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Anthropologische und ethische Probleme der Medizin am Ungeborenen Von Professor Dr. med. Eduard Seidler, Freiburg i. Br. Die öffentliche Diskussion ethischer und rechtlicher Fragen, die durch Veränderungen im menschlichen Fortpflanzungsverhalten aufgetreten sind, hat innerhalb eines knappen Jahrzehntes unge- ahnte Dimensionen angenommen. Probleme der sogenannten kindli- chen Indikation zum selektiven Schwangerschaftsabbruch und den damit zusammenhängenden Chancen und Risiken der Pränataldia- gnostik werden vertieft durch die neueren Möglichkeiten der geziel- ten Beeinflussung des Zeugungsgeschehens durch in-vitro-Befruch- tung mit Embryotransfer sowie durch vorherige Genomanalyse und Genmanipulation. Nicht nur biologische, soziale und rechtliche, son- dern fundamentale anthropologische Strukturen stehen zur Disposi- tion, wenn künstliche Insemination genetische Vaterschaft von ge- schlechtlicher Beiwohnung löst und wenn durch extrakorporale Be- fruchtung mit Embryo-Übertragung der zwingende Zusammenhang genetischer Mutterschaft mit der Geburt aufgehoben werden kann l . Auf zahlreichen Ebenen wird im Augenblick versucht, die aus dieser Situation entstehenden Fragen zumindest klar zu formulieren und erste Stellungnahmen zu beziehen; nicht nur die Ärzteschaft und die Vertreter des Arztrechts, sondern auch politische Arbeitsgruppen sind dabei, entsprechende Problemkataloge zu erarbeiten 2 . Vor dem Hintergrund dieser großen und durch die Bedeutungs- schwere des Problems herausgeforderten Aktivitäten erhebt sich die praktische Frage, welchen Einfluß die neuen Möglichkeiten auf die Einstellung der Menschen gegenüber ihren zu erwartenden Kindern haben werden. Recht und Medizin müssen in Rechnung stellen, daß die öffentliche und medienpolitisch ausgeweitete Erörterung der Probleme zu einer Veränderung der Auffassung vom Ungeborenen führen kann, die dann ihrerseits wieder auf die Handlungsträger zu- rückwirkt. Der alte Menschheitstraum vom neuen und besseren 1 Hegnauer, Recht und künstliche Zeugung, Neue Zürcher Zeitung Nr. 251 vom 27.728. 10. 1984, S. 37. 2 Vgl. hierzu Starlinger, Medizinische Gentechnologie: Möglichkeiten und Grenzen, Deutsches Ärzteblatt 81 (1984), S. 2091-2098. ZStW 97 (1985) Heft l Brought to you by | Universitaetsbibliothek Authenticated | 10.248.254.15 Download Date | 9/5/14 3:59 A

Anthropologische und ethische Probleme der Medizin am Ungeborenen

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Anthropologische und ethische Probleme der Medizinam Ungeborenen

Von Professor Dr. med. Eduard Seidler, Freiburg i. Br.

Die öffentliche Diskussion ethischer und rechtlicher Fragen, diedurch Veränderungen im menschlichen Fortpflanzungsverhaltenaufgetreten sind, hat innerhalb eines knappen Jahrzehntes unge-ahnte Dimensionen angenommen. Probleme der sogenannten kindli-chen Indikation zum selektiven Schwangerschaftsabbruch und dendamit zusammenhängenden Chancen und Risiken der Pränataldia-gnostik werden vertieft durch die neueren Möglichkeiten der geziel-ten Beeinflussung des Zeugungsgeschehens durch in-vitro-Befruch-tung mit Embryotransfer sowie durch vorherige Genomanalyse undGenmanipulation. Nicht nur biologische, soziale und rechtliche, son-dern fundamentale anthropologische Strukturen stehen zur Disposi-tion, wenn künstliche Insemination genetische Vaterschaft von ge-schlechtlicher Beiwohnung löst und wenn durch extrakorporale Be-fruchtung mit Embryo-Übertragung der zwingende Zusammenhanggenetischer Mutterschaft mit der Geburt aufgehoben werden kann l.Auf zahlreichen Ebenen wird im Augenblick versucht, die aus dieserSituation entstehenden Fragen zumindest klar zu formulieren underste Stellungnahmen zu beziehen; nicht nur die Ärzteschaft und dieVertreter des Arztrechts, sondern auch politische Arbeitsgruppensind dabei, entsprechende Problemkataloge zu erarbeiten2.

Vor dem Hintergrund dieser großen und durch die Bedeutungs-schwere des Problems herausgeforderten Aktivitäten erhebt sich diepraktische Frage, welchen Einfluß die neuen Möglichkeiten auf dieEinstellung der Menschen gegenüber ihren zu erwartenden Kindernhaben werden. Recht und Medizin müssen in Rechnung stellen, daßdie öffentliche und medienpolitisch ausgeweitete Erörterung derProbleme zu einer Veränderung der Auffassung vom Ungeborenenführen kann, die dann ihrerseits wieder auf die Handlungsträger zu-rückwirkt. Der alte Menschheitstraum vom neuen und besseren

1 Hegnauer, Recht und künstliche Zeugung, Neue Zürcher Zeitung Nr. 251 vom27.728. 10. 1984, S. 37.

2 Vgl. hierzu Starlinger, Medizinische Gentechnologie: Möglichkeiten und Grenzen,Deutsches Ärzteblatt 81 (1984), S. 2091-2098.

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Menschen gewinnt in unseren Tagen greifbare Gestalt, da die äuße-ren Rahmenbedingungen hierzu gegeben scheinen. Es ist daher an-gebracht, einige dieser anthropologischen Elementarfragen heraus-zuarbeiten, da sie unzweifelhaft in die Situation eingehen; ob und aufwelche Weise ein Kind von Eltern und Gemeinschaft akzeptiert undverworfen wird, ist auch heute noch das Ergebnis historisch gewach-sener realer, irrealer und emotionaler Vorgaben. Da die oben ge-nannten neuesten Entwicklungen noch zu sehr im Fluß sind, um dar-aus Aussagen ableiten zu können, sei zur Verdeutlichung des Anlie-gens auf die inzwischen schon fast klassisch gewordenen Problemfel-der der pränatalen Diagnostik und des selektiven Schwangerschafts-abbruches zurückgegriffen. Auf diesem Gebiet sind die Fragen vonmanipulierbarer Akzeptanz oder Ablehnung eines Kindes bereitsmedizinischer Alltag sowie Gegenstand der öffentlichen Gesund-heitsvorsorge geworden.

LEine Vielzahl von gesundheitspolitischen Maßnahmen zielt zum

gegenwärtigen Zeitpunkt darauf hin, der Erkennung und Betreuungvon Risikoschwangerschaften sowohl durch Aufklärung und Bera-tung der werdenden Eltern als auch in der Schulung von Ärzten undHebammen größere Aufmerksamkeit zu schenken. In der Presseein-ladung zu einer dieser Vorsorge-Initiativen hieß es hierzu: „Trotz er-freulicher Verbesserungen während der letzten zehn Jahre ist dieperinatale Kindersterblichkeit in unserem Land noch immer zu hoch.Vergleiche mit anderen Ländern machen deutlich, daß die Zahl dergestorbenen und behindert geborenen Kinder drastisch gesenkt wer-den kann und muß." Es ist unbestreitbar, daß ein hoher Prozentsatzaller Frauen, deren Kinder in der Schwangerschaft oder während derGeburt sterben oder schwer behindert überleben, Warnsymptome inder Schwangerschaft gezeigt haben. In breiter Streuung und unterZuhilfenahme aller Medien soll daher versucht werden, die Schwan-geren zur Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen zu motivieren„und die Vorteile gesundheitsbewußten Verhaltens vor und währendeiner Schwangerschaft deutlich zu machen"3.

Solche Maßnahmen tragen ihre Rechtfertigung in sich selbst; siewerden zweifelsohne nicht nur gesundheitspolitische Relevanz zei-

3 „Schwangerschaft 1983/84... ein paar offene Worte mehr als üblich". Vorsorge-Ini-tiative der Aktion Sorgenkind? vgl. hierzu Seidler, Ethische Probleme in derSchwangerenfürsorge, in: Medizinische Ethik, Sonderbeilage zum Ärzteblatt Ba-den-Württemberg 4/1983.

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gen, sondern auch viel zur gesellschaftlichen Internalisierung derVorstellungen von möglichen Wegen zu einem gesunden Kind bei-tragen. Daß es allerdings dabei nicht nur um eine Verbesserung dergeburtshilflichen Technologie, nicht nur um eine Optimierung derRahmenbedingungen gehen kann, sondern daß es auch wesentlichdavon abhängt, wie in der heutigen gesellschaftlichen Situation vonSchwangersein und Gebären gedacht und geredet wird, erweitert je-doch die Diskussion zwangsläufig in den ethischen Diskurs.

Die Notwendigkeit hierzu ergibt sich aus der Tatsache, daß dieErzeugung neuen menschlichen Lebens in der Alltagsrealität nachwie vor das Ergebnis des meist unbeeinflußten Zusammentreffensvon Sperma und Eizelle ist, die in den seltensten Fällen vorher ihrechromosomalen Eigenschaften aufeinander abgestimmt haben.Schwanger werden ist daher in fast allen Fällen physisch, psychischund sozial Schicksal und Risiko und wird es auch bleiben, solangenicht gezielt besamt wird wie in der Veterinärmedizin.

Wir stehen also immer noch einer vorgegebenen Situation ge-genüber, die uns herausfordert und der gegenüber wir uns verhaltenund vielfach auch bekennen müssen. Schwangerschaft hat mit Lebenzu tun; folglich ist jeder Umgang mit Schwangerschaft bei allen Be-troffenen von einem ganzen Geflecht von Wertungen und Ängsten,Urteilen und Vorurteilen, polaren und dialektischen Spannungenumgeben.

Nachdenkliche Wissenschaftler, wie der Münsteraner Human-genetiker Widukind Lenz, haben mit Nachdruck immer wieder dar-auf hingewiesen, daß in den ganzen Diskussionen um die Vorge-burtsdiagnostik und den Schwangerschaftsabbruch meist vergessenwird, daß die Entscheidung für oder gegen ein ungeborenes Kindniemals wissenschaftlich begründet oder begründbar ist. Wissen-schaftlich begründet ist lediglich die Diagnose, die Feststellung einerChTomosomenanoinalie odei eines genetisch bedingten Sloitwech-seldefektes, nicht aber der Entschluß zur Tötung des Fetus. Dieserberuht auf einer ethischen Entscheidung, wobei es von untergeord-neter Bedeutung ist, ob der Fetus aus genetischer oder aus nicht ge-netischer Ursache geschädigt ist. Für die Betroffenen (Mutter, Fami-lie, Gruppe) ist entscheidend nicht der Genotyp, sondern der Phä-notyp: es ist der mit allen historischen Vorgaben beladene Umgangdes Menschen mit seiner eigenen Mißgestalt, der zur Debatte steht.Es ist folglich eine Frage des Menschenbildes und der Menschlich-keit, ob eine vorgeburtliche Tötung für besser gehalten wird als ein

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Leben mit einem unheilbaren Leiden, das, wie der Gesetzgeber for-muliert hat, „so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortset-zung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann"4.

Das Problem steht im Fadenkreuz eines historischen und ethi-schen Dilemmas. Dieses läuft seit vielen Jahren in den angelsächsi-schen Ländern — in einer viel offeneren Diskussion, als dies inDeutschland historisch möglich ist — unter den Stichworten „Qua-lity of life — Sanctity of life". Es sind dies zwei Positionen, von denendie eine — Sanctity of life — besagt, daß Leben grundsätzlich schüt-zenswert und unantastbar ist, während die andere — Quality of life— meint, daß menschliches Leben nicht heilig, jedoch dann wertvollsei, wenn und solange es Qualitäten für andere aufweist: für denStaat, für gesellschaftliche Institutionen, für andere Menschen oderfür die eigene Selbstverwirklichung5.

Im Rahmen dieser Diskussionen — die sowohl für den Lebens-anfang wie für das Lebensende gelaufen sind — hat sich sehr schnellgezeigt, daß Unantastbarkeit von Leben einerseits und Lebenswertandererseits antithetische Positionen sind, die in jedem Entschei-dungsakt ausgehalten werden müssen. Eine Berufung auf die Unan-tastbarkeit würde die Gesellschaft verpflichten, auch ihre Minusva-rianten zu akzeptieren und zu tragen. Erörterungen um den Lebens-wert einer vorgeschädigten Leibesfrucht drängen indessen das Pro-blem in die Nähe der positiven Eugenik. Beide Positionen internali-sieren sich auf bestimmte Weise bei den Betroffenen: im ersten Fallein der Erwartung, daß die Gesellschaft das Leid mitträgt bzw. ab-nimmt, im Falle der Lebensqualitätsdiskussion in der Erwartung (bishin zum Anrecht), durch den Fachmann zu einem gesunden Kindverholfen zu bekommen. Damit laufen alle anderen Erscheinungsfor-men Gefahr, zum lebensunwerten, allerdings auch zum einklagbarenSchaden deklariert zu werden.

Der Erlanger Rechtsmediziner Hans-Bernhard Wuermeling hathierzu — im Zusammenhang mit den zwei Urteilen des Bundesge-richtshofes aus dem Jahr 1983 zum Schadensersatz wegen unterblie-benem Abbruch der Schwangerschaft bei vorgeburtlicher Schädi-gung — die warnende Frage gestellt, ob weitere Entwicklungennicht dazu führen könnten, daß sich der Status eines Kindes den

4 Lenz, Die sogenannte genetische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch, in: Bo-land/Krone/Pfeiffer (Hrsg.)r Kindliche Indikation zum Schwangerschaftsabbruch.Bamberger Symposion, 1982.

5 Vgl. hierzu Keyserlingk, Sanctity of life or quality of life in the context of ethics,medicine and law, Law Reform Commission of Canada, Ottawa 1979.

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Qualitätskontrollmaßnahmen eines Produktes annähert, für den dasVerwerfen von Ausschuß selbstverständlich ist und bei dem dieQualitätsnormen dem Bedarf angepaßt werden. „Man muß die Fragestellen", so fährt Wuermeling fort, „ob solche Haltungsänderungenauf die Ungeborenen beschränkt bleiben können. Wenn sie eintretenund generalisieren, so wird man langfristig wohl oder übel prüfenmüssen, ob nicht doch die sehr vorsichtig und bedacht gewählteKonstruktion der .kindlichen' Indikation noch vorsichtiger gefaßtwerden müßte."6

Damit hat sich das Problem auf eine historisch sehr konkret ana-lysierbare Fragestellung konzentriert. Gerade am Beispiel der Dis-kussion um diese „kindliche Indikation" zum Schwangerschaftsab-bruch, dem ältesten Diskussionselement der gegenwärtigen Ent-wicklungen, läßt sich aufzeigen, in wie nachdrücklicher Weise dieEinstellungen der Betroffenen nicht nur von den Wunschbildern dergegenwärtigen Wachstumsgesellschaft geprägt sind, sondern un-übersehbar und dennoch meist unreflektiert von historisch gewach-senen menschlichen Einstellungen zu Leben, Krankheit und Leid be-stimmt werden. Diesen soll nachfolgend am Beispiel des Indikatio-nenproblems nachgegangen werden.

II.Es ist für alle weiteren Entwicklungen wichtig, daß die begriffli-

che Konturierung einer kindlichen Indikation zum Schwanger-schaftsabbruch in einer Zeit geschehen ist, in der die Überlegungenüber die erbbiologische Qualität des Menschen im Vordergrundstanden. Im Jahre 1910 hat der Berliner Frauenarzt Max Hirsch denBegriff der „eugenetischen Indikation" eingeführt, mit der Begrün-dung, „der Fortentwicklung dieser pathologischen Erbmassen, wel-che sich von Generation zu Generation multiplizieren, durch Hem-mung der Fortpflanzung dieser Individuen Einhalt, zu gebieten"7. DerArzt, so meint er, ist zum Pionier der Eugenik und des kulturellenAufstiegs prädestiniert, und er fordert in vielen Schriften, die euge-netische Indikation zum unbestrittenen Besitz ärztlicher Überzeu-gung und der Gesetzgebung zu machen. Ein kurzes Verweilen bei

6 Wuermeling, Handlungspflicht zur pränatalen Diagnostik? Münchner medizinischeWochenschrift 126 (1984), S. 127-136.

7 Hirsch, Der künstliche Abortus, ArchKrim. 39 (1910), S. 39, Zitat aus ders., Fruchtab-treibung und Präventiwerkehr im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang,1914, S. 200. Zum folgenden vgl. Seidler, Historische Elemente des Indikationenpro-blems, in: Boland u. a. (Anm. 4), S. 65-76.

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der Begriffsgeschichte zeigt auf, daß bereits dieses spezifische Dilem-mata erkennen läßt.

Hirsch selbst wandelt den Begriff „eugenetisch" sehr bald in „eu-genisch" um; beide Bezeichnungen werden aufgegriffen und sowohlvon Medizinern als auch von Juristen verwendet. Beide Begriffe ver-schwanden nach 1933. Im sogenannten Dritten Reich verwandte mannunmehr fast ausschließlich die Ausdrücke „rassehygienisch" oder„rassenhygienisch", dem später W. Becker noch die Bezeichnung „ras-senbiologische Indikation" hinzufügte8. Die Gründe hierfür lagen inder dogmatischen Richtlinie des Nationalsozialismus, daß „der völki-sche Staat die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens zusetzen hat"9. Der Ausdruck „eugenisch" erschien den damaligen Au-toren als zu farblos, außerdem war er fremdsprachlich und engli-schen Ursprungs (Galton, 1883), während „rassenhygienisch" von dendeutschen Sozialdarwinisten Ploetz bzw. Schällmayer bereits Endedes 19. Jahrhunderts geprägt worden war10.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im deutschsprachigenSchrifttum neben dem wieder geläufigeren Ausdruck „eugenisch" dieBezeichnung „erbmedizinische Indikation" vorgeschlagen, mit derBegründung, es seien mit Eugenik noch sehr viele politisch negativeVorstellungen assoziativ verknüpft11. In der Bundesrepublik hat derGynäkologe Kepp im Jahre 1960 zum ersten Mal den Begriff „kindli-che Indikation" konsequent gebraucht, um den Grund in geistigenoder körperlichen Mängeln des Feten zu beschreiben12. Allen Begrif-fen ist gemeinsam, daß sie eine Indikation zum Schwangerschaftsab-bruch bezeichnen, die sich aus einer Mangel- bzw. Schadenssituationdes Kindes begründet. Die Bandbreite der Begrifflichkeit zeigt je-doch darüber hinaus mindestens zwei verschiedene Aspekte, die inder Folgesituation wichtig geworden sind, nämlich den wissenschaft-lichen, ätiologischen bzw. eugenischen Standpunkt und den kultur-bzw. sozialpsychologischen Aspekt einer Vertretung der Interessenentweder des Kindes oder des Kollektivs. Ich sage bewußt sozialpsy-

8 W. Becker, Schwangerschaftsunterbrechung aus rassebiologischer Indikation, GS113 (1939), S. 275.

9 Hitler, Mein Kampf, 33. Aufl. 1933, S. 447.10 Ploetz, Grundlinien einer Rassehygiene, 1895; Schallmayer, Vererbung und Auslese,

1903.u Stoltenhoff, Die psychiatrisch-neurologischen Indikationen zur Schwangerschafts-

unterbrechung bei schwerer Erbkrankheit, Das Deutsche Gesundheitswesen 1955,265.

12 Kepp, Zur Frage der Schwangerschaftsunterbrechung aus kindlicher Indikation,Medizinische Klinik 1960,98.

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chologisch, weil es sich dabei eher um einen Modus der Verarbei-tung individueller oder kollektiver Ängste handelt als um greifbareParameter für eine normative Lösung des Problems. Damit spiegeltbereits die Entwicklung der Terminologie von Anfang an das Di-lemma wider, ob es sich bei der kindlichen Indikation überhaupt umeine Maßnahme zum Wohl des Kindes handelt oder nicht13.

Die Entwicklungen in der wissenschaftlichen Medizin haben ih-rerseits dazu beigetragen, die Problematik mit nachhaltigen Merk-malen zu versehen. Seit die Gynäkologie den künstlichen Schwan-gerschaftsabbruch als Indikation und Technik zu diskutieren begann(William Cooper, 1769), wurde bezweifelt, daß die theoretischen undethischen Kategorien Vernunft und Gewissen als ärztliche Entschei-dungskategorien anzuerkennen seien. Die Problematik des künstli-chen Abortus erscheint für lange Zeit eher als der unangenehmeTeil des Frühgeburtenproblems und wurde auch gleichsam mit spit-zen Fingern diskutiert. Vor allem in Deutschland dominierte äußer-ste Zurückhaltung; mit großem Mißtrauen betrachtete man dieWürzburger Schule um Franz Kiwisch von Rotterau (1814—1852) undFriedrich Wilhelm Scanzoni (1812—1891), die als erste einen Indika-tionenkatalog bei sehr zahlreichen Erkrankungen aller Organsy-steme aufstellten. Gerade dies führte bei den Skeptikern und Geg-nern zu der sehr früh auftauchenden Tendenz, Indikationen eherwieder abzubauen, vor allem da man sich entsprechend dem damali-gen Stand der Medizin prognostisch auf unsicherem Boden befand.Eine der frühesten Forderungen ist dabei die Einwilligung der Frauund die konsiliarische Hinzuziehung von Kollegen14.

Mit der Entwicklung einer besseren Diagnostik, einer wirkungs-vollen Anti- und Asepsis sowie von Narkosemöglichkeiten trat eingrundsätzlicher Wendepunkt in der Entwicklung des Indikationen-problems ein. Nicht mehr die Prognose, sondern die Diagnose be-gann die ärztliche Entscheidung zu bestimmen. Dies führte zusam-men mit den darauf aufbauenden Rechtsbestimmungen der §§218 ff.StGB von 1871 zu der Überzeugung, daß der abortus artificialis, inso-fern er wissenschaftlich-medizinisch indiziert ist, eine objektive undlegale Heilhandlung sei, die den diagnostischen Wissenschaftskrite-rien von Norm und Devianz unterliegt.13 Die bisher umfangreichste Dokumentation zur Geschichte und Problematik der

kindlichen Indikation findet sich bei Schrömbgens, Die Fruchtschadensindikationzum Schwangerschaftsabbruch, jur. Diss. Heidelberg 1976.

14 Vgl. hierzu Seidler, Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch: Probleme und Tra-dition, in: Lau (Hrsg.), Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch, 1976.

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Die Betonung des diagnostischen Prinzips, die intensive Anbin-dung des Problems an die wissenschaftliche Aussage drangen auchschnell in das öffentliche Bewußtsein. In den zwanziger Jahren tratjene problematische terminologische Zweiteilung ein, die sich zumTeil noch heute in den Lehrbüchern findet: Die interruptio gravidita-tis galt als der legalisierte Teil, der abortus criminalis als der ver-werfliche Teil des gleichen Faktums. Die Aufnahme der euphemisti-schen Bezeichnung „Unterbrechung" in die öffentliche Diskussionseit der Weimarer Zeit und die Festschreibung von Diagnosen als In-dikationen in den Richtlinien etwa Stadiers (1936) oder Winters(1949) haben für viele Generationen vergessen lassen, daß die Dia-gnose keinesfalls selbst eine Indikation darstellt, sondern nur eine derGrundlagen für die prognostische Erwägung sein kann15.

Noch ein letztes historisches Element fügt sich in diesen Zu-sammenhang: die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wir-kungsträchtiger werdende Diskussion um den Wert oder Unwertmenschlicher Existenz. Als, nach vielen vorbereitenden Diskussio-nen, in Deutschland der genannte Berliner Gynäkologe Max Hirsch1910 mit eugenischer Argumentation seinen Indikationskatalog zumSchwangerschaftsabbruch vorlegte, gebrauchte er Argumente, dieweit über die Zeitspezifität hinaus auf grundsätzliche Seiten des Pro-blems hinweisen. Die Eugenik, so meinte er, sei „ganz besonders ge-eignet, die konstitutive Kraft des Volkes zu heben, die Gebärfähig-keit zu stärken, den Geburtenrückgang aufzuhalten (und) die quanti-tativen Verluste der Bevölkerung durch qualitative Gewinne aufzu-heben". Wichtig ist dabei auch die Standortbestimmung des Arztes,der „unbeirrt durch Bedenken und Rücksichten politischer und reli-giöser Art, nur naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu folgen be-müht ist". Weder die Philosophen noch die Dogmatiker der Pastoral-medizin hätten das Recht zu irgendeiner Stellungnahme; allein derArzt „als Gesundheitswächter des Individuums und des Volkes" habedie Pflicht, von der eugenischen Indikation Gebrauch zu machen16.

Elementar für unser Problem scheint dabei die fatale Verquik-kung der Eugenik mit dem rassehygienischen Gedankengut des So-zialdarwinismus, da erst diese Verschmelzung eines wissenschaftli-chen mit einem ideologischen Ansatz zur Internalisierung bestimm-

15 Stadier, Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechungen und Unfruchtbarma-chung aus gesundheitlichen Gründen, 1936? Winter, Die künstliche Schwanger-schaftsunterbrechung, 3. Aufl., hrsg. von Naujoks, 1949.

iß Hirsch, Die eugenische Indikation in Geburtshilfe und Gynäkologie, 1914,S. 180-219.

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er Denkformen in der Gesellschaft geführt hat. Vor allem der verlo-gne Erste Weltkrieg gab dem ursprünglichen Gedanken eine neueTönung: Nachdem der Krieg selbst den Begriffen „Rassenselbst-nord", „Volkstod" usw. neuen Auftrieb gegeben hatte, ging man inten Krisenzeiten der zwanziger Jahre davon aus, daß in diesen"'chweren, „notstandsähnlichen Zeiten nicht allein die Quantität fürtas Überleben des Volkes eine Rolle spiele, sondern daß die QualitätW Bevölkerung" viel wichtiger sei. Man glaubte zu erkennen, daßvrieg, Revolution und wirtschaftliche Misere zur Überprüfung derBisherigen Lebensanschauungen zwängen, und erinnerte sich des „le-•ensunwerten Lebens" der Kranken und Krüppel, dessen Förderung

und Erhaltung im Widerspruch zur wirtschaftlichen Notlage und zuroifbesserungsbedürftigkeit der Rasse stehe. In der öffentlichen Dis-ussion bezweifelten nur wenige z. B. die Prämissen von der höherenruchtbarkeit der Erbkrankheiten und von der Erbreinheit der obe-

ran Schichten17.So war es ein in seiner zynischen politischen Konsequenz fast

blgerichtiger Vollzug, wenn im Jahre 1933 der staatliche Wille sy-stematisch eingesetzt wurde, um all dies zu der seit 40 Jahren vorbe-reiteten Rassenhygiene zu verschmelzen, mit dem Ziel, „die Erhal-ang und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch

Gleichartiger Lebewesen" in die Wege zu leiten18. Der neue, der bes-sere Mensch war zum staatspolitischen Programm geworden, mit al-Sn fatalen und die Gegenwartssituation nach wie vor belastenden

Konsequenzen. Wie tief dieses rassische Minderwertigkeitsdenkenlris Volk drang, weiß jeder, der noch heute mit Behinderten umzuge-

en hat. Auch wer die berühmte Rechenaufgabe Nr. 97 aus dem Ma-"lematikbuch von 1935 hat rechnen müssen, wonach die Ehestands-krlehen für gesunde Familien auf der Basis der „unnötigen" Kosten

Hr 300 000 Anstaltsinsassen zu berechnen waren, der wird mehr alsellhörig, wenn heute ähnliche Rechnungen — wenn auch noch in-ittneU — wieder a\dta.ucheTi. Schließlich ist unübersehbar, wie sehr/"-·«rundängste der Gegenwartssituation gegenüber einem möglichen

"\rongful life" aus diesem historischen Raum resultieren.

III.Nur auf den ersten Blick scheint diese von der Geschichte vor-

^^gebene Hypothek überwunden. Die Schöpfer des Grundgesetzes

Umfangreiche Literatur hierzu bei Lohmann, Euthanasie in der Diskussion, 1975.Hit/er (Anm. 9), S. 433.

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Medizin am Ungeborenen

haben unter dem unmittelbaren Eindruck und in Ablehnung (eic

übersteigerten Verehrung des Kollektiven eine für die eugenisc163

Grundsituation erhebliche Entscheidung getroffen, indem sie ca^menschliche Individuum in das Zentrum der von der Verfassung ZUl

schützenden Werte stellten. Von dieser Einstellung her ist es *mi

Prinzip unmöglich, dem Volk oder gar einer Rasse eine Höherwerf "-keit vor dem individuellen Leben zuzusprechen, auch wenn es k?*"·perlich oder geistig erkrankt ist. Auch wagten sich die meisten mezinischen Autoren nicht mehr ausschließlich unter dem Blickwin^6^der Eugenik an das Problem heran, mit der Einsicht, daß der Schw*n ~gerschaftsabbruch in seinem eugenischen Wert in keinem Verh« ·'·nis zur Schwere der Tatsache der Tötung individuellen intrauterii6;1

Lebens stehe 19. Andererseits werden unter dem Primat ,der Ind1^ "dualität gerade die Interessen des Kindes neu diskutiert, mit der Frdi~misse, man müsse den krank Geborenen ein Leben in Not und 1< (^ersparen. Es ist sicher typisch, daß man in der Literatur gen ^hierzu wenig tiefgründige Überlegungen findet; die wenigen Stim-'men, die auf die praktische und logische Unmöglichkeit der Bewr1^·führung hinweisen, kann man zählen. Diese zeigen immer wie?6 *·daß es nicht eine Frage einer „kindlichen", sonden eben einer so?1 '̂len Indikation ist, den Fetus vor einem elenden Leben und die an ^~ren vor diesem elenden Leben eines krank Geborenen zu bewahr6;1·Es gibt jedoch keine Diskriminanzanalyse darüber, ob auch subjer v

empfundenes Elend einen Wertungsmaßstab abgibt, anhand dessen

eine Entscheidung darüber getroffen werden soll, ob das zu er/ai>

tende Leben ein elendes oder ein glückliches sein werde.Es ist daher besonders auffallend, daß in der Medizin wieder ^le

ältesten Argumente für eine Indikationsstellung an Bodennen. Wir erinnern uns, wie von ärztlicher Seite immer wiederworden war, daß den Arzt bei der Indikationsstellung nur dietiven Wissenschaftskriterien leiten sollen. Diese waren es auch; *mit den neuen Methoden der Pränataldiagnostik ein neuesder Objektivität in die Diskussion brachten: Während noch bei er

öffentlichen Anhörung von Sachverständigen im Bundestag am

10. April 1972 die Rede davon war, bei späten Schwangerschaften* *e

Amniocentese durchzuführen, um den Frauen „das Leid eines mc0^"chen mongoloiden Kindes zu ersparen"20, so ist es inzwischen (ei^e

jedem humangenetischen Berater geläufige Alltagspraxis, daß Er-dende Mütter dies schon ihrerseits nicht mehr wollen.19 Vgl. hierzu Rüpke, Schwangerschaftsabbruch und Grundgesetz, 1965.20 Bickel, in: Bundestagsprotokoll (1972), VI/2192.

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In der nunmehr etwas über zehnjährigen Geschichte der präna-talen Diagnostik hat es zahllose Symposien, Vorträge und Publika-tionen zu diesem Thema gegeben. Für das Spannungsfeld zwischender technischen Beherrschung der Methode und der gelebtenmenschlichen Alltagssituation hat sich ergeben, daß — nach einerAnalyse der Heidelberger Humangenetikerin Traute Schröder-Kurth — „auf der einen Seite Humangenetiker, Ärzte und Beraterdurch das technisch Machbare in ihrer Rolle als Wissenschaftler undHelfer in der Not zutiefst befriedigt werden können", daß aber „aufder anderen Seite des Abgrunds die Schwangere zunächst mit über-wältigenden Informationen versorgt, dann aber in ihrer Entschei-dung für oder gegen das Austragen der Schwangerschaft unter demHinweis auf die entlastende gesetzliche Regelung des §218 alleingelassen" wird. Sie, die häufig in ihrer Beurteilungsfähigkeit über-fordert ist, bleibt die einzige, die die Konsequenzen ihrer Entschei-dung lebenslang zu tragen und in ihre Biographie einzuarbeitenhat21.

Hier greifen in aller Deutlichkeit die sozialpsychologischenVorgaben aus der Menschheitsgeschichte. Es ist unübersehbar, daßdiese neue Form der wissenschaftlichen Erkenntnis in dramatischerWeise und in kürzester Zeit die alten historischen Vorgaben wieder-belebt hat. Einerseits ist die Medizin in neuer Weise auf dem Wegezu einer positiven und negativen Eugenik und steht wieder einmalvor der Frage, ob es ihres Amtes ist, die Volksgesundheit zu bessern,indem man Genopathien ausmerzt. Andererseits wächst in der Be-völkerung mit der Möglichkeit verbesserter Diagnostik die Ableh-nung, behindertes, zumindest geistig behindertes Leben anzuneh-men, was nichts anderes ist als eben die alte, archaische Furcht desMenschen vor seiner eigenen Mißgestalt. Auch der Mensch des aus-gehenden 20. Jahrhunderts trägt in sich die Vorstellung, daß dasBöse mit dem verbildeten Körper in enger Beziehung steht; der Teu-fel hinkt, die Hexe ist bucklig, der Blöde schielt, ganz zu schweigenvon Frankenstein und allen anderen Horrorfiguren der Gegenwart22.Addiert man hinzu das Erbe des sozialen Darwinismus und des Na-tionalsozialismus, die wissenschaftlichen und politischen Diskussio-nen um organische und psychische Minderwertigkeit und alleTräume vom besseren und schöneren Menschen, so ergibt sich ein

21 Schroeder-Kurth, Indikationen zur pränatalen Diagnostik. Grundsätze und Kon-flikte, Vortragsmanuskript Münster 1983.

22 Vgl. hierzu Feja, Das Krüppelkind. Ein Beitrag zur Geschichte der Körperbehinder-tenfürsorge, med. Diss. Freiburg 1975.

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Medizin am Ungeborenen 79

Gespinst von rationalen und irrationalen Elementen in der Bewer-tung einer zu erwartenden Mangelgeburt, das von allen Beteiligtennicht übersehen werden darf.

Je mehr es die Medizin vermag, Garantien für ein gesundes,schönes und gedeihendes Kind anzubieten, um so mehr verstärktsich die Abwehr gegenüber beschädigtem und behindertem Leben,um so mehr wird das uralte Gefalle zwischen Wohlgeborenem undMindergeborenem verstärkt. Die Amniocentese ist ein hervorragen-des Instrument in der Hand des Perinatologen; die Kieler PädiaterinMarlis Tolksdorf hat kürzlich mit Recht betont, daß sie in der über-wiegenden Zahl der Fälle die Erhaltung der Schwangerschaft ermög-licht, also lebenserhaltend ist23. Andererseits beinhaltet pränataleDiagnostik immer das Angebot, sich für einen Abbruch entscheidenzu können. Die Zahlen zeigen, daß dies im Falle einer diagnostizier-ten Schädigung auch dann wahrgenommen wird, wenn ein nach denheutigen, beschützenden und fördernden Rehabilitationskriterienzwar leidvolles, aber menschenwürdiges Leben möglich gewesenwäre24.

Die Entwicklungen sind in raschem Fluß. Die pränatale Diagno-stik zielt eindeutig auf die Entscheidung über Leben und Tod des er-warteten Kindes, die neuesten Methoden der künstlichen Insemina-tion oder der Gentechnologie auf die Vermeidung beschädigten Le-bens. Beiden gemeinsam ist die ethische Grundfrage, wer und nachwelchen Kriterien das Kindeswohl bestimmt und die entsprechen-den Entscheidungen trifft. „Welche Ziele sind es, für wen werden siegesetzt", so leitet Traute Schröder-Kurth einen Fragenkatalog ein,„wie sind sie erreichbar, welche Einschränkungen werden wirksam,wem nützen sie und was richten sie an, welche Konsequenzen erge-ben sich aus einer wie auch immer festgelegten Indikationsstellungfür die Schwangeren, für die Humangenetiker, für die Gynäkologenals unmittelbar Beteiligte, für die Gesellschaft, für die Politiker, fürdie Juristen, für die Versicherungen, für das ärztliche Ethos, für dietradierten Sitten in unserer Bevölkerung und für unser Bild vomMenschen?"25

23 Tolksdorf, Ethische Probleme in der pränatalen Diagnostik, 80. Tagung der Deut-schen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Diskussionsbeitrag (Manuskript), Tübin-gen 1984.

24 Laut Auskunft der DFG-Dokumentationsstelle kam es zwischen 1970 und 1977 bei5493 pränatalen Diagnosen zu 152 Schwangerschaftsabbrüchen (2,8 %)? ähnlicheZahlen berichtet Tolksdorf (Anm. 23), aus dem eigenen Labor. Trisomien werdenpraktisch ausnahmslos abgebrochen.

25 Schroeder-Kurth(Anm.2l).

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80 Eduard Seidler

Man sollte sich gerade vor dem Hintergrund der historischenVorgaben auch heute nicht der Täuschung hingeben, man könne soetwas wie das Wohl eines Kindes kindgerecht begreifen und hierauseine begründbare Indikation ableiten, über sein Leben zu verfügen.Die Macht über Konzeption, Kontrazeption, Schwangerschafts- undGeburtsrisiken fördert vielmehr den Trend zur Negierung der natür-lichen und individuellen Konflikthaftigkeit der Fortpflanzung, insbe-sondere des offenbar immer schwerer zu ertragenden Konflikts, dieLebensumstände einer Risikoschwangerschaft unterordnen zu müs-sen. Die wachsende Unterordnung von Zeugung, Schwangerschaftund Geburt unter die Kategorien der wissenschaftlichen und sozia-len Machbarkeit desavouiert bzw. denaturiert diese Vorgänge zuvordergründigen Mechanismen.

Cyril Hegnauer hat kürzlich am Ende einer klugen Analyseüber „Recht und künstliche Zeugung" formuliert: „Heute hat derMensch als Homo faber die natürlichen Schranken, die das Men-schenbild des Eigenwertes, der Unverfügbarkeit und der Würde derPerson sicherten, niedergelegt. Wird er als Homo sapiens diesesMenschenbild bewahren können? Ohne das Gewissen sicher nicht,aber ebensowenig ohne das Gesetz"26. Gewissen und Gesetz bemes-sen sich aber — so muß hinzugefügt werden — an der Fähigkeit desMenschen, mit seiner wachsenden Selbstverfügung umgehen zu ler-nen.

26 Vgl. Anm. 1. Siehe auch Wuermeling, Zwischen Fortschritt und Sünde. Die künstli-che Befruchtung außerhalb des menschlichen Körpers, Bemerkungen zum War-nock-Bericht. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 247, vom 1.11. 1984, S. 9, 10.

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