- frequsnz, sondern eher eine breite Verteilung zu erwarten. Auch sollten die Tunnelfre- quenzen im allgemeinen noch niedriger lie- gen als beim Ammoniak, da schwerere Ato- me am Tunnelubergang beteiligt sind. (Beim Ammoniak bewegen sich hauptsachlich die drei Protonen und nicht das Stickstoffatom!) Macht man die plausible Annahme, dag die Energiedifferenz E vollig statistisch verteilt ist, ergibt sich in dem fur die gemessene spe- zifische Warmekapazitat relevanten Energie- bereich auch eine breite Verteilung der Anre- gungsenergien E, die je nach der speziellen Form der Verteilung der Tunnelfrequenzen mehr oder weniger genau eine Gleichvertei- lung sein kann. Eine Gleichverteilung von E fiihrt aber zu einem linearen Term der spezi- fischen Warmekapazitat als Funktion der Temperatur, welcher dem experimentellen Ergebnis entspricht.

Um die richtige GroBe des gemessenen Koef-

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Informationskasten: Tunneleffekt

Nach der Quantenmechanik kann ein Teil- chen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch in solche Raumgebiete eindringen, in denen die potentielle Energie iiber seiner ei- genen Energie liegt. So kann ein Teilchen in dem in Abbildung 10 gezeichneten Doppel- muldenpotential die Potentialbarriere durch- dringen, auch wenn es nur die Energie des Oszillatorgrundzustandes in den beiden Mulden besitzt. Die Durchtrittsrate oder Tunnelfrequenz ist gegeben durch

A/h = w, exp(-d. d w , wobei m die Teilchenmasse, V die Hohe und d die Breite der Potentialbarriere, und w, eine Kreisfrequenz von der Grofienordnung der Oszillatorfrequenz in den Potentialmulden bezeichnen. h ist das quantum.

Physik in unserer Zeit

lancksche Wirkunps-

12. Jahrg. 1981 / Nr. 5

Page 7: Anomalien physikalischer eigenschaften von gläsern

Abb. 8. Doppelmuldenpotential. V, d: Po- tentialhohe und -breite, E: Energieunter- schied der beiden Minima.

Abb. 9. Phononenecho: a) Einzelner Ein- gangspuls und erster reflektierter Puls, b) Zwei Eingangspulse mit zwei reflektierten Pulsen und dem Phononenecho (Pfeil).

Abb. 10. Weg-Zeitdiagramm zweier Ultra- schallpulse (PI und P2) mit dem Phononen- echo El2 (gestrichelt) in einer Probe der Lange L. Impulsabstand: ~ 1 2 .

Abb. 11. Resonanzverhalten eines tunneln- den Teilchens im symmetrischen Doppel- muldenpotential. EO: Amplitude der durch das Storfeld verursachten Modulation der Tiefe der beiden Potentialminima.

Abb. 12. Zwei verschiedene Gleichge- wichtslagen eines Si04-Tetraeders rnit fi- xierten Nachbaratomen. Die Siliziumatome werden durch die grogen, die Sauerstoff- atome durch die kleinen Kugeln dargestellt.

fizienten A im linearen Term der spezifischen Warmekapazitat zu erhalten, geniigt eine re- lativ kleine Zahl von Doppelmuldenpotentia- len. Man schatzt ab, daB nur ein einziges sol- ches Tunnelsystem pro lo6 molekulare Ein- heiten notwendig ist, um die gemessene spe- zifische Warmekapazitat zu erklaren. Diese Zahl erscheint nicht unverniinftig, hatten wir doch angenommen, daB die Mehrzahl der Potentialbarrieren der Abbildung 7 des vor- ausgegangenen Glasartikels fur einen merkli- chen Tunneleffekt zu breit und zu hoch sind.

Da jedes Tunnelsystem - wie ein Spin rnit Spinquantenzahl S = 1/2 - nur zwei Zustan- de besitzt, ist die Moglichkeit einer intensi- tatsabhangigen Ultraschallabsorption von vornherein gegeben.

Struktur der Tunnelsysteme

Die verbleibende Frage ist nun, welche atomare Umlagerung mit einem solchen Tunnelsystem verkniipft ist. Mit anderen Worten: Welche Bedeutung hat die verallge- meinerte Koordinate q in dem Doppelmul- denpotential von Abbildung 8? Diese Frage ist bisher allerdings nicht schlussig beantwor- tet. Von SchickfuB und Hunklinger (1976) haben aus Messungen der Mikrowellenab- sorption in Glasproben mit verschiedenem Wassergehalt geschlossen, daB die Tunnelbe- wegung auf Bereiche mit einer Ausdehnung von hochstens 2 nm beschrankt ist. Im Fall des Quarzglases konnte man sich vorstellen, daB die Tunnelbewegung im wesentlichen aus einer Drehung von Si04-Tetraedern be- steht, wie dies in Abbildung 12 gezeigt ist. Dieses Bild gibt ein Modell wieder, das einen Si04-Tetraeder enthalt, welcher iiber Sauer- stoffbriicken rnit vier im Raum fixierten Siliziumatomen verbunden ist. Beim ver- wendeten Modellbaumaterial wird ein Si- liziumatom durch einen kleinen VierfuB dar- gestellt, iiber den Plastikrohrchen als Verbin- dungen gestulpt sind. Die flexible Verbin- dung zweier Rohrchen reprasentiert eine Sauerstoffbriicke. Bei geeigneter Orientie- rung der von den augeren Siliziumatomen ausgehenden Bindungen findet man tatsach- lich zwei verschiedene Gleichgewichtslagen des inneren Tetraeders. Diese sind in der Ab- bildung 12 festgehalten. Gegen dieses Modell kann natiirlich eingewendet werden, daB die Fixierung der vier augeren Siliziumatome moglicherweise erst das ,,Umschnappen" des inneren Tetraeders ermoglicht . Es ist wesent- lich schwieriger, in einem groideren flexiblen Modell eines statistischen Netzwerks, wie

Informationskasten: Phononenecho

Ein weiteres Schliisselexperiment bei der Er- forschung der Tieftemperatureigenschaften von Glasern stellt die Entdeckung der soge- nannten J'hononenechos" in Glasern (Gol- ding und Graebner 1976) dar. Das Experi- ment ist im Prinzip ebenso einfach wie ver- bliiffend: Man la& zwei kurze Ultraschall- pulse durch die Glasprobe laufen und stellt fest, dai3 nicht nur zwei, sondern noch ein zusatzliches drittes Echo zuriickkommen (Abbildung 9). Die ersten zwei dieser Echos sind gewohnliche am Probenende reflektierte Schallpulse, das dritte ist das ,,Phononen- echo". Der Vorgang wird im Weg-Zeit-Dia- gramm (Abbildung 10) noch klarer. Wieder- um ist es so, dafi man eine analoge Erschei- nung bei der magnetischen Resonanz kennt, das sogenannte ,,Spinecho" (siehe H. Sixl, Physik in unserer Zezt 9, 115 (1978)). Die Be- obachtung der Phononenechos in Glasern setzt allerdings extrem tiefe Temperaturen im Bereich von 20 mK voraus. Das Auftreten solcher Echos kann wie die Intensitatsabhan- gigkeit der Ultraschalldampfung durch die AnaIogie zwischen einem Tunnelsystem und einem Spin rnit S = 1/2 erklart werden.

Die Analogie la& sich am besten fur ein sym- metrisches Doppelmuldenpotential (E = 0) demonstrieren. Lost man die Schrodinger- gleichung fur die Wahrscheinlichkeitsampli- tude a (t) eines der beiden in einer Potential- mulde lokalisierten Zustande (siehe z.B. Feynman Lectures on Physics Bd. JII, Kap. 9.4) in Gegenwart einer resonanten augeren Storung, deren Frequenz w/2x mit der Tun- nelfrequenz A/h iibereinstimmt, dann erhalt man fur die zugehorige Aufenthaltswahr- scheinlichkeit I a(t)' I des Systems in diesem Zustand das in Abbildung 11 wiedergegebene Bild. Der Oszillation des tunnelnden Teil- chens zwischen den beiden Potentialmulden ist eine Schwebung iiberlagert, deren Fre- quenz durch die Amplitude EO der Storung gegeben ist. Dasselbe Schwebungsbild erhalt man aber auch bei der magnetischen Reso- nanz fur die Spinkomponente in einer zum konstanten Magnetfeld senkrechten Rich- tung, sagen wir S,(t) (siehe z. B. Abbildung 4 im vorerwahnten Artikel von H. Sixl). Mit dieser Entsprechung zwischen der Aufent- haltswahrscheinlichkeit J a(t)' J des Tunnel- systems und der transversalen Spinkompo- nente S,(t) bei der magnetischen Resonanz besteht vollige Analogie zwischen dem Pho- nonenecho im Glas und dem Spinecho in einem Spinsystem.

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Jochen Fricke Tropfchen- J ets aus dem Meer

dem in Abbildung 11 des vorausgegangenen Artikels dargestellten, ein ahnliches Um- schnappen zu finden. Eine befriedigende Be- antwortung der Frage nach der Natur der Tunnelsysteme ist moglicherweise nur durch detaillierte numerische Studien mit compute- risierten Strukturmodellen zu gewinnen.

Die vorstehende Diskussion der Frage nach dem atomaren Ursprung der Tieftemperatur- anomalien macht deutlich, dai3 Glaser noch ein physikalisches Geheimnis bergen, dessen Erforschung die Physiker wohl noch eine Weile beschaftigen - und faszinieren - wird.

Literaturverzeichnis

R. H. Doremus, Glass Science, Wiley, New York 1973.

J. Wong, C. A. Angell, Glass; Structure by Spectroscopy, Marcel Dekker, New York 1976.

H . Leadermann, Elastic and Creep Proper- ties of Filamentous Materials and Other High Polymers, The Textile Foundation, Washington, D. C. 1943.

S. Hunklinger, W. Arnold, Ultrasonic Pro- perties of Glasses at Low Temperatures, in: Physical Acoustics, Bd. XII, Academic Press, New York 1976, S. 155.

W. A. Phillips (Hrsg.), Amorphous Solids: Low-Temperature Properties, Springer To- pics in Current Physics, Bd. 24, Berlin 1981!

Josef Jackle, geb. 1939 in Munchen. Ab 1959 Studium der Physik in Munchen und Berlin, 1965 Dip1.-Phys., 1969 Dr. rer. nat. Von 1970 bis 1972 Forschungsassistent an der Universitat Genf. 1973 Habilitation in Theo- retischer Physik an der Universitat Kon- stanz. Hier seit 1973 Professor fur Theoreti- sche Physik.

Seit langem versucht die Wissenschaft zu er- klaren, wie Wassertropfchen, Salz, organi- sche Molekule, Bakterien und Viren sowie positive Ladungen aus dem Meereswasser in die Atmosphare gelangen. Geschieht dies durch die Saugwirkung des Windes, wenn er iiber Wellenkamme streicht, durch direkte Zerstaubung von Wellenbergen oder aber durch aufplatzende Luftblasen an der Mee- resoberflache ?

Alle Forschungsergebnisse weisen heute dar- auf hin, dai3 der Materialtransport iiber die Grenzflache MeedAtmosphare durch auf- platzende Luftblaschen erfolgt. Dabei erge- ben sich zwei Moglichkeiten. Einmal kann die beim Aufsteigen dunner und dunner wer- dende Blaschenoberflache zerreii3en. Die aus dem Wasserfilm produzierten Tropfchen werden vorwiegend in horizontaler Richtung weggeschleudert und erreichen nur eine Ho- he uber der Meeresoberflache von einigen Millimetern. Nur wenige Tropfchen werden durch die aus der Blase entweichende Luft aufwarts in die Atmosphare mitgerissen.

Vie1 erfolgreicher sind die sogenannten Jet- Tropfchen. Sie entstehen durch die Oberfla- chenspannung der platzenden Luftblase (Ab- bildung 1). Beim Kollabieren der Blasenwan- de formt sich ein Wasserstachel, ein Jet. Die verfugbaren Beschleunigungswerte liegen bei 10' g und mehr. Der Jet bricht schnell in Ein- zeltropfchen auf. Das erste Tropfchen, aus dem Kopf des Jets geformt, erreicht Ge- schwindigkeiten von 10 m/s und nimmt rund 40% der verfugbaren Energie mit. Beim Auf- steigen verdunstet das Wasser des Tropf- chens. Es bleibt ein festes Teilchen zuruck, das aus etwa 30 ng Salz und 0,3 ng getrockne- ten Planktons und Algen besteht.

Das organische Material wird durch den spe- ziellen Prozei3 der Tropfchenbildung regel-

Abb. 1. Das Platzen einer Luftblase mit nachfolgendem Kollabieren der Seitenwan- de und Ausbildung eines Jets, welcher in einzelne Tropfchen aufbricht, ist in 11 Mo- mentaufnahmen mit jeweils 1/6000 Sekun- den Zeitabstand festgehalten. Die Be- schleunigung erreicht fur die 1,7 mm groBe Luftblase 1000 g (fur eine Blase mit 10 pm Durchmesser lo6&. Die Serie basiert auf Photoaufnahmen mit Hochgeschwindig- keits-Technik (nach Blanchard, Woodcock et al., Woods Hole Oceanographic Institu- tion).

158 Physik in unserer Zeit / 12. Jahrg. 1981 / Nr. 5 0 Verlag Chemie GmbH, 0-6940 Weinheim, 1981 0031-92fi2/81/0fiO9-0Ir8 $ 02.fiO