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Antike Demokratietheorie (vorläufige Version des Kapitels „Antike“) von Michael Gerke © 2006

Antike Demokratietheorie - Polit-Bits Demokratietheorie.pdf · Verhalten zumindest von Aristoteles nicht in Abrede gestellt: schließlich sind Menschen mit freiem Willen ausgestattet9

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Antike Demokratietheorie

(vorläufige Version des Kapitels „Antike“)

von Michael Gerke

© 2006

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Antike Demokratietheorie

Inhalt:

Antike .................................................................................................................................................. 3

Epochenskizze.................................................................................................................................. 3

Demokratie und polis ....................................................................................................................... 3

Die politischen Institutionen der polis ............................................................................................. 5

Aristoteles ........................................................................................................................................... 8

Das aristotelische Menschenbild...................................................................................................... 8

Die natürlichen Gesellschaften......................................................................................................... 9

Die Selbstgenügsamkeit der polis .................................................................................................. 12

Die Bürger der polis ....................................................................................................................... 13

Die möglichen und die erstrebenswerten Verfassungen der polis ................................................. 14

Die systematisierte Empirie der Verfassungsformen..................................................................... 17

Die Monarchie............................................................................................................................ 18

Die Aristokratie.......................................................................................................................... 19

Die Politie .................................................................................................................................. 20

Die Demokratie.......................................................................................................................... 22

Die Oligarchie............................................................................................................................ 25

Die Tyrannis............................................................................................................................... 27

Nachwirkungen des Aristoteles in der (römischen) Antike ........................................................... 27

Polybios...................................................................................................................................... 28

Cicero......................................................................................................................................... 28

Fazit................................................................................................................................................... 32

Die soziologische Ebene ................................................................................................................ 32

Die ideengeschichtliche Ebene....................................................................................................... 33

Der Bürgerstatus........................................................................................................................ 33

Das Bürgersein........................................................................................................................... 34

Die Verfassungen der Bürgerschaften ....................................................................................... 36

Die „Politik“ des Aristoteles und die Gegenwart...................................................................... 37

Anhang: Schema der systematisierten Empirie der Verfassungsformen................................... 41

Erläuterungen zum Schema............................................................................................................ 42

Literatur:........................................................................................................................................... 43

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Antike

Epochenskizze

Die griechisch dominierte Antike, also die hellenistische Welt umfasste grob den Zeitraum von 500

v. Chr. bis 150 v. Chr. Die bekannte Welt umschloss die Mittelmeerküsten, den Balkan, Anatolien

und den Kaukasus, schließlich Vorderasien; klares wirtschaftliches, politisches und kulturelles

Zentrum war jedoch Athen, zeitweilig in einem (Insel-)Staatenbund rund um die Agäis. Der

Stadtstaat Athen dominierte zunächst den Mittelmeerhandel kraft seiner Flotte, musste sich jedoch

den Eroberungsversuchen der territorialen Großmacht Persien sowie seines Nachbarn Sparta

erwehren. Mit dem Sieg des makedonischen Königs Philipp dem Zweiten und den Eroberungen

seines Sohnes, Alexander dem Großen, wurde Athen zur makedonischen Provinz; die hellenistische

Welt zerfiel schließlich nach dem Tod Alexanders und Athen wurde zur römischen Provinz.

Demokratie und polis

Das aus „demos“ und „kratos“ zusammengesetzte Wort „demokratia“ tauchte erstmals bei dem

antiken Historiker Herodot um 430 v. Chr. auf. Bereits zuvor galt für die „freien Männer“ Athens

die „isonomia“, die Gleichheit vor dem Gesetz, die „isegoria“, das gleiche Recht zur öffentlichen

Rede, und es galt die „isokratia“, das gleiche Recht zur Herrschaft. Eingeführt wurden diese vor

allem auf Gleichheit der Freien beruhenden Rechte mit dem Athener Staatsmann Kleisthenes um

507 v. Chr.1

Vorläufer dieses gleichen Rechts war die so genannte „Timokratie“, die ein nach Vermögensstufen

gegliedertes Vier-Klassen-Recht vorsah. Sie entstand gut einhundert Jahre zuvor mit dem Wirken

des Staatsmanns Solon von Athen. 2

Die genannte isegoria beinhaltete nicht nur das Recht der Freien, bei einer öffentlichen

Versammlung zu reden, sondern implizit das Recht zur Gegenrede, zur „parrhesia“.3

1 Vgl. Vorländer, S. 14f.2 Vgl. ebd., S. 16f. sowie Nippel, S. 18f.3 Vgl. Hermens, S. 54. – Hermens übersetzt den Begriff mit „Redefreiheit“. Die griechische Vorsilbe „par“ hat

allerdings zwei Bedeutungen: die von „bei“ und die von „gegen“. Somit lässt sich „parrhesia“ als Freiheit zur Rede und

als Freiheit zur Gegenrede interpretieren.

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Der griechische Begriff „polis“ wird häufig ungenau mit „Stadt“ übersetzt; ungenau deshalb, weil

es zwar die etymologisch korrekte Bedeutung wiedergibt, jedoch nicht auf die kulturellen, sozialen,

politischen und wirtschaftlichen Kontexte der antiken Gemeinwesen eingeht. Die Übersetzungen

„Staat“ oder „Stadtstaat“ sind ebenfalls mit Vorsicht anzuwenden: Sie verweisen zwar auf die

genannten Kontexte, das Wort „Staat“ in seiner heutigen Bedeutung ist jedoch eine neuzeitliche

Konstruktion4.

Die polis erstreckte sich geographisch nicht nur auf eine Stadt, sondern auch auf das umgebende

Land; die athenische polis erstreckte sich demnach auf die umgebende Landschaft der Attika.

Die Bevölkerungszahlen der athenischen polis sind nur recht ungenau ermittelt, es gibt große

Schwankungsbreiten. Um das Jahr 430 v. Chr., d.h. nach zwanzig Jahren des Friedens und der

wirtschaftlichen Dominanz, lebten in Attika zwischen 250 000 und 300 000 Menschen, darunter ca.

80 000 Sklaven. 170 000 bis 200 000 Bewohner Attikas waren Erwachsene. In Athen selbst lebten

ca. 200 000 Einwohner, davon ca. 60 000 männliche Erwachsene. Mit allen Rechten ausgestattete

Bürger gab es ca. 30 000: Sie mussten erwachsene, d.h. zum Waffentragen fähige Männer sein und

Sprösslinge Athener Bürger sowohl mütterlicher- wie väterlicherseits. Eine Sonderrolle nahmen die

Metöken, d.h. die ortsansässigen handel- oder gewerbetreibenden, zugewanderten Griechen und

ihre Angehörigen ein. Sie umfassten ca. 30 000 Männer sowie vielleicht weitere 60 000 Frauen und

Kinder und galten zwar wie die Bürger als Freie, hatten jedoch keine politischen

Mitwirkungsrechte.5

Qualitativ ergibt sich so folgende Schichtung der attischen Gesellschaft6:

Bezeichnung / Berufsgruppen Merkmale

A) BÜRGER durch Abstammung definiertI. Angesehene kein Zwang zum BroterwerbII. arme Freie

Bauern, Handwerker, Kaufleute, TagelöhnerZwang zum Broterwerb

B) METÖKEN zugewanderte Freie ohne politische RechteC) UNFREIE

I. Frauen, KinderII. Sklaven

Abb. 1: Die attische Gesellschaft

4 Vgl. Sartori, S. 47 sowie S. 274f.5 Die Zahlen finden sich bei Schmidt, S. 39, bei Vorländer, S. 34 sowie bei Hermens, S. 53f. Während die

Erstgenannten sich offenbar beide auf J. Bleickens Werk „Die athenische Demokratie“ von 1994 bzw. 1995 beziehen,

nutzt Hermens ältere Quellen von 1922 und aus den 1950er Jahren. – Die Plausibilität der genannten Zahlen kann ich

nicht beurteilen; Archäologen finden allerdings Gegenstände und keine „Gebrauchsanweisungen“, die Funde bedürfen

also immer der Interpretation. Zum Geburtsrecht und Erwachsenenstatus vgl. Schmidt, S. 28.6 Vgl. Schmidt, S. 27f.

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Nicht berücksichtigt sind in diesem Schema diejenigen, die ihre Bürgerrechte verloren haben,

diejenigen, die nicht willens und fähig sind, in der polis zu leben, zusammengefasst im Begriff des

„apolites“, dessen Streben dem Streit, der Zerstörung und dem Krieg gilt.7 – In moderner

Terminologie also Verbrecher und Asoziale, die von der Gesellschaft ausgeschlossen werden.

Neben dem apolites kennt die polis noch den „idiotes“, d.h. den Menschen, der zwar Bürger ist,

jedoch sich ausschließlich mit sich, mit dem ihm Eigenen, dem Privaten beschäftigt8. Dieser

„Privatist“ – so mein Vorschlag für eine sinngemäße Übertragung auf den heutigen Sprachgebrauch

– wurde von den antiken griechischen Denkern gering geschätzt, die Berechtigung zu solchem

Verhalten zumindest von Aristoteles nicht in Abrede gestellt: schließlich sind Menschen mit freiem

Willen ausgestattet9.

Die politischen Institutionen der polis

Die den Athener Bürgern zugestandenen Prinzipien des Kleisthenes bedurften der praktischen

Umsetzung, also der Bildung von Institutionen, die entsprechendes Handeln dauerhaft

ermöglichten. Den antiken Denkern und Bürgern eröffnete sich dabei ein Gestaltungsraum:

„Zu den durchschlagenden Erkenntnissen des fünften Jahrhunderts v. Chr. zählte die

Erfahrung der Relativität des Rechts. Der n o m o s – das heißt Gesetz und Sitte, die man so

lange als unveränderlich und von den Göttern vorgegeben angesehen hatte – erwies sich als

von den Menschen selbst gemacht.“ (Herv. im Orig.)10

Traditionell, d.h. zu Zeiten Solons, wurde die polis vom areopag, einer Versammlung von neun

Aristokraten regiert – auch das bereits eine Abkehr von der Herrschaft im Namen eines Einzelnen.

Neben der Überwachung der Verwaltung, also der Amtsinhaber, oblag den „archonten“ das Urteil

über die Verhängung der Todesstrafe, allerdings eingeschränkt durch ein kodifiziertes Recht. In der

Volksversammlung, der „ekklesia“, war das Stimmrecht an das Einkommen gekoppelt, sie stand

jedoch jedem Freien offen; sie bildete die Legislative der polis. Die Judikative schließlich wurde

durch geloste Laienrichter ausgeübt; ihre Tätigkeit war allerdings, wie gezeigt, eingeschränkt. Die

7 Vgl. Bien, S. 41.8 Vgl. Sartori, S. 282 und Anm. 22, S. 523; Letztere verweist auf die Verwandtschaft mit dem Wort „Idiot“.9 Vgl. Aristoteles, Politik, VII 3 (kurz für: VII. Buch, 3. Kapitel). Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Philosoph

schätzt nicht diejenigen gering, die keine „Muße“ haben, da sie sich unablässig um ihren Lebensunterhalt kümmern

müssen, sondern diejenigen, die diese haben, sich jedoch trotzdem nicht um die Staatsangelegenheiten kümmern (vgl.

ebd., VII 9).10 Nippel, S. 24.

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Amtsgeschäfte waren das Metier des „Rates der Vierhundert“, der solonischen „bule“; Amtsinhaber

konnten nur Angehörige der oberen Vermögensklassen werden. 11

Ab 507 v. Chr. begann mit Kleisthenes, einem archon wie Solon, die Entwicklung eines

wohlgeordneten Institutionengefüges.

Die in institutioneller Hinsicht herausragende Leistung Kleisthenes’ liegt in einer Neuordnung des

Gemeindewesens, also der athenischen polis. Grundlage des Gemeinwesens wurden die „demen“,

d.h. die dörflichen Gemeinschaften des Binnenlandes und der Küsten Attikas sowie die Stadtbezirke

Athens. Sie wurden zu je zehn „trittyen“ zusammengefasst, wobei ihr jeweiliger Anteil an Bürgern

durch in den demen erstellte Listen berücksichtigt wurde. Aus den trittyen wiederum wurden

insgesamt zehn topographisch paritätisch besetzte „phylen“ gebildet. Die phylen wurden nun

jeweils von fünfzig Delegierten im von Kleisthenes geschaffenen „Rat der Fünfhundert“ vertreten.

Im Gegensatz zur solonischen bule war die Mitgliedschaft nicht mehr an Vermögen geknüpft, und

die von den demen über die phylen entsandten Vertreter wurden per Los oder Wahlentscheid

ermittelt, ihre Amtszeit betrug ein Jahr. Die Aufgabe des Rates bestand in der Vorbereitung der

Tagesordnungen für die Volksversammlung sowie der Abgabe von Empfehlungen. Eine der phylen

wurde für ein Zehntel des Amtsjahres zur geschäftsführenden ernannt, dort täglich (!) ein Vorsteher

für den Rat und zugleich der Versammlung.12

In der Volksversammlung galten schließlich die bereits angesprochene isonomia, die isegoria und

die isokratia, d.h. jeder Freie, insbesondere auch arme Freie, konnte nunmehr nicht nur teilnehmen,

sondern auch gleichberechtigt abstimmen. 13

Zudem wurde das so genannte Scherbengericht, der „ostrakismos“, eingeführt: Auf mehrheitlichen

Antrag konnte es einmal pro Jahr einberufen werden, um über die zehnjährige Verbannung eines

politischen Führers zu urteilen. Zur Verurteilung kam es, wenn die Mehrheit von mindestens 6 000

Tonscherben den eingeritzten Namen des Angeklagten trug, wobei jeder Bürger eine Scherbe, also

eine Stimme abgeben durfte. – Das Scherbengericht wie auch die Möglichkeit, Klage zu erheben

gegen einen Antragsteller aus dem Rat oder der Versammlung, dessen Antrag zu mit den Gesetzen

nicht zu vereinbaren Beschlüssen geführt hatte, sollte die demokratia vor Aufwieglern schützen. 14

11 Vgl. Vorländer, S. 16f., Hermens, S. 52f., Nippel, S. 19. Die Zahlenangabe beim „Rat der Vierhundert“ bezieht sich –

anders als bei dem späteren der „Fünfhundert“ – nicht auf die Teilnehmer, sondern ihre Einkünfte, gemessen in

Einheiten von Getreide.12 Vgl. Vorländer, S. 17f. und S. 21f.13 Vgl. ebd., S. 20.14 Vgl. ebd., S. 25. Schmidt weist darauf hin, dass von der öffentlichen Anklage auch gewerbsmäßig Gebrauch gemacht

wurde: Sykophanten erhoben sie und wurden bei Angelegenheiten öffentlichen Interesses entlohnt (Schmidt, S. 36).

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Die bereits aus Solons Zeit bekannten Laiengerichte, die „Dikasterien“ bestanden weiterhin: Jeder

mindestens dreißigjährige Freie konnte zum Richteramt gelost werden. In Prozessen des

Privatrechtes urteilten dabei 200 oder 400 Richter, in öffentlichen Angelegenheiten 500 Richter

oder ein Vielfaches davon; für eine einjährige Amtszeit wurden insgesamt 6 000 Richter gelost.15

Die Oberaufsicht über die Führung der polis und die Verhängung von Todesurteilen waren jedoch

weiterhin Aufgaben des areopag. Erst ab 462 v. Chr. war der areopag entmachtet, die bule, also der

Rat der Fünfhundert, im Gegenzug aufgewertet und die zuständige dikasteria auch mit der

Verhängung von Todesurteilen betraut worden16. Zudem wurden Diäten, also Entschädigungen für

die Teilnahme an Prozessen und an der Volksversammlung eingeführt, sodass auch arme Freie,

ohne ihren Lebensunterhalt zu gefährden, an den Gremien teilnehmen konnten17.

Ab 403 v. Chr. schließlich wurde die Legislative um die Institution der „Nomotheten“, der

„Gesetzersteller“ erweitert: Sie wurden aus dem Kreise der Richter bestimmt, durften Gesetze

beschließen, die nicht von der Volksversammlung bestätigt werden brauchten und sollten die

bestehenden Gesetze sammeln und aufschreiben. Die ekklesia konnte danach nur zweitrangige

Gesetze erlassen. Die Möglichkeit der Klage wegen Nicht-Vereinbarkeit eines Beschlusses mit

bestehenden Gesetzen, die „graphe paranomon“, mit der Folge der Bestrafung des Antragstellers

und der Erklärung der Nichtigkeit des Beschlusses, bestand weiterhin. 18

Zusammengefasst gab es folgende politische Institutionen der attischen polis im 4. Jhd. v. Chr.:

Legislative Exekutive Judikative

Demenerstellen Bürgerlisten

EkklesiaVerabschiedet Gesetze

alle Bürger gleichberechtigt

Rat der Fünfhundertberät über Tagesordnung derekklesia, gibt Empfehlungen

Dikasterienurteilen spezialisiert in privaten

und öffentlichen Angelegenheiten

NomothetenVerabschieden vorrangige

Gesetzewerden aus Richterkreis

bestimmt

(Verwaltung)hauptsächlich geloste Amtsträger

graphe paranomonKlagerecht jedes Bürgers gegen

gesetzwidrige BeschlüsseOstrakismos

Verbannungsrecht der Mehrheitder Bürgerschaft

Abb. 2: Politische Institutionen der polis

15 Vgl. Vorländer, S. 22.16 Vgl. ebd., S. 19.17 Vgl. ebd., S. 20.18 Vgl. ebd., S. 24f.

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Aristoteles

Biografisches: geb. 384 v. Chr. in Stageira auf der Halbinsel Chalkidike; 367 v. Chr. Schüler in

Platons Athener „Akademie“; 347 v. Chr. Tod Platons und Versuch, eine zweite platonische Schule

bei Troja an den Grenzen des Persischen Reiches zu gründen, schließlich Flucht vor den Persern;

343 v. Chr. Lehrer des Prinzen Alexander des Großen am makedonischen Hof; 335 v. Chr.

Gründung einer eigenen Schule, dem Lykeion, im selbst verwalteten, jedoch makedonisch

beherrschten Athen; 323 v. Chr. Flucht aus Athen nach dem Tod Alexanders, aus Furcht als

„Makedonierfreund“ verurteilt zu werden; gest. 322 v. Chr. in Chalkis auf Euböa.

Als herausragender politischer Denker in politikwissenschaftlicher Hinsicht wird für die Antike der

Philosoph Aristoteles ausgewählt. Er wird gerne als Begründer der Politikwissenschaft verstanden,

da er Methoden anwendete, die bis heute in der Disziplin vertreten sind und Systematiken entwarf,

auf die politische Denker bis zur Gegenwart immer wieder zurückgegriffen haben. Dennoch sollte

man mit dieser Charakterisierung vorsichtig sein: das Verständnis des Aristoteles von Wissenschaft

unterschied sich grundlegend von heutigen und die „politische Philosophie“ des Stageiriten stand in

einem grundlegend anderem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Teilbereichen, die heute

unterschieden werden. So ist seine „Politik“, dargestellt in den acht gleichnamigen Büchern,

untrennbar verbunden mit Aristoteles’ Ethik, den zehn Büchern der „Nikomachischen Ethik“.

Das aristotelische Menschenbild

Für Aristoteles ist der Mensch sowohl Lebewesen in der Natur als auch ein darüber spezifisch

hinausgehendes: er ist sprach- und insbesondere vernunftbegabt.19 Die Vernunftbegabtheit des

Menschen, sein Wesen als „zoon logon echon“, äußert sich in erkennender Tätigkeit: zum einen im

Erkennen des Guten und Gerechten, zum anderen im Kundtun des Erkannten20. Der Philosoph

nimmt zudem an, dass alles Seiende, also auch der Mensch, nach spezifischer Vollkommenheit

strebt. – Das aristotelische Weltbild ist somit sowohl ein teleologisches, d.h., es wird unterstellt, ein

Ziel, ein telos, werde angestrebt, als auch ein optimistisches: Das Ziel heißt Vollkommenheit, nicht

etwa Zerstreuung und Verfall.21 Angewandt auf den Menschen bedeutet das, dass dieser – so er im

19 Vgl. Roth, Aristoteles, S. 41 und Holz, S. 42f.20 Vgl. Kamp, S. 49.21 Vgl. Holz, S. 46-52.

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Einklang mit seiner Bestimmung handelt – nach dem Schönen und Guten, nach „kalon“ und

„agathon“ strebt.22 – Das Schöne, kalon, muss dabei sowohl in der Bedeutung von „ästhetisch“ als

auch von „angenehm“ verstanden werden: ausdrücklich bezieht Aristoteles äußere Lebensumstände

wie z.B. relativen Wohlstand mit ein.

Das Verhältnis von individuell gegebenem Maß erreichbarer Vollkommenheit und dem Grad seiner

Verwirklichung ist dabei entscheidend für ein geglücktes Leben, ein in diesem Sinne

„eudaimonisches“. – Deutlich wird in dieser Konzeption zweierlei: Es gibt nicht ein universales

Ziel für alle Menschen, sondern je nach individuellen Anlagen und Lebensbedingungen

verschiedene; das Lebensprinzip aller Menschen ist jedoch das Streben nach einem geglückten

Leben. 23

Wie findet der vernunftbegabte Mensch nunmehr seine Vollkommenheit, wie erkennt er das

Erstrebenswerte? Indem er das Mittlere zwischen Extremen, zwischen jeweiliger Unzulänglichkeit

und jeweiligem Übermaß, sucht, ist die Antwort des Aristoteles.24

Die natürlichen Gesellschaften

Neben der Sprach- und Vernunftbegabtheit ist dem Menschen das Leben in Gesellschaften

spezifisch: er ist ein „zoon politikon“25. Dieses Leben ist jedoch keinesfalls nur ein

zweckgebundenes aufgrund der Schwäche des Individuums gegenüber einer feindseligen Umwelt;

22 Vgl. ebd., S. 63f. „Wo bleibt das Wahre?“, mag der philosophisch interessierte Leser fragen. Die Antwort: Es zeigt

sich im Schönen und Guten und ist durch Anwendung der Verstandes- (dianoetischen), darunter den ethischen

Tugenden erkennbar sowie verwirklichbar (siehe Roth, Aristoteles, S. 40f.). Eine genaue – sich allerdings an einen

philosophisch versierten Leser wendende – Rekonstruktion der aristotelischen Systematisierung findet sich bei: Kamp,

S. 77-88. Für einen eingehenden Überblick zur aristotelischen Philosophie siehe Hirschberger, S. 161-242.23 Vgl. Holz, S. 67-70 sowie S. 72-74.24 Vgl. Roth, Aristoteles, S. 41. Es gibt nach Aristoteles jedoch auch in sich schlechte Taten wie Ehebruch, Diebstahl

und Mord, bei denen das Suchen des Mittleren nicht zur guten, zur erstrebenswerten Tat führt (Aristoteles,

Nikomachische Ethik, II 6 1107a 9-28.).

Gemäß einer international beachteten Konvention werden Schriften des Aristoteles nach einer allgemein anerkannten

Übersetzung von I. Bekker zitiert: Nach Autor und Werk folgt in römischen Ziffern das Buch und in arabischen das

Kapitel des Werks, dann die Seitenzahl der Übersetzung, angehängt wird ein „a“ bzw. „b“ für die rechte bzw. linke

Spalte der Seite, schließlich die Zeilennummer; Zitate können so Sprachen übergreifend identifiziert werden. – Die hier

verwendete Ausgabe bietet allerdings nicht immer eine zeilengenaue Zuordnung; ich verwende sie, da ich nicht eine

(Neu)Interpretation des Originaltextes beabsichtige, sondern die Eigenart der aristotelischen praktischen Philosophie

nachvollziehbar zeigen will und die Ausgabe vergleichsweise leicht verfügbar ist.25 Vgl. Roth, Aristoteles, S. 41.

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Letzteres entspräche nach einem Wort Platons bloß einer „Schweine-Polis“26. Eine aristotelische

polis hingegen ist

„eine Gemeinschaft, die gleichsam das Ziel vollendeter Selbstgenügsamkeit erreicht hat, die

um des Lebens willen entstanden ist und um des vollkommenen Lebens willen besteht.“27

– Die aristotelische polis ist also zuvorderst der Ort, an dem sich der Zweck menschlichen Lebens

realisiert, erst in untergeordneter Hinsicht ein Wirtschafts- oder Wehrverband 28. Die aristotelische

Wesensbestimmung des Menschen, also das telos des Menschen als Menschen, schließt die polis

ein, wie A. Kamp erläutert:

„Als Zoon Logon echon ist der Mensch Zoon politikon und die Polis ist der Handlungsraum,

in dem der als Phronesis [also: praktische Klugheit oder Einsicht; M.G.] zu begreifende

spezifisch menschliche Logos des Guten, Gerechten etc. vollendet wirklich wird.“29

Da sie das Ziel darstellt, muss es, ausgehend vom einzelnen Menschen, mehrere Konstituenten der

polis geben. Diese beschreibt Aristoteles als die natürlichen Gesellschaften des Hauses, des „oikos“

sowie des Dorfes, in der bisher verwendeten Terminologie: der deme.

Der oikos besteht aus der ehelichen Gemeinschaft zum Zwecke der Fortpflanzung wie auch der

Liebe, der elterlichen Gemeinschaft zur Erhaltung wie auch der Erziehung der Kinder sowie der

herrschaftlichen Gesellschaft von Hausherr und Hausdiener bzw. Sklave zur Erhaltung beider und

zum „schönen Leben“ (siehe oben) des Hausherrn samt seines Hauses. Beide Momente von

Natürlichkeit im aristotelischen Sinn werden in den Teilgesellschaften deutlich: Sie sind einerseits

funktional notwendig, andererseits verweisen sie in ihrer Existenz bereits auf das den Menschen

gegebene telos.30

26 Vgl. Nippel, S. 24.27 Aristoteles, Politik, I 2, 1252b 27-30; siehe auch Bien, S. 39.28 Vgl. Aristoteles, Politik, III 9 1280b 30 - 1281a 4 sowie Kamp, S. 61.29 Kamp, S. 87.30 Vgl. Bien, S. 38-40 und S. 42. Bien gibt in Paraphrase die aristotelische Definition von Natur, die lautet: „Denn die

Beschaffenheit, die ein jedes Ding beim Abschluss seiner Entstehung hat, nennen wir die Natur des betreffenden

Dinges, ... . Auch ist der Zweck und das Ziel das Beste; ... .“ (Aristoteles, Politik, I 2 1252b 35ff.)

Im höchsten Maße angreifbar erscheint aus heutiger Sicht sicher die Definition des Sklaven als „beseeltem Werkzeug“,

welches ohne seinen Herrn nicht sein kann, dem jedoch, sofern es Mensch ist, ein Restmaß an Würde zukommt (vgl.

Bien, S. 46-50). Aus heutiger Sicht nicht zu rechtfertigen, jedoch zu rekonstruieren ist die aristotelische Sichweise aus

drei Perspektiven: einer werkimmanent philosophischen, einer philosophie- bzw. ethikgeschichtlichen sowie einer

wirtschaftshistorischen. A. Kamp erläutert die Übereinstimmung der Definition des Sklaven mit dem Menschenbild des

Philosophen: Die spezifisch menschliche Fähigkeit der phronesis kommt demnach nicht allen menschlichen Wesen

unterschiedslos zu; es gibt Menschen, die zwar insoweit für die Einsicht in das Gute empfindsam sind, dass sie nach

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Anders als in der polis dominiert im oikos die Notwendigkeit, das Haus ist zunächst eine

Wirtschaftsgemeinschaft; der oikos ist also ein eigenständiger, jedoch notwendiger Teil der polis 31.

Durch die Dominanz des Notwendigen unterscheiden sich Machtverhältnisse im Haus grundlegend

von denen in natürlichen politischen Gemeinschaften bzw. wünschenswerten Verfassungen (siehe

unten). So ist das Haus geprägt durch despotische Herrschaftsverhältnisse, während

wünschenswerte Gemeinwesen politisch regiert werden. 32

Das Dorf ermöglicht als Zusammenschluss mehrerer Häuser bereits längerfristige natürliche

Gesellschaften, einerseits zum Austausch lebensnotwendiger Güter und zur Pflege

freundschaftlicher Geselligkeit, andererseits auch zur Ehrung der Götter, also einerseits des

„schönen“, andererseits des „guten“ Lebens.33

entsprechender Anleitung ihr gemäß handeln können, jedoch nicht selbst über sie verfügen. Diese „Sklaven“ brauchen

daher „Herren“, die sie zum beiderseitigen Wohl leiten. (Vgl. Kamp, S. 90-95.) – Obwohl keinesfalls mit heutiger

Wissenschaft gleich zu setzen, mag man in der aristotelischen „Seelenlehre“ durchaus einen Kern finden, der mit

Kohlbergs Untersuchungen zur Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit von Kindheit bis Erwachsensein

übereinstimmt: „Sklaven“ wären nach dieser Lesart dann Menschen mit defizienter Moralentwicklung bzw., in der nicht

wertenden Klassifizierung des amerikanischen Psychologen, Menschen mit präkonventionellem Moralbewusstsein

(siehe Kohlberg). Hinzuweisen bleibt zudem auf das Moment der Restwürde von Sklaven: im Gegensatz zu den

Apoliten (siehe oben) sind sie zumindest Teil des oikos, um das sich der Hausherr zu kümmern hat. Aus

ethikgeschichtlicher Sicht lässt sich festhalten, dass Aristoteles in der vorstoischen und insbesondere vorchristlichen

Antike lebte und, anders als sein Lehrer Platon, die Welt nicht in einem anzustrebenden Näherungsprozess an einen

perfekten Ideenkosmos sah, sondern die Prinzipien bereits mit der Welt gegeben. Die von Marxisten später als

„Sklavenhalterordnung“ klassifizierte Antike sollte in der Sicht des Aristoteles also nicht überwunden, sondern in

ethischer Hinsicht vervollkommnet bzw. vollendet werden. Auch aus wirtschaftshistorischer Sicht sollte man sich vor

Vor(ver)urteil(ung)en hüten: Soweit erforschbar, musste sich der Alltag von Sklaven und armen Freien nicht

grundsätzlich unterscheiden: Auch Sklaven durften und konnten sogar weitgehend selbstständig Facharbeiten

ausführen, unterschieden sich also von Freien allein durch ihre rechtliche Stellung (siehe Finley, S. 65-107 sowie –

eingebettet in die historisch-materialistische Weltsicht – Ebert u.a.).31 Vgl. Maier, S. 114-118. Mit der Kennzeichnung des oikos als eigenständigen Bereich der polis wendet sich

Aristoteles gegen die platonische Verschmelzung der Bereiche, die zu „Gemeineigentum“ an Frauen, Kindern und

Gütern führt; nach Aristoteles wird so aber gerade das über die Notwendigkeit hinausgehende Moment der natürlichen

Gemeinschaft des oikos, die Liebe und die Freundschaft, zerstört – mit fatalen Folgen für die polis.32 Vgl. Maier, S. 103-114.33 Vgl. Bien, S. 39.

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Die Selbstgenügsamkeit der polis

Da die polis die vollendete Lebensform des Menschen und damit der menschlichen Gemeinschaft

darstellt, muss sie sich selbst genügen, autark sein. Die Autarkie erstreckt sich auf alle Dimensionen

des gesellschaftlichen Lebens, also der wirtschaftlichen, der kulturellen und der politisch-religiösen.

– Die Verbindung von Religion und Politik scheint zunächst ungewöhnlich, ordnet man Erstere

heutzutage doch der kulturellen Sphäre zu. Für Aristoteles als einem Denker der Antike gibt es

allerdings die Trennung von Politik und Religion nicht: Die höchsten Ämter der polis sind der

Ausführung religiöser Zeremonien gewidmet34; die Beziehungen zwischen Götterfamilie und der

Gemeinschaft der polis werden durch diese sozusagen „autoritativ“ geregelt, d.h., es werden nicht

nur kulturelle Bräuche gepflegt, sondern verbindliche und in diesem Sinne „politische“

Entscheidungen getroffen.

Die wirtschaftliche Autarkie wird in der polis hauptsächlich durch die Häuser, im abnehmenden

Maße auch durch die Dörfer und das Stadtgebiet, in dem (Außen)Handel getrieben wird, garantiert.

Für die kulturelle Selbstgenügsamkeit sorgen Dörfer und Stadtgebiet, für die politisch-religiöse

schließlich das Stadtgebiet. – Es wird somit deutlich, dass die polis eine vielfältige Einheit darstellt,

deren verschiedene Teile alle notwendig sind. In den Worten des Philosophen:

„Das Haus ist sich mehr genug als das Individuum und der Staat mehr als das Haus, und er

will erst dann wirklich ein Staat sein, wenn die Gemeinschaft der Menge dahin gelangt, sich

selbst zu genügen.“35

Zur Autarkie gehören zudem bestimmte Randbedingungen. So muss die polis frei – souverän – sein,

eine geknechtete kann nicht autark sein36. Sie muss über eine Mindestanzahl von Bürgern verfügen,

„die hinreicht, um sich selbst zum Leben zu genügen“37 und die Bürger – oder ihre „beseelten

Werkzeuge“, d.h. ihre Sklaven – müssen funktional notwendige Arbeiten erledigen können38.

34 Vgl. Aristoteles, Politik, VI 8 1322b 17-28.35 Ebd., II 2 1261b 12ff. – Der Begriff „Individuum“ in der Übersetzung für den „Einzelnen“ hat für Aristoteles nur in

einem Fall die Konnotation des „Vereinzelten“: dem Fall des apolites (vgl. Kamp, S. 179 Fn. 11).36 Vgl. Aristoteles, Politik, IV 4 1291a 7ff.37 Ebd., III 1 1275b 21ff. Zur minimalen oder maximalen Größe einer Polis ist viel, darunter viel Unsinniges

geschrieben worden. Festzuhalten bleibt, dass Größe für Aristoteles qualitativ-funktional bestimmt ist, nicht quantitativ;

die Quantität ist gleichsam Mitfolgendes (vgl. Kamp, S. 160 Fn. 31 sowie seine Diskussion des „Was-Seins“ der polis,

ebd., S. 155-162). Die Bürgerschaft, also der Teil der Bevölkerung, der an der Regierung und den Gerichten teilnehmen

darf (siehe unten), muss wie folgt funktional begrenzt werden: „Um aber Rechtsverhältnisse zu entscheiden und Ämter

nach Verdienst zu vergeben, müssen die Bürger sich gegenseitig nach ihren Eigenschaften kennen, ... .“ (Aristoteles,

Politik, VII 4 1326b 14-17) – Die Einschränkung „nach ihren Eigenschaften“ verweist wiederum auf das qualitative

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Die Autarkie der polis enthält zwingend auch eine ethische Komponente: Soll sie die Vollendung

der menschlichen Existenz darstellen, und ist das Ziel des Menschen das geglückte Leben, die

eudaimonia, so muss die polis die eudaimonia ermöglichen. Eine auch in ethischer Hinsicht autarke

polis ist daher eine, die ihren Bürgern ein Mindestmaß an Muße ermöglicht, um die Tugenden zu

erlangen, die ihrerseits erst ein schönes und gutes Leben ermöglichen39. Sie muss daher auch eine

gegenüber anderen friedliebende sowie im Innern friedliche sein40.

Die Bürger der polis

Was macht den Menschen zum Teil der polis, zum Bürger? – Der Wohnsitz ist es nicht, wie

Aristoteles ausführt41. Auch rechtliche Gleichheit ist es nicht42.

„[W]em es nämlich zusteht, an der beratenden oder richterlichen Gewalt teilzunehmen, den

nennen wir daraufhin einen Bürger seines Staates und Staat nennen wir, um es einfach zu

sagen, die Gesamtheit der Genannten, die hinreicht, um sich selbst zum Leben zu

genügen.“43

Die Gewalten können verschieden gestaltet sein, es können eine Judikative oder eine Legislative

oder eine Exekutive vorhanden sein, an der ein Bürger teilnehmen kann. Für diese Fälle spricht der

Philosoph von „Teilnahme an dem Gerichte und der Regierung“44. – Der Bürger der polis definiert

sich also funktional durch sein Teilnahmerecht an staatlichen Institutionen.

In Hinsicht auf das menschliche telos allerdings muss die Eigenschaft des Bürgerseins noch

differenziert werden. Demnach bemisst sich der Grad des Bürgerseins am Grad der Fähigkeit zur

Moment; eine quantitative Limitierung mit der Begründung, Bürger müssten quasi eine dörfliche Gemeinschaft bilden,

wo jeder jeden kennt, halte ich daher für unsinnig.38 Vgl. ebd., IV 4 1291a, wo die in einer polis notwendigen Funktionen genannt und auf eine arbeitsteilige Gesellschaft

angewendet werden.39 Vgl. ebd., VII 13. Das gesamte siebente Buch der Politik enthält den Entwurf einer besten polis, der jedoch nicht von

Bestehendem ausgeht – wenn auch immer wieder Reales als Vergleich oder Anschauung dient. Die gemachten

Vorschläge sind daher begründete Forderungen für eine ihr und damit menschliches telos verwirklichende polis, nicht

notwendige Bedingungen für existierende oder denkmögliche Gemeinwesen.40 Vgl. ebd., VII 14 1333a 30 - 1333b 4 sowie ebd., VII 1333b 38 - 1334a 6.41 Vgl. ebd., III 1 1275a 6ff.42 Vgl. ebd., III 1 1275a 8-23.43 Ebd., III 1 1275b 17-23.44 Ebd., III 1 1275a 23-33.

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phronesis, d.h. dem einsichtsbasiert tugendhaften Handeln. So erklärt sich das Vorhandensein

sowohl von Bürgern wie Nicht-Bürgern in der polis als auch von für die polis aktiven, regierenden

bzw. herrschenden Bürgern und passiven, regierten bzw. beherrschten in der Bürgerschaft. –

„Regierung“ verweist im Sprachgebrauch des Aristoteles auf mehr oder weniger gute, politische

Machtverhältnisse und ­ausübung, „Herrschaft“ auf mehr oder weniger verwerfliche, despotische.45

Die möglichen und die erstrebenswerten Verfassungen der polis

Nachdem die Bestimmungen des Menschen und seine Gemeinschaften einschließlich der polis

ermittelt worden sind, geht es für Aristoteles um eine detaillierte Beschreibung der möglichen und

der erstrebenswerten Ordnungen der polis. Diese aber sind ihre Verfassungen:

„Die Verfassung ist jene Ordnung für die Staaten, die sich auf die Magistraturen bezieht, die

Art ihrer Verteilung regelt und bestimmt, welches der herrschende Faktor im Staat und

welches das Ziel der jeweiligen politischen Gemeinschaft ist ... .“46

– In moderner Terminologie ausgedrückt, geht es also um eine Institutionenlehre47, die sowohl

Exekutive wie auch Legislative und Judikative berücksichtigt, um den Zugang zu diesen, ihre

jeweiligen checks and balances, insoweit also um eine Gewaltenverteilung und schließlich die

Festlegung eines grundlegenden Staatszieles.

Ein verfassungsmäßiger Staat ist zugleich immer ein Staat des Rechts, d.h. einer in dem je nach Art

der Verfassung bestimmte Gesetze gelten, die dieser notwendig untergeordnet sind:

„ ... die Gesetze müssen sich nach den Verfassungen richten ..., nicht die Verfassungen nach

den Gesetzen. [...] [D]ie Gesetze aber sind es, die, gesondert von jenen

45 Vgl. das Schaubild bei Kamp, S. 171 sowie die gesamte Diskussion des Bürgerbegriffs und seinen Implikationen für

das Regieren bzw. Herrschen in einer polis (ebd., S. 132-209). Maier diskutiert ebenfalls die rechtliche Stellung des

Bürgers im Gegensatz zu seinem auf Einsicht beruhenden Bürgerseins; sie summiert jedoch beides unter dem Begriff

„Bürgerstatus“ (vgl. Maier, S. 124-130 sowie S. 145-148). – Ich bezeichne die zugewiesenen Berechtigungen als

„Bürgerstatus“, die mit der jeweiligen Einsicht einhergehende Eigenschaft des Einzelnen als „Bürgersein“ (siehe unten,

Fazit).46 Aristoteles, Politik, IV 1 1289a 15ff.47 Kamp weist darauf hin, dass es Aristoteles nicht um die Definition von Institutionen als solchen geht, sondern sie

immer im Hinblick auf die sie Konstituierenden, die Bürgerschaft(en) zu sehen sind (vgl. Kamp, S. 141-150). – Insofern

geht es dem Philosophen nicht um das empirische Erfassen von Machtverhältnissen und ihren Funktionen, sondern um

ihre Begründung aus – wiederum – der Erkenntnis des Wesens des Menschen als Menschen. Der von mir gewählte

Begriff „Institutionenlehre“ im Gegensatz etwa zu Institutionendarstellung oder -schau soll diesen Sachverhalt

zumindest anklingen lassen.

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Verfassungsbestimmungen die Norm abgeben, nach der die Regierenden regieren und den

Übertretern wehren sollen.“48

Wünschenswert ist darüber hinaus, dass die geltenden Gesetze „reine, begierdelose Vernunft“49

darstellen, was aber keinesfalls so sein muss – das Problem des so genannten Rechtspositivismus

war offensichtlich bereits dem antiken Philosophen bekannt 50. Zudem können Gesetze nicht

Entscheidungen ersetzen, wie Aristoteles am Beispiel der Judikative verdeutlicht51.

Um die möglichen Verfassungen zu charakterisieren, gebraucht Aristoteles zwei Kriterien. Das eine

– wenn man so will, auf das logisch strukturierte, somit erkennbare Sein, die Ontologie gerichtete –,

ist die Zahl der Machthabenden: Es kann deren einen, eine Minderheit oder eine Mehrheit geben.

Das andere Kriterium ist ein ethisches – ein normatives, wie man sagen kann –: Machthabende

können zum gemeinen Wohl oder zum eigenen Vorteil regieren. 52 – Die letztgenannten Kategorien

sind dabei einander ausschließende, d.h., dass zum Beispiel ein zu seinem und zugleich dem Vorteil

seines Volkes herrschender König als zur ersten Kategorie gehörig klassifiziert würde.

Mit diesen Kriterien entwickelt der Philosoph das Schema der möglichen Verfassungen, deren

letzte drei Entartungen der richtigen ersten drei darstellen. Neben Monarchie, Aristokratie und

48 Aristoteles, Politik, IV 1 1289a 14f. und 18f.49 Ebd., III 16 1287a 31.50 Es muss noch einmal betont werden, dass Aristoteles „Gesetztes“ ohne Vernunft, ohne Bezug zur Gerechtigkeit nicht

als Teil einer Ordnung, einer Verfassung gesehen, es vielmehr als Kennzeichen eines entarteten, in diesem Sinne

widernatürlichen Gemeinwesens (siehe unten) klassifiziert hat: „Die Gerechtigkeit aber, der Inbegriff aller Moralität, ist

ein staatliches Ding. Denn das Recht ist nichts anderes als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung,

und eben dieses Recht ist es auch, das über das Gerechte entscheidet.“ (Aristoteles, Politik, I 2 1253a 38ff.)

In Verbindung mit den Sätzen: „Hieraus erhellt auch, daß ein Staat, der in Wahrheit diesen Namen trägt und nicht bloß

so genannt wird, sich die Pflege der Tugend angedeihen lassen muß. Denn sonst würde die staatliche Gemeinschaft zu

einer bloßen Bundesgenossenschaft werden ..., und das Gesetz würde ein bloßer Vertrag und ... nur ein Bürge der

gegenseitigen Gerechtsame [also sinngemäß: ein Garant gegenseitiger Vertragstreue; M.G.], wäre aber unvermögend,

die Bürger gut und gerecht zu machen“ (ebd., III 9 1280b 6-13), wird zudem deutlich, dass einem allein auf Vertrag

basierenden Recht, sei es als eine Art institutionalisiertem Waffenstillstand, sei es aufgrund von Nutzenkalkülen

zustande gekommen, nicht die Legitimität zukommt, die Aristoteles für staatliche Gesetze fordert. – E. M. Maier

begründet den Gedanken mit Rückgriff auf das aristotelisch-teleologische Weltbild und dessen systematischer

Definition der praktischen Philosophie und wendet ihn explizit auf die Verfassung der Politie an (vgl. Maier, S. 87-92

sowie S. 156ff.).51 Vgl. Aristoteles, Politik, III 16 1287b 15-23.52 Vgl. ebd., III 7.

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Politie sind so Tyrannis, Oligarchie und Demokratie möglich. 53 Die wünschenswerteste stellt dabei

die Monarchie dar, der die Aristokratie und die Politie folgen; die erträglichste der verwerflichen ist

die Demokratie, deren schlimmste die Tyrannis.54 Monarchie und Aristokratie wollen zudem „auf

der Tugend fußen, die auch die äußeren Mittel besitzt“55.

Für die entarteten Verfassungen der Oligarchie und der Demokratie gilt, dass der ursächliche

Unterschied auf dem relativen Wohlstand der Herrschenden beruht, ihre Zahl ist zunächst nur ein

empirisch Gegebenes, ein Mitfolgendes. Jedoch reicht dieses Kriterium nicht, man muss die Zahl

der Herrschenden ebenfalls berücksichtigen, da es, wie Aristoteles an empirischen Beispielen zeigt,

sowohl eine herrschende Minderheit von Armen als auch eine herrschende Mehrheit von Reichen

geben kann und weder das eine noch das andere eine Demokratie darstellt.56 Genau definiert

„hat man Demokratie, wenn die armen Freien als Majorität im Besitze der Herrschaft sind,

und Oligarchie, wenn die Reichen und Edleren als Minorität sie haben.“57

Mehrheitsentscheidungen sind im Übrigen verfassungsneutral, d.h. sowohl in der Aristokratie, der

Oligarchie und der Demokratie finden sich Mehrheitsentscheide der jeweils Gleichen, die

herrschen. 58

Das folgende Schaubild zeigt die sechs möglichen und drei wünschenswerten Verfassungen:

Möglich: einer eine Minderheit eine Mehrheit regiert/herrscht

Zum gemeinen NutzenKönigtum

BesteAristokratie Politie

am wenigsten gute Wünschenswert

Zum eigenen Vorteil

Tyrannis

Übelste

Oligarchie(Reiche)

Demokratie(arme Freie)

am wenigsten üble VerwerflichAbb. 3: Das Schema der Verfassungen nach Aristoteles

Die Art der Verfassung bzw. ihr Zustandekommen ist bedingt durch die Bevölkerung des jeweiligen

Gemeinwesens, genau: ihre Bürger, insbesondere ihrer politischen Kultur; mit den Worten des

Philosophen: von der Natur der Menge.59

53 Vgl. Aristoteles, Politik, III 7.54 Ebd., IV 2 1289a 38 - 1289b 4.55 Ebd., IV 2 1289a 33f.56 Vgl. ebd., III 8 und ebd., IV 4 1290a 30 - 1290b 20.57 Ebd., IV 4 1290b 18-20.58 Ebd., IV 8 1294a 11-14.59 Vgl. ebd., III 17 1288a 6-14.

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Sofern die Menge ein in der Staatsleitung hervorragendes Herrschergeschlecht zu akzeptieren bereit

ist, ist die ihr gemäße Verfassung die Monarchie. Erträgt die Bevölkerung eine Vielheit von

Gleichen, die sich durch ihre Tüchtigkeit in der Regierung auszeichnen, so ist die ihr entsprechende

Verfassung eine Aristokratie. Handelt es sich schließlich um eine „kriegerische“60 Menge, die

gleichermaßen „zu gehorchen und zu befehlen weiß“61 und Ämter den Reichen per Gesetz

ausschließlich nach Würdigkeit zuteilt, so ist die passende Verfassung die Politie.62

– Auch hier zeigt sich wieder das je spezifisch teleologische der aristotelischen Weltkonstruktion:

Es gibt nicht eine beste Verfassung, nach der alle Gesellschaften streben, sondern nur jeweils

gemäße. Gleichwohl lässt sich nach ethischen Kriterien eine Verfassung als die wünschenswerteste

erkennen, die des Vollkönigtums.

Die systematisierte Empirie der Verfassungsformen

Die bislang schematisch dargestellten Verfassungen stellen Abstraktionen dar, denkmögliche

Reinformen, die mehr oder weniger wünschenswert, mehr oder weniger verwerflich sind. In der

realen Welt sind diese Formen mehr oder weniger vorhanden bzw. vorhanden gewesen: Auf den

Erfahrungen seiner Zeit beruhend, findet Aristoteles mehrere Unterformen der genannten

Verfassungen63.

60 Ebd., III 17 1288a 13.61 Ebd., III 17 1288a 14.62 Vgl. ebd., III 17 1288a 8-14.63 Aristoteles hat seine Systematik keineswegs ohne Vorwissen entwickelt: mindestens das äußerlich ähnliche Platons

war ihm bekannt – bekanntlich war Aristoteles sein Schüler; dass Ordnungen des Gemeinwesens prinzipiell gestaltbar

waren, ist eine Erkenntnis bereits des 5. Jh. v. Chr.: sowohl der griechische Dichter Pindar als auch der griechische

Geschichtsschreiber Herodot verfügten über sie (vgl. Kamp, S. 213-218 sowie ebd., S. 220-224). – Eine schematisierte

Darstellung der aristotelischen systematisierten Empirie der Verfassungsformen findet sich im Anhang.

E. M. Maier unterlässt eine genaue Darstellung der Verfassungsformen, was einerseits zu Unverständlichkeiten führt:

So ist die Demokratie einmal nahe der Politie (S. 132), dann wieder der „Despotie“ (sic!, gemeint ist offensichtlich die

vollendete Tyrannis, M. G.; S. 133), schließlich erfährt man beiläufig, dass es „unterschiedliche Ausprägungen und

graduelle Abstufungen“ der „einem einzelnen Prinzip verpflichteten Regierungsformen“ (sic!, gemeint sind

offensichtlich alle Verfassungsformen, also auch die despotischer Herrschaft, M.G.; S. 140) geben kann. Andererseits

werden gerade die spezifischen Ausprägungen der Politie in eins gesetzt (ebd.) und es wird behauptet, es gäbe kein

einzelnes Prinzip bzw. Merkmal der Politie (ebd.), was meines Erachtens zusammengenommen dazu führt, dass nicht

erklärt werden kann, wie aus zwei verwerflichen Verfassungsformen, erstens, eine eigenständige und zweitens, eine

wünschenswerte wird. (Vgl. Maier, S. 130-144.)

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Die Monarchie

Für die Monarchie gibt der Philosoph vier Unterformen sowie eine, in der zwar ein Einzelner

„regiert“, seine Amtsbefugnisse sich jedoch auf einen verhältnismäßig kleinen Ausschnitt der

Regierungsaufgaben beschränkt.

So ist die erste und vollendete Form der Monarchie das Vollkönigtum, die „pambasilea“. Es

zeichnet sich aus durch das Vorhandensein eines Einzelnen oder eines Herrschergeschlechts,

welches deutlich als tugendhaftestes und bestes charakterisiert werden kann. So diese Überlegenheit

klar erkannt werden kann, soll diesem Herrscher schlechthin und nicht nur für eine Amtszeit

gehorcht werden,

„[d]enn der Teil soll sich nicht über das Ganze erheben; das geschähe aber dem gegenüber,

der eine so große Überlegenheit besäße.“64

Eine zweite Form der Monarchie ist das auf Kriegsführung, Rechtsprechung und religiöse

Handlungen beschränkte Königtum. Es entsteht und besteht mit Zustimmung der Bürger und wird

vererbt.65

Eine dritte Form ist das barbarische Despotentum. Der Despot herrscht dabei zwar zum eigenen

Vorteil wie in der Tyrannis, dies aber mit Zustimmung der Bevölkerung und nach Gesetzen. Das

Despotenamt wird zudem vererbt.66

Die vierte Form schließlich ist die „Äsymnetie“, das Wahldespotentum. Wie beim barbarischen

Despotentum herrscht der Wahldespot tyrannisch, mit Zustimmung der Bürger und nach Gesetzen.

Seine Amtszeit ist jedoch befristet und er wird nur für diese und zur Erledigung einer bestimmten

Aufgabe gewählt.67

Es gibt zudem noch das Feldherrenamt, in das ein Einzelner nur für diesen Zweck auf Lebenszeit

gewählt wird oder welches mit Zustimmung der Bürger vererbt wird. Seine Ausübung ist an

Gesetze gebunden und in jeder Verfassung möglich. 68

Die genannte Reihenfolge entspricht der Zahl der verliehenen Rechte, weshalb die pambasilea als

umfassende Monarchie, das Feldherrenamt nur als gesetzlich geregeltes Amt eines Einzelnen

bezeichnet werden kann. 69

64 Aristoteles, Politik, III 17 1288a 27ff. Für den vorangehenden Absatz vgl. ebd., III 17 1288a 15-29.65 Vgl. ebd., III 14 1285b 3-19.66 Vgl. ebd., III 14 1285a 17-28.67 Vgl. ebd., III 14 1285a 30 - 1285b 3.68 Vgl. ebd., III 14 1285a 2-17 sowie III 15 1286a 2-4 und III 16 1287a 3-6.69 Vgl. ebd., III 15 1285b 35ff.

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Die Aristokratie

Neben der vollendeten Form der aristokratischen Verfassung gibt es zwei weitere Unterformen

sowie eine verwandte, jedoch nicht ursächlich aristokratische. Das Merkmal der Aristokratie ist die

Tugend 70.

Aristokratie in ihrer vollendeten Form bedeutet, dass die schlechthin Besten, schlechthin

Tugendhaften regieren. Die ethische Qualität der wenigen Regierenden steht dabei soweit außer

Frage, dass sie in jeder Verfassung deutlich als die Besten, d.h. Tugendhaftesten erkennbar

werden. 71 – Von der pambasilea unterscheidet sich diese Verfassungsform also nur durch die Zahl

der Herrschenden.

Eine zweite Form liegt vor, wenn die tugendhaften Reichen mit Rücksicht auf die Bürger regieren.

Da die Tugendhaften hier nur unter den Reichen gesucht werden, handelt es sich um eine

Mischform von Aristokratie und Oligarchie, da die Tugendhaftigkeit jedoch das entscheidende

Kriterium für die Regierungsfähigkeit darstellt, ist diese Form eine aristokratische.72

Auch bei der dritten handelt es sich um eine Mischform, und zwar um eine aus Aristokratie und

Demokratie. Auch hier ist das entscheidende Kriterium für die Regierungsfähigkeit die Tugend,

gewählt werden kann aber jeder Freie.73

Eine der Aristokratie verwandte Form bildet eine spezielle Mischform von Oligarchie und

Demokratie – also eine Politie. In ihr sind die regierenden Oligarchen nicht ursächlich, jedoch

mitfolgend tugendhaft, sodass zum einen das Kennzeichen der Aristokratie, die Regierung der

Tugendhaften, gegeben ist. Zum anderen ist jedoch die Tugendhaftigkeit quasi durch Reichtum

erworben: Man muss nicht rauben, was man bereits besitzt und hat zugleich genügend Muße, sich

Bildung anzueignen, um in der Folge tugendhaft regieren zu können. 74

70 Ebd., IV 8 9f.71 Vgl. ebd., IV 7 1293b 2-7.72 Vgl. ebd., IV 7 1293b 7-17.73 Vgl. ebd.74 Vgl. ebd., IV 7 1293b 18ff. und IV 8 1293b 33 - 1294a 24.

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Die Politie

Die Politie ist eine eigenständige Verfassungsform, beruht aber auf der Mischung von Elementen

der Oligarchie und Demokratie75. Sie ist als eigenständige eine gute, wenn die Elemente so

gemischt sind, dass

„beide Bestandteile und gleichzeitig wieder keiner von beiden vorzukommen scheinen, und

sie muß durch sich selbst und nicht von außen erhalten werden, und zwar durch sich selbst

nicht dadurch, daß der größere Teil der Nachbarn ihre Erhaltung wünscht – denn das könnte

auch bei einer schlechten Verfassung der Fall sein –, sondern dadurch, daß überhaupt keine

Klasse des Staates eine andere Verfassung auch nur verlangt.“76

– Das Paradoxon, dass aus Elementen zweier verwerflicher Verfassungsformen schließlich eine

gute, wenn auch die am wenigsten wünschenswerte, werden kann, erklärt der Philosoph also durch

Rückgriff auf die Beschaffenheit der jeweiligen Bürgergemeinschaft, auf die Natur der Menge

(siehe oben). Das Merkmal der Politie muss ihre Stabilität sein: Alle anderen Ordnungen bzw.

Nicht-Ordnungen werden instabil, falls eine Bevölkerungsschicht eine andere Ordnung verlangt,

genau das ist in der Politie definitionsgemäß nicht der Fall, Regierende und Regierte eint das

Interesse an Stabilität.

Die Stabilität der Politie – ihren inneren Frieden – hält der Philosoph für erreichbar, indem

hauptsächlich die wirtschaftlichen Verhältnisse der „Politen“ bzw. die daraus resultierenden

Berechtigungen und Verpflichtungen angepasst werden. Er unterscheidet zwischen Reichen, Armen

und Mittleren, dem Mittelstand. Letzterer ist in sich friedfertig – er trachtet anderen nicht nach dem

Besitz –, und er wird in Frieden gelassen – Arme trachten den Reichen nach ihrem Besitz –; somit

fungiert er als stabilisierendes Element der Politie. Will man also eine stabile Politie, so muss man

nach Aristoteles den Mittelstand durch geeignete Gestaltung der Verfassung – in moderner

Terminologie also: durch die Schaffung geeigneter Institutionen – so fördern, dass er möglichst

zahlreicher als Reiche und Arme zusammen, mindestens jedoch zahlreicher als eine der beiden

Gruppen bleibt bzw. wird.77 – Darüber hinaus bleibt die Ermöglichung einer Erziehung zur Tugend

das Ziel aller guten Verfassungen: schließlich soll der Mensch in der polis sein telos verwirklichen.

Beinhaltet die Verfassung eher demokratische Elemente, so wird sie Politie genannt 78. Gemischt

werden die Merkmale des Reichtums und der Freiheit, von reicher freier Minderheit und armer

75 Ebd., IV 8 1293b 33ff.76 Ebd., IV 9 1294b 35-39.77 Vgl. ebd. IV 11-12.78 Ebd., IV 8 1293b 34ff.

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freier Mehrheit79; diese Mischung wird sichtbar bei den Bestimmungen über den Zugang zur

Legislative und den exekutiven und richterlichen Ämtern sowie sich daraus ergebenden Pflichten

und Belohnungen bzw. Kompensationen80.

Beinhaltet die Verfassung eher oligarchische Elemente, so wird sie Aristokratie genannt 81. Zu den

Merkmalen des Reichtums und der Freiheit tritt hier noch das der Tugend 82.

– Beide Ausprägungen stehen meines Erachtens auf gleicher Ebene hinsichtlich des Bürgerseins

ihrer Bürgerschaften, es gibt keine hierarchisch geordneten Unterformen so wie es auch keine

vollendete Form gibt: Wie in allen anderen Verfassungen bemisst sich die Qualität der Ordnung an

der jeweiligen graduellen Verwirklichung von phronesis ihrer Regierenden bzw. Herrschenden; es

gibt in der Politie allerdings weder extrem Tugendhafte – sie sind es höchstens mitfolgend – noch

79 Vgl. ebd., IV 8 1294a 9ff. sowie 15ff.80 Vgl. ebd., IV 9. Bemerkenswert ist, dass Aristoteles in diesem Kapitel genau die drei Formen der Gerechtigkeit

anspricht, die er zuvor im fünften Buch der Nikomachischen Ethik definiert hat: die austeilende (distributive), die

ordnende (kommutative und korrektive) und die verhältnisgleich wiedervergeltende (proportionale), die sich wie die

kommutative und die korrektive auf den Austausch bezieht (vgl. „Gerechtigkeit“ in: Aristoteles-Lexikon, S.130-136).

Diese Gerechtigkeitsdefinitionen finden sich im Übrigen auch auf wirtschaftlichem Gebiet: Man findet nach Aristoteles

gerechte Belohnungen, gerechte Kompensationen sowie gerechte Preise, indem man bei Belohnungen jeweilige Anteile,

z.B. nach Würde, gewichtet, bei Kompensationen das jeweilige arithmetische Mittel und bei Preisen das jeweilige

harmonische Mittel zweier Extrema bildet (vgl. Backhouse, S. 20ff.).

E. M. Maier sieht das Prinzip der verhältnisgleich wiedervergeltenden Gerechtigkeit als vorherrschend in der Politie

sowie als der bürgerlichen Gemeinschaft als praktisch-sittlicher Kommunikationsgemeinschaft der Politie zugrunde

liegend (vgl. Maier, S. 149-152). Ich halte diese Einschätzung für „Wunschdenken“ und nicht aus den aristotelischen

Texten ableitbar: Verhältnisgleich wiedervergeltende Gerechtigkeit herrscht auch in der bürgerlichen Demokratie (siehe

unten), dort gibt es wiedervergeltende Gerechtigkeit in Form des gleichen Zugangs zu den Ämtern; zudem kann selbst

in der oligarchischen Volksversammlung jeder Bürger seine Stimme gleichberechtigt erheben, die als einzigartig

behauptete kommunikativ-sittliche Gemeinschaft erweist sich so als nicht spezifisch. Die Autorin vermengt außerdem

offensichtlich proportionale und kommutative Gerechtigkeit und definiert Erstere unabhängig vom aristotelischen Text,

wie folgendes Zitat deutlich zeigt: „ ... das der ‚ausgleichenden‘ Gerechtigkeit zugrundeliegende Prinzip des

Austausches, nämlich der ‚proportionalen‘, d.h. am Tauschwert der erbrachten Leistung und nicht etwa an der Stellung

der beteiligten Person orientierten ‚Wiedervergeltung‘, ... .“ (ebd., S. 151)

Richtig ist allerdings die Feststellung Maiers, dass sich die Politie – wie jede politische Regierung – von der

despotischen Herrschaft nach Vorbild des oikos unterscheidet. Das im Haus dominierende Prinzip der distributiven

Gerechtigkeit kann also für wünschenswerte Verfassungen kein dominierender Maßstab sein und Aristoteles lehnt

insbesondere einen wirtschaftliche und religiös-politische Teilbereiche in eins setzenden platonischen „Einheitsstaat“

ab, der sich den Besitz von Wirtschaftgütern anmaßt und diese nurmehr verteilt. (Vgl. Maier, S. 150.) – In den

Aristokratien und Monarchien, die auf der Tugend fußen wollen, die die äußeren Mittel hat, dominiert dem

entsprechend auch nicht die distributive, sondern die verhältnisgleiche Gerechtigkeit: Dem König, was des Königs ist!81 Aristoteles, Politik, IV 8 1293b 34-37.82 Vgl. ebd., IV 8 1294a 9ff. sowie 17-24.

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extrem wenige Reiche, noch extrem viele arme Freie, die als jeweilige Klasse die Macht für sich

beanspruchen; also scheinen die Merkmale der Oligarchie und der Demokratie vorhanden und

gleichzeitig wieder keines von beiden und die Ordnung ist als gemäßigte stabil.

Die Demokratie

Die Demokratie stellt für Aristoteles eine entartete Verfassungsform dar; ihr Merkmal ist die

Freiheit83. Da jedem Bürger in einer Demokratie das Stimmrecht und sogar das gleiche Stimmrecht

zukommt, es zudem definitionsgemäß eine Mehrheit der armen Freien gibt (siehe oben), so kommt

es zunächst zur Herrschaft der armen Freien84. Da es andererseits ein Ausdruck der Freiheit ist,

„daß jeder ... lebt, wie er will“85, folgt aus beidem, dass

„man womöglich keinem oder doch nur abwechselnd gehorcht, ... und [dieses] erfüllt

insofern das Postulat der gleichen Freiheit für alle.“86

In einer Demokratie hat jeder Bürger prinzipiell Zugang zu allen Staatsämtern: Entweder darf jeder

also jeden dafür wählen – das Vorhandensein eines sehr niedrigen Vermögens oder bestimmter

Fähigkeiten können jedoch Bedingungen für die Wählbarkeit sein – oder die Ämter werden per

Losentscheid vergeben; es gibt zumindest teilweise Honorare für die Ausübung der Ämter oder den

Besuch der Volksversammlung und kein Amt darf zu oft von Demselben ausgeübt werden87.

Speziell Letzteres ergibt sich aus der Forderung der Gleichheit der Freien; Ämter müssen also

regelmäßig neu besetzt werden, sei es durch Wahlen oder Losentscheide,

„[d]enn für solche, die einander gleichstehen, liegt das sittlich Schöne und Gerechte in dem

Wandel der Herrschaft, der allein der Forderung der Gleichheit und Gemeinsamkeit

entspricht.“88

Je nach konkreter Gestaltung der „gleichen Freiheit“, unterscheidet der Philosoph neben der

vollendeten drei weitere Unterformen sowie die Demagogenherrschaft, die nicht Verfassungsform,

83 Ebd., IV 8 1294a 10f.84 Vgl. ebd. VI 2 1317b 1-11.85 Ebd., VI 2 1317b 12.86 Ebd. VI 2 1317b 14ff.87 Vgl. ebd., VI 2 1317b 17 – 1318a 10.88 Ebd., VII 3 1325b 6ff. Vgl. außerdem ebd., II 2 1261a 29 – 1261b 6 sowie ebd., III 6 1279a 8-17.

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somit auch keine Demokratie ist89. Die Rangfolge ihrer Unterformen ergibt sich aus der immer

stärkeren Betonung des Merkmals der Demokratie, also der Freiheit.

Die vollendete Form der Demokratie ist die Volksherrschaft, in der jeder Bürger den möglichst

gleichen Anteil an der Staatsleitung hat und es irrelevant ist, ob jemand arm oder reich ist. Es gibt

so ein Höchstmaß an Gleichheit und Freiheit.90 – Auf welche Weise der möglichst gleiche Anteil an

der Staatsleitung hergestellt werden soll, lässt Aristoteles offen. Andererseits grenzt er diese Form

von der der uneingeschränkten Teilhabe aller Bürger an der Herrschaft ab (siehe unten). Einen

Hinweis mag man in der wohlwollenden Erwähnung der von Kleisthenes geschaffenen phylen

finden91: Eine ausgewogene Berücksichtigung der Bürger aller Gemeindebezirke wird so

gewährleistet und die Dominanz bestimmter Viertel – sei es der Reichen oder der Armen – wird

verhindert.

89 Schmidt sieht in Anlehnung an Höffe nur vier Formen der Demokratie und nennt dabei als unterscheidende Kriterien

die Vermögensqualifikation für Regierungsämter, die Bedingung der Abstammung für den Bürgerstatus sowie die

Entlohnung von Amtsträgern und Versammlungsteilnehmern. – Die erste, vollendete Form der Demokratie sieht er

offenbar nicht und er zählt die „Nicht-Ordnung“ der Demagogenherrschaft anders als Aristoteles zu den

demokratischen Formen (vgl. Schmidt, S. 31f.).

Kamp hingegen sieht zunächst fünf Formen der Demokratie einschließlich der Demagogenherrschaft, identifiziert dann

aber die vollendete mit dieser und kommt so ebenfalls zu insgesamt vier Formen (vgl. Kamp. S. 254f.). – Ich bemerke

nur beiläufig, dass er dann die von Aristoteles explizit genannte Symmetrie zu den Formen der Oligarchie zunächst

aufgeben muss, wie er selbst zugibt (Kamp, S. 263) und sie nur dadurch wieder erhält, dass er nicht zwischen den

Formen der oligarchischen Wahloligarchie und der aristokratischen Wahloligarchie (siehe unten) unterscheidet (vgl.

Kamp, S. 262-265). Jedoch halte ich diese Gleichsetzung, wie im Folgenden gezeigt, erstens, für dem Text nicht

entsprechend, zweitens, hinsichtlich der Wohlgeordnetheit des Schemas der systematisierten Empirie der

Verfassungsformen (siehe Anhang) für „unschön“.90 Vgl. Aristoteles, Politik, IV 4 1291b 30-38. – Ein Zensuswahlrecht als Alternative, also ein nach Reichtum

gewichtetes Stimmrecht halte ich an dieser Stelle für ausgeschlossen: der Reichtum ist schließlich das Merkmal der

Oligarchie.

Sartori gibt eine Klassifizierung von Gleichheitsdefinitionen, die sich an die aristotelischen anlehnen (vgl. Sartori, S.

338). Seine Diskussion der attischen Demokratie sowie aristotelischer Vorstellungen bleibt jedoch oberflächlich und

eklektisch: So sieht er bspw. richtig, dass es für Aristoteles einen Staat als Institution getrennt von der Gesellschaft

nicht geben kann und dass die Demokratie für den antiken Philosophen eine entartete Verfassungsform darstellt. Er

diskutiert die Begründungen jedoch nicht und stellt vor dem Hintergrund moderner, also staatlich geordneter

Verhältnisse einzig fest, dass Gleichheit zulasten der Freiheit – bezeichnenderweise der individuellen Freiheit vor

staatlichen Handlungen – ausgedehnt werden kann. Die aristotelische Perspektive, dass Freiheit zulasten der Gleichheit

übermäßig betont werden kann, berücksichtigt Sartori nicht.(Siehe ebd., S. 274-290 sowie S. 327-354.)91 Vgl. Aristoteles, Politik, VI 4 1319b 19-26 sowie V 5 1305a 28-34.

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Eine zweite Form der Demokratie liegt vor, falls zwar jeder wahlberechtigt ist, die Wählbarkeit für

Ämter jedoch an das Vorhandensein eines nicht zu hohen Vermögens geknüpft ist.92 – Die

Gleichheit wird hier also eingeschränkt auf die Gleichheit der über das Mindestvermögen

verfügenden Freien.

Eine dritte Form ist mit der geburtsrechtlichen Herrschaft von Vollbürgern gegeben, d.h. Bürger,

„soweit sie mit Rücksicht auf ihre Geburt einwandfrei sind“, haben das gleiche Recht auf Teilhabe

an den Ämtern. 93 – Das Bürgerrecht ist für Aristoteles ganz selbstverständlich ein verliehenes,

welches zur Teilhabe an den Ämtern qualifiziert (siehe oben). Man erwirbt es also nicht

automatisch durch Geburt in einem Gebiet, jedoch durch Abstammung von einem Bürger. Der

Kreis der Berechtigten kann allerdings variiert werden, z.B. dadurch, dass man auch unehelich

Geborene zulässt94. Dieses soll offensichtlich mit Hinweis auf die einwandfreie Geburt

ausgeschlossen werden, der Kreis der Freien wird also eingeschränkt, somit ihre Gleichheit

aufgeteilt in Gleichheit unter amtsberechtigten und Gleichheit unter nicht amtsberechtigten

Bürgern.

Eine vierte Form schließlich lässt alle Bürger an der Herrschaft teilhaben. 95 – Offenbar wird hier die

Freiheit über die Gleichheit gesetzt, insofern kann diese Form nicht die vollendete der Demokratie

sein.

Gemeinsam ist allen bisher genannten Formen die Herrschaft der Gesetze, sie sind somit

Verfassungen. Erreicht wird dieses weniger durch administrative Vorkehrungen, z.B. in der Art

einer demokratisch legitimierten starken Exekutivgewalt, sondern durch schiere wirtschaftliche

Notwendigkeit. Aufgrund des gegebenen Zwangs zum Broterwerb bleibt den „Demokraten“, also

den hauptsächlich herrschenden armen Freien, keine Muße „zum Politisieren“96. – Das klar abfällig

gebrauchte Wort wird bei der Kennzeichnung der Demagogenherrschaft mit Inhalt gefüllt.

Die Demagogenherrschaft ist zwar zunächst eine Herrschaft der Vielen und verwerflich, ähnelt

insofern einer Demokratie. Das Volk herrscht jedoch, angestiftet durch Demagogen, despotisch als

mit vielen Stimmen ausgestatteter Tyrann und bindet sich an kein Gesetz97. Dazu kommen kann es

durch das Vorhandensein einer Fülle von staatlichen Einkünften, die als Belohnung für die

Teilnahme an den Versammlungen oder die Ausübung von Ämtern gezahlt werden: Die Armen, die

sich sonst um ihren Lebensunterhalt kümmern müssten, bekommen Muße und

92 Vgl. ebd., IV 4 1291b 39-45.93 Ebd. IV 4 1292a 1-3.94 Vgl. ebd., III 5 1278a 27-40 sowie VI 4 1319b 6-12.95 Ebd. IV 4 1292a 3f.96 Vgl. ebd. IV 6 1292b 21-41.97 Vgl. ebd. IV 4 1292a 4-28.

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„treiben Politik, ... . Ja eine solche Menge hat noch die meiste Muße. Denn sie sind von

keinerlei Sorge fürs Eigene behindert, wohl aber die Reichen, so daß sie oft an

Volksversammlung oder Gericht nicht teilnehmen. Daher wird denn an Stelle des Gesetzes

die Menge der Proletarier [sic!] im Staate Herr.“98

– Die Übersetzung „Proletarier“ ist alles andere als gelungen; der Leser mag die Formulierung

„arme Freie“, hier ausschließlich als Bezeichnung für Handwerker und Tagelöhner vorziehen: Sie

bildeten als Klasse der so genannten Theten die geringste Vermögensstufe nach der Einteilung des

Solon. Anders als die drei höheren Klassen verfügten die Theten nicht oder nur in geringstem

Ausmaß über Grundbesitz, der sie hätte ernähren können; sie mussten somit ihre Arbeitskraft bzw.

ihre Fertigkeiten gegen Lohn verkaufen99.

Die Oligarchie

Analog zur Demokratie unterscheidet Aristoteles neben der vollendeten Form der Oligarchie drei

weitere sowie die gesetzlose Dynastenherrschaft100. Die Oligarchie ist eine entartete Verfassung, ihr

Merkmal ist der Reichtum101. Die Rangfolge ihrer Unterformen ergibt sich – wiederum analog zur

Demokratie – durch die jeweils stärkere Betonung ihres Merkmals, des Reichtums102.

Die vollendete Form der Oligarchie liegt vor, wenn die Herrschaftsfähigkeit an das Vorhandensein

an ein so hohes Vermögen gebunden ist, dass nur eine Minderheit der Bürger für die Ämter in Frage

kommt103. Gibt es zudem einen zweifachen Zensus, einen niedrigen zur Erlangung der Rechte eines

Vollbürgers – d.h. insbesondere des Wahlrechts –, der so bemessen ist, dass diese die Zahl der

Nicht-Vollbürger übersteigt, einen hohen, der die Wählbarkeit für höhere Ämter zur Folge hat, so

ähnelt diese Form der Oligarchie stark einer Politie104. Es herrscht das Gesetz und nicht Personen,

98 Ebd., IV 6 1293a 3-9.99 Siehe Ebert u. a., S. 33-37 und S. 46.100 Somit ergeben sich insgesamt vier oligarchische Verfassungsformen sowie eine oligarchische Nicht-Ordnung.

Schwierigkeiten ergeben sich insofern, dass im Text der „Politik“ explizit von vier Formen inklusive der Nicht-

Ordnung die Rede ist. – Es wird somit erklärbar, warum Kamp, Schmidt und Höffe nur vier Formen der Demokratie

unterscheiden: sie sollen nach Aristoteles der Systematik der Oligarchie gleich sein. Die Baugleichheit ist auch bei mir

gegeben, zudem ergibt sich inhaltlich jedoch die von genannte „Vier-plus-Eins“-Systematik.101 Aristoteles, Politik, IV 8 1294a 10f.102 Vgl. ebd., VI 6 1320b 30ff.103 Vgl. ebd., IV 5 1292a 39ff.104 Vgl. ebd., VI 6 1320b 23-29.

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da es eine hohe Zahl Vermögender gibt, die weder „sorglos feiern können, noch ... auf Staatskosten

leben“105.

– Aristoteles unterscheidet hier nicht zwischen den Ämtern. Erst an anderer Stelle macht er

deutlich, dass notwendige Ämter das bezeichnen, was in moderner Terminologie „staatliche

Verwaltung“ genannt wird; höhere Ämter beziehen sich auf die Ausübung der Religion, das

Militärwesen, das Haushaltswesen sowie die attische Exekutive im engeren Sinne, also die bule

oder auch probule. Die Legislative, die Versammlung, wird selbst in der entarteten oligarchischen

Verfassung von einer Vermögensqualifikation ausgenommen, die Exekutive führt nur „den Vorsitz

über die Menge, wo das Volk souverän ist.“106

Eine zweite Form der Oligarchie liegt vor, wenn das Herrschaftsrecht an das Vorhandensein eines

hohen Vermögens geknüpft ist und nur die bisherigen Amtsinhaber wählen dürfen; diese Form der

Wahl trägt aristokratische Züge 107. Gesetzesherrschaft wird dadurch erreicht, dass es zwar eine

geringe Zahl der Bürger mit hohem Vermögen gibt, diese jedoch ohne genügend Einfluss sind, um

willkürlich zu herrschen108.

Auch bei der nächsten Unterform wählen die Amtsinhaber ihre Nachfolger, jedoch nur aus einer

besonderen Gruppe der Hochbesteuerten; die Wahl scheint somit mehr oligarchisch109. – Aristoteles

lässt hier offen, welcher Art das unterscheidende Kriterium für diese besondere Gruppe sein kann.

Da das Merkmal der Oligarchie der Reichtum ist und er diese Wahl als oligarchisch bezeichnet,

kann man schließen, dass unter den Hochbesteuerten eine Gruppe der Reichsten ausgesondert wird.

Dass es die tugendhaftesten sind, die gewählt werden, scheint nicht plausibel: Die Tugend ist das

Merkmal der Aristokratie und die vorgenannte Unterform der Oligarchie unterscheidet der

Philosoph als durch aristokratische Wahl gekennzeichnet. Wie bei jener herrschen aus gleichem

Grund die oligarchisch gewählten Oligarchen nach Gesetzen110.

Eine vierte Form der Oligarchie ist bei erblicher Amtsfolge gegeben111. Diese Amtsfolge ist jedoch

gesetzlich festgelegt 112.

105 Ebd., IV 6 1293a 14-21.106 Ebd. VI 8 1322b 13f. Zum gesamten Absatz vgl. ebd., VI 8.107 Vgl. ebd., IV 5 1292a 41 – 1292b 3.108 Vgl. ebd., IV 6 1293a 21-26.109 Vgl.ebd., IV 5 1292b 3f.110 Vgl. ebd., IV 6 1293a 21-26.111 Vgl. ebd., IV 5 1292b 5f.112 Vgl. ebd., IV 6 1293a 26-29.

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Eine Dynastenherrschaft ist durch erbliche Rangfolge wie in der letztgenannten Form der

Oligarchie einerseits, andererseits aber auch durch Gesetzlosigkeit gekennzeichnet. Sie hat den

Stellenwert der Demagogenherrschaft bzw. der Tyrannis.113

Die Tyrannis

Für die Tyrannis unterscheidet der Philosoph zwei bereits bekannte monarchische Unterformen

sowie die voll ausgebildete Form der Tyrannis.

Die Formen des barbarischen Despotentums und der Äsymnetie sind, so sie auf Gesetzmäßigkeit

und Zustimmung der Bevölkerung bzw. der Bürger beruhen, Unterformen der Monarchie. So sie

„despotisch und nach Willkür ausgeübt“114 werden, sind sie Unterformen der Tyrannis.115 –

Entscheidendes Kriterium zur Einordnung wird somit die Amtsführung; Aristoteles geht so über die

reine Institutionenanalyse hinaus und bezieht das Regierungshandeln – wenn man so will: die

politics – in seine Überlegungen mit ein.

Die der pambasilea entgegengesetzte Form ist die eigentliche Tyrannis, in der ein Einzelner zu

seinem Wohl und gegen das der Beherrschten willkürlich herrscht 116. Sie wird – anders als das

Königtum – „gegen die Natur gebildet“117 und beruht daher nicht auf Zustimmung der Bürger118.

Nachwirkungen des Aristoteles in der (römischen) Antike

Mit der Ausbreitung des römischen Imperiums kam auch die griechische Philosophie nach Rom

und wurde mehr oder weniger rezipiert und adaptiert. Hinsichtlich der politischen Philosophie des

Aristoteles sind zwei in diesem Sinne „transformierende“ Denker zu nennen, zum einen der nach

Rom deportierte griechische Offizier und Historiker Polybios (ca. 200 – ca. 120 v. Chr.), zum

anderen der römische Redner, Jurist und Staatsbeamte Cicero (106 – 43 v. Chr.).

113 Vgl. ebd., IV 5 1292b 5-10 sowie IV 6 30-34.114 Ebd., IV 10 1295a 16f.115 Vgl. ebd., IV 10 1295a 6-17.116 Ebd., IV 10 1295a 17-22.117 Ebd., III 17 1287b 38ff.118 Ebd., IV 10 1295a 22ff. Kamp weist darauf hin, dass es in einer Tyrannis zwar Menschen mit Bürgerstatus geben

kann, so man jedoch an das Bürgersein denkt, welches an das menschliche telos geknüpft ist, es, falls überhaupt,

höchstens rudimentär vorhanden sein kann (vgl. Kamp, S. 277).

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Polybios

Polybios hat das aristotelische Schema der Verfassungsformen zwar aufgenommen, jedoch in

entscheidenden Punkten modifiziert: Er nennt die Demokratie nunmehr „Ochlokratie“, abgeleitet

vom griechischen „ochlos“ zur Bezeichnung einer Menschenmenge oder eines „Volkshaufens“, die

aristotelische Politie nennt er hingegen „Demokratie“. Er behält zwar nominal die Wertung nach

wünschenswerten und verwerflichen Verfassungen bei, gibt die Verknüpfung mit der phronesis der

jeweiligen Bürgerschaften jedoch auf; an ihre Stelle tritt eine Begründung begrenzter Ämtermacht

und ­verteilung, angewandt auf römische Verhältnisse. Schließlich wird die Umwandlung von

Verfassungsformen, für die Aristoteles jeweilige Ursachen genannt hat, ohne ihre Zwangsläufigkeit

zu behaupten, zu einer notwendig in bestimmter Reihenfolge ablaufenden; der Prozess kann zudem

nur angehalten werden, indem eine „Mischverfassung“ geschaffen wird, die den Verhältnissen der

römischen Republik sehr ähnelt.119

– Polybios hat somit eine Institutionenschau der römischen Republik geschaffen, die gleichzeitig

zur Begründung der – sozusagen „historisch notwendigen“ – inneren Stabilität sowie imperialen

Ausdehnung des römischen Reiches dient. Der Historiker wird so zum Rechtfertiger der römischen

republikanischen Machtverhältnisse, zum Ideologen der Republik. Während bei Aristoteles die

Klugheit der Institutionenwahl, der choice of rules, immer an die jeweilige Bürgerschaft und ihre

phronesis rückgekoppelt bleibt, werden die checks and balances bei Polybios zum

Qualitätsmerkmal einer Republik, die als Institutionen deren geronnene Machtverhältnisse

repräsentieren.

Cicero

119 Vgl. Vorländer, S. 42f. sowie Nippel, S. 30 und ebd., S. 39ff.

Es kann an dieser Stelle die Verfassung der römischen Republik nicht detailliert beschrieben werden. Kennzeichnend ist

jedoch die nahezu vollständige Abwesenheit direkter Teilnahme von Bürgern an der Regierung und dem Gericht, die

Konzentration der Macht in den Händen weniger – der Nobilität – sowie das Recht der „provocatio“, die den

individuellen Bürger vor staatlicher Willkür schützen sollte. Die „res publica“ ist daher keinesfalls gleichzusetzen mit

der aristotelischen Demokratie oder Politie (vgl. Vorländer, S. 39-42 sowie Roth, Cicero, S. 48f.).

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Cicero nimmt Anschauungen der zeitgenössischen Stoa auf und hält durch eine Orientierung der

Bürger an diesen sowie durch bestimmte Institutionen die Stabilität der römischen Republik für

erreichbar bzw. herstellbar.

Anders als die aristotelische basiert die stoische Tugendlehre vollkommen auf Innerlichkeit: Der

Mensch ist gerade nicht zoon politikon, sondern erfährt zunächst sich als physisches Wesen und

eignet sich dann seine Umwelt an. Eudaimonia gilt weiterhin als erstrebenswert, ist jedoch nicht mit

dem „schönen Leben“, also insbesondere relativem Wohlstand verbunden, sondern an eine Haltung

des unbewegten Entsagens und Ertragens geknüpft. Tugendhaft ist also derjenige, der sich nicht

vom Ungemach aus der Umwelt affizieren lässt – der Stoiker verwirklicht sich als Mensch dadurch,

dass er der Vernunft den Vorrang vor den Leidenschaften gibt. Da alle Menschen als Gattung

vernunftfähig sind, gibt es allerdings eine vernunftbedingte Gemeinschaft. Es gilt daher, sich der

gesellschaftlichen Verhältnisse anzunehmen, dort für die Verwirklichung von Vernunft –

beispielsweise im Recht – tätig zu werden. 120

Wie bereits Aristoteles, unterscheiden die Stoiker zwischen positivem, gesetztem Recht und

vernunftgemäßem Gesetz. Eine Folge davon ist die Schaffung eines humanitären Rechts in

Erweiterung zum aristotelischen Bürgerrecht: Wenn, so die Prämisse, alle Menschen ihrer

vernunftfähigen Natur gemäß als Menschen gleich sind, dann müssen sich vernunftgemäße Gesetze

jeweils auf alle Menschen beziehen. Definiert man z.B. Frauen, Sklaven oder „barbarische“ Völker

als Menschen, so muss ihnen als Menschen das gleiche Recht gewährt werden. 121 – Letztlich

basieren der Grundsatz allgemeiner Menschenrechte sowie der gleichrangiger Souveräne im

Völkerrecht auf genau dieser Überlegung.

Für Cicero ist, wie für Polybios und auch Aristoteles, die Stabilität der Ordnung eines

Gemeinwesens ein anzustrebender Zustand. Mit Polybios empfiehlt er dazu eine

„Mischverfassung“, deren entscheidende Funktion jedoch nicht mehr die der gegenseitigen

Machtkontrolle ist. Ihre Funktion ist vielmehr, zum einen die Nobilität, einer ursprünglich

ausschließlich adeligen Schicht römischer Oligarchen, an der Regierung zu halten, zum anderen die

Plebejer, das römische Gegenstück zu den griechischen nicht-angesehenen freien Bürgern, vor

staatlicher Willkür zu schützen sowie ihnen durch Repräsentanten eine Mitsprache in der

Legislative und Judikative zu gewähren. 122

120 Vgl. Hirschberger, S. 249-270.121 Vgl. Hirschberger, S. 263ff.122 Vgl. Nippel, S. 41 und Roth, Cicero, S. 49ff.

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So wie für Aristoteles die Begriffe „Freiheit“ und „Tugend“ in der aristokratischen Form der Politie

eine führende Rolle spielen, werden für den Römer Cicero die Begriffe „libertas“ und „dignitas“

relevant. Libertas bedeutet demnach für die Aristokraten die Freiheit von der Herrschaft Einzelner

und den freien Wettbewerb um die Regierung und die Ämter, für die nicht-angesehenen freien

Bürger eine Mitwirkung an der Legislative durch abgestufte Stimmrechte, eine institutionalisierte

Standesvertretung – das Volkstribunat –, die formale Rechtsgleichheit und den rechtlichen Schutz

vor staatlicher Willkür – das Recht der „provocatio“123. Dignitas ist der Maßstab, der über die

Mitwirkung an der Regierung entscheidet124, gemessen wird diese Würde offensichtlich am

gesellschaftlichen Rang.

Im Einklang mit der stoischen Pflichtenethik, fordert Cicero zudem, dass gesetztes Recht

vernunftgemäß sein soll, sieht aber zugleich das römische als solches, welches somit auch

universale Geltung beanspruchen kann125. Nach innen wird neben der Etablierung geeigneter

Institutionen die Ausrichtung des Staates am Gemeinwohl gefordert, die diesem jedoch Eingriffe in

die private Sphäre der Individuen erlaubt, solange sie sich auf rechtlichem Wege gegen Willkürakte

wehren können126. Solange es einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass gerecht ist, was

Recht ist und was der Gemeinschaft nutzt, erfüllt der Staat seine Aufgabe127. Diesen Konsens

herzustellen – oder die Verhältnisse zu ertragen, jedenfalls nicht, sie umzustürzen – das ist erste

Bürgerpflicht und zwar jedes Bürgers an der Stelle, die ihm durch Einsicht oder Tatkraft

zugekommen ist128.

– Gemessen am Vorbild des Aristoteles stellt Cicero einen zwar Vieles aufnehmenden, jedoch auch

Begriffe mit anderen Inhalten füllenden, somit umdeutenden, Denker der römischen Republik dar

(womit er sich als typischer Stoiker erweist). Der Mensch wird seiner wesenhaften Verbindung mit

der polis beraubt, am Anfang steht allein das sich und später seine Umwelt wahrnehmende

Individuum. Dem entspricht, dass das Individuum zwar vernünftig und somit zugleich tugendhaft

ethische Forderungen an seine Umwelt richten kann, letztlich aber ertragen muss, dass diese nicht

berücksichtigt werden. Der Bürger der römischen Republik kann sich, anders als der einer

aristotelischen Politie, zudem kaum selbst um seine Belange kümmern: Er ist angewiesen auf die

Zuweisung entsprechender Rechte durch die Gesellschaft bzw. das Tun seiner Repräsentanten. Die

bereits bei Polybios begonnene Ablösung der Institutionen von der phronesis der jeweiligen

123 Vgl. Nippel, S. 36.124 Vgl. Roth, Cicero, S. 50.125 Vgl. Nippel, S. 41f.126 Vgl. ebd., S. 41.127 Vgl. ebd., S. 41 und Roth, Cicero, S. 50.128 Vgl. Nippel, S. 34ff. sowie S. 41 und Roth, Cicero, S. 50f.

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Bürgerschaft wird von Cicero vollendet, die bei Aristoteles dahinter stehende Staatsdefinition

pervertiert: Die geschaffenen Institutionen korrespondieren nicht mehr mit der Einsicht der

Bürgerschaft, die choice of rules entfällt; an ihre Stelle treten – wiederum als geronnene

Machtverhältnisse – Institutionen, die als „Staat“ – eben als „res publica“ –, in Abgrenzung zur

Gesellschaft mit der römischen Republik gleichgesetzt werden und die notfalls gegen die Freien

oder Einzelne verteidigt werden sollen. Das beinhaltet die Unvereinbarkeit mit der aristotelischen

Politie – die innere Stabilität wird gleichsam von innen aufgezwungen, unabhängig vom Streben der

Bürger – sowie die Ablehnung von Demokratie oder Monarchie (und selbstverständlich der

Tyrannis). Die römische Republik entspricht auch nicht einer aristotelischen Aristokratie: Die

Tugendhaftigkeit wird von Cicero durch dignitas ersetzt, die einen Bezug zur phronesis haben mag,

entscheidend ist jedoch der Reichtum als äußerliches Maß der dignitas, die so wiederum das

Zensuswahlrecht begründet. Die römische Republik ist also nach aristotelischer Definition nichts

anderes als eine Oligarchie, deren weiteres Abgleiten hin zur Tyrannis nach Cicero nur durch

Rechtstaatlichkeit und eine Gemeinwohlorientierung der Herrschenden verhindert werden kann.

Diese herzustellen bzw. zu garantieren, ist die von dem Redner, Juristen und Staatsbeamten

gewählte Aufgabe.

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Fazit

Bei der Zusammenfassung und Bewertung müssen zwei Ebenen unterschieden werden, zum einen

die soziologische, Institutionen beschreibende, zum anderen die politikwissenschaftliche,

ideengeschichtlich wertende. Zudem muss stets beachtet werden, dass uns das Wissen um die

Antike nur vermittelt verfügbar wird: Wir sind angewiesen auf archäologische Funde und

überlieferte Texte. Beide bedürfen der Interpretation, ein Gegenstand „sagt“ nichts über seinen

Gebrauch und Texte können selbst schon Auslegungen eines Originals darstellen.

Die soziologische Ebene

Die entsprechende rekonstruierende Vorsicht anwendend, lässt sich für das antike Attika von der

Zeit Solons bis zu der des Aristoteles nachweisen, dass dort eine arbeitsteilige Gesellschaft

entstanden ist, in der gesellschaftliche Rollen zunehmend weniger durch Tradition vorgegeben,

sondern willentlich gewählt worden sind. Neben einem politisch-religiösen Teilsystem beginnt sich

ein spezifisch wirtschaftliches aus der traditionellen Gesellschaft auszubilden. Im politisch-

religiösen System ist dies die polis mit zunehmend verfeinertem Institutionengefüge, insbesondere

der ekklesia als Legislative der Souveräne, des Rates der Fünfhundert als Exekutive sowie der

Dikasterien als Judikative (siehe oben, Abb. 2). – Die gewählten Begriffe sind moderne, heutige

Zeitgenossen füllen sie mit anderen Inhalten als diejenigen des Kleisthenes oder des Aristoteles.

Dennoch verwende ich sie mit den ausführlich genannten Einschränkungen, also z.B. das aus

heutiger Sicht stark eingegrenzte Bürgerrecht, das Fehlen einer ausgefeilten Rechtssystematik und

entsprechender Qualifikationsnachweise der Richter. Die Begriffe sollen auf ein grundlegendes

Moment gesellschaftlicher Entwicklung verweisen, der Rationalisierung von Lebensbereichen der

attischen Gesellschaft, die traditionell als überkommen galten, somit nicht hinterfragt werden

konnten129. Spätestens mit Aristoteles wurden diese Bereiche von Herrschaft jedoch systematisch

hinterfragt und begründet.

129 H. Brunkhorst verwendet einen ähnlichen Ansatz und führt ihn darüber hinaus auf die Schrift (und später den

Buchdruck) und ihren Gebrauch als Kommunikationsmittel zurück. Seine Beschreibung der Antike bleibt jedoch

oberflächlich, die Bewertungen sind alles andere als zwingend: Brunkhorst unterscheidet zwischen griechischer und

römischer Antike, bewertet „die Griechen“ – er nennt hauptsächlich Platon und Aristoteles – als proto-totalitäre Denker

und fasst das römische Recht als zivilisatorischen Fortschritt auf. Er belegt das, indem er zum einen soziologische

Gegebenheiten und philosophische Theorien vermengt und daraus „Schlüsse“ ableitet, zum anderen innerhalb der

Theorien nicht zwischen Beschreibungen und Begründungen unterscheidet, Letztere teilweise nicht beachtet oder

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Die ideengeschichtliche Ebene

Die politische Philosophie des Aristoteles ist Teil eines harmonisch geordneten Gesamtsystems der

Philosophie, mit dem Anspruch, das Wesenhafte in der Wirklichkeit sowie Mittel und Wege zur

bestmöglichen Erreichung der immanent vorgegebenen Ziele erkannt zu haben. Seine Philosophie

ist ausgerichtet auf harmonische Stabilität in der höchsten, erstrebenswertesten und dem Menschen

eigenen Form der Gemeinschaft, der polis. Mit Andreas Kamp lässt sich daher sagen:

„Einerseits ist Aristoteles – auch und gerade nicht zuletzt in Abhebung gegen Platon – der

erste politische Philosoph überhaupt, zugleich aber ist er auch schon der letzte politische

Philosoph, denn kein späterer Theoretiker hat jemals wieder wirklich ‚politische?

Philosophie, d.h. eben Philosophie über die Polis, betrieben. Wenn später programmatisch

und bewußt auf antike Paradigmata zurückgegriffen wird, dann bezeichnenderweise nicht

auf die griechische Polis, sondern die römische Republik.“130

Da es Ziel dieser Arbeit ist, grundlegende ideengeschichtliche Konstruktionen auf ihren Gehalt für

die Beschreibung und Rechtfertigung heutiger – demokratisch genannter – Machtbeziehungen zu

zeigen, greife ich nicht auf römische Herrschaftstechniken zurück, als das ich insbesondere das

römische Recht auffasse, hervorgebracht zur Institutionalisierung eines Waffenstillstandes zwischen

mächtigen Großgrundbesitzern römischer Herkunft. Davon unabhängig bleibt der Umstand, dass

zur imperialen Machtausübung eine Formalisierung des Rechts zumindest nützlich, vielleicht sogar

unabdingbar war: Der politische Wille der Konsuln und später der Kaiser konnte durch

Schriftlichkeit und systematisierte Auslegung der Gesetze auch in entfernten Kolonien unverfälscht

verkündet werden. Es wird somit erklärlich, warum das römische als erstes formalisiertes Recht in

die Geschichte einging.

Der Bürgerstatus

Es stellt sich zunächst die Frage, wer als Mitglied der politischen Gemeinschaft, des

Gemeinwesens, definiert wird, wer also Bürger werden kann bzw. darf und welche Rechte diesem

zustehen. Das aristotelische Kriterium ist funktional eindeutig: Bürger ist, wer an staatlichen

grotesk verzerrt wiedergibt. (Siehe Brunkhorst, insbesondere S. 43-69.) – Wissenschaftliche Sorgfalt, ein Vergleich

attischer und römischer Herrschaftsgeschichte sowie ein Blick in Finleys Buch zur antiken Wirtschaft hätten vielleicht

seine Einschätzungen relativiert.130 Kamp, S. 67.

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Institutionen teilnehmen darf. Liegt also eine Gesellschaftsform vor, in der die Gewalten auf

Legislative, Exekutive und Judikative verteilt sind – es also eine Art von balances gibt –, so muss

jeder Bürger an diesen teilnehmen können. – Ein dauerhaftes Abgeben dieser Macht an bestimmte

Gruppen oder „Repräsentanten“ ist nicht vorgesehen, würde im Gegenteil den aristotelischen

Bürgerbegriff inhaltsleer werden lassen. Da in einer arbeitsteiligen, funktionsdifferenzierten

Gesellschaft jedoch nicht jeder „morgens Fischer, mittags Abstimmender, abends Richter“131 sein

kann, braucht es politische Institutionen, die einerseits den Bürgerstatus nicht obsolet werden

lassen, andererseits eine funktionale Differenzierung ermöglichen. Der Vorschlag des Aristoteles:

regelmäßig wiederkehrende Wahlen oder Losentscheide zur Besetzung von Ämtern in Exekutive

und Judikative, zudem die Ermöglichung der Teilnahme an der Bürgerversammlung, der

Legislative, für nahezu jeden Bürger. Diese, modern gesprochen, legitimierte und funktionale

Begrenzung von Macht nennt der Philosoph ausdrücklich bei der Charakterisierung der

verschiedenen gesetzmäßigen Formen der Demokratie bzw. der Politie in ihrer demokratischen

Variante. In geringerem Maße finden sich diese checks jedoch in allen, selbst den entarteten

Verfassungsformen (nicht allerdings in den Nicht-Ordnungen der Demagogenherrschaft, der

Dynastenherrschaft sowie den Formen der Tyrannis): Die umfassenden Befugnisse eines

pambasileus, eines Vollkönigs, enden mit seinem Tod; die Wählbarkeit in der Aristokratie ist

begrenzt durch erkennbare Tugendhaftigkeit; die Ämterbesetzung durch Erben als eine Form der

Oligarchie ist gesetzlich geregelt und endet, wenn die Familie das festgelegte Mindesteinkommen

nicht mehr hat.

Jeweils historisch bedingt – und von Aristoteles als solche auch benannt – ist die jeweilige

Festlegung des Kreises von Menschen, die Bürger werden dürfen. Das Bürgerrecht ist nicht, wie in

der heutigen Zeit angenommen, ein vom Individuum durch Geburt auf einem bestimmten

Territorium oder durch Abstammung erworbenes Recht, ein ius soli oder i u s sanguinis, sondern

ein von der Gemeinschaft verliehenes. Es kann daher je nach Anschauung und (Nützlichkeits- oder

Schicklichkeits-) Erwägungen der Gemeinschaft ausgedehnt oder eingegrenzt werden.

Das Bürgersein

Von dieser empirischen Ebene ist die das Bürgersein begründende zu unterscheiden. Für Aristoteles

ist das Sein als Bürger letztlich durch den individuell entwickelten Grad an Tugendhaftigkeit, an

131 Marxisten mögen in der Anspielung erkennen: „[M]orgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu

treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“

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aus Einsicht tugendhaftem Handeln bedingt, diese phronesis das spezifisch Menschliche. Somit

lösen sich einige paradoxe Aussagen in der „Politik“: Unabhängig von ihrem zugewiesenen

Bürgerstatus sind einige Menschen immer Bürger, andere niemals.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Fragen, wie Menschen zu dem werden, was sie sind

und was sie überhaupt werden können. Für den antiken Philosophen liegen die Antworten in der

Erziehung sowie deren begrenzte Möglichkeiten – die Kapitel der „Politik“ über die Erziehung sind

also nicht zufällig dort. Pädagogik kann dabei aus aristotelischer Sicht höchstens dazu verhelfen,

das im Einzelwesen angelegte Potenzial zutage zu fördern. Diese Bildung muss notwendig

„politisch“ sein, da der Mensch als zoon politikon wesentlich auf die polis ausgerichtet ist.

Die theoretische Klarheit der Konzeption stößt in der Realität allerdings auf Schwierigkeiten: Ist

tugendhaftes Handeln gebunden an das Befolgen moralischer Konventionen oder das Umsetzen

ethischer Prinzipien? Im ersten Fall stellt sich die Frage nach der jeweiligen Gesellschaft, in der

Moral entsteht – Sklavenhandel war für die attischen Zeitgenossen, soweit überliefert, keinesfalls

anstößig, höchstens der Umgang mit ihnen bot Anlass zur Sorge. Im zweiten Fall stellen sich die

Fragen, wie diese Prinzipien gefunden werden, was beinhaltet, wer sie findet, zudem wer über ihre

korrekte Umsetzung in einer Situation entscheidet.

Spätestens an diesem Punkt wird die ursprüngliche ethisch-philosophische Begründung des

Bürgerseins für den Politikwissenschaftler interessant: Versteht man bestimmte Passagen der

aristotelischen „Politik“ als nicht-empirische und wesensbezogene, so wird der Philosoph als

Rechtfertiger von bestehenden Machtverhältnissen, insofern als Ideologe, gesehen.

Im Hinblick auf die aristotelische Unterscheidung von Nicht-Bürgern und Bürgern versteht Andreas

Kamp die Aussagen zu den Theten, die sich mangels Muße nicht um phronesis bemühen können,

offensichtlich als solche; d.h., er wirft dem Philosophen logische Inkonsistenz vor, da er eine

empirische Aussage plötzlich zur Wesensaussage macht132. Mit der Prämisse: Theten sind

wesensgemäß nicht zur phronesis fähig (einen Bürger-Handwerker, Bürger-Tagelöhner kann es also

nicht geben), gerinnt so die Polis-Philosophie zwingend zur Rechtfertigung einer Ordnung, die

niemals eine demokratische, im schlechtesten Fall eine politisch-aristokratische, im besten eine

vollkönigliche sein kann. – Ich vermag nicht zu beurteilen, ob der überlieferte Text hier

interpretationsoffen ist. Ich weise jedoch darauf hin, dass, falls man die Prämisse vorzieht: Theten

sind umstandsgemäß nicht zur phronesis fähig (einen Bürger-Handwerker, Bürger Tagelöhner gibt

es also nicht), die Polis-Philosophie ihr aktivierendes Moment behält. So wäre es eine Aufgabe

politischer Bildung (siehe oben), die Menge so zu erziehen, dass die ihr gemäße Ordnung eine

(Marx, S. 33)132 Vgl. Kamp, S. 184-186.

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politisch-demokratische wird133. Dass dieses Werk misslingen kann, findet sich sogar in Aristoteles’

Biographie: Nach dem Tod Alexanders fürchtete er die Athener und floh nach Euböa.

Die Verfassungen der Bürgerschaften

Die aristotelische „Politik“ besteht augenscheinlich zunächst aus der Entwicklung des so genannten

„Sechserschema“ der Verfassungen. Anzumerken bleibt allerdings, dass es sich dabei nicht um eine

originäre Leistung des Philosophen handelt, sondern er zum einen auf den common sense seiner

Zeit zurückgreifen konnte, dass Ordnungen des Gemeinwesens prinzipiell gestaltbar sind, zum

anderen ein äußerlich ähnliches Schema bereits von Platon, seinem Lehrer, entwickelt worden war.

Die Originalität des aristotelischen Schemas liegt jedoch in seiner spezifischen inhaltlichen Füllung

und Begründung. So ist dafür charakteristisch die Unterscheidung von normativer und empirischer

Ebene; Letztere darf jedoch nicht auf eine bloße Wiedergabe der beobachtbaren Welt reduziert

werden, sie ist vielmehr als Ausdruck einer strukturierten Welt zu sehen, einer Ontologie.134

Auf der normativen Ebene unterscheidet Aristoteles nach der erreichten phronesis der jeweiligen

Regierenden bzw. Herrschenden, wobei er grundsätzlich natürliche Formen definiert, in der die

Bürgerschaft politisch regiert wird und im Gegensatz dazu entartete Formen, in der die Bürgerschaft

despotisch beherrscht wird. – Die „politische“ Regierung bezieht sich hierbei also nicht nur auf eine

wünschenswerte Form, die der Politie, sondern auf alle wünschenswerte Formen, also auch auf die

der Monarchie und der Aristokratie.

Auf der ontologischen Ebene unterscheidet der Philosoph die Ordnungsformen zunächst nach der

Zahl der jeweils Regierenden bzw. Herrschenden und definiert drei Klassen: die Regentschaft bzw.

Herrschaft von Einzelnen, von Wenigen und von Mehrheiten einer Bürgerschaft. – Die

Regentschaft bzw. Herrschaft von Mehrheiten bezieht sich dabei auf ihre Wählbarkeit für die

Ämter, nicht auf die Entscheidungsfindung: Auch bei der Regentschaft bzw. Herrschaft von

Wenigen entscheiden jeweilige Mehrheiten von Regierenden.

Schließlich erkennt der Philosoph so die systematische Empirie der Verfassungsformen, bestehend

aus den natürlichen der Monarchie, Aristokratie und Politie sowie den Entartungen der Tyrannis,

der Oligarchie und der Demokratie.

133 Ähnlich sieht das E.M. Maier, die sich unter Heranziehung von Textstellen aus der Nikomachischen Ethik für die

letztgenannte Prämisse entscheidet. „Politische“ Bildung bedeutet somit Förderung der Reflexion über die Stellung des

– angehenden – Bürgers in der Polis durch andere und schließt Selbstreflexion der Politen und stetiges, jeweils

konkretes tugendhaftes Handeln als Resultat ein. (Vgl. Maier, S. 93-102.)134 Siehe hierzu und zum Folgenden den Anhang: Schema der systematisierten Empirie der Verfassungsformen.

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Innerhalb der einzelnen Verfassungen werden noch einmal Abstufungen definiert, sodass z.B. einer

Äsymnetie, einem befristeten und nicht nach Willkür ausgeübtem Wahldespotentum, ein ähnlicher

qualitativer Status zukommt, wie den Formen der Politie und sodass die Formen der Aristokratie

qualitativ über den vorgenannten Formen eingeordnet werden. Im Einzelnen lassen sich folgende

qualitative Unterscheidungskriterien für die verschiedenen Ordnungen definieren: für die

Monarchie die Kriterien von Machtfülle und Zeitraum der Machtausübung, für die Aristokratie die

der Tugend und des Reichtums, für die Politie die der Tugend und der Wählbarkeit, für die

Demokratie das Kriterium der Wählbarkeit aufgrund des Bürgerstatus sowie teilweise des

Reichtums, für die Oligarchie das der Wählbarkeit, die strikt an den Reichtum gebunden ist. Für die

an sich gesetzlose Tyrannis gibt es kein unterscheidendes Kriterium, obwohl Formen der Monarchie

dort ebenfalls als Formen erscheinen: Beim barbarischen Despotentum und der Äsymnetie wird die

Weise der Machtausübung entscheidend für die Zuordnung zur natürlichen oder entarteten Form,

willkürliche politics lassen diese Verfassungsformen entarten, die Institution, also modern

gesprochen: die polity, wird unerheblich.

Die natürliche Regierungsform der Politie ist in dieser Hinsicht das Gegenteil von

Willkürherrschaft: Sie entsteht als Mischform von Oligarchie und Demokratie und die sie

Regierenden sind höchstens mitfolgend tugendhaft, dennoch ist sie eine wünschenswerte. Ihre

„Tugend“, besteht in der einsichtsvollen Wahl der geeigneten Institutionen durch ihre Bürgerschaft,

es ist gerade ihre, im modernen Sprachgebrauch, polity, die ihre praktische Klugheit ausmacht, die

politics der Regierenden werden vergleichsweise unerheblich.

Hinzuweisen bleibt mit Andreas Kamp darauf, dass alle Verfassungsformen – mit Ausnahme der

Nicht-Ordnungen der Tyrannis, der Dynastenherrschaft und der Demagogenherrschaft, was genau

genommen, weil sie Nicht-Ordnungen sind, keine Ausnahme bildet – an ihre jeweilige

Bürgerschaften rückgekoppelt bleiben; in aristotelischer Diktion: sie hängen ab von der „Natur der

Menge“. Sie sind daher nicht beliebig konstruierbar und nicht dauerhaft oktroyierbar.

Die „Politik“ des Aristoteles und die Gegenwart

Der Beitrag des antiken Philosophen zur Politikwissenschaft und insbesondere zur politischen

Theorie steht außer Frage: Aristoteles definiert erstmalig das eigentlich „Politische“, d.h. die nach

ethisch-normativen Kriterien gestaltungswürdige Ordnung des Gemeinwesens, die „politische

Form“ (F. A. Hermens), durch ihre Bürgerschaft. Dabei beschränkt der Philosoph sich nicht auf

eine Institutionenlehre, sondern bezieht neben einer ethisch-normierten polity auch die Weise der

Machtausübung in seine Betrachtung ein, entwickelt also, ohne den Begriff zu nennen, eine

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Anschauung von politics. – Policies, um die dritte Grundkategorie politikwissenschaftlicher

Analyse zu nennen, können im aristotelischen System keinen heraus zu hebenden Stellenwert

haben: Sie gehören zum Bereich des alltäglich hervorgebrachten politischen Handwerks und sind

allein in ihrem Verhältnis zu ethischen Prinzipien der Untersuchung wert.135

Während Platon letztlich einem auch zwangvollem Anpassen der Wirklichkeit an Ideale das Wort

redet, finden wir bei Aristoteles erstmalig das systematische Erfassen von Wirklichkeit sowie die

davon getrennte Forderung nach Änderung dieser gemäß den Möglichkeiten der jeweiligen

Bevölkerung. Neben eine Ontologie, der nach Aristoteles sowohl prinzipiell erkennbare Struktur

wie Sinn innewohnt, tritt somit die Forderung nach normativ-ethischer Gestaltung des

Gemeinwesens durch die jeweiligen Bürger. Letztere findet sich bei Platon nur eingeschränkt,

jedoch dafür mit Omnipotenz versehen: Den Philosophen-Königen, denen Einsicht in die Ideen des

Kosmos möglich ist, ist alles erlaubt, die daraus resultierenden „Einrichtungen“ des Staates

vorzunehmen und durchzusetzen.

Die aristotelische Politie ist eine direkter Bürgerentscheide; eine Exekutive im modernen Sinne gibt

es höchstens im Bereich nachgeordneter Verwaltung, Zugang zu den entscheidungsvorbereitenden

Ämtern ist an das Vorhandensein eines festzulegenden Vermögens geknüpft. So werden zwar die

später so genannten staatlichen Gewalten von Legislative, Exekutive und auch Judikative in ihren

Funktionen beschrieben, es gibt jedoch keine Theorie der Gewaltenteilung.

Auch die polis als Gemeinwesen der Bürger ist auschließlich politische Gemeinschaft, was

beinhaltet, dass es keine gemeinsam wirtschaftende und keine solidarische Gemeinschaft ist.

Anders ausgedrückt: Der Hausherr ist für sein wirtschaftliches Überleben allein verantwortlich,

kann sich mit anderen jedoch zu dörflichen Tauschgemeinschaften zusammenschließen oder auf

den Märkten der polis handeln; die politische Gemeinschaft kann ihn höchstens davor schützen,

dass er – z.B. durch Pacht- oder Besitzverhältnisse – am wirtschaftlichen Überleben gehindert wird.

Vorstellungen einer modernen, in kapitalistisch organisierten Gesellschaften vorfindlichen

„Sozialgesetzgebung“ sind daher für Aristoteles – wie für alle antiken und selbst mittelalterlichen

Denker – schlicht unvorstellbar.

Insbesondere in der ekklesia der Politie, aber auch denen der Oligarchie und der Demokratie gibt es

gleiches Recht der jeweiligen Bürger zur (Wider-)Rede, isegoria und parrhesia, und zur

gleichberechtigten Wahl, isokratia. Das Recht der freien Meinungsäußerung und ein gleiches

135 Die Bedeutung der aristotelischen Theorie für die heutige Politikwissenschaft würdigt auch M. G. Schmidt und stellt

abschließend fest: „Und obwohl die Aristotelische Staatsformenlehre mehr als 2300 Jahre alt ist, erweist sie sich auch

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Stimmrecht bei Wahlen sind also keinesfalls moderne Erfindungen, sondern stehen am Beginn des

„Politischen“; die Gleichheit vor dem Gesetz, die isonomia, war zudem seit den Zeiten Solons

bekannt. Spezifisch modern ist jedoch die Gewährung des Wahlrechts nicht nur männlichen freien

Bürgern eines bestimmten Alters, sondern prinzipiell allen Staatsbürgern eines bestimmten Alters;

des Rechtes der freien Meinungsäußerung nicht nur den Staatsbürgern, sondern allen Ansässigen,

sowie des Rechtes der Versammlungsfreiheit allen Staatsbürgern. Die Gleichheit vor dem Gesetz

schließlich wird nicht unterteilt, d.h. es gibt kein „Ständerecht“, nachdem verschiedene

gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich gerichtet werden (noch 1215 wurden in der Magna

Charta insoweit Privilegien des Adels festgelegt), und die Gleichheit vor dem Gesetz wird als

naturgegebenes, nicht zur Disposition stehendes Recht jedem Menschen gewährt. – Die Moderne ist

also gekennzeichnet durch eine Ausweitung der beschriebenen Rechte sowie deren teilweise

Ausgrenzung aus dem Politischen: sie sind nicht länger gewähr- oder verhandelbar.

Die aristotelische Legislative, d.h. insbesondere die politische, aber auch die oligarchische und

demokratische, ist – wie ausgeführt – eine direkte. Der Gedanke der Repräsentation widerspricht

den Grundfesten aller aristotelischen Staatsformen: Wo es eine Legislative gibt, ist sie direkt,

Repräsentanten finden sich höchstens in der entscheidungsvorbereitenden Exekutive. Bereits in der

römischen Antike wurde dieses unbedingte Muss der Selbstregierung durch Selbstentscheidung

zugunsten von Repräsentanten preisgegeben und die Preisgabe gerechtfertigt; Polybios und Cicero

sind somit die ersten Ideologen des Repräsentativsystems.

Die von Cicero beredt umgedeutete aristotelische Politie bildet so als res publica den Anfang einer

„republikanischen Tradition der Demokratie“ (H. Vorländer). Eigentümlich ist ihr eine Verfassung

in der oligarchische Elemente sich mit akklamatorisch-demokratischen mischen, exemplifiziert an

den so genannten italienischen „Stadtrepubliken“ des Hoch- und späten Mittelalters136. Nicht die

ethischen Verfassungen der Bürgerschaften stehen seitdem im Mittelpunkt des Gemeinwesens,

sondern institutionelle Arrangements.

An die Stelle der antiken Sinngebung des Politisch-Religiösen ist in der Moderne das prinzipiell

sinnoffene, funktional orientierte Machtlenken getreten. Das gilt sowohl für die so genannten

liberal-demokratischen, westlichen Staatsformen wie auch für die marxistisch-leninistisch

geprägten Formen des „demokratischen Zentralismus“.

Wenn aber die Sinngebung prinzipiell nicht vorherbestimmt ist, es also keine quasi automatische

Orientierung des Staates an Tugend oder göttlicher Offenbarung gibt, dann wird interessant, wie

heutzutage noch als erstaunlich leistungsstark.“ (Schmidt, S. 45f.)136 Vgl. Vorländer, S. 44-48.

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Sinn gefunden bzw. konstruiert wird. Die aristotelische ekklesia war in dieser Hinsicht das

öffentliche Forum, in dem nicht nur gestritten, sondern auch entschieden wurde, insofern also Sinn

gestiftet. – Die ethische Qualität dieser Sinnstiftung wäre für Aristoteles ein Ausdruck der

jeweiligen phronesis ihrer Bürger, mehr defizient in Demokratie und Oligarchie, weniger in der

Politie. Politischer Sinn, also die Begründung dessen, dass man etwas als Bürgerschaft tun soll,

wird allerdings bereits in der res publica eingegrenzt auf das Gemeinwohl, gebunden an die

Bedingung des Konsenses der abstimmenden Repräsentanten. Damit einher geht die Entlastung von

ethischen Einsichtsfähigkeiten des Einzelnen zugunsten der Artikulierung von Interessen. Ein

gemeinsames Interesse zu finden, ist danach die Funktion von sich bildenden Öffentlichkeiten in

sich differenzierenden gesellschaftlichen Teilbereichen: Es entstehen Faktionen, Parteien, Medien.

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Anhang: Schema der systematisierten Empirie der Verfassungsformen

Monarchie (Tugend) Aristokratie (Tugend) Politie [innere Stabilität]

pambasilea vollendete Aristokratieschlechthin Bester regiert umfassend schlechthin Beste regieren

Königtum [oligarchische Aristokratie] [demokratische Aristokratie]nur Kriegführung, Rechtsprechung, religiöse Handlungen tugendhafte Reiche regieren tugendhafte Freie regieren

barbarisches Despotentum Äsymnetie (Politie) [aristokratische Politie] [demokratische Politie]befristet, nicht nach Willkür regierende Reiche sind mitfolgend tugendhaft [Regierende Reiche sind

mitfolgend tugendhaft;reichere Mehrheit ist vonallen Bürgern wählbar]

[ alle Bürger wählen ausreicherer Mehrheit und

„Mittelstand“ ist minde-stens zweitgrößte Gruppe]

(Feldherrenamt)befristet

Unterscheidungskriterien: Machtfülle, Zeitraum Unterscheidungskriterien: Tugend,Reichtum Unterscheidungskriterien: Tugend,Wählbarkeit

natürliche Formen – politisches Regierenentartete Formen – despotisches Herrschen

Tyrannis (gesetzlos) Oligarchie (Reichtum) Demokratie (Freiheit)

vollendete Oligarchie vollendete Demokratienur reichere Minderheit darf Amt ausüben; falls zudem einereiche Mehrheit wahlberechtigt ist,Ähnlichkeit mit Politie

Freie Bürger wählen/losen freie Bürger aus ihrer undfür ihre phyle

barbarisches Despotentum Äsymnetie [oligarchische Wahloligarchie]

[aristokratische Wahloligarchie]

[oligarchische Wählbarkeitsdemokratie]

[vollbürgerlicheWählbarkeitsdemokratie]

nach Willkür befristet, nach Willkür Amtsinhaber wählen ausreichster Minderheit ihre

Nachfolger

Amtsinhaber wählen ausreicher Minderheit ihre

Nachfolger

Freie Bürger wählen /losen aus Mehrheit der

etwas Reicheren

Freie Bürger wählen/losenVollbürger

[Erboligarchie] [bürgerliche Demokratie]Reiche Minderheit vererbt Ämter an Reiche Freie Bürger wählen/losen freie Bürger

vollendete Tyrannis Dynastenherrschaft (gesetzlos) Demagogenherrschaft (gesetzlos)gegen die Natur, gegen das Wohl der Beherrschten

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Unterscheidungskriterium: Wählbarkeit, gebunden anReichtum

Unterscheidungskriterium: Wählbarkeit aufgrundBürgerstatus, teilweise Reichtum

steigende Quantität der Herrschenden/RegierendenAnmerkung: eigene Bezeichnungen und erschlossene Gegebenheiten sind in eckige Klammern gesetzt

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Erläuterungen zum Schema

- Die natürlichen, sich durch politisches Regieren auszeichnenden, Verfassungsformen sind

prinzipiell alle wünschenswert; es kann daher keine gesetzlosen Unterformen geben.

- Die gesetzlosen Formen der Tyrannis mit allen Ausprägungen, der Dynastenherrschaft und der

Demagogenherrschaft verfügen über keine ethische Qualität, keine phronesis: sie sind Nicht-

Ordnungen.

- Das barbarische Despotentum und die Äsymnetie tauchen in der tugendbasierten Monarchie und

in der gesetzlosen Tyrannis auf; entscheidend ist die Regierungsführung die als willkürliche und

gegen das Wohl der Beherrschten gerichtete, sie zu Formen der Tyrannis macht.

- Die tugendbasierten Verfassungen der Monarchie und der Aristokratie sind – konsequenterweise,

da phronesis nur jeweils einzelnen Menschen zukommen kann – personenzentriert; die jeweilige

phronesis der Regierenden als Handelnde macht die Ordnungen zu guten. Die Anzahl der

Regierenden ist rein empirisch bedingt, es gibt keinen qualitativen Unterschied zwischen ihnen.

- Die Politie fußt nicht auf Tugend, gleichwohl ist sie eine gute Ordnung: Ihre praktische Klugheit

zeigt sich daher höchstens mitfolgend in den Regierenden, sie liegt vielmehr in ihren Institutionen,

die ihre Bürger einsichtsvoll geschaffen haben. Genau deshalb kann es innerhalb der Politie auch

nur zwei Ausprägungen geben, die sich hinsichtlich der phronesis ihrer Bürger nicht wesentlich

unterscheiden: Entwickeln sich maßgebliche Einzelne ihrer Bürgerschaft zu tugendhafteren, die von

den Anderen als Regierende aufgrund ihrer Tugend anerkannt werden, so entsteht nicht etwa eine

vollkommene Politie, sondern eine Aristokratie. Verfügen maßgebliche Einzelne der Bürgerschaft

nicht mehr über genügend phronesis – die die Aufrechterhaltung der mitfolgenden Tugendhaftigkeit

der Regierenden oder die Schaffung angemessener Vermögensklassen bedingt – so entsteht nicht

etwa eine ähnliche Ordnung oder eine Nicht-Ordnung, sondern eine Oligarchie oder eine

Demokratie.

- Die vollendeten Formen der Oligarchie und der Demokratie liegen nicht etwa, wie die der

Tyrannis, spiegelbildlich zu ihren natürlichen Formen; die Bürgerschaft einer vollendeten

Oligarchie verfügt also über mehr phronesis als die einer Erboligarchie, die einer vollendeten

Demokratie über mehr als die einer bürgerlichen Demokratie. Das Paradoxon erklärt sich dadurch,

dass die Bürger der vollendeten Formen das verwerfliche telos ihrer Verfassungen – Reichtum bzw.

Freiheit – am stärksten eingegrenzt haben, nicht etwa weil sie als maßgebliche Einzelne tugendhaft

wären, sondern weil praktische Klugheit sie die für ihre Verfassungen am wenigsten verwerflichen

Institutionen hat etablieren lassen. Somit wird auch klar, warum die jeweils maßgeblichen

Einzelnen hinsichtlich der phronesis auf gleicher Stufe stehen: beide halten ein falsches telos für das

wesentlich Menschliche, beide grenzen es jedoch maximal ein.

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Noam und F. Oser. 1. Aufl. Frankfurt am Main 1995 [Es handelt sich um zusammengestellte

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