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Diego De Brasi Sabine Föllinger (Hg.) Anthropologie in Antike und Gegenwart Biologische und philosophische Entwürfe vom Menschen Verlag Karl Alber Freiburg / München

Anthropologie in Antike und Gegenwart

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LwiD 18 (48700) / p. 5 / 7.5.15

Diego De BrasiSabine Föllinger (Hg.)

Anthropologie inAntike undGegenwartBiologische und philosophischeEntwürfe vom Menschen

Verlag Karl Alber Freiburg/München

LwiD 18 (48700) / p. 6 / 7.5.15

Gedruckt mit Unterstützung derFritz Thyssen Stiftung, Köln

www.fsc.org

MIXPapier aus verantwor-tungsvollen Quellen

FSC® C083411

®

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Satz: Frank Hermenau, KasselEinbandgestaltung: Ines Franckenberg Kommunikations-Design,

HamburgHerstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-495-48700-6

Inhalt

Sabine Föllinger/Diego De BrasiEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Der Mensch als ‚Naturwesen‘ und das Verhältnis von Körper und Geist

Francesco Fronterotta Plato’s Conception of the Self. The Mind-Body Problem and its Ancient Origin in the Timaeus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Jörn MüllerLeib-Seele-Dualismus? Zur Anthropologie beim späten Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Sabine LucianiL’homme et l’animal dans l’anthropologie cicéronienne . . . . . . . . . 97

Karl-Heinz Leven „Eine lächerliche Kopie des Menschen“ – der Affe in den Tierversuchen Galens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Sabine FöllingerDas Denken als psychosomatischer Prozess in der antikenMedizin und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

II. Der Mensch als moralisches Lebewesen

R. A. H. KingDas menschliche Gute und der gute Mensch bei Platon . . . . . . . 157

Brigitte KapplDas Tier in Dir. Menschliches Handeln und tierisches Verhalten bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

8 Inhalt

Francesca MasiMemory, self and self-determination. The mind-body relation in Epicurus’ psychology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Christian IlliesEvolution und Menschenwürde. Lässt sich die evolutionäre Sicht des Menschen mit einer normativen Sonderstellung verbinden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Philip H. CrowleyHuman Evolution, Culture and the Balance between Individualand Social Learning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

III. Der Mensch – Ein ‚Egoist von Natur aus?‘

Arbogast SchmittGerechtigkeit bei Platon. Zur anthropologischen Grundlegung der Moral in der Platonischen Politeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Evelyn KornKooperatives Verhalten in der Ökonomik. Theorie und experimentelle Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

IV. Entwürfe christlicher Anthropologie in der Spätantike

Johannes BreuerAnthropologische Diskurse im lateinischen apologetischenSchrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

Diego De BrasiEine Neubewertung des Körpers. Anthropologie und Glauben in den Schriften zur menschlichen Natur des Nemesios von Emesa und Gregor von Nyssa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397English Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439Autorenhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

R. A. H. King

Das menschliche Gute und der gute Mensch bei Platon1

„Bilde also die Form eines vielfältigen und vielköpfigen Tieres, mit den Köpfen wilder und zahmer Tiere ringsherum, das fähig ist, all dies aus sich umzuwandeln und aus sich wachsen zu lassen“, sagt Sokrates in Platons Politeia, einer Wiedergabe einer Diskussion über die beste Verfassung von Stadt und Mensch. In Sokrates’ Erzählung antwortet Glaukon: „Das ist das Werk eines klugen Bildners. Dennoch, da Rede sich mehr für das Bilden als Wachs oder dergleichen eignet, sei es so gebildet.“ Sokrates fährt fort: „Bilde eine weitere Form eines Löwen und eine weitere eines Menschen. Bei weitem am größten soll die erste Form, am zweitgrößten die zweite sein. „Diese sind leichter, sag-te Glaukon: und sie sind schon gebildet.“ Sokrates: „Verbinde sie also, drei wie sie sind, zu einem, so dass sie irgendwie miteinander verwach-sen sind!“ Glaukon sagt: „Sie sind so zusammengebunden.“ „Umhül-le sie außen mit dem Abbild eines Menschen so, dass es dem, der nicht das Innere sehen kann, sondern nur auf die äußere Schale schaut, wie ein Lebewesen zu sein scheint, ein Mensch.“ (Politeia 588C-E)

Anhand von diesem Bild in der Rede (logos) will Sokrates eine Summa seiner Ausführungen über die Verhältnisse zwischen den Lebensweisen bieten, die von den jeweiligen Teilen der Seele geführt werden. Es sind diese Seelenteile, die durch die drei Tierformen ab-gebildet werden: Die Körper des jeweiligen Tieres bzw. des inneren Menschen stellen – zusammengenommen – die Seele dar. Hier ist der Mensch ein Lebewesen (zôon) wie Löwe und vielköpfige Hydra. Alle drei zusammen bilden das, was wir für gewöhnlich als einen Men-schen ansehen.

Der „innere Mensch“ (589A) stellt nun das Lernfähige in uns dar, der Löwe das Temperament, das uns ehrgeizig macht, die Hydra die Vielfalt der Begierden, die mit dem Körper einhergehen. Der Zweck

1 Mein Dank gilt Sabine Föllinger und Diego De Brasi für die Einladung nach Mar-burg und den Teilnehmern für eine anregende Diskussion.

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unserer Handlung und unserer Rede sollte es sein, die Herrschaft über uns dem inneren Menschen zu überantworten. Zu sagen, dass Gerech-tigkeit gut ist, heißt, die vielköpfige Hydra zu zähmen, den Löwen zum Verbündeten zu machen. Der innere Mensch stiftet Freundschaft zwischen sich und den anderen Lebewesen und zwischen dem Löwen und der Hydra (589A-C).

Diese Rede, dieses Bild sagt uns, wie die Dinge zu sein haben; sie ist eine normative Anthropologie, die in der Natur der Seele gründen soll. So werden mögliche Lebensweisen dargestellt, und wir verstehen, wo-von sie geleitet sind. Zwei zentrale Gesichtspunkte sind dabei Lust und Tugend, allerdings kommt in diesem Bild eigentlich nur Tugend zur Sprache. Lust und Schmerz dienen mir eher als Kurzformel für die anvisierten Phänomene – sprachlich ließen sie sich natürlich ausdiffe-renzieren – Freude, Vergnügen, Unlust, Unbehagen, im Grie chischen etwa neben hêdonê, chara, charis, gegenüber lypê, to lypêron.

Es ist nicht über jede Diskussion erhaben, ob es legitim ist, diese Überlegungen unter die Rubrik „Der Mensch als moralisches Wesen“ einzuordnen – denn das Verhältnis zwischen Moral im heutigen Sinn und griechischer Ethik wird kontrovers diskutiert. Griechische Sitten sind nicht unsere Sitten, griechische Moralphilosophie ist nicht die unsrige. Zum Teil lassen sich solche Bedenken sprachlich festmachen: to kalon oder to kallos ist ein Wertebegriff, der aber zugleich ästhe-tisch konnotiert ist (traditionell: das Schöne bzw. die Schönheit) und mit nichten nur die Sphäre der praktischen Werte betrifft, die unter Moral im engeren Sinne fallen; ein Gegenbegriff ist etwa schändlich (aischron). Weshalb vollziehen Menschen den Geschlechtsakt nachts? Weil die Lust des Aktes lächerlich und schändlich ist (Philebos 65E-66A). Aber ich nehme nicht an, dass sie deswegen als unmoralisch gedacht ist. Und das Wort kalon kann sich auch einfach auf eine gelungene Ausführung beziehen. Damit will ich weder dem Relativismus das Wort reden noch Platon als rückständig erklären. Das Projekt eines an-gemessenen Verständnisses dessen, was Moral ist bzw. sein soll, wird nicht vorangetrieben, wenn man die historischen Unterschiede tilgt.

Der Name Platons ist gemeinhin eher mit der Idee des Guten ver-bunden, der von Aristoteles mit dem menschlichen Guten. Aristoteles kritisiert bekanntlich Platon für die Unbrauchbarkeit der Idee des Gu-ten: Was in der Ethik erforderlich sei, sei das praktisch Gute, ein Gutes also, das man tun kann. Ferner teile sich das Gute in viele Gattungen auf, ist also nicht Eines über Vielen. Es ist aber irreführend von Aris-toteles, die Idee des Guten in der Politeia vom menschlichen Leben

Das menschliche Gute und der gute Mensch bei Platon 159

abzulösen; schließlich ist alles, was wir in der Politeia darüber lesen, bekanntlich lediglich die Meinung des Sokrates. Grundsätzlich geht es Sokrates in der Politeia natürlich um die Einarbeitung des Guten ins menschliche Leben durch Erziehung und Lernen (vgl. 618A-E). Hier, wie vielerorts auf diesem Gebiet, ließen sich triftige Vergleiche mit Aristoteles anstellen.

Platonische Schriften gehen sehr wohl auf das menschliche Gute ein. Lust und Schmerz sind uns natürlich gegeben als Lenker, sie kön-nen aber auch selbst gelenkt werden, und zwar durch die Vernunft bzw. Einsicht (nous, phronêsis), die mit der Tugend oder dem leiten-den Teil der Tugenden identifiziert wird. Im Gegensatz zu manchen modernen Ansätzen sind Lust und Schmerz nicht selbst, nicht von sich aus gut bzw. schlecht.

Lust und Schmerz bilden Gelenkstellen des Arguments in Gor-gias, Protagoras, Politeia, Timaios, Philebos und Nomoi. Wie ein-heitlich Platons Meinungen auf diesem Gebiet sind, wird kontrovers diskutiert. Es ist natürlich auch umstritten, ob man überhaupt Pla-tons Lehrmeinungen suchen oder nicht vielmehr eine in der Schwebe bleibende Dialektik rekonstruieren soll. Gleichwohl ist im Folgenden eine Untersuchung derjenigen Lehrmeinungen angestrebt, die einen Zusammenhang zwischen Lust und Tugend herstellen. Dabei soll in Umrissen ein Bild davon gegeben werden, wie sich Lust und Tugend zueinander verhalten, unter Berücksichtigung der jeweiligen Perspek-tiven in einzelnen Werken.

Es ist so, dass der Wert der Tugend für Platon grundsätzlich ein anderer ist als der der Lust. Lust ist aber nicht wertlos, zumal man es im politischen Denken mit gängigen Auffassungen und Lebensweisen zu tun hat und Lust zum gängigen Bild des guten Lebens gehört. Der Philebos stellt die wichtigste Auseinandersetzung mit diesem Thema dar: Um Lust und Schmerz zu verstehen, so erfährt man dort, aber auch in anderen Dialogen, kann man sich an Zeugungsdrang, Hunger und Durst orientieren (vgl. Symposion 206B-209E, Politeia 585A-E, Philebos 31-32, Timaios 64A-65A): Die Lust ist dann eine Verände-rung oder „Bewegung“ die zum Sollzustand führt, Schmerz die ge-genteilige Bewegung, und zwar, insofern sie wahrgenommen werden. Dieses Modell wird dann auch auf das Lernen angewendet; wir müssen ja auch nur lernen, weil wir durch Verkörperung gebunden sind.

Und es ist durch unsere Verkörperung, dass wir bzw. unsere Seelen dreigeteilt sind, und somit unter verschiedene Herrscher fallen kön-nen, nämlich diese Teile. Soll die Herrschaft gut sein, muss sie durch

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die Natur der Seele geleitet sein. Das menschliche Leben ordnet sich selbst – was ist aber das ordnende Prinzip? Und inwiefern kann man, wenn dieses Prinzip nicht menschlichen, sondern göttlichen Ursprungs ist, davon reden, dass Menschen sich selbst ordnen? Durch Einsicht in Wahrheiten, die nicht dem menschlichen Dafürhalten anheimgestellt sind, sondern auf die Natur, in diesem Falle der Seele, zurückgehen. Hier liegt m.E. eine Quelle der Bedeutung der Lernfähigkeit für die Herrschaft über sich wie auch über andere.

Nomoi

In den Nomoi lesen wir die Unterhaltung dreier Greise auf einer Wan-derung zum Geburtsort von Zeus auf Kreta. Sie unterhalten sich zu-nächst allgemein über die Bestimmung von nomoi (Gesetze, aber auch Bräuche), d. h. vor allem darüber, wozu sie dienen; sodann geht es aber um die verhältnismäßig konkrete Bestimmung einer Vorlage für die nomoi einer Stadt, die einer der Redner, der Kreter Kleinias, mit-begründen soll. Der Hauptredner trägt die Bezeichnung „Athenischer Fremder“; der dritte ist ein Spartaner, Megillos. Ein gesamtgriechisches Unternehmen also, auch wenn der Athener die beiden anderen führt, und die Gesetze, die letztlich erlassen werden sollen, große Nähe zum Athenischen Gesetz aufweisen. Ferner werden fremde Verfassungen diskutiert, vor allem diejenigen Persiens und Ägyptens; demnach kon-kurriert das griechische Unternehmen polis mit anderen Formen der Vergesellschaftung. Der Text ist, wenn auch voller Glanzlichter, in ge-wisser Weise gröber gewebt als Politeia und Philebos. Er dient wohl als Einführung zum Denken Platons, insofern er eine Zusammenführung und Zurschaustellung leitender Gedanken bietet, voller Bezüge zu frü-heren Werken; ferner als öffentliches Vermächtnis, das es verdient, anstelle der Ilias, dem traditionellen Grundpfeiler der griechischen Er-ziehung, auswendig gelernt zu werden (vgl. 811C-812A). Also sind die Nomoi weit mehr als ein Gesetzestext. Was aber fehlt, ist die genaue dialektische Auseinandersetzung mit Tugend bzw. Lust.

Wozu dient nun die Gesetzgebung? „Bei der Gesetzgebung zielt jeder brauchbare Gesetzgeber nur auf die höchste Tugend, vollkom-mene Gerechtigkeit“ (630C), er zielt auf die Tugend in Gänze (630E). Bemerkenswert lustfrei ist die Liste der Güter, die uns der Athenische Fremde darbietet. Er unterteilt sie in menschliche und göttliche Güter,

Das menschliche Gute und der gute Mensch bei Platon 161

wobei erstere von letzteren abhängen. Dass die einen Güter göttlich sind, bedeutet natürlich nicht, dass sie Menschen nicht zukommen sollten; denn gerade sie sind die Tugenden. Die menschlichen Güter sind Gesundheit, Schönheit (kallos), körperliche Stärke und Reichtum im Verbund mit Einsicht (phronêsis). Die göttlichen Güter sind da-gegen, in absteigender Reihung, erstens phronêsis, zweitens „die mit Vernunft (nous) selbstbeherrschte Haltung der Seele”, im Verbund mit Mut ergeben diese Gerechtigkeit, und schließlich der Mut selbst. Die menschlichen Güter sind auf die göttlichen gerichtet, und alle, auch die phronêsis, blicken auf den Nous, den Intellekt, als Anführer, der souverän ist (631CD).

Während die Politeia die Gerechtigkeit zum Thema hat, kommt in den Nomoi der Selbstbeherrschung (sôphrosynê), der charakteristischen Bürgertugend, die Schlüsselrolle zu – soweit besteht ein Unterschied in der Stoßrichtung der beiden Dialoge. Allerdings haben wir bereits gesehen, dass Gerechtigkeit die Tugend in Gänze ist, die durch die Ge-setzgebung zu bewerkstelligen ist. In der Liste der göttlichen Güter er-gibt sich die Gerechtigkeit aus der Anwesenheit der anderen Tugenden. Beides kann natürlich zusammen bestehen: Bei Gesetzen oder Bräu-chen geht es darum, dass man gehorcht und also Selbstbeherrschung besitzt, da diese impliziert, dass man sich vom Besseren leiten lässt. In einer polis geht es vor allem um Einheit, also ein funktio nierendes Ganzes, in dem jeder Teil das Seinige tut und erhält, das also gerecht ist. Das Bemerkenswerte ist nun an den Nomoi, dass trotz fehlender di-alektischer Auseinandersetzung mit den physiologischen Grundprinzi-pien der Moral, Lust und Schmerz, und trotz ‚lustfreier Güterliste‘ die Relevanz der Lust anders zum Ausdruck gebracht und argumentativ eingesetzt wird: in Form von Beispielen bzw. eines Modells.

So vertritt der Athenische Fremde die Meinung, dass man die gan-ze Tugend in den Gesetzen anvisieren soll. Während Gesetze etwa in Kreta dafür Sorge tragen, dass man mit Schmerz umgehen kann, also die Kreter zu Mut erziehen, versäumen es dortige Gesetzgeber, sich mit der Lust auseinanderzusetzen. Dazu will der Athenische Fremde die Institution des Symposiums verwenden, als Schule der Mäßigung (648DE). Man solle das Trinkgelage anhand von Regeln mäßigen, um „gemäßigte Gewohnheit zu kultivieren“; und dieses Prozedere sol-le dann auch bei anderen lustvollen Tätigkeiten angewendet werden (673E-674A).

Lüste und Schmerzen seien die „zwei Quellen, die natürlich fließen dürfen: Wenn einer davon schöpft, so oft und so viel er soll, dann ist

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er glücklich, gleichermaßen die Stadt, der Privatbürger und jedes Le-bewesen, jener aber, der es erkenntnislos und zur falschen Zeit macht, wird auf eine dem ersten entgegengesetzte Weise leben“ (636DE). Schmerz und Lust werden als Motivierungen sehr ernstgenommen, was noch nicht heißt, dass sie für sich letztlich Werte darstellen. Auch hier liegt ihr Wert vielmehr darin, wie wir damit umgehen: Lust und Schmerz, die frühesten Empfindungen (Widerfahrnisse: pathê) eines Kindes (653A), stellen den Weg zu Laster und Tugend dar (644C-645C). Es besteht natürlich ein enger Zusammenhang zwischen der Bedeutung von Lust und Schmerz in den Nomoi und der Bedeutung der Strafe in dem Werk. Die Strafe wird in den Gesetzen aber wohl-gemerkt immer mit Erklärungen versehen. Die Gesetze stellen eine Fortsetzung des Lernens durch Lust und Schmerz des Kindes dar. Auch wenn Lust und Schmerz alberne Berater sind, wie Platon feststellt, erlauben sie es uns andere zu lenken, solange sie nicht einsehen, was zu tun und zu lassen ist.

Eines der Bilder in den Nomoi für das, was wir sind, soll illust-rieren, wie die „törichten und gegensätzlichen Ratgeber, Lust und Schmerz“ uns bewegen und wie der Kalkül, was nun besser ist hin-sichtlich der erwarteten Schmerzen und Lüste, ihnen übergeordnet ist bzw. sein soll. Hier haben wir es nun mit dem oben angesprochenen Modell zu tun, es ist ein Modell der Selbstbeherrschung. Nehmen wir an, schlägt der Athenische Fremde vor, „jedes von uns Lebewesen“ sei eine göttliche Marionette, gezwungen durch törichte Ratgeber, Lust und Schmerz, aber auch durch die „goldene und heilige Führung des Kalküls“ (644D-645B). Ob wir zu einem ernsten Zweck oder als Spielzeug dienen, es sind diese pathê (Widerfahrnisse) in uns, die wie Fäden an uns herumzerren. Sie wirken gegeneinander und zwingen uns zu gegensätzlichen Handlungen: Hier, also in diesen gegensätzli-chen Handlungen, liegt die Abgrenzung von Tugend und Laster. Wir sind ihnen ausgesetzt, sie widerfahren uns. Das heißt aber nicht, dass wir nicht eine Handhabe besitzen dafür, wie wir beeinflusst werden. Der Kalkül (logismos), also die vernünftige Überlegung, dient dann der Beurteilung der relativen Werte von Schmerz und Lust. Als öf-fentliches Urteil einer Stadt heißt dieser Kalkül nomos, Gesetz. Der Faden, dem man gehorchen muss, ist der Kalkül, also in einer Stadt das öffentliche Gesetz. So erklärt sich durch diese Befehlshierarchie, was es heißt, sich selbst überlegen oder unterlegen zu sein (626E-627A). Genau wie im Dorf und in der Stadt besteht Krieg zwischen den Teilen von uns (Platon redet nicht von der Dreiteilung der Seele hier, aber sie

Das menschliche Gute und der gute Mensch bei Platon 163

passt bestens), und die Frage ist dann, wer die Oberhand gewinnt. Man bzw. eine Stadt ist sich selbst überlegen, und somit gut, sagt der Athe-ner, wenn das bessere Element siegt. Wenn nicht, dann ist man sich selbst unterlegen, d.i. schlecht. Die Stadt ist angehalten, sich von die-sen Kräften durch einen Gott oder Gesetzgeber in Kenntnis zu setzen, um innere und äußere Angelegenheiten zu regeln. Somit wird dann die Grenze zwischen Tugend und Laster deutlicher, nämlich dadurch, dass sie durch Gesetz bekannt wird und Städte und Menschen durch sie beherrscht werden.

Somit ist Erziehung der anfängliche Erwerb von Tugend durch ein Kind, wenn die Empfindungen (Widerfahrnisse) von Lust und Zuneigung, Schmerz und Abneigung in seiner Seele in die richtigen Bahnen geleitet werden, noch bevor es ihre Begründung verstehen kann. Wenn das Kind aber ausreichend erwachsen ist, um Begründun-gen zu verstehen, dann sind Vernunft und Empfindung im Einklang und sagen ihm beide, dass es richtig erzogen worden ist, durch die Einübung der angemessenen Gewohnheiten. Tugend ist sogar diese allgemeine Harmonie (symphônia) von Vernunft und Empfindung. Erziehung läuft dann letztlich auf die korrekte Gestaltung von Lust- und Schmerzempfindungen hinaus, daraufhin, das zu lieben und zu hassen, was man soll (653BC). Bei gelungener Erziehung ist die Emp-findung selbst vernunftgemäß.

In den Nomoi wird versucht, eine Engführung von Lust und Ge-rechtigkeit per Gesetzgebung zu erwirken: Jeder Versuch, einen Keil zwischen sie zu treiben, soll mit äußerster Strenge geahndet werden. Einen solchen Keil findet man, dem Athenischen Fremden zufolge, bei Spartanern, Kretern und allen anderen, der aber den Altvorderen und alten Gesetzgebern zuzuschreiben ist, nicht den Göttern, die angeblich für die Spartanische und Kretische Verfassung verantwortlich zeich-nen (662B-663A, vgl. den Anfang des Dialogs 624Aff.). Eine traditio-nelle und grundlegende Aporie der griechischen Ethik ist nämlich die Frage, ob nicht eine Kluft besteht zwischen dem angenehmen und dem tugendhaften Leben. Dennoch stellt der Athenische Fremde die Spar-tanische und Kretische Erziehungsweise so dar, als wären sie ständig bemüht, den guten Menschen als glücklich darzustellen: Dazu ver-pflichten sie ihre Dichter (660E). Auf diese Vorgehensweise will der Athenische Fremde nun auch jeden Gesetzgeber verpflichten, indem er ihm ein Dilemma vorlegt. Ist das gerechte Leben auch das lustvollste oder gibt es zwei verschiedene Lebensweisen, einerseits die in höchs-tem Maß gerechte und andererseits die in höchstem Maß lustvolle?

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Wenn der Gesetzgeber sagt, es gebe zwei, dann könnte man ihn fra-gen, welche der beiden durch die Götter gesegnet (eudaimôn) sei. Er kann kaum sagen: die lustvollste, denn das würde ihn darauf festlegen, dass das gerechte Leben durch die Götter nicht begünstigt ist. Und er müsste dann rechtfertigen, warum er seine Kinder anhält, tugend-haft zu sein, statt sie auf das beste Leben, also das lustvollste, vorzu-bereiten. Wenn er dagegen das gerechte Leben vorzieht, dann würde ein jeder wissen wollen, was darin besser als das lustvolle Leben ist: „Denn welches Gut könnte dem Gerechten zuteil werden, das von der Lust getrennt wäre?“ (662D-663A). Kann man dieses Argument theo-logisch verstehen, etwa so, dass die Götter die Gerechten begünstigen und dass darin kenntlich wird, dass die Gerechten ein lustvolles Leben haben? Ich denke, die Pointe liegt vielmehr darin, dass die Natur der Gerechtigkeit Lust mit sich bringen sollte. Das Gegenargument gegen die theologische Position, nämlich dass die beiden Lebensweisen zu-sammenfallen, gibt einem Gründe, gerecht zu sein: „Niemand möch-te sich freiwillig dazu überreden lassen, etwas zu machen, was nicht mehr Lust als Schmerz im Gefolge hat“ (663B). Also ist es rational für den Gesetzgeber, diese beiden Lebensweisen engzuführen; denn so er-füllt er seine Aufgabe, die Durchsetzung eines tugendhaften Lebens in der Stadt. So verstanden basiert die Rechtfertigung dieser Engführung zwischen Lustleben und Tugendleben auf dem praktischen Gesichts-punkt des Gesetzgebers.

Diese Gesetzgebung betrifft unter anderem die Gesänge, die ge-pflegt werden und die strengen Vorschriften unterliegen. Entscheidend bei der Erziehung in Lust und Schmerz sind nämlich die Chöre, deren sogenannte Gesänge eigentlich ‚Zaubersprüche für die Seele‘ sind. Es stellt sich natürlich die Frage, wie die Gesänge beurteilt werden sollen. Auch dies bildet einen Teil der Einrichtung der nomoi. Denn die Lust selbst sagt uns nichts darüber, was etwa gute Kunstproduktionen sind oder nicht. Wir dürfen uns bei der Kunst nicht am Urteil der Vielen orientieren, sondern an „Männern von Kaliber und ausreichender Er-ziehung“ (658E). Denn die Gesänge sind sehr ernstzunehmende Inst-rumente, um diese Harmonie in der Seele zwischen Vernunft und Wi-derfahrnis („Empfindung“) herzustellen (659D-E). Zu diesem Zweck soll es drei Chöre für die Erziehung der Kinder geben: einen Chor, der den Musen geweiht ist, einen Chor der Männer unter dreißig Jahren, dem Apollo Päan geweiht, schließlich einen Chor der Männer zwi-schen dreißig und sechzig Jahren, dem Dionysos geweiht. Die Bürger, die zu alt für das Singen und Tanzen sind, sollen dann Geschichten

Das menschliche Gute und der gute Mensch bei Platon 165

über die gleichen tugendhaften Charaktere erzählen, die Gegenstände der Chorgesänge sind. Die Pointe dieser Gesänge ist: Das beste Leben bringt die meiste Lust (664B). Sie müssen allerdings ständig variiert werden, um Lust zu erzeugen und daher auch das Verlangen, sie zu wiederholen (659DE) (664E-665A).

Zum Zwecke der Beurteilung der Lieder werden Gründe für den Besitz von Anmut (charis) unterschieden: entweder der Besitz von Anmut selbst oder von Richtigkeit oder Nützlichkeit („oder“ ist hier natürlich nicht exklusiv zu verstehen). ‚Anmut‘ darf hier nicht im neuzeitlichen Sinn verstanden werden, als rein ästhetische Kategorie, sondern hat ebenso eine praktische Dimension. Als alternative Über-setzung, die gleichwohl ähnliche Anachronismus-Risiken birgt, würde sich noch ‚Attraktivität‘ anbieten. So fällt unter den Besitz von Anmut bzw. Attraktivität z. B. auch die Lust, die mit dem Essen verbunden ist; seine Richtigkeit und sein Nutzen liegen dann in seiner Gesundheit. Bei der darstellenden Kunst entsteht ebenfalls Lust, und die Richtig-keit der Kunst und die damit einhergehende Angemessenheit der Lust liegt in der genauen Darstellung der Größe und Eigenschaften des Originals. Folglich wird die Lust als Beurteilungskriterium nur dann verwendet, wenn sich keine Frage der Genauigkeit oder Nützlichkeit ergibt. Dies gilt beim Spiel (667DE). Alleiniges Kriterium für ein gutes Spiel ist also die Lust. Lust ist sozusagen ein defizienter Modus der Zweckmäßigkeit: Wo andere Zwecke fehlen, da hat sie Platz. (Platon setzt natürlich selbst Spiel klugerweise dort ein, wo es sehr wohl als Einübung bestimmten Zwecken dient). Allerdings liefert die Lust kei-ne Anhaltspunkte für Urteile: Das Gleiche ist gleich, das Verhältnis-mäßige verhältnismäßig, ob einer Lust empfindet oder nicht. Ernstzu-nehmende Musik, die also nicht nur Spiel ist, ist ihrem Original, dem Schönen (kalon), ähnlich. Also soll sie nach ihrer Richtigkeit beurteilt werden (668AB).

Soweit die allgemeinen Betrachtungen über das Geschäft der Fest-legung der nomoi, insofern Lust und Schmerz einbezogen werden. Ein grundlegendes Textstück des Dialogs bildet die Vorrede (726A-734E) zu den Gesetzen der neu zu gründenden Kolonie, die der Athenische Fremde bietet. Es dient der Erklärung bzw. Rechtfertigung der darauf folgenden Gesetze für die geplante Stadt auf Kreta insgesamt. Die-se Rede des Athenischen Fremden ist in einem gehobenen Stil ver-fasst; ein Anliegen ist dabei die gebotene Ehrung der Seele, die nur den Göttern unterstellt ist. Hier wird die menschliche Natur auf Lust, Schmerz und Verlangen festgelegt und das Thema des edlen bzw.

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schönen (kalon) Lebens verhandelt: Dieses Leben bietet aufs Ganze gesehen ein Übergewicht an Lust gegenüber Schmerz (732D-733D). Wir müssen uns, als Gesetzgeber, aber auch dann als Einzelne, für eine Lebensform entscheiden, nämlich welcher Zustand zur eigenen Natur passt und welcher nicht. So müssen die schmerzvollen bzw. lustvol-len Lebensweisen eingeordnet werden. Die Rangordnung lautet: lust-volles Leben, dann ein neutrales Leben, wenn dies eine Vermeidung von Schmerz bedeutet, nicht aber, wenn es eine Vermeidung von Lust darstellt. Die Wahl ist dann schwierig zwischen Handlungssträngen, insgesamt also ganzen Lebensweisen, die gleiche Schmerzen und gleiche Lüste bereiten. Wir wählen grundsätzlich eine Lebensweise, in der Lust vorherrscht. Hier muss man aber unterscheiden zwischen intensiven, schwachen und gemäßigten Lüsten und Schmerzen. Die Frage, die sich uns dann stellt, ist, zu welchem Leben unsere natürli-chen Empfindungen (Widerfahrnisse) uns geneigt machen? Es würde allerdings nur Unkenntnis der Art und Weise, wie das Leben geführt wird, an den Tag legen, wenn man behauptete, dass wir etwas anderes als Lust wollen (731B). Nachdem man sich also seine Neigungen und Abneigungen klar gemacht hat, gilt als Faustregel, eine Lebensweise zu wählen, die einen so glücklich wie möglich machen wird, d. h. mit einer möglichst günstigen Mixtur von Schmerz und Lust. Dabei sind folgende Lebensweisen möglich – jeweils auf Gegensatzpaare abge-bildet: selbstbeherrscht-zügellos, weise-töricht, mutig-feige. Wenn man die erforderliche Erfahrung hat, dann betrachtet man das selbst-beherrschte Leben als sanft und gemäßigt, das zügellose dagegen als mit gewaltsamen Lüsten und Schmerzen behaftet. Und dann sieht man ferner, dass das beherrschte Leben ein höheres Maß an Lust ge-genüber Schmerz im Hinblick auf Größe, Häufigkeit und Anzahl be-inhaltet, das zügellose Leben das Gegenteil. Dieses letztere Leben ist keineswegs frei: Es entsteht lediglich aus mangelnder Beherrschung, aus Unkenntnis oder aus beidem. Ähnlich kann man dann auch mit den anderen Gegensatzpaaren verfahren. So würde man sehen, dass das beherrschte, weise, mutige und gesunde Leben das höhere Maß an Lust mit sich führt, das entgegengesetzte Leben das höhere Maß an Schmerz (731B-734D).

„Das gute Leben ist am lustvollsten” ist ein Grundsatz der Gesetz-gebung, der Bildung von Bräuchen in den Nomoi (660-3, vgl. auch 733-4). Das liegt unter anderem daran, dass die Gesetze nur dann gute Gesetze sind, wenn sie möglichst breite Zustimmung erfahren, und man kann auf die Lust setzen als Motiv, sich die tugendhafte Lebens-

Das menschliche Gute und der gute Mensch bei Platon 167

form (denn so ist gut hier zu verstehen) anzueignen. Denn etwas an-deres zu meinen, als dass wir so leben, um möglichst lustvoll zu leben, zeigt lediglich Unkenntnis (733B-D). Allerdings finden wir auch, dass die Lust nicht an sich gut ist: Es ist nicht die Lust, die lustvolle Aktivi-tät gut macht (vgl. 667DE). Die Verrichtung der Arbeit, die Erfüllung des Zweckes ist das Vorrangige. Die Lust muss nämlich von der Warte des Guten, also des Tugendhaften aus beurteilt werden (663C).

Die Nomoi liefern keine Definition der Lust; der Dialog steht nicht alleine, vielmehr ist er eine Einladung zu der Lektüre anderer Schrif-ten Platons. Soweit ist es relevant, dass es Platons letzte, unvollendete Schrift ist. Wenn es von der Lust heißt, sie sei die Überzeugung, dass man gedeiht, dann ist das eine allgemeine Wahrheit über jene, die Lust empfinden (657C). Allerdings können sie sich täuschen, und um dieser Täuschung vorzubeugen, ist erstens Erziehung und dann eine ratio-nale Auseinandersetzung mit der Lust vonnöten, so wie wir das in der Politeia und im Philebos vorfinden. Für das gelebte Leben reicht es nicht, nur zielstrebig Lust zu verfolgen und Schmerz zu vermeiden; noch gröber, aber dafür suggestiver und gut erinnerlich kommt das in der Formulierung einer der Sprüche in Delphi zum Ausdruck: mêden agan, „von nichts zuviel“ (792C-E).

Politeia

Sokrates bietet in Platons Politeia so etwas wie ein Rezept für das ge-lungene Leben, sowohl in der Polis wie auch auf ein Einzelleben als Ganzes gesehen. Es ist allerdings ein sehr griechisches Rezept, und es fragt sich, wie gut es ansonsten in der Welt verständlich, geschweige denn anwendbar wäre. Denn Dialektik basiert auf der Zustimmung des Gesprächspartners zur jeweiligen These, was voraussetzt, dass er die These versteht. Dieses Verständnis speist sich mitunter aus dem Alltagsverständnis.

Das Wort ergon wird zumeist, und recht irreführend, mit „Funk-tion“ wiedergegeben, irreführend deswegen, weil wir zunächst an Maschinen denken, jedenfalls an Artefakte oder artifizielle Systeme, während Platons Modell eigentlich das eines Arbeiters ist, der ein be-stimmtes Werk durch ein ganzes tätiges Leben hindurch verrichtet, sozusagen ein Funktionär, wenn man dieses Wort wörtlich nehmen darf. Das Argument der Politeia, dass es dem guten Menschen gut

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geht, lässt sich einfach resümieren; es wird in polemischer Absicht auch gerafft in Buch I gegen Thrasymachos ins Feld geführt. Um den Reichtum des Modells zu entfalten, bedarf es aber dann, in nicht-pole-mischer, sondern lehrend-forschender Absicht, der weiteren neun Bü-cher. Das Argument (353D) ist, dass jedes Ding ein ergon besitzt, also das, was es entweder alleine verrichtet oder jedenfalls besser als andere Dinge, und die aretê, Vortrefflichkeit des Dinges, was es zu einem gu-ten Exemplar seiner Art macht, ist die Disposition des Betreffenden, die es ihm erlaubt, dieses Werk gut zu verrichten. Das ergon ist zwar ein teleologisches Prinzip des Dinges; aber es reicht nicht zum Guten hin, dafür ist die Vortrefflichkeit vonnöten. Wenn etwas gut in seiner Art sein soll, dann besitzt es die entsprechende aretê. Das Werk der Seele sei nun, so Sokrates, Besorgen, Beherrschen und Beraten „und dergleichen“; Leben wird dann meiner Meinung nach zu dieser Liste hinzugefügt als das grundlegende Werk der Seele. Ihre aretê ist die Gerechtigkeit: „Die gerechte Seele und der gerechte Mann wird gut leben, schlecht aber der ungerechte“ sagt Sokrates, und Thrasymachos stimmt zu, „und wer wohl lebt, ist er nicht löblich und glücklich, wer aber nicht, das Gegenteil?“ Folglich ist es förderlicher, Gerechtigkeit zu besitzen, als nicht (354A). Thrasymachos gibt zwar dem Argument statt, seine Antworten sind aber nicht ehrlich.

Wenn Sokrates sich endlich (nach acht dichten Büchern) aufmacht, argumentativ direkt gegen die Herausforderungen in Buch II durch Glaukon (357B-362C) und Adeimantos (362D-368E) zu zeigen, dass Gerechtigkeit in sich, also abgesehen davon, wie es Menschen bzw. Göttern zu sein scheint, besser ist als Ungerechtigkeit, verläuft das Argument schnell in drei Gängen, wie ein Olympischer Kampf (vgl. 583B). Es geht nicht um die Frage, ob der Gerechte glücklich ist, der Ungerechte unglücklich, sondern darum, wer glücklicher ist. Dies kon-trastiert mit dem Argument aus dem ersten Buch, das wir uns gerade angesehen haben.

Der erste Beweis ist eher die Bemerkung, dass man in einem dia-lektischen Zusammenhang u. U. gar keinen Beweis benötigt. Denn der Gegner kann, wie Glaukon hier, die fragliche Meinung teilen, nämlich dass der König, also der Gerechte, glücklicher ist als der Tyrann. Ge-nauer gesagt ist er einverstanden, dass es in puncto Tugend bzw. Glück eine Reihung der fünf möglichen Verfassungen einer Stadt gibt, und dementsprechend eine absteigende Reihung von deren Vertretern, König, Timokrat, Oligarch, Demokrat, Tyrann (580AB). Dies gilt, ob es Menschen und Göttern bekannt ist oder nicht (580C). Also geht es

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um das Verhältnis der Gerechtigkeit bzw. der Ungerechtigkeit selbst zum Glück bzw. Unglück.

Das zweite Argument basiert auf der berüchtigten Dreiteilung der Seele (580D-583A), die in der Politeia den Leitfaden für die Bestim-mungen der Tugenden von Stadt und Mensch abgibt. Eingangs haben wir das Bild dafür, das dreifache Tier, gesehen. Es gibt drei Arten der Lust, die den drei Teilen entsprechen (581B):

1. Dem räsonierenden Teil der Seele, mit dem man lernt, entsprechen „philosophische“ Lüste, also solche, die den Umgang mit Weisheit betreffen; oder auch: die der Umgang mit Weisheit mit sich bringt, die mit dem Umgang mit Weisheit einhergehen. (Der Weisheits-liebende, der Philosoph, liebt die Erkenntnis nicht bloß aus der Ferne, sondern tut alles, um in ihre Nähe zu gelangen und dort zu bleiben, genau wie der Liebhaber von Wein oder Pferden.)

2. Dem Temperament (thymos), womit man zürnt und eifert, ent-spricht Lust an Herrschaft, Sieg, Ehre.

3. Dem begehrlichen Teil entspricht Lust an Geld und Gewinn.

In verschiedenen Menschen herrschen verschiedene Teile: Jeder schreibt die meiste Lust seiner eigenen Lebensweise zu – der Mann des Geldes, der Ehrliebende, der Weisheitsliebende (581CE). Der Mann des Geldes (Geld erlaubt die Bedienung der Begierden nach Zeugung, Essen und Trinken, deswegen heißt er hier so) denkt, dass Ruhm und Lernen wertlos seien im Vergleich zu Gewinn. Der Freund der Ehre hält Geld-verdienen für vulgär und denkt, Gelehrsamkeit ohne Ehre sei bloßer Schall und Rauch. Der Philosoph hält dafür, dass die anderen Lebens-weisen seiner eigenen weit unterlegen seien, sie seien lediglich für das Leben notwendig (581DE). Die Frage ist nun, wem man glauben soll.

Man müsse zwischen den Lebensweisen anhand von Erfahrung, Einsicht und Argument entscheiden, sagt Sokrates. Wer hat nun Er-fahrung mit diesen Lüsten? Der Philosoph hat notwendigerweise seit seiner Kindheit von den anderen Lüsten gekostet, aber der Gewinn-süchtige hat nicht die Lust des Lernens, „wie die Dinge sind“, gekostet bzw. erfahren. Daher hat der Philosoph mehr Erfahrung auch als der Liebhaber von Ehre (582AB). Letzterer hat dagegen nicht mehr Er-fahrung von Ehre als der Philosoph, da sie beiden zukommt, insofern sie ihre jeweiligen Ziele erreichen: der Reiche, der Tapfere, und der Weise werden je von vielen geehrt. Aber: Nur der Philosoph kommt als einziger in den Genuss der Lust, Seiendes zu betrachten. Daher ist er der Erfahrenste der drei Typen (582D). Nicht nur das: Seine Er-

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fahrung wird von Einsicht (phronêsis) begleitet. Mit anderen Worten: die Erfahrung belehrt uns nicht, sie bedarf vielmehr der Einsicht, um verstanden zu werden. Schließlich ist das Werkzeug, um dieses Urteil zu fällen, das Werkzeug des Philosophen: Argumente (logoi).

Wenn Reichtum das beste Mittel wäre, um Urteile zu fällen, dann wären das Lob und der Tadel des Gewinnliebenden am wahrsten. Wenn Ehre, Sieg und Tapferkeit die besten Mittel wären, dann Lob und Tadel des Ehrliebenden. Da aber die besten Mittel Erfahrung, Einsicht und Argument sind, ist das Lob des Philosophen, des Liebhabers der Argu-mente, am wahrsten (582DE). Zumindest gibt der reflektierte Mann eine Expertise ab, wenn er seine eigene Lebensweise anderen anemp-fiehlt (583A). Glaukon ist damit einverstanden, dass die Lust des ler-nenden Teils der Seele dem Philosophen zufolge am angenehmsten ist, an zweiter Stelle folgt die des Ehrliebenden, schließlich die des Mann des Geldes.

Man sieht in diesem Beweis, dass das Urteil über die Lebensweisen nicht über jeden Schein erhaben ist – es scheint nämlich dem Lieb-haber der Weisheit so zu sein, aber es geht darum zu begründen, dass man den richtigen Richter in dieser Frage wählt. Es soll ein praktisches Vorbild dessen Urteil man vertrauen kann, begründet gewählt wer-den. Auch wenn es übertrieben wäre zu sagen, dass Platon bewiesen hat, dass der Weisheitsliebende das Vorbild abgibt, dass die passends-ten Vermögen besitzt, v. a. zu argumentieren, stehen der Mann des Geldes und der Mann der Ehre ohne rechte Ressourcen, sich für diese Rolle zu behaupten. Sobald es nur um Begründung geht, geraten sie ins Hintertreffen.

Der dritte Beweis (583A-588A) basiert darauf, dass die Lüste von Menschen, die nicht über Wissen verfügen, weder wahr noch rein sind (583A). Um zu klären, was das heißt, stellt Sokrates ein Modell von Lust und Schmerz auf, bei dem es auch einen dazwischenliegenden Bereich der Ruhe gibt. Folglich kann das Aufhören von Schmerz an-genehm sein, das Aufhören von Lust schmerzvoll. So kann das Dazwi-schenliegende als Lust oder Schmerz erscheinen (583C-584A).

Nun entstehen manche Lüste nicht aus der Ablösung von Schmerz, z. B. Lüste des Geruches (584B); sie folgen gar nicht auf Schmerz, auf empfundenen Mangel. Was weder lustvoll noch schmerzvoll ist, ist Ruhe; sie kann aber nicht zugleich lustvoll und schmerzvoll sein. Also erscheint sie nur lustvoll und schmerzvoll, je nachdem, worauf sie folgt: Ruhe nach Schmerz ist lustvoll, Ruhe nach Lust schmerzvoll. Also ist es möglich, das Dazwischenliegende für Lust zu halten, wenn

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man nicht die wahre Lust, also jene Lust, die keine Kontrastlust (Lust in Abhebung von Schmerz) ist, erfahren hat. Wenn man Helles (leukon) nicht kennt, dann erscheint Grau hell im Vergleich zu Dunkel (melan) (585A). Es geht hier also darum, die wahre Lust zu isolieren, nämlich eine Lust, die sich nicht nur durch ihren Kontrastzustand bestimmt.

Sokrates unterscheidet zwischen Seele und Körper: Hunger und Durst sind leere Zustände des Körpers, Unwissenheit die Leere der Seele. Essen und Einsicht können jeweils diese Zustände auffüllen. Welche Auffüllung hat nun größeren Anteil am reinen Seienden? Essen und Getränk oder die ‚Auffüllung‘ mit wahrer Meinung, Er-kenntnis, Einsicht, „summarisch mit aller Tugend“ (585C)? Dabei gilt, dass die wahrere Auffüllung einen mit dem, was ‚mehr ist‘(585B) erfüllt. Dieses ‚mehr sein‘ ist eine adverbiale Steigerung von ‚sein‘; ihre Bedeutung wird nachher erläutert. Die Gegenstände der Einsicht sind wahrer, also ist die Lust des Einsehens wahrer. Die Qualität der Aktivität bemisst sich an der Qualität des Gegenstandes der Aktivität.

Was ist nun ‚mehr‘ (als Adverb zu „sein“)? Diese Frage wird be-antwortet, indem Sokrates und Glaukon feststellen, welchem von beiden (Essen, Tugend) Gleichheit, Unsterblichkeit und Wahrheit zu-kommt, gegenüber dem, was diese Eigenschaften nicht besitzt. Und Glaukon stimmt zu, dass dasjenige, was immer dasselbe ist, mehr Sein hat. Es ist nicht, so kann man das verstehen, einmal so, einmal nicht so, sondern ständig das, was es ist. Nicht nur, dass es nicht täuscht, es ist einfach und in Wahrheit das, was es ist.

Zur Debatte steht also, welcher dieser Zustände uns mehr mit Din-gen auffüllt, die der Natur angemessen sind (585D). Die Vorstellung ist wohl, dass Körper und Seele natürliche Funktionen bzw. Bedürf-nisse haben, und es geht ihnen dann gut, wenn diese erfüllt werden. Eine wahrhafte Auffüllung mit Dingen, die mehr Sein besitzen, macht Menschen in Wahrheit froh (chairein). Diejenigen dagegen, die „un-erfahren in Tugend und Einsicht“ sind (586A), verbringen ihre Tage mit Zeugung und Fressen, wie Vieh. Also erlangen jene, die ohne Er-fahrung der Weisheit und aretê sind, nur das Dazwischenliegende, sie erlangen nie Sein, also die Wahrheit.

Der letzte Passus des Arguments verdient eine vollständige Über-setzung: „Wenn die ganze Seele also ohne Aufbegehren dem weis-heitsliebenden Teil gehorcht, folgt daraus, dass auch sonst jeder See-lenteil seine eigene Funktionen erfüllen und gerecht sein kann, und insbesondere kann er die Lüste genießen, die ihm zugehören und die die besten und nach Möglichkeit die wahrsten sind“ (586E-587A).

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Nur der Seelenteil, „mit dem man lernt“, ist in der Lage, die Be-lange der anderen Teile zu erkennen und die passenden Verhältnisse zwischen den Teilen einzurichten, so dass jeder Teil, soweit das im Verbund mit den anderen Teilen möglich ist, seine Bedürfnisse erfül-len kann. Aus der Gerechtigkeit ergibt sich das lustvolle Leben für die ganze Seele.

Philebos

Im Philebos wird die Frage diskutiert, was das menschliche Gute ist: Lust und Vernunft sind die Anwärter. Jene Beschaffenheit und Ver-fassung der Seele wird gesucht, die das Leben glückselig (eudaimôn) macht (11D), und zwar dasjenige aller Menschen. Keiner der beiden Anwärter ‚Lust‘ und ‚Vernunft‘ erfüllt aber die drei formalen Krite-rien für das Gute, wie ich sie nennen möchte; nämlich zielhaft (te-leos), ausreichend (hikanos) und wählenswert (hairetos) für jeden zu sein, der es erkennt. Folglich ist nur eine Mischung aus beiden das menschliche Gute. (Es wird natürlich vorausgesetzt, dass das mensch-liche Gute anhand dieser Faktoren bestimmt werden kann und dass es um das Gute gehen muss.) Diese drei Kriterien erlauben es, das Gute in seiner „Wohnung“ ausfindig zu machen. Die Vernunft ist entschei-dend hier, denn sie erlaubt es festzustellen, ob etwas wählenswert ist oder nicht (vgl. 22B).

Die Mischung aus Lust und Erkenntnis ist, was das gute Leben ist, nicht Indizien, die es uns erlauben, der Lust und der Erkenntnis habhaft zu werden. Mischung (meixis) ist nun eine der vier Gattun-gen, in die „alles jetzt Seiende“, aufgeteilt wird, neben Grenze (peras), Unbegrenztem (apeiron) und der Ursache (aitia) der Mischung (23B-27C). Somit wird ein Gerüst geschaffen, innerhalb dessen die Frage nach dem guten menschlichen Leben verhandelt werden kann. Diese Mischung entsteht, indem durch die Ursache die Grenze in das Un-begrenzte eingearbeitet wird. Nicht jedes Gemisch ist eine Mischung im Sinne des Philebos: Sie muss gut sein. Das Modell ist eines der Herstellung, und das Hergestellte ist nur wirklich, wenn es die ent-sprechende Norm erfüllt, also gut ist.

Diesem Gerüst selbst geht eine Auffassung von Dialektik voraus, „ein Geschenk der Götter an die Menschen“, die dem Lernen, Lehren und Forschen dient (16C-17A). Das „jetzt Seiende“, so sagt Sokra-

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tes, besteht aus Grenze und Unbegrenztem, die miteinander natürlich verbunden, also in irgendeiner Weise einander angemessen sind. Man muss dann diese einheitliche Form, die man setzt und findet, aufteilen, in so viele Teile wie möglich; diese Teile sind an Zahl begrenzt; es handelt sich um eine realistische Auffassung von Einteilung. Man hört dann mit dem Abgrenzen von Teilen auf, wenn keine Aufteilungs-merkmale mehr gegeben sind. Diese Methode erlaubt es, Lust wie auch Erkenntnis in Teile zu sondern, so dass man entscheiden kann, welche Lüste und welche Erkenntnisse in das gute Leben aufzunehmen sind.

Man sieht hier, wie praktische und theoretische Interessen ineinan-dergreifen. Dabei bleibt unausgedrückt, inwiefern Sokrates denkt, dass die theoretische Arbeit für die Lebensführung selbst unabdingbar ist. Jedenfalls ist sie für die Begründung der Lebensweise unabdingbar – ein Punkt, in dem Philebos selbst eklatant scheitert. Er weigert sich ja, die Seite der Lust im Wort zu verteidigen, und wird von Protarchos vertreten; er hat allerdings auch kein Interesse an der Begründung. Protarchos nimmt dagegen im Verlauf des Dialogs zunehmend die Seite der Vernunft ein, so dass er schließlich gar nicht mehr aufhören will, mit Sokrates zu diskutieren.

Am Ende des Dialogs wird dann eine Analyse dessen vorgenom-men, was Lust und Vernunft zum guten Leben beitragen. Die drei Kriterien des Guten (20D-22B) werden hier (60D) erneut aufgegriffen:

Hikanos, „ausreichend“, es bedarf keiner weiteren Eigenschaften. Im Kontrast dazu steht etwa ein Leben der Lust oder der Vernunft, und zwar für Menschen, denn bei beiden fehlt etwas.

Teleos wird oft mit „vollständig“ übersetzt, es ist aber besser mit „zielhaft“ wiederzugeben, denn das Gute dient als Ziel: Das also, was den Platz des Guten einnimmt, muss sich als Ziel eignen.

Hairetos, „wählenswert“: Für jeden, der das Gute kennt (oder: dar-über Bescheid weiß), ist es zu Wählendes. Das Gute ist das, dem jeder, der es erkennt, nachjagt (20D). Das Gute bezieht sich nicht auf ein-zelne Handlungen, sondern auf das Ganze eines Lebens. Um sich dem Guten zu nähern, muss man sich auch am Streben, zwar nicht am ei-genen, sondern am Streben im Allgemeinen orientieren. Pflanzen und Tiere sind dabei eingeschlossen, das Gute ist allumfassend (vgl. 60A).

Was allerdings am Anfang des Dialogs gesucht wird (11D), ist das Gute als das menschliche Ziel. Philebos, bzw. sein Vertreter Protar-chos, bedient sich einer Version des später sogenannten Wiegenargu-ments (vgl. Diogenes Laertius X 137): Das Gute ist Lust, denn wir sehen, dass jedes Tier von Geburt an mit Lust zufrieden ist. Einerseits

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unterscheidet sich der Mensch von den Tieren durch Nous, Vernunft. (Kraniche sind allerdings notorisch kluge Tiere für die Griechen, auch ihnen wird im Politikos Einsicht zugeschrieben.). Auf der anderen Sei-te legt Sokrates Wert darauf, die Möglichkeit eines lustfreien Lebens offenzulassen, eines Lebens ohne Verlust und Auffüllung, m. a. W. ein göttliches Leben (33B, 55A). Die Lust geht also mit der Sterblich-keit einher. Das lust- und schmerzfreie Leben dagegen ist nur dem Nous, der Vernunft vorbehalten.

Für das Lustleben ist aber Erkenntnis notwendig (60DE, vgl. 20C-22B). Also muss man mischen; das ist in dieser Darlegung m. E. als eine logische Mischung zu verstehen, als ein Zusammenhang, der durch die jeweilige Bestimmung der Teile bezogen auf den zu erfül-lenden Zweck begründet ist. Womit wir hier konfrontiert sind, ist laut Sokrates „eine unkörperliche Ordnung, die edel (kalon) sich eines lebendigen Körpers bemächtigt“ (64B). Der Mischvorgang besteht darin, etwas Unbegrenztes zu begrenzen; die Grenze und ‚ihr‘ Unbe-grenztes sind einander natürlich verbunden, also einander angemessen. Folglich muss man jeweils angemessene Teile nehmen. Dafür ist es notwendig, die Teile von Vernunft und Lust zu sichten, um ein be-gründetes Urteil zu fällen, welche angemessen sind und welche nicht. Dies ist eine Arbeit der Vernunft. Es werden allerdings alle Künste bzw. Wissenschaften ins gute Leben eingelassen, auch die primitivs-ten, „damit wir den Weg nach Hause finden“ (62B). Die Einteilung der Künste bzw. Wissenschaften erfolgt nach Reinheit, Genauigkeit und Beschaffenheit. Allerdings sind die einfachsten Künste auch mit Erfahrung und Übung verbunden („gemischt“), etwa die Tonkunst. Sie muss aber auch ins gute Leben mitaufgenommen werden; denn was wäre ein Leben (bios) ohne Musik, fragt Sokrates, und Protarchos antwortet, dass dies kein Leben sei (62A-C).

Im Unterschied zur allumfassenden Aufnahme der Wissenschaf-ten werden nur die Lüste zugelassen, die die Tätigkeiten der Vernunft nicht stören, und die aufs ganze Leben gesehen vorteilhaft und un-schädlich sind (63A). Die Vernunft hat also in einer bestimmten Form der Darlegung, in der Dialektik, diejenigen Lustteile einzugrenzen, die in die Mischung des guten Lebens passen. Die Vernunft dient als Grenze, also als begrenzende Instanz. Die Lust selbst wird im Dialog unter das Unbegrenzte eingereiht (27E, 31A, 32D, 41D, 52C-E). Wa-rum sind hier aber die Lüste unbegrenzt? Weil sie von sich aus kein Maß kennen (auf das Maß und das Angemessene gehen wir weiter unten kurz ein). Ausgeschieden werden ferner falsche Lüste (62DE),

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also solche, die deswegen falsch sind, weil sie in sich Unlust bergen, etwa das Lachen über eine Komödie: Missgunst (phthonos) ist in sich Unlust. Betroffen sind ferner auch solche Lüste, die deswegen falsch sind, weil sie täuschend sind.

Platon bedient sich hier eines Kunstgriffes: Sokrates lässt die Lüste selbst zu Wort kommen (in scharfem Kontrast zu Philebos, deren Ver-fechter!), und sie wählen Erkenntnis, damit sie erkannt werden und damit sie vorteilhaft sein können.

Das gute menschliche Leben besteht also aus einer Mischung von Lust und Vernunft. Um zu zeigen, was in dieser Mischung dafür verantwortlich ist, dass sie allen gefällt (64C), und auch, welche der beiden in der Mischung dominiert, muss das Gute in Einzelaspekte zerlegt werden; und diese Aspekte des Guten sollen dann je als nä-her verwandt (syngenesteron) mit der Vernunft oder aber mit der Lust herausgestellt werden (64C). Die drei Momente des Guten wer-den schnell gefunden – schlicht mit der Feststellung, dass es so allen klar ist (64D): Maß (to metron) bzw. Angemessenheit (to symmetron) und das Edle (to kalon) (64E); die Wahrheit kommt, vielleicht für uns überraschend, hinzu (64E, vgl. 64B). Diese drei bilden eine Art Einheit und sind dafür verantwortlich, dass die Mischung gut ist. Die Frage ist nun, ob Lust oder Vernunft diesen drei Qualitäten, dem Besten unter den Menschen und Göttern verwandter ist (65A-B). Für alle drei wird dann nachgewiesen, dass sie der Vernunft verwandter sind; Protarchos bereitet das überhaupt kein Problem: Wozu brauchen wir da viel Zeit?, fragt er (65C). Trotz der vielen Fragen, die uns dieser Passus aufgibt, ist er äußerst bemerkenswert als eine nachvollziehbare Auseinander-setzung mit dem Problem der Pluralität der Werte. Wenn, wie manch-mal behauptet wird, die Lust an sich gar keinen Wert besäße, dann wäre der Wertepluralismus kein Problem.

Folglich ist das, was uns und den Göttern erlaubt, ein gutes Leben zu führen, Vernunft in allen ihren Spielarten. Gut ist dabei nicht die Lust, sie ist lediglich Werden und nicht zielhaftes Sein (54C).

Tugend spielt scheinbar im Philebos eine untergeordnete Rolle (sie wird nur 45E, 48E, 55C, 63E, 64E erwähnt); das ist aber nur schein-bar so, denn die Vernunft bzw. Einsicht sind gerade das Ordnende des tugendhaften Lebens. Das macht es natürlich leichter, der Einheit der Tugend habhaft zu werden. Worum es nicht geht, ist die politische Umsetzung des Programms, die aber unverzichtbar ist für Menschen, wenn sie gut werden sollen; vielmehr geht es um die intellektuelle Analyse dieses Lebens in der Muße der Schule.

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Gute Menschen leben gut

Die Nomoi enthalten auch viel „Anthropologie“, also Kunde über fremde Kulturen (vor allem Persien und Ägypten), allerdings in prak-tischer Absicht: Es geht um die Beurteilung der Sitten von einem selbst normativ ausgerichteten Standpunkt aus, mit dem Ziel, die bes-ten Sitten für die Stadt ausfindig zu machen. Diesen Ansatz kann man als eine Antwort auf den Relativismus sehen: Es ist natürlich wahr, dass verschiedene Gemeinschaften ihre Angelegenheiten verschieden regeln. Wenn es aber eine Zielsetzung für die Gesetzgebung gibt (und das setzt voraus, dass es Gesetzgebung gibt und dass sie eine zweckge-richtete Tätigkeit sein muss), dann kann man beurteilen, ob bestimmte Sitten förderlich sind oder nicht. Dieser Aneignungsvorgang hat na-türlich Grenzen. Es mag angehen, dass die (angebliche) Stabilität der Ägyptischen Kultur übernommen wird, aber die in den Nomoi skiz-zierte Stadtverfassung ist doch sehr hellenisch, angefangen mit dem Projekt der Stadtgründung selbst.

Ein weiterer zentraler Gedanke ist die Wandelbarkeit der mensch-lichen Natur: Darauf gründet Erziehung und so auch die Polis. Die Teilbarkeit der Seele erlaubt diese Wandelbarkeit; denn welcher Teil die anderen beherrscht, steht nicht jeweils von vorneherein fest. Dem-entsprechend ist die (menschliche) Seele keine atomare Form, genauso wenig wie eine Stadt. Folglich ist ihre Einheit nur durch eine geeignete Beherrschung möglich; ihre Vielfalt kennt natürlich keine Grenzen, ihre Einheit dagegen schon.

Entgegen seinem Ruf ist Platon erpicht darauf, die Bedeutung der Erfahrung bei der Wahl der Lebensform als unverzichtbar hinzustellen. Allerdings ist es nicht Erfahrung alleine, die zählt – Argumente sind erforderlich, und es muss nicht immer die eigene Erfahrung sein. Mo-ralische Exempla sind leitend für seine Konzeption der Bildung, seien sie künstlerisch dargestellt oder wirklich, aus der Tradition geschöpft. In Platons eigenen Schriften übernimmt natürlich Sokrates diesen Part.

Die Lust hat keinen kognitiven Wert – sie ist zwar in der Lage, uns zu täuschen, und hat einen Gegenstand. Sie ist aber nicht argu-mentativ oder begründend. Sie wird u. a. unterschieden durch die Tä-tigkeiten, die sie begleitet. Vor allem geht es Platon darum, aus den Fängen des Scheines zu entkommen – und die Lust bietet da keinen Anhaltspunkt, geschweige denn Mittel, wie es Argumente tun. Die Lust ist uns mitgegeben mit ihrem grimmigen Bruder Schmerz, die Geschwister sind aber wandelbar, unsere Neigungen und Abneigun-

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gen sind durch Wörter zu bewegen, und wenn nicht durch Erziehung und Überredung bzw. Überzeugung (die peithô umfasst beides), dann durch Strafen, und in ein funktionierendes, also tätiges Ganzes ein-gliederbar. Ein Vorzug der Gerechtigkeit – das Spielen seiner Rolle und das Erhalten des Seinigen (Politeia 433E-434A) – liegt darin, dass man handlungsfähig ist (ebenda 351B).

Es wäre gut, wenn man beweisen könnte, dass gute Menschen gut leben: Platon hat auf diese These viel Mühe verwandt. Dieser Essay versucht, sie in den Nomoi, in der Politeia und im Philebos zumindest verständlich zu machen.

Einen schnellen Zugang zu der These bietet die grundlegende Funktion der Seele: Sie belebt Lebewesen. Diese leben gut, wenn die Seele ihre Funktion gut ausführt. Dazu befähigt sie ihre Tugend, die Gerechtigkeit. Das Bild wird allerdings dadurch erheblich komplizier-ter, dass die Seele teilbar ist. Dabei ist der Grundgedanke, dass die ganze Seele dann gut funktioniert, wenn jeder Teil seine Funktion er-füllt – dieses ‚Gute Funktionieren‘ ist dann gerade die Gerechtigkeit. Damit die Seelenteile ihre Funktionen gut ausführen, bedarf es aller-dings primär der Einsicht, vor allem in die Seele. Um also gerecht zu sein, muss die Seele vom lernenden Teil geführt werden. Denn nur so können alle Teile der Seele, von Einsicht geleitet, in ihren jeweili-gen Bedürfnissen befriedigt werden. Diese Befriedigung besteht darin, dass sie ihre Funktionen gut erfüllen.

Damit stellt sich aber Lust ein, als die Wiederauffüllung jener Mängel, die mit der Leiblichkeit einhergehen: Essen, Trinken, Zeu-gung. Lust ist also nicht das Gute, begleitet es aber (vgl. Philebos 63E), insofern dieses sich auf das leibliche Dasein erstreckt und das Dasein geordnet abläuft. Also ist Lust nicht selbst ein hypothetisches Gut, sondern begleitet ein Gut, das das tatsächliche Leben erfordert. Das Ordnen dieses Lebens ist eine Aufgabe der Einsicht. So ist dann das menschliche Gut eine Mischung aus Lust und Einsicht. Lust darf die Einsicht in der Lebensführung aber nicht stören, etwa durch Intensität oder durch Täuschung.

Als körperliche Wesen sind wir an die Lust gebunden: Wir würden demnach nicht wählen, ohne sie zu leben – ohne sie wäre das Leben unvollständig. Aber unser Maßstab wäre eigentlich ein Leben ohne die selbsterhaltenden Veränderungen der Leiblichkeit, also das reine Vernunftleben, Gott.

Platon widmet sich der Lust mit viel Mühe; zum einen ist das als Aufarbeitung gängiger Meinungen zu verstehen, aber auch als Bemü-

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hen, dass alle Aspekte und Bereiche des Lebens, also der verkörperten Seele, zu ihrem Recht kommen. Und diese Herrschaft soll nicht re-pressiv sein, sondern naturgemäß.

Bibliographische Notiz

Diese Überlegungen gehen auf zwei klassische Beiträge zur Auslegung der griechischen Ethik zurück: – zum einen K. V. Wilkes, „The Good Man and the Good for Man in Aristotle’s Ethics“, in: A. Rorty (Hrsg.), Essays on Aristotle’s Ethics, Berkeley, 1980, S.341-358 und J. Annas, Platonic ethics old and new, Cornell, 1999, insb. Kap. VII: „Elemental Pleasures“, S. 137-161. Während der letzte Beitrag versucht, eine An-näherung zwischen Platon und den Stoikern zu forcieren, soll hier an-hand der gleichen Platonischen Texte gezeigt worden sein, dass Platon und Aristoteles denken, dass der gute Mensch im Besitz des mensch-lich Guten ist. Das ist nun eine These der Arbeit von Wilkes, allerdings argumentiert sie mit einem neuzeitlichen Moralbegriff (Altruismus). Der Egoist ist aber genauso wenig der Gegner in der Politeia wie in den Gesetzen und im Philebos, denn er hat vergessen, dass wir, wenn nicht durch anderes dann durch schnödes Bedürfnis (chreia) aneinan-der ge kettet sind: Die Auseinandersetzung mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia, der auf sein eigenes vermeintliches Wohl bezogen ist, liefert nicht den roten Faden zur Platonischen Moral, auch wenn formal die Herausforderung von Glaukon und Adeimantos im zweiten Buch, eine begrifflich schärfere Formulierung als die des Thrasyma-chos, die restliche Diskussion strukturiert.