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Wer tötete Medeas Kinder? Einige Bemerkungen zu Euripides, Kreophylos und Christa Wolf ERNST-RICHARD SCHWINGE Der 1996 erschienene Roman Medea. Stimmen von Christa Wolf lebt von der Pointe, daß nicht Medea selbst ihre Kinder tötet, sondern diese von den Korin- thern gemordet werden. Mit der solchermaßen verfolgten Entlastungs- und Ent- schuldungsstrategie hinsichtlich Medeas stellt sich die Autorin nicht nur gegen Euripides, durch dessen Tragödie von 431 Medea als Mörderin ihrer Kinder kanonisch wurde. Sie strebt damit auch die Annihilierung einer sich durch Jahr- hunderte erstreckenden, praktisch bis heute reichenden Tradition von Repristi- nationen des Medea-Stoffs an, die in dem genanntem Datum mit Euripides kon- form gehen. Daß Wolf in ihrer Bemühung, die traditionelle Lesart des Mythos umzu- schreiben, nicht ganz selbständig verfahrt, vielmehr bereits wenig vor ihr von anderen gleichlautende Versuche unternommen worden sind, lasse ich hier bei- seite; ich komme darauf, wie auf den Roman insgesamt, an anderer Stelle zu sprechen. 1 Hier soll allein interessieren, daß sie bei ihrer Totalumstülpung des Medea-Mythos nicht etwa einem eigenen Einfall folgt, sondern sich einer bereits aus der Antike überlieferten Version der Sage anschließt. Darauf legt Wolf selbst um ihres zentralen Anliegens willen, Medea zu rehabilitieren, den aller- größten Wert: Sie ist überzeugt, daß ihre Sicht und Darstellung Medeas auf diese Weise Wahrheitsqualität erlangt. Allererst indem man jene antike Variante der Medea-Geschichte revitalisiere, könne es gelingen, die Wahrheit über Me- dea wieder ans Licht zu bringen. In dem kurzen Abriß 'Von Kassandra zu Medea. Impulse und Motive für die Arbeit an zwei mythologischen Gestalten' von 1997 äußert Wolf zu dem ent- scheidenden Datum des Mythos, daß Medea ihre eigenen Kinder tötet: 2 1 Schwinge (2003). 2 Hochgeschurz (1998: 11-17, hier 15-16). Brought to you by | University of Massachusetts - Amherst W.E.B. Du Bois Library Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 7/30/12 5:27 PM

Antike Literatur in neuer Deutung Volume 85 (Festschrift für Joachim Latacz anlässlich seines 70. Geburtstages) || Wer tötete Medeas Kinder? Einige Bemerkungen zu Euripides, Kreophylos

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Wer tötete Medeas Kinder?

Einige Bemerkungen zu Euripides, Kreophylos und Christa Wolf

ERNST-RICHARD SCHWINGE

Der 1996 erschienene Roman Medea. Stimmen von Christa Wolf lebt von der Pointe, daß nicht Medea selbst ihre Kinder tötet, sondern diese von den Korin-thern gemordet werden. Mit der solchermaßen verfolgten Entlastungs- und Ent-schuldungsstrategie hinsichtlich Medeas stellt sich die Autorin nicht nur gegen Euripides, durch dessen Tragödie von 431 Medea als Mörderin ihrer Kinder kanonisch wurde. Sie strebt damit auch die Annihilierung einer sich durch Jahr-hunderte erstreckenden, praktisch bis heute reichenden Tradition von Repristi-nationen des Medea-Stoffs an, die in dem genanntem Datum mit Euripides kon-form gehen.

Daß Wolf in ihrer Bemühung, die traditionelle Lesart des Mythos umzu-schreiben, nicht ganz selbständig verfahrt, vielmehr bereits wenig vor ihr von anderen gleichlautende Versuche unternommen worden sind, lasse ich hier bei-seite; ich komme darauf, wie auf den Roman insgesamt, an anderer Stelle zu sprechen.1 Hier soll allein interessieren, daß sie bei ihrer Totalumstülpung des Medea-Mythos nicht etwa einem eigenen Einfall folgt, sondern sich einer bereits aus der Antike überlieferten Version der Sage anschließt. Darauf legt Wolf selbst um ihres zentralen Anliegens willen, Medea zu rehabilitieren, den aller-größten Wert: Sie ist überzeugt, daß ihre Sicht und Darstellung Medeas auf diese Weise Wahrheitsqualität erlangt. Allererst indem man jene antike Variante der Medea-Geschichte revitalisiere, könne es gelingen, die Wahrheit über Me-dea wieder ans Licht zu bringen.

In dem kurzen Abriß 'Von Kassandra zu Medea. Impulse und Motive für die Arbeit an zwei mythologischen Gestalten' von 1997 äußert Wolf zu dem ent-scheidenden Datum des Mythos, daß Medea ihre eigenen Kinder tötet:2

1 Schwinge (2003). 2 Hochgeschurz (1998: 11-17, hier 15-16).

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Das konnte ich nicht glauben. Eine Heilerin, Zauberkundige, die aus sehr alten Schichten des Mythos hervorgegangen sein mußte, aus Zeiten, da Kinder das höchste Gut eines Stammes waren und Mütter, eben wegen ihrer Fähigkeit, den Stamm fortzupflanzen, hoch geachtet - die sollte ihre Kinder umbringen?

Aber der Zufall verhalf Wolf dann

zu der Verbindung mit einer Altertumswissenschaftlerin in Basel, die unter ande-rem den Medea-Sarkophag des dortigen Museums betreut und mir den von ihr geschriebenen Medea-Artikel aus dem Lexicon Iconigraphicum [sie] Mythologiae Classicae (LIMC) zuschickte, aus dem hervorgeht, daß erst Euripides der Medea den Kindermord zuschreibt, während andere, frühere Quellen Rettungsversuche der Medea für die Kinder schildern, unter anderem, indem sie die Kinder ins Heiligtum der Hera bringt, "wo sie sie geschützt glaubt, doch die Korinther töten sie". - Sie können sich meine Erleichterung vorstellen, daß ich diese Verände-rung der über die Jahrtausende [?] als Kindsmörderin ins abendländische Be-wußtsein eingegrabenen Gestalt nicht zu erfinden brauchte.

In einer Tagebuchnotiz unter dem Datum des 11. November 1991 war die Er-leichterung gar bereits ein Triumph gewesen (Hochgeschurz 1998: 19):

Ein Triumph [...]: In Wolfsberg hat ein Museumsdirektor mich an eine Medea-Spezialistin in Basel vermittelt - durch die habe ich nun erfahren, was ich ver-mutet hatte: Medea hat in den älteren Überlieferungen ihre Kinder nicht umge-bracht, dies hat erst Euripides ihr erfunden; sie hat die Kinder in den Tempel der Hera gebracht, dort wurden sie dann von den Korinthem getötet.

Dasselbe in einem Brief vom 19. 11. 91 an die Medea-Spezialistin und Alter-tumswissenschaftlerin in Basel, die Archäologin Margot Schmidt (Hochschurz 1998: 21, vgl. 41):

Ich bin hoch beglückt über die Materialien, die Sie mir geschickt haben [...]. Sie ersparen mir viel Sucharbeit, und schon auf Anhieb erlebte ich einen Triumph: Ich hatte nicht glauben können, daß das Kindermord-Motiv wirklich zu den älte-sten Motiven dieses Mythos gehören soll, und nun erfahre ich also, daß es wirk-lich erst durch Euripides eingeführt wurde.

Und wie Euripides deshalb zu beurteilen ist, zeigt Wolf in einem Brief an die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth vom 13. 10. 92 (Hochschurz 1998: 22):

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[Anfangs] kannte ich [...] nur die gängige Überlieferung, die sich an den Euripi-des hält. Allerdings war ich schon so weit geschult im Auffinden von Hinter-gründen hinter den schriftlich fixierten Überlieferungen aus einer relativ späten Zeit und 'wußte' doch soviel über das Profil der Frau in mythischer Zeit, daß ich es für unmöglich hielt, daß Medea ihre Kinder umgebracht haben konnte: Aber dies ist es ja, was 'jedermann* von ihr heute weiß [...]: Sie ist die "schreckliche Frau", das Monster, die Unnatur in Person. Dies alles hat Herr Euripides erreicht [..., der sie eben als Kindermörderin dargestellt hat, sie], die Frau, die Mutter, die ja, als sie Korinth verlassen mußte, ihre Kinder dem Altar der Hera anvertraute, wo sie sie für absolut sicher hielt. Die Korinther aber, wahnsinnig vor Angst vor den Zauberkünsten der Medea, außerdem einem Rachebedürfnis nachgebend, gingen hin und erschlugen sie: Wie sonst hätte sich übrigens die Einrichtung des Sühneopfers für die Medea-Kinder in Korinth erklären lassen?

Später, in einem Gespräch vom Februar 1997, hat sich Wolf dann etwas generö-ser zu Euripides geäußert (Hochschurz 1998: 61); immerhin hatte Schmidt sie seinerzeit wissen lassen: "[...] dass Euripides Medea schlechthin zum Monster gemacht habe, kann ich nicht voll unterschreiben" (Hochgeschurz 1998: 27).

Insgesamt also ist deutlich: Wolf klammert sich an die durch Schol. Eur. Med. 264 überlieferte und ihr durch Schmidt und deren Medea-Artikel im LIMC bekanntgemachte Version der Medea-Sage des Kreophylos (was der Roman selbst noch dadurch bestätigt, daß hier auch das gemäß der Kreophylos-Version von den Korinthern nach der Tat ausgestreute Gerücht aufgenommen ist, Medea selbst habe ihre Kinder getötet). Diese Version der Medea-Sage ist, als die ge-genüber Euripides frühere, für Wolf diejenige, die die wahre Medea sichtbar macht.

Natürlich müßte jetzt zunächst diskutiert werden, mit welch fragwürdigem Mythos-Begriff die Autorin hier insgesamt operiert, doch auch darauf komme ich in dem genannten Medea-Aufsatz zu sprechen. Einstweilen mag eine Prü-fung der faktischen Voraussetzungen ihrer Thesen genügen. Diese aber sind nun keinesfalls so eindeutig, wie Wolf annehmen mußte. Zwar muß man den LIMC-Artikel wohl in der Tat so verstehen, daß nach ihm die Kreophylos-Version ge-genüber der Medea des Euripides früher ist. Doch angesichts der weitgehenden Folgerungen, die Wolf daran knüpft, hätte es sich nahegelegt, sie jetzt auch dar-über zu unterrichten, daß die Frage des Prioritätsverhältnisses in der Forschung zumindest umstritten ist. Denn hier ist ja durchaus manifester Dissens, ob die Kreophylos-Version vor- oder nacheuripidisch ist, bzw. ob es sich bei Kreo-phylos um den dem 7. Jh. v. Chr. angehörenden Epiker Kreophylos von Samos

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handelt oder um den allenfalls dem 4. Jh. v. Chr. zuzuschlagenden Historiker Kreophylos von Ephesos.3

Es sind nun aber, was noch deutlich darüber hinausgeht, sogar gerade für die letztere Ansicht bereits mehrfach die ersichtlich überzeugenderen Argumente vorgetragen worden. Allerdings waren sie, wie es scheint, noch nicht generell überzeugend, mithin noch nicht überzeugend genug. Darum möchte ich sie um ein paar Hinweise ergänzen. Sinnvoll scheint es, zu diesem Zweck erneut auch die anderen Varianten zu mustern, die uns hinsichtlich der Tötung der Medea-Kinder überliefert sind.4

Die früheste Variante liefert der dem 8. Jh. v. Chr. angehörende Epiker Eumelos von Korinth in seinem Epos Korinthiaka.5 Voraussetzung dieser Ver-sion ist, daß Medea, als Tochter des Aietes, in Korinth die Herrschaft innehat und durch sie Iason die Position des Königs. Gekommen ist es dazu, weil Aietes einst von seinem Vater Helios Korinth geschenkt bekommen, jedoch, um wieder nach Kolchis zurückkehren zu können, die Herrschaft einem gewissen Bounos übergeben hatte. Und als im weiteren dann in der Herrscherfolge ein männlicher Nachkomme einmal nicht zur Verfügung stand, holten die Korinther aus Iolkos Medea herbei und übergaben ihr die Herrschaft: als Tochter des Aietes kam sie in dieser Situation dafür am ehesten in Frage. Ich lasse beiseite, was bei dieser Version vorausgesetzt scheint:6 daß Medea und Iason nach Rückkehr mit dem goldenen Vlies nach Iolkos ebendort ein ungestörtes Leben führten, daß sie also keinesfalls aus Iolkos vertrieben wurden (der ganze Komplex des Peliadenfre-vels scheint ausgeblendet) und daß trotz des Vliesraubs und alles damit Zusam-menhängenden gegen die Inthronisierung Medeas (und Iasons!) in dem ja Aietes eigenen Herrschaftsgebiet niemand Bedenken erhob. Hier interessiert vor allem, was nach Medeas Herrschaftsantritt passiert.

3 Vgl. die Dokumentation von Bernabé zu PEG Kreophylos fr. 9. Bernabé selbst ordnet dieses entscheidende Fragment unter die fragmenta dubia ein; vgl. EG F Davies p. 152: fragmentum spurium. S. weiterhin: für den Epiker der Medea-Artikel in DNP wie auch bereits Page (1961: XXIV); für den Historiker UMC, s.v. Kreousa II (120); DNP, s.v. Kreophylos [2]; Fowler (2000: 65-66); Mastronarde (2002: 51 Anm. 85) und ausdrücklich Harrauer (1999: 17-19).

4 Vgl. bereits Page (1961: XXI-XXX); von Fritz (1962: 328-331); Mastronarde (2002: 50-53). 5 PEG fr. 3-5 Bernabé; EGF F 2A-3B Davies; FGrHist 451 F la-2c; Fowler (2000: 106-107). Mit

Fowler (2000: 105) zwischen Eumelos, dem Dichter, und einem Eumelus Corinthius Pseudepi-graphus zu unterscheiden, der dann den Platz des Historiographen Eumelos einnähme (und mög-licherweise ins 4. Jh. gehörte), scheint unnötig; die communis opinio bei Bernabé zu Τ 1.

6 Vgl. von Frite (1962: 326).

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Medea bekommt Kinder (die Zahl wird nicht genannt), und jeweils unmittel-bar nach der Geburt bringt sie jedes von ihnen in den Tempel der Hera und 'ver-birgt' es dort (κατακρύπτειν, was immer konkret damit gemeint sein mag).7 Sie glaubte, sie auf diese Weise unsterblich zu machen. Zu solcher Erwartung konnte sie sich, wie wenigstens ein Pindarscholion wissen läßt (Schol. Pind. Ol. 13.74g), deshalb berechtigt wähnen, weil sie, um sich nicht den Zorn der Hera zuzuziehen, einem Liebeswerben von Seiten Zeus' nicht nachgegeben und Hera ihr daraufhin ein entsprechendes Versprechen gegeben hatte. Aber Hera löst, aus welchem Grund immer, ihr Versprechen nicht ein:8 Medea sieht sich schließlich in ihrer Erwartung getäuscht; mit ebender Handlung, mit der sie ihre Kinder unsterblich machen wollte, tötet sie sie. Und als sie von Iason bei ihren unseli-gen Handlungen ertappt wird, wendet sich dieser auch noch, ohne ihr zu verzei-hen, von ihr ab und kehrt nach Iolkos zurück. Wegen all dieser Vorgänge verläßt dann auch Medea Korinth, nicht ohne zuvor noch die Herrschaft an Sisyphos zu übergeben. In der Eumelos-Version also tötet Medea selbst ihre Kinder, aller-dings unwillentlich, ja unter Umständen wider besseres Wissen. Es handelt sich um einen φόνος ακούσιος, dem deutlich tragische Züge eingeschrieben sind.

In der zeitlich nächsten Variante, die uns der Aristarch-Schüler Parmeniskos überliefert,9 sind es dagegen die Korinther, die die Tötung der Medea-Kinder vollführen. Voraussetzung ist auch hier Medeas Herrschaftsstellung: Die Ko-rintherinnen, so heißt es, waren nicht länger willens, sich von einer Fremden und Zauberin beherrschen zu lassen, und trachteten deshalb Medea und ihren Kin-dern, sieben weiblichen und sieben männlichen, nach dem Leben. Die Kinder (von Medea ist weiterhin nicht die Rede) flüchteten vor ihren Verfolgern in den Tempel der Hera Akraia und setzten sich dort auf dem Altar nieder. Aber des-senungeachtet schlachteten die Korinther sie an eben dieser Stelle ab (die Män-ner hatten sich offensichtlich das Verlangen der Frauen zueigen gemacht). Daß dies eine aitiologische Erzählung ist, zeigt das weitere. Es brach eine Pest aus, das um Rat befragte Orakel forderte zur Sühnung des Mords an den Medea-Kin-dern auf, und so lassen die Korinther 'bis heute' jedes Jahr sieben Knaben und sieben Mädchen aus den vornehmsten Häusern jeweils ein Jahr lang im Heilig-tum der Göttin zur Besänftigung ihres und der Kinder Zorn Opferdienst tun.

7 S. zuletzt Mastronarde (2002: 51-52). ' Wodurch natürlich die Verbindung zur Eumelos-Version auch wieder problematisch wird, was

wiederum möglicherweise sekundäre Entstehung der Scholion-Mitteilung indiziert, vgl. Jacoby zu FGrHist 451 F 1-2, Anm. 11 fin. (III b Komm. Noten, p. 185).

9 Schol. Eur. Med. 264 (Fowler 2000: 66).

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Daß diese Version früher ist als die Medea des Euripides, zeigt diese selbst. Vom Drachenwagen herab verkündigt Medea dort, daß sie ihre Kinder im Hei-ligtum der Hera Akraia bestatten und für Korinth für alle Zukunft einen Kult der Kinder stiften werde: άντί τοΰδε δυσσεβοΰς φόνου, also für den gottlosen Mord an den Kindern, den sie selbst begangen hat (1378-1383). Diese aitiologi-sche Erklärung des korinthischen Herakult-Brauchs aber ist sozusagen dysfunk-tional, da ja die Korinther selbst hier nichts abzubüßen haben; sie ist damit ein-deutig sekundär gegenüber derjenigen der Parmeniskos-Version.10

Die dritte Variante - um die es uns hier eigentlich geht - wird von Didymos mitgeteilt. Dieser stellt sich mit ihr ausdrücklich gegen die von Parmeniskos entfaltete. Sein Protest richtet sich indes nicht auf die Frage der Autoren des Mords - auch in 'seiner' Version sind es die Korinther, die die Medea-Kinder umbringen - , sondern auf Motiv und Anlaß der Tötung. Didymos verweist auf Kreophylos.11 In dessen Version hat die Herrschaft in Korinth nicht Medea, son-dern Kreon inne. Medea ihrerseits weilt in Korinth, zusammen mit Iason und ihren Kindern, augenscheinlich als aus Iolkos Geflohene, also als Flüchtling. Sie tötet Kreon mit Zaubergiften - als Motiv darf man supplieren, daß der König sie als gefährliche barbarische Zauberin um des lieben Friedens willen des Landes verwiesen hat, sie also wie die Korintherinnen in der Parmeniskos-Version als persona non grata loswerden wollte. Nach Vollendung ihrer Tat fürchtet Medea die Freunde und Verwandten Kreons und flieht nach Athen. Ihre Söhne aber, die noch zu jung sind, als daß sie sie mitnehmen könnte, setzt sie zuvor noch auf dem Altar der Hera Akraia ab, in der festen Annahme, Iason, ihr Vater, werde sich darum kümmern, daß sie am Leben bleiben. Doch die Verwandten Kreons töten sie und streuen dann das Gerücht aus, Medea selbst habe nicht nur Kreon, sondern auch die eigenen Kinder umgebracht.

Daß aus Rache für die durch Medea erfolgte Ermordung Kreons dessen Verwandte die Kinder Medeas töten könnten, wird als Befürchtung auch in Eu-ripides' Medea geäußert, dort insbesondere von Iason am Ende des Stücks.12

Aus diesem Umstand hat man natürlich schon längst die beiden alternativen Schlüsse gezogen, die hier prinzipiell möglich sind: Entweder setzt Euripides eine Version als bekannt voraus, in der die Kreon-Verwandten die Medea-Kin-

10 Mastronarde (2002: 50-51). " Schol. Eur. Med. 264 (PEG fr. dub. 9 Bernabé; EGF fr. spur., p. 152 Davies; Creophylus Ephe-

sius fr. 3 Fowler (2000: 66). 12 Eur. Med. 1303-1305, vgl. 781-782, 1238-1241, 1380-1381; 1060-1063 sind in meinen Augen

unecht.

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der tatsächlich aus Rache umbringen - dann ginge Kreophylos mit seiner Ver-sion der euripideischen Medea voraus.13 Oder Kreophylos hat seine Version aus entsprechenden Ansätzen bei Euripides wie insbesondere der Iason-Äußerung herausgesponnen - dann folgte er Euripides nach. Als sein Motiv wäre anzu-nehmen, einmal daß er das traditionelle Datum, daß die Medea-Kinder von den Korinthern getötet werden,14 plausibler begründen wollte, als es in der Parme-niskos-Version geschieht - und das wird ja in der Tat dadurch geleistet, daß hier (wie bei Euripides, von dem er das dann übernommen hätte) zunächst Medea Kreon umbringt. Und zum anderen wäre natürlich vor allem als Motiv zu be-nennen, daß er die für Euripides' Stück grundlegende Tötung der Kinder durch Medea selbst mit deren traditioneller Ermordung durch die Korinther vermitteln wollte15 - das erfolgt dann dadurch, daß die Korinther nach ihrer Tat das Ge-rücht verbreiten, Medea habe nicht nur Kreon, sondern auch die eigenen Kinder umgebracht.

Daß nur der zweite Schluß zutreffend sein kann, zeigt sich, wenn man die Kreophylos-Version und da insbesondere ihr gerade herangezogenes Ende noch einmal für sich etwas genauer betrachtet. Zwar figurieren die Korinther in dieser Version, genau wie in der des Parmeniskos, als die Mörder der Medea-Kinder, und sie haben hier sogar nicht bloß wie dort ein ganz im allgemeinen bleibendes, gewissermaßen anonymes Motiv für ihre Tat, nämlich die Herrschaft der Barba-rin und Zauberin, sondern ein spezifisches, ja persönliches, die Ermordung ihres Königs durch Medea. Indessen, die Korinther büßen ihre Untat hier nicht, durch Institutionalisierung eines Kultbrauchs, ab. Sie suchen sich im Gegenteil zu ex-kulpieren (womit sie freilich nicht minder ihr Wissen um ihre Tat als eine Untat offenbaren): sie streuen das Gerücht aus, Medea habe den Mord begangen.

Wer ein Gerücht verbreitet, tut das in der Überzeugung, das Gerücht werde Glauben finden. Die Korinther aber, bleibt man in den Bahnen der Geschichte, haben zu solcher Gewißheit nicht den geringsten Anlaß. Denn aus welchem Grund sollte Medea hier eigentlich ihre Kinder töten? Daß sie sich, wie bei Euri-pides, auf diese Weise an Iason rächen wollte, wird man nicht anführen können.

13 So Page (1961: XXIV). 14 Wie fest dieses Datum war, zeigt noch die u.a. von Parmeniskos mitgeteilte, an sich absurde

Anekdote (Schol. Eur. Med. 9), Euripides habe von den Korinthern fünf Talente erhalten, damit er ihre Vorfahren von dem Ruf des Kindermords befreie, indem er diesen auf Medea Uberträgt (vgl. Ael. VH 5.21). In dem Aufsatz von Hairauer ist in jedem Fall die Annahme unerlaubte Spe-kulation (1999: 20-21), daß Euripides in der Anekdote "bloß Ersatz für einen anderen Namen gewesen sein wird", nämlich für Eumelos; ähnlich Mastronarde (2002: 53 Anm. 87).

15 Vgl. Jacoby zu FGrHist 417 Kreophylos F 3; Schmid (1940: 357 Anm. 9).

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Denn Medeas Verhältnis zu ihm, ihrem Gatten, ist ja offenkundig völlig intakt: Sie geht davon aus, daß er sich um die Kinder und ihre Rettung kümmern werde. Ebensowenig kommt als Grund in Frage, daß Medea die Kinder lieber selbst töten will, als daß sie sie den Korinthern zur Tötung überläßt (wie sie -vordergründig - bei Euripides argumentiert).16 Denn Medea setzt hier ja gerade darauf, daß die Kinder mit Iasons Hilfe gerettet werden, die Korinther sie also letzthin verschonen. Aus der Geschichte selbst ergibt sich also kein plausibles Motiv für Medeas angebliche Tötung ihrer eigenen Kinder; ja der Ablauf der Geschichte dementiert sogar eher jegliche derartige Motivation.

Und doch läßt sich ein Grund benennen, warum die Korinther zu Recht glau-ben können, das von ihnen ausgestreute Gerücht werde den nötigen Glauben finden. Allerdings kommt dieser Grund sozusagen von außen: Die Korinther können der Wirkung ihres Gerüchts vertrauen - weil Euripides, mit seiner Tra-gödie, Medea als willentliche Mörderin ihrer Kinder fest und unwiderruflich ins allgemeine Bewußtsein eingesenkt, sie gewissermaßen als Kindermörderin be-glaubigt hat. Auch daraus aber ergibt sich dann: Die Kreophylos-Version ist in Abhängigkeit von Euripides' Medea und also später als diese entstanden, bei Kreophylos handelt es sich nicht um den Epiker Kreophylos von Samos aus dem 7., sondern um den Historiker Kreophylos von Ephesos aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. - und Christa Wolfs feministisch inspirierter Triumph entbehrt jeder Grundlage.

Aus unserem Gesamtüberblick aber ergibt sich: Die Eumelos-Version mit dem φόνος ακούσιος Medeas selbst scheint angesichts der augenscheinlich sta-bilen Tradition, die als die Mörder der Medea-Kinder die Korinther sieht, keine Rolle gespielt zu haben - bis zu Euripides. Er machte aus der unwillentlichen Tötung der Kinder einen willentlichen Mord, aus dem φόνος ακούσιος einen φόνος έκούσιος und teilte damit der schon dort das Ganze strukturierenden, jedoch sozusagen archaischen Tragik eine andere, gewissermaßen moderne Di-mension mit.17

16 Eur. Med. 1238-1241; zum richtigen Verständnis der Stelle vgl. Friedrich (1967: 29, auch 44). Zu Eur. Med. 1060-1063 s.o. Anm. 12.

17 Dies natürlich bei der Voraussetzung, daß Euripides' Medea derjenigen des Neophron voraus-geht. Doch auch bei Annahme des umgekehrten Verhältnisses änderte sich an der vorgetragenen Argumentation insgesamt nichts. Beachtenswert zur Priorität des Neophron Manuwald (1983: 39-46) und Beck (1998: 23-24, mit Lit.); zum Problem zuletzt, wenig glücklich, Mastronarde (2002: 57-64).

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