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Anvertraute Worte Festschrift Helwig Schmidt-Glintzer zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Susanne Rode-Breyrnann und Achim Mittag Wehrhahn Verlag

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Anvertraute Worte Festschrift Helwig Schmidt-Glintzer

zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Susanne Rode-Breyrnann und Achim Mittag

Wehrhahn Verlag

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ßibliogrJfi\che lnform,uion der Dclfücht"n N.nion.ilbibliod1ck

Die Dcut:-.chc N.uio11.1lbibliotht:k vcrtcichnct die.">e Publik.uion in der

DcutKhcn NJtio11.1lbibliogrJfic; dc[Jillicnc biLliogrJfi~dic ÜJtcn sind im

Inrernet über <i1trp://dnb.ddb.dc> .tLrulb.u.

1. Autbge 2013 \'V'dirluhn V"rl.ig

www.wdirh.1hn~wrbg.d1.·

S.ltl und Gesulrung: \'V'chrluhn Vnbg Um~chbg.ibbildung: D.m~wd Mirug

Druck und ßindung: ßclu, lbd LJngcnsal1„1

Al!c Rc,htc vorbeh.1l1en

Prlnw.1 in Gl'rmauy f0 by Wehrhahn Vcrl.1g

ISBN 978-3-86525-328-6

Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit .... „ ....•.•......... „ ...•.• „ ........ „ ..... „„.„„„„„„ .. „„ .... „„„.„„ ................ „„.„ .......• „ .... 9

I<apitel !: lkrgbesteigungen

1 klwig Schrni<lt-Glintzer

l3ergbesteigungen in China - Lu Wandltingen

und Dauerhaftigkeit einer D:i;einsmetapher (1985) „„„„„.„„„„„„„„„„„„„„„„„„.„„ 19

i\chim Mittag

llcrgbc:stcigungen in Chin:1 - lur \X'andlung einer Daseinsmetapher in dcrspiitercn Kaiserzeit ....... „„ .. „„ .. „„ .............. „„.„ .... „ .• „ 33

f(apitel II: Humanismus

1-ldwig Schmidt-GLintzcr

Chancen für einen globalen J-lumanismus im Kampf der Kulturen (2010) „„„„„„ 57

Jiirn Rüsen

Humanismus und Religion - Anmerkungen

zu einen1 prekären Verhiiltnis .„.„ .... „„„ ........... „ ............ „.„„ ... „ ................................... 85

Jan Assmann

Fortschritt in der l\frnschlichkcit „„„.„„„„.„„„„„„.„„„„„„„„.„ „„„„.„„.„„„„„„„.„.„. 93

Oliver Kozbrek

Humanismus, Moderne und \'X'dtbewusstscin . „„ 105

Thomas 11. C. Lee

I lumanismen in !vfodcrn Chin:sc Thoughr ............................. „ ..... „ ..•••• „ ............. „ .. 11.5

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Kapitd lll: Politik - c;c:sc:lbchaft - Recln

Hdwig Sdnnidr-Clintzer

»Demokratie un<l n:volutionlrcr Auroritaris1nus~< [Auszüge],

aus: Chi11m /l11gJI wr der I ·i·eiheil. Ver 1'1111;e l~g i11 die Afodem,: (2009) „.„ ... „.„ .. „.„.„„ 141

Nde Nocsselt

Angst vor lkt Freiheit? Ritudk und traditionelle Grundl:igen politischer 1 krrsclnfr in China .„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„. 145

Susantk \X't:igelin-Sd1witxlrzik China und die Hoffnung auf Harmonie „„„„.„.„„„„„„„„„„„.„.„„„.„„„„„.„ „„„„„ 159

Michad Stolleis Über Rezeptionen, Übernahmen oder J\Iigrationcn von RL'c!H .„„ „„„„„„„.„„ •... „ 167

Kapitel IV: Religion

l ldwig Schmidt-Glintzer: >>Ausblick« aus: lf/ohlsta11d, Gliido und lm~:~cs L·hcn. Chint1s G'u/t,:r 11111/ i/1;; Onillllfl!', ii11 Reich d,r lv1ilk (2010) „„„„.„„„„„. 183

l lubcn SL·iwert Die S:ikularit:ir tks konfuzbnischen Staates und d:ts lliickcnforde-J)ilemma ..... „„ .................... „ .. „.„„„„„ ... „ .... „ ... „ .... „ ... „„„ ....... 193

1 'riedrich Weber Vom Glück, dem guten Lcbt.:n un<l <lcr Ehre Gottes .„„„„.„„„„„„„.„ .. „„. „„„„„„. 209

Kapitel V: Bibliothek - Wissc:nsspcicherung

llclwig SchmiJr-Glintzer Die uusend Schnittstellen der l krzog August llibliothek (1995) „.„„„ „„„„„„„„. 223

Thomas St:icker Die llibliotkk als Schnittst die und digitaler Forschungsraum „„„„.„„„.„„.„„.„.„. 237

Werner Arnold

Bücher für <lcn Herzog

Rqir:iscmativcr Luxus oder intdkktudks Kapital für lkn 1 Iof? „ .. „„.„„„„.„.„„„ 25'.

ICapitel VI: Buch - Schrift - Kunst

Hdwig Schrnidt-Glintzet

i'vktan1orphosc Stadt 1 U!1<l II. Neue Arbeiten von Gerd \'\!inner

im Kornspeicher der Hc:zog 1\ugust Bibliothek Wolfenbüttel

Rede zur Eröffnung und zum Abschlus~ der Ausstellung (2001)

Gerd Winnc:r: -i211d Stmt N. Z '1 he Rock (1993) „„„„.„„ „„„„„„„„„„„„.„„ 26'

Hdwig Schmidt-Glimzer

Lebensspuren. Vorwort ~utn Aussrdlungskat;i.log: 1-ldga Schrüdcr. Farbradierungen 1981-1998 (2008)

Helga Schrii,kr: 13ricf Vill (1993) „„„„„„„„„„„. „.„„„„.„„„„„„.„„„„„„. 2(,'

l klwig Scl1mid1-C;li111ze·

Ist der 'fod gr:m' oder 1 ni Einkbng mit der Wdt. Rede

zur Eröffnung der Ausstellung von Arbeiten von Susanne Tbeumcr (2009)

Susanne Thcu ner: Die T!n'n11m111g, z11 lf/'. G. SchaM (2009)

und Das (,"e/,ildc (2009) .„„„„.„„„„„ .„.„„„„„„„„.„„„„„„„„ „„„„„„„„„„„ 27

Hdwig Schrnidt-Glintzer

Sehen als Handlung - i\11nlhcrungen an die ßilder von

Claudia Berg, oder: >)Nu~ was ich gezeichnet habe, habe ich wirklich gLsehcnK R~dc zur Eröffnung der Au~stdlung von Claudia Berg:

»Radierungen zur Land><:hafrs- und Liebeslyrik 1 kitJCs« (2010)

Claudia Berg: f!üh,:11dorf[va11k (2011) und Vrchha-,~ (2010) „„. „„„„„„„.„. 27

Hdwig SchmiJt-Glintzer

Von den Dingen und tkn ivlogdpackungen. Rc<le zur Eröffnung

dtr Ausstdlung von Felix i\lartin Furtwiingler »Printing into

Thinking«. l'Dlgen - Sui:cn - Zyklen (2010)

l·dix Martin l'urtwängler: Emc11erl<I Vül/.ccrji«111rdsch<ift „„. „.„„„„„„„„„„. 28

Lotl1ar 14cdderosc l\kditation vor der l·dsvand „ „„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„. „„„„„ 28

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Kapitel Vll: Klangraum

1 ldwig Sclunidt-Glintzer

Das Lied von der Erde und Jie Ebenbürtigkeit von Wort

und l\fusik- Ein Beispiel für das Zulassen des Fremden (Originalbeitra>0 „„ .... „ .. 297

Susann1,; Rodc-Breynnnn

Gusrav und 1\lm:1 Mahlet in New York „„„ „„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„ 309

Gerd \'\/inner

Re<le zur Erüffnung der Ausstellung »OFF Broadway. Künstkrbücher

aus New Yorlrn in der Ilerzog August Bibliothek Wolfenbüttel 12013) „„„„„„. „. 325

Kapitel VIII: Person - Lebensweg

l ldwig Sd11nidt-Glintzcr

Das isolierte Ich - Auskünfte Wolfgan~ Bauers über sein Werk (2000) „„„„„„„„ „ 335

Ulrike und Paul U. Unschuld

Wilhelm Mann - Ein Leben in zwei Kulturen „„„„„„„„„„„„„ „„„„„„„„„„„„„„„„. 341

T~un<.:ki Nishiwaki

ÜLe1· die Sammlung l\f:tnnl.'rheim ...................................................... „ .................... „ •• 357

KurzLiogrJphien der Autorinnen und Autoren .. „„.„ .. „„„„ .... „„„„ .. „ .. „.„.. . ... „. 367

Zum Geleit

1-Ielwig Schmidt-Glintzcr ist Sinologe, war in diesem Fach 197(, bis 1981 Assiste

und nach der Habilitation 1979 Privatdozent an der Universit:it Bonn und hatte l 9l

bis 1993 den Lehrstuhl für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft an d

Univcrsitit I\Iünchcn irnc. Seit 1993 i~t er Direktor der Herzog August Biblioth1

\Volfonbüttd. Ziel dit:ser I ~orschungs- und Studienstätte für europiiische Kulturµ

schichte der Frühen Nmzcit, so formulierte Hdwig Schtnidt-Glintzer 1995 in d1 ll701)~11biittelcr ßib!iolhd.;s Jnformalio11m, sei »die Rekonstruktion der Neuzeit auf d

Grundlage der überlieferten Texte und Zeugnisse zu fördern.~< 1 Von den Chinaw

sensduften zur l'rühnmzeitforschung, vom Ordin:1rius an der Ll\tU zu111 l)irckt

dni.::r außerunivl.'tsitären Forschungsinstitution in Wolfenbüttel - das sch<.:-int ein

vidfaltiger \Veisl'. radikder Rolknwechsd. Wie J:is Jenn zusammengehe, wurde 11

wig Schmidt-Glintzer d.::nn auch immer und immer wie.der gefragt. Es geht :mf ci

hüchst produktive \X'eis~ zusammen, Jenn spannen sich die Interessen zwischen Cl

n:1 und Europa, zwischen europiüscher Kultur der Frühen Neuzeit und chinesiscl

Kultur sowie aktueller l1olitik Chinas, zwischen Forschen, Lehren, Schreiben als pi

frssoralen Aufgaben ur.<l Sammeln, Erschließen, Initiieren als eine i:orschungsin~

tution ldten<lcn Aufgaben, so sprengt das disziplin~irc Horizonte, öffnet vidf:ilti

kulturwissenschaftlicheSichtachscn und schafft Querbezüge, Jie in diszipli11'iren l

genheitssphiiren nicht AI gewinnl.'n sind.

Grcnzg:ingc:r zwisc:1en Disziplinen verwirren <lic On..lnungsgeflige in ihren 1 I

kunfts<liszipUnen. Die Frage von Zugehörigkeit zu 1 ;achkulmren steht damit

Raum. Hohe Rdkxivifü, Brechung und Vielfalt von Perspektiven, sichtbare i\l

rit~itserf:ihrungl.'n, aus denen sich ein Sdbstvcrstiin<lnis bildet, &1ss es immer erni

um Jie 1\ushanddung 'On Werten geht - d:is sind QtJJlit:iten, die Hochachtunr, e

bringen, Fraternisierun~en allerdings unterbinden. Das hat unmittclb:1n: Folgl."n

die akademische Einbindung, die sich etwa in einer Gepflogenheit wie der Üben

chung einer Festschrift zum 65. Geburtst:tg dokumentiert. \'X/er fühlt sic11 diesbcz1

lieh Grenzgängern gegenüber verpflichtet und akadcinisch irn \'Von stehend?

Pestschriftcn sind Bücl er, dil.' Schülerschaften un<l kollegiale Zugewandt beitc:n sr geln. Sie iihndn l krba:ien, in denl.'n auf d.:m akad<.:mischcn Leben-;wcg gl'.fund{

Hdwig Sdmrn.lr-Clint1r:r, )>Dit: uust:nd Sdmiustdll'n dl.'r 1 kr1:1)g Al1~~ust Bibhod1t:b1 , m: lr'ri b:lttdir llihli11/hd~d11jurt1,JJiu1u11, 21) (t9<J5), Nr. 1-2 (J.uuur-Jum), S. 1-6, in d1cs1.'.Ill H.rnd WI\

ab;~t:druckt.

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Hubert Seiwert

Die Säkularität des konfuzianischen Staates und das Böckenförde-Dilemma

Seit den Berichten der Jesuiten über die Kultur und den Staat der Chinesen dient China als Projektionsfläche, auf der westliche Intellektuelle entweder die vorbild­

hafte Verwirklichung oder die bedrohliche Herausforderung eigener Ideale von ge­sellschaftlicher Ordnung zu erkennen glauben. Solchen Verallgemeinerungen zu be­gegnen, erfordert die Arbeit von Übersetzern, die der Komplexität der chinesischen Verhältnisse ebenso gewahr sind wie der gleichfalls widersprüchlichen, im Streit der geistigen und politischen Kräfte geformten Geschichte der eigenen Kultur. Helwig Schmidt-Glintzer hat die Rolle eines solchen Übersetzers übernommen, indem er als Sinologe seine profunden Kenntnisse der historischen Überlieferung und der zeitgenössischen Entwicklungen Chinas in zahllosen Publikationen einer weiten Le­serschaft vermittelt und zugleich im Kontext aktueller Diskussionszusammenhänge verortet. Er gleicht darin einem seiner berühmten Vorgänger im Amt des Leiters der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der bereits vor mehr als 300 Jahren China und Europa ins Verhältnis setzte, indem er das Neueste aus China einem gelehrten Publikum zugänglich machte.1

Helwig Schrnidt-Glitzer unternimmt es im letzten Kapitel seiner Darstellung der chinesischen Religionsgeschichte, das Verhältnis von Religion und Staat und die mög­liche Funktion von Religionen im modernen China zu bedenken. Dabei verweist er auf das von Ernst-Wolfgang Böckenförde konstatierte Dilemma, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. In

diesem Dilemma, so der abschließende Satz, befinde sich die chinesische Staatlichkeit seit Jahrhunderten.2 Dieser Befund konstatiert eine Vergleichbarkeit der Problemkon­stellationen säkularer Staaten. Der säkulare Staat kann nach Meinung Böckenfördes nur bestehen, wenn die seinen Bürgern gewährte Freiheit durch die moralische Sub­stanz des Einzelnen und die Homogenität der Gesellschaft reguliert werde. Jene in­neren Regulierungskräfte aber könne er mit staatlichen Mitteln nicht hervorbringen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und in einen Totalitätsanspruch zurückzufallen. 3

C:70ttfried Wilhehn Leibniz, Novissima Sinica. Historiam Nostri Temporis Illustratum, Hannover 1697. 2 Helwig Schmidt-Glintzer, Wohlstand, G/iick und langes Leben. Chinas Giitter und die On:lnung im Reich der

Mitte, Frankfurt am Main 2009, S. 392. Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, in: R.iicht, Staat, Freiheit. Studien Z!'r R.iichtrphilosophie, Staatstheorie und Veifassungsgeschichte. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1992, S. 92-114, hier S. 112.

3 Vgl. ebd.

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194 Hubert Seiwert

Böckenförde sieht diesen Totalitätsanspruch in Europa erst durch die Säkularisierung

des Staates überwunden. Erst der säkulare Staat verhalte sich gegenüber Religionen

neutral und verweise diese in den Bereich der privaten Wertschätzung und des Inter­

esses jedes einzelnen Bürgers. Dies sei die Voraussetzung der Religionsfreiheit, deren

Verwirklichung daher das Maß der Weltlichkeit des Staates sei.4

Böckenfördes Analyse bezieht sich auf die Entstehung säkularer Staatlichkeit

in Europa, die mit der Trennung von Staat und Kirche die Voraussetzung für die

Überwindung gewaltsam ausgetragener konfessioneller Konflikte schuf, aber damit

zugleich den Staat dazu zwang, sich auf die Gestaltung und Sicherung der rechtlichen

Ordnung zu beschränken. Die Unterscheidung von säkularem Recht und privater

Moral produziert das erwähnte Dilemma, dass die für die Kohärenz der Gesellschaft

notwendigen moralischen Grundlagen nicht durch den Staat selbst gewährleistet

werden können. Wenn dieses Dilemma in China seit Jahrhunderten bestehen sollte,

liegt es nahe, die Voraussetzungen säkularer Staatlichkeit in China genauer zu be­

trachten. Diese sind anderer Art als in Europa, denn es gab im vormodernen China

weder Religionskriege, in denen sich religiöse und staatliche Interessen vermischten,

noch eine Religion, von deren institutioneller oder moralischer Dominanz der Staat

sich hätte emanzipieren müssen.

Staat und Religion im konfuzianischen China

War der konfuzianische Staat ein säkularer Staat, der Religion und Moral seiner Un­

tertanen in den Bereich privater Entscheidung verwies? Im europäischen Kontext

lässt sich die Säkularisierung des Staates an der institutionellen Trennung von Staat

und Kirche festmachen. Ein solcher Prozess konnte sich in China nicht vollziehen,

weil es keine den christlichen Kirchen vergleichbaren religiösen Institutionen gab, die

wie etwa die protestantischen Kirchen unter landesherrlichem I<:irchenregiment Teil

der staatlichen Verwaltung waren. Wenn der Kern der Säkularisierung die institutio­

nelle Trennung von Religion und Staat sein sollte, 5 dann war China spätestens seit der

Song Dynastie (960-1279) ein säkularer Staat. Dies gilt jedenfalls für die Beziehung

des konfuzianischen Staates zu den beiden wichtigsten Formen institutionalisierter

Religion, nämlich Buddhismus und Daoismus.

Nun könnte man die Säkularität des Staates auch anders bestimmen, als dies

Böckenförde oder Casanova tun, und auf die ideologischen oder weltanschaulichen

Grundlagen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung verweisen. Der Blick fällt

4 Vgl. ebd., S. 108. 5 Vgl. Jose Casanova, Public religions and the modern world, Chicago 1994, S. 12-39.

Die Säkularität des konfuzianischen Staates und das Böckenförde-Dilemma 195

dann im Falle des vor- oder frühmodernen Chinas auf den Konfuzianismus.6 War der

Konfuzianismus, soweit er als Legitimationsbasis des chinesischen Kaiserreichs dien­

te, eine Religion oder jedenfalls eine religiöse Lehre? Die Frage ist umstritten, nicht

nur weil es grundsätzlich Probleme bereitet, zu bestimmen, was eine Religion sei,

sondern weil mit dem in westlichen Diskursen geprägten Begriff »Konfuzianismus«

auf einen Komplex literarischer Traditionen und sozialer Institutionen verwiesen

wird, der sich einer klaren Einordnung in Kategorien wie Philosophie, Religion, Ge­

sellschaftstheorie oder Moral entzieht. Man kann die Praxis der Ahnenverehrung als

eine durch die konfuzianische Tradition auferlegte Pflicht betrachten und man kann,

wenn man will, dies ebenso als eine religiöse Praxis ansehen wie die kaiserlichen

Opfer an Himmel und Erde. Auch die von konfuzianischen Gelehrten propagierte

Kultivierung der eigenen Persönlichkeit lässt sich als eine im Kern religiöse Form der

Lebensführung interpretieren, auch wenn es dabei weder um die Sicherung des Jen­

seits noch um die Erfüllung göttlicher Gebote ging.7 Mit ebenso guten Gründen lässt

sich aber auch argumentieren, dass die Diesseitigkeit des konfuzianischen Denkens,

das die Götter und Geister nicht leugnet, aber sich nicht für sie interessiert, weil die

Gestaltung der Welt und das Schicksal der Menschen nicht deren Sache sei, sondern

ausschließlich in menschlicher Verantwortung liege, den Konfuzianismus zu einer

weltlichen, säkularen Lehre mache. Anders als eine christliche Obrigkeit kümmerte

den konfuzianischen Staat nicht das Seelenheil seiner Untertanen, sondern die rati­

onale Gestaltung des Diesseits. Nach dieser Interpretation bedurfte der chinesische

Staat keiner neuzeitlichen Säkularisierung im Sinne einer Emanzipation von religiös

begründeten Normen, weil er bereits säkular war.8

Privatisierung von &ligi,on

In der Tat weist bereits der vormoderne chinesische Staat manche Züge auf, die

in Europa erst als Ergebnis neuzeitlicher Transformationsprozesse auftauchen. Die

erwähnte Trennung staatlicher und religiöser Institutionen gilt in Europa als Kon-

6 Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf den konfuzianischen Staat, wie er sich seit der Song Dynastie (960-1279) herausbildete, und auf die in dieser Zeit dominante Philosophie des soge­nannten Neu-Konfuzianismus (Li xue). In chinesischer Periodisierung wäre diese Epoche als »vor­modern« (d.h. vor 1840) zu bezeichnen.

7 Zum religiösen Charakter des Konfuzianismus vgl. Rodney L. Taylor, The wtry of heaven. An intro­duction to the Confucian religious life, Leiden 1986; ders., »The religious character of the Confucian tradition«, in: Philosopby Eastand West48 (1998), S. 80-107.

8 Vgl. Wang Gungwu, »Secular China (Giri Deshingkar Memorial Lecture)«, in: China Report 39 (2003), S. 305-321; Rudolf G. Wagner, »Säkularisierung: Konfuzianismus und Buddhismus«, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt am Main 2007, s. 224-252.

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196 Hubert Seiwert

sequenz des durch die Reformation bedingten Verlustes der religiösen Homogeni­tät der Bevölkerung. Eine solche religiöse Homogenität aber bestand in China seit der Institutionalisierung von Buddhismus und Daoismus im frühen Mittelalter nicht mehr. Religiöse Pluralität entfaltete sich in China zwar nicht immer konfl.iktfrei,9 doch der Staat vermied es, sich institutionell oder ideologisch mit einer der beiden Religi­onen zu verbünden. Den Untertanen wie auch dem Kaiser selbst stand es frei, sich

für oder gegen eine Religion zu entscheiden. Die Privatisierung religiöser Entschei­dung, der in Europa die Säkularisierung des Staates vorausgehen musste, war in Chi­na bereits verwirklicht, lange bevor die moderne Forderung nach Bekenntnisfreiheit aufkeimte. Der konfuzianische Staat interessierte sich nicht für die religiösen Über­

zeugungen seiner Untertanen, solange diese nicht die bestehende soziale Ordnung in Frage stellten. Nicht um die Durchsetzung einer Orthodoxie ging es dem Staat, sondern um die Sicherung von Orthopraxie im Rahmen der konfuzianisch geprägten Gesetze und Moralvorstellungen. 10

Niklas Luhmann begreift »Säkularisierung« als »die gesellschaftsstrukturelle Rele­vanz der Privatisierung religiösen Entscheidens«.11 Auf der Ebene der Sozialstruktur bedeutet die Privatisierung von Religion, dass diese nicht mehr als Sinn stiftendes Band gemeinsamen Glaubens die Integration der Gesellschaft gewährleisten kann

ein Befund, der auf das von Böckenförde angesprochene Dilemma des säkularen Staates verweist. Der Privatisierung des religiösen Entscheidens entspricht die funk­tionale Differenzierung von Religion, die ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz ver­liert und auf den Bereich der privaten Lebensführung verwiesen wird. Funktionale Differenzierung ist die soziologische Deutung der Trennung von Religion und Staat, die sich in der europäischen Modeme vollzogen hat. Das Beispiel China zeigt indes, dass eine funktionale Differenzierung der Gesellschaft nicht an die Bedingungen der europäischen Modeme gebunden ist.

9 Vgl. Helwig Schmidt-Glintzer/Thomas Jansen, »Religionsdebatten und Machtkonflikte. Verände­

rungen in den Machtverhältnissen im chinesischen Mittelalter«, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 1 (1993), S. 50-90.

10 Dazu Helwig Schrnidt-Glintzer, »Viele Pfade oder ein Weg? Betrachtungen zur Durchsetzung der

konfuzianischen Orthopraxie«, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Max Webers Studie iiber Koefuzianismus und Taoismus. Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main 1983, S. 298-341; Hubert Seiwert, »Ortho­

doxie, Orthopraxie und Zivilreligion im vorneuzeitlichen China«, in: Holger Preißler/Hubert Sei­wert (Hg.), Gnosiiforschung und Religionsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Kurt Rudolph, Marburg 1994, S. 529-541.

11 Niklas Luhrnann, Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1977, S. 232.

Die Säkularitär des konfuzianischen Staates und das Böckenförde·Dilemma 197

Grenzen der Religionsfreiheit

Auch hinsichtlich dessen, was modern als »Religionsfreiheit« bezeichnet wird, ähneln die Verhältnisse im konfuzianischen China denen in modernen säkularen Staaten.

Die funktionale Differenzierung von Religion und Staat zu autonomen Teilsystemen der Gesellschaft bedeutet nicht nur das Recht, Religion als Privatsache zu behan­deln. Sie impliziert zugleich eine Grenzziehung zwischen der Sphäre des Religiösen und des Politischen. Es wird den Religionen abverlangt, dass sie darauf verzichten, für ihre eigenen Werte und Normen gesamtgesellschaftliche Geltung zu beansp:u­chen.12 Diese Selbstbeschränkung der Religionen ist die Voraussetzung der Gewäh­rung von Religionsfreiheit, aber sie bedeutet eine Entpolitisierung von Religion. R~­ligionsfreiheit hat ihre Grenzen, wo mit religiösen Motiven und Beg~ündungen die verfassungsmäßige Ordnung des säkularen Staates in Frage gestellt wird. Habermas verweist in diesem Zusammenhang auf religiöse Fundamentalisten, die die moderne Lebensform als solche bekämpfen.13 Wenn der Staat dem politischen Islarnismus und anderen Religionsformen, die im Verdacht stehen, die demokratische Ordnung

zu bedrohen, mit Repression begegnet, gilt dies nicht als Beschränkung der Religi­onsfreiheit oder Mangel an religiöser Toleranz, sondern als legitime Maßnahme zum

Schutz der bestehenden politischen Ordnung. In analoger Weise war auch der vormoderne chinesische Staat nicht gegen jen.e

Formen von Religion tolerant, die im Verdacht standen, die Grundlagen der poli­tischen Ordnung in Frage zu stellen, indem sie Visionen einer neuen Gesellschaft

verbreiteten. Als Bedrohung \vutden solche Lehren deshalb wahrgenommen, weil damit eine fundamentale Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnis­

sen verbunden war, die als ungerecht und moralisch korrumpiert gedeutet wurden. Die chinesische Geschichte kennt zahlreiche Beispiele für Aufstände, deren soziale Dynamik und Mobilisierungskraft sich aus religiösen Vorstellungen speiste, die den

Beginn eines neuen Zeitalters erwarteten. Die meisten der Rebellionen waren nur l~­kalen Ausmaßes und konnten im Keim erstickt werden, aber einige erschütterten die herrschende Dynastie in ihren Grundfesten. Im historischen Gedächtnis der chinesi­schen Eliten tief eingegraben ist der landesweite Aufstand der Gelben Turbane, der

im Jahre 184 von einer daoistischen Bewegung mit dem Namen >>Weg zu~ Große~ Frieden« (Taiping Dao) ausgelöst wurde. Ihr Ziel war es, den Sturz der nach ihrer Me1-

12 Jürgen Habermas, Wann miissen wir tolerant sein? Ü/Jer die Konkurrenz von Weltbildern, Werten und Theo­rien. Festvortrag zum Leibniztag der Berlin-Brandenburgischen Akaderrue der Wissenschaften am

29. Juni 2002. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

(http://www.bbaw.de/schein/habermas.html, zuletzt aktualisiert am 20.01.2010). . . 13 Jürgen Habermas, »Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte«, lll.: Zwtschen Naturalis­

mus und fuligion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, S. 258-278, hier S. 262.

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198 Hubert Seiwert

nung korrupten Han Dynastie herbeizuführen, um in einer neuen Epoche des Gro­

ßen Fri~dens die Welt moralisch zu erneuern.14 Endzeiterwartungen und die Hoff­

nung auf eine neue Welt sind bis in die Gegenwart Teil einer subkutan bestehenden

volksreligiösen Tradition. Historisch greifbar wird sie nach dem fünften Jahrhundert

vor allem als Erwartung der Herabkunft des Buddha Maitreya, die den Beginn eines neuen kosmischen Zeitalters einleite. 15

Chiliastische und eschatologische Ideen dieser Art wurden von den Eliten als

Unterminierung der Legitimität der sozialen und politischen Ordnung wahrgenom­

men. Die Hoffuung auf den Anbruch einer neuen, vollkommenen Welt bedeutete

eine Entwertung der bestehenden Verhältnisse. Es war deshalb nicht Ausdruck re­

ligiöser Intoleranz, dass der chinesische Staat mit allen Mitteln versuchte, die Ver­

breitung solcher Ideen zu unterbinden, und ihre Anhänger verfolgte, sondern eine

Maßnahme zur Verteidigung der politischen Ordnung. Der konfuzianische Staat un­

terschied sich in diesem Punkt nicht grundsätzlich von modernen säkularen Staaten

deren religiöse Toleranz dort endet, wo extremistische Religionen als Bedrohung de; verfassungsmäßigen Ordnung erscheinen.

Die individuelle Freiheit, sich für eine Religion zu entscheiden, bedeutet so eine

Privatisierung im doppelten Sinne: Religion ist Privatsache, aber nur als Privatsache

ist si: frei. Soweit Religionen im öffentlichen Raum agieren, sind sie dagegen den staatlichen Gesetzen unterworfen und keineswegs frei, aus religiösen Gründen die

generelle Geltung der politischen Verfassung des Staates zu bestreiten. Religionsfrei­heit gilt nicht für in diesem Sinne politisch extremistische Religionen, die sich einer

Unterwerfung unter den Primat der staatlichen Ordnung verweigern, sondern für

domestizierte Religionen, »die sich die säkulare Legitimation des Gemeinwesens un­

ter den Prämissen des eigenen Glaubens zu eigen machen.((16 Die Säkularisierung des Staates verlangt deshalb als Pendant die Domestizierung wilder Religionen, weil nur

so unter den Bedingungen religiöser Pluralität die allgemeine Geltung der säkularen Ordnung erreicht werden kann. 17

14 Vgl. Howard S. Levy, »Yellow Turban religion and rebellion an the end of Ham<, in: Journal oJ the Ameruan Onental S oczety 7 6 (1956), S. 214--227; Paul Michaud, »The Yellow Turbans«, in: Monumenta Serica 17 (1958), S. 47-127.

15 Vgl. Hubert Seiwert, Popu!ar religious movements and heterodox sects in Chinese history, Leiden 2003 (China Studies), S. 123-154.

16 Jürgen Habermas, »Die Dialektik der Säkularisierung«, in: Blätter for deutsche und internationale Politik (2008), S. 33--46, hier S. 44.

17 Zur Domestizierung wilder Religionen in China siehe Hubert Seiwert, »Wilde Religionen. Religiö­ser .N,onko_nformtsmus, kulturelle Dynamik und Säkularisierung in China«, in: Edith Franke (Hg.), Religiose Minderheiten und gese!lschaftlicher Wande~ Wiesbaden 2013 (im Druck).

Die Säkularität des konfuzianischen Stfilltes und das Böckenförde-Dilemma 199

Knoperation von Religion und Staat

Die öffentliche Rolle von Religionen in modernen säkularen Gesellschaften wird seit

einigen Jahren unter dem von Habermas geprägten Schlagwort »postsäkulare Ge­sellschaft«18 diskutiert. Damit wird zunächst anerkannt, dass ein säkularer Staat nicht

das gleiche ist wie eine säkulare Gesellschaft, d.h. eine Gesellschaft, in der Religion

öffentlich nicht sichtbar ist. Gleichzeitig wird auch den Religionen das Recht einge­

räumt, sich an öffentlichen Diskursen zu beteiligen und ihre religiösen Positionen zu

vertreten, wenn auch unter der Voraussetzung, dass diese in die Sprache säkularer

Argumentation »übersetzt« werden müssen.19

Auch der moderne säkulare Staat ist mithin keine Gesellschaft ohne Religion.

Er war es nie, weshalb die Rede von einer »postsäkularem< Gesellschaft irreführend

ist. Diese Beobachtung erleichtert es, die Frage, ob der konfuzianische Staat als ein

säkularer Staat gelten könne, etwas unbefangener zu betrachten. Denn natürlich war

die vormoderne chinesische Gesellschaft nicht säkular, sondern Religionen prägten nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben. Aber es handelte sich bei

Buddhismus und Daoismus seit der Tang-Zeit (618-907) um domestizierte Religi­

onen, die die bestehende staatliche Ordnung nicht nur akzeptierten, sondern sich

deren Legitimation unter den Prämissen des eigenen Glaubens zu eigen gemacht

hatten.20 Beide Religionen wirkten als Propagandisten konfuzianischer Moralvorstel­

lungen und beide waren darauf bedacht, sich staatlicher Gunst und Patronage zu

versichern. Der Staat gewährte diese, weil und soweit die Religionen zur moralischen

Erziehung des Volkes beitrugen und damit die gesellschaftliche Ordnung stützten. Trotz der Differenzen in ihren anthropologischen und kosmologischen Anschauun­

gen standen Buddhismus und Daoismus als domestizierte Religionen gewissermaßen

auf dem Boden der konfuzianischen Grundordnung und wurden deshalb vom Staat

mit Wohlwollen behandelt. Die wilden Religionen der volksreligiösen Sekten, die aus

staatlicher Sicht das Volk in die Irre führten und damit die in moderner Termino­

logie - verfassungsmäßige Ordnung unterminierten, waren dagegen der Repression

ausgesetzt.

Die Kooperation des seit der Song-Zeit von einem konfuzianisch geprägten Be­

amtenapparat verwalteten Staates mit den staatstragenden Formen von Buddhismus

und Daoismus ähnelt der »hinkenden Trennung« von Kirche und Staat in Deutsch­

land, allerdings ohne dass die Religionen als dem Staat gleichrangige Partner angese-

18 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt am Main 2001.

19 Habermas, »Die Dialektik der Säkularisierung« (wie Anm. 16), S. 45. Ähnlich argumentiert Casano­va, Public Religions (wie Anm. 5), S. 57 f.

20 Vgl. Habermas, »Die Dialektik der Säkularisierung« (wie Anm. 16), S. 44.

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200 Hubert Seiwert

hen worden wären. Kleriker waren trotz gewisser Sonderrechte der staatlichen Ge­setzgebung und damit formal staatlicher Kontrolle unterworfen. Der konfuzianische Staat bedurfte nicht einer religiösen Legitimation durch Buddhismus oder Daoismus

auch wenn er gerne deren Unterstützung in Anspruch nahm. Im Verhältnis zu de~ institutionalisierten Religionen handelte es sich um einen säkularen Staat.

Begründung staatlicher Herrscheft

In einem wesentlichen Punkt allerdings unterschied sich der konfuzianische Staat von modernen säkularen Staaten. Böckenfördes Diktum, dass der freiheitliche säku­larisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren kann, scheint auf ihn nicht anwendbar zu sein. Der Grund dafür dürfte nicht darin zu suchen dass der chinesische Staat kein im modernen Sinne freiheitlicher war, sondern dass

seine Legitimität völlig anders begründet wurde als die moderner säkularer Staaten. Die Legitimität staatlicher Herrschaft war auf das Engste mit der Person und dem

Amt des Kaisers verbunden. Unter Rückgriff auf eine vermutlich bereits zur Recht­fertigung der Machtergreifung der Zhou-Dynastie im 11. Jahrhundert vor Christus propagierte Vorstellung wurde von den Konfuzianern der Früheren Han-Zeit (206

v. Chr. - 23 n. Chr.) eine Theorie entwickelt, die die Herrschaft des Kaisers auf ein Mandat des Ifunmels (tian ming) gründete. Im Auftrag des Himmels übe der Kaiser die Herrschaft über die Welt aus, um die Ordnung der Gesellschaft und das Wohl­ergehen des Volkes zu sichern. Als }}Sohn des Himmels« (tian zj) nehme er eine Ver­mittlerrolle zwischen Himmel und Menschen ein, die rituell durch die vom Kaiser dem Himmel dargebrachten Opfer zum Ausdruck gebracht wurde.

Da der Himmel (tian) im Denken der Han-Zeit ein Symbol für die höchste Gott­h~it war, die durchaus personal, wenn auch nicht anthropomorph vorgestellt wurde,

wtrd man die Theorie des Himmlischen Mandates als eine religiös begründete Form der Herrschaftslegitimation bezeichnen können. Das Symbol tian und die rituellen

Opfer des Kaisers blieben bis zum Ende des konfuzianischen Staates zentrale Reprä­s~ntationsformen staatlicher Legitimität. Allerdings veränderte sich die Bedeutung dieses Symbols durch die Entwicklung der konfuzianischen Philosophie während

der Song-Zeit grundlegend. Die kosmologischen und anthropologischen Theorien der so genannten Neu-Konfuzianer vertraten einen rationalen Naturalismus, der die

Ordnung der Welt nicht auf den Willen einer personalen Gottheit, sondern auf der Natur immanente universelle Prinzipien zurückführte. Im philosophischen System

des Zhu Xi (1130-1200), dessen Interpretation seit der Yuan Dynastie (1279-1368) den Status einer staatlich approbierten Orthodoxie hatte, wurde auch der Himmel na­

turalistisch gedeutet. Der Himmel ist Teil der Natur, er ist wie alle Dinge entstanden und durch die dem Kosmos inhärente Ordnung bedingt. Das bedeutet, der Himmel ist weder ein Gottheit, noch ist er transzendent im Sinne von außerhalb oder über der

Die Säkularität des konfuzianischen Staates und das Böckenförde-Dilemma 201

natürlichen Welt stehend. Die Einheit von Himmel und Mensch, die im Denken der Konfuzianer der Han-Zeit durch die Vermittlung des Sohns des Himmels erreicht wurde, wird bei Zhu Xi als eine Einheit gedeutet, die auf der gemeinsamen Abhän­gigkeit vom universellen Prinzip des Kosmos basiert, das sowohl die Natur des Him­mels als auch die Natur des Menschen bedingt. Man wird diese naturalistische Kos­mologie kaum als eine religiöse Deutung der Welt bezeichnen können. Die Ordnung des Kosmos ist universell, sie schließt alle Dinge ein, sowohl die materielle Natur als auch die Natur des Menschen und die Ordnung der Gesellschaft. Sie wird weder auf einen göttlichen Schöpfer zurückgeführt, noch beruht sie auf göttlichen Geboten. Das universelle Prinzip und die Natur der Dinge können vom Menschen rational erkannt werden, ohne dass dazu eine göttliche Offenbarung notwendig wäre.21

Gewiss hatte die naturalistische Interpretation des Himmels in der Philosophie der Neu-Konfuzianer nur begrenzte Auswirkungen auf die religiösen Vorstellungen der breiten Bevölkerung, in der der Himmel weiterhin als Gottheit verehrt wurde. Aber das philosophische System des Zhu Xi blieb bis zum Ende des Kaiserreichs die orthodoxe Interpretation der konfuzianischen Lehre und war zentraler Inhalt der staatlichen Beamtenprüfungen. Es ist deshalb gerechtfertigt, darin die ideologische

Grundlage des konfuzianischen Staates zu sehen.22 Diese ideologische Grundlage war im Kern säkular, weil sie keiner Götter bedurfte. Trotzdem gehörte es zum un­

verzichtbaren Bestand des konfuzianischen Staates, dass den Göttern Opfer darge­bracht wurden mit den kaiserlichen Opferriten an erster Stelle.

&itionale Deutung der Riten und des Opftrkultes

Der staatliche Opferkult war ebenso wie die Verehrung der Ahnen Teil der konfu­zianischen Tradition. Die Rn, d.h. die konfuzianischen Gelehrten, waren seit dem Altertum vor allem die Kenner der Riten. Die richtige Durchführung der Riten galt ihnen als Voraussetzung für den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung. Freilich umfasste der Bereich der Riten (liJ3 weit mehr als nur die Zeremonien, mit denen Ahnen oder Götter verehrt wurden. In der konfuzianischen Deutung bildeten die Riten die Basis der sozialen Ordnung. Sie regelten in erster Linie die Beziehungen zwischen Menschen, indem sie das der jeweiligen Situation angemessene Verhalten

21 Vgl. Yang Xiu/Guo Meixing, »Shilun Dong Zhongshu >Tian ren he yi yU< Zhu Xi >Tian ren he yi< xiangyi zhi chu« [Über die Unterschiede zwischen Dong Zhongshu's und Zhu Xi's Deutung der Einheit von Himmel und Mensch), in: Heilongjiangshi zPi (2009), Nr. 16, S. 30-31.

22 Vgl. Wm. Theodore de Bary, Neo-Confuci.an orthodox;y and the Learning of Mind-and-Heart, New York 1981.

23 Die Übersetzung von li als »Riten« ist konventionell, deckt jedoch nur einen Teil der Semantik des chinesischen Wortes ab. Mögliche Übersetzungen sind u.a. »Ritual«, »Etikette<<, »Sitte«, »Regeln des Anstands«, »Moral«.

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202 Hubert Seiwert

bestimmten. Durch die Befolgung der Riten wurden soziale Hierarchien, Familienbe­ziehungen, Statusunterschiede, unterschiedliche Rechte und Pflichten, ja die gesamte

Struktur der Gesellschaft performativ repräsentiert und damit zugleich verwirklicht.

In diesem Sinne waren die Riten die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung und

die Verletzung der Riten Symptom und Ursache gesellschaftlicher Unordnung.

Auch in den Opferriten manifestierte sich die Ordnung der Gesellschaft. Der Philosoph Xunzi, der sich im 3. Jahrhundert v. Chr. ausführlich mit der Bedeutung

der Riten befasste, erläutert, dass die Opferriten für den Himmel ein Privileg des

Herrschers seien, während die Opfer an die Territorialgötter den jeweiligen Fürsten

und niedrigere Opfer den Großwürdenträger zuständen. Der soziale Status spiegele

sich so im Rang der Opfer.24 Der gleiche Xunzi aber kritisiert mit Nachdruck die

Vorstellung, dass der Himmel eine Gottheit sei, die auf das Leben der Menschen Einfluss nehme. Der Himmel kümmere sich nicht um die Menschen. Für Xunzi

repräsentiert der Himmel den unveränderlichen Lauf der Natur. Wenn man den Na­

turgöttern Opfer darbringe, um sie um Regen zu bitten, dann sei das vollkommen

nutzlos. Nur die Ungebildeten hielten solche Opfer für eine Sache, die mit Göttern

zu tun haben, die Gebildeten aber sähen darin einen kultivierten Brauch.25 Xunzi's

Interpretation der Opferriten ebnete so schon im Altertum den Weg zu einer natu­

ralistischen Deutung. Der Himmel benötigt keine Opfer und lässt sich auch nicht

beeinflussen, aber die Opfer an den Himmel repräsentieren den Rang des Herrschers

so wie die Ahnenopfer die verwandtschaftlichen Beziehungen der Beteiligten zum

Ausdruck bringen. Deshalb sind für Xunzi wie auch für die späteren Konfuzianer die staatlichen Opferriten und der Ahnenkult unverzichtbarer Teil der rituellen Ordnung

der Gesellschaft.

Für die Konfuzianer der Song-Zeit bestand somit kein Widerspruch zwischen

ihrer naturalistischen Sicht des Kosmos, die keinen Raum für einen göttlichen

Weltenherrscher bot, und der rituellen Pflicht des Kaisers, dem Himmel Opfer dar­

zubringen. Die Befolgung der Riten war Teil der moralischen Selbstkultivierung, die ihrerseits auf der Erkenntnis der menschlichen Natur fußte. Die eigentliche Natur

des Menschen war gut - hierin unterschied sich die neu-konfuzianische Sicht von

der Auffassung des Xunzi, aber diese Natur musste durch Entfaltung der Tugenden

verwirklicht werden und fand ihren äußeren Ausdruck in der Beachtung der Riten.

So zeigt sich die Tugend der kindlichen Pietät sowohl im Innern als Respekt vor den Eltern als auch im äußeren Verhalten durch Befolgung der Riten. Dazu gehören

24 Xunzi, Kap. 19. (Xun zi jian zhu JDas Buch Xunzi mit einfachen Kommentaren], erläutert von Zhang Shitong. Shanghai 1974, S. 205); vgl. The works of Hsuntze. Translated from the Chinese with notes by Homer H. Dubs. London 1928, S. 220.

25 Xunzi, Kap. 17 (Xun zijian zhu, S. 183), vgl. The works ef Hsuntze (wie Anm. 24), S. 181 f.

Die Säkularität des konfuzianischen Staates und das Böckenförde-D ilemma 203

Gehorsam und Sorge für das materielle Wohl der Eltern, solange sie leben, ebenso

wie Trauer und rituelles Gedenken nach ihrem Tod. Die Verehrung der Ahnen setzte

deshalb nicht den Glauben an die Existenz von Totengeistern, die der Opfergaben

bedürften, voraus. Sie war vielmehr der rituell angemessene Ausdruck der den Eltern und Vorfahren geschuldeten Dankbarkeit. Da in den Ritualen zugleich die sozia­

le Stellung des Familienoberhauptes und die verwandtschaftlichen Beziehungen der Teilnehmer sichtbar wurden, repräsentierten und aktualisierten sie ein zentrales Ele­

ment der gesellschaftlichen Ordnung, deren Basis Familien- und Verwandtschafts­

strukturen waren.26

So wie es möglich war, den Ahnenkult als für den Erhalt der Familie zentra-

le rituelle Pflicht zu begreifen, ohne damit notwendigerweise den Glauben an eine

postmortale Existenz der Ahnen zu verbinden, so war es auch möglich, dem Himmel Opfer darzubringen, ohne die Existenz einer Gottheit vorauszusetzen, die durch

diese Opfer hätte beeinflusst werden können. Die an den Himmel gerichteten Opfer

waren die bedeutendsten Rituale von allen und gehörten seit dem hohen Altertum zu

den Privilegien des Sohns des Himmels. In ihnen repräsentierte sich die Stellung des

Kaisers als Herrscher über die Welt. Bei dieser rationalen Deutung des Staatskultes konnte die Frage nach der Exis­

tenz von Göttern offen bleiben, so dass es eine Sache des persönlichen Glaubens

war sie zu beantworten. Bereits Konfuzius hatte zu dieser Frage einen agnostischen ' Standpunkt eingenommen.27 Für das konfuzianische Denksystem waren Götter nicht

notwendig, auch wenn kein Anlass bestand, ihre Existenz zu bestreiten. Die gesell­

schaftliche Ordnung gründete sich jedoch nicht auf göttliche Gebote, sondern sie konnte rational als natürliche Ordnung erkannt werden. Da der Mensch Teil eines

geordneten Universums - eines Kosmos - war, in dem alle Dinge ihrer Natur ent­

sprechend funktionieren, war auch die Ordnung der Gesellschaft Teil dieses Kosmos.

Sie konnte verwirklicht werden, indem jeder Einzelne die in der menschlichen Natur

angelegten Tugenden kultivierte.

Säkularität des konfuzianischen Ordnungsmodells

Die konfuzianische Sicht einer in der Natur des Kosmos ebenso wie in der Natur des Menschen gründenden moralischen Ordnung kann nicht als Staatstheorie gelten,

weil sie nicht als auf das Gebiet und die Bürger eines Staates beschränkt verstau-

26 Vgl. Patricia Buckley Ebrey, Confucianism and jami!J ntuals in Impen'al China. A social history of wn'ting

about rites, Princeton 1991, S. 14-44. 27 Lun Yu, Kap. 11 (vgl. Arthur Waley, The Ana/ects of Confucius, London 1938, S. 155).

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204 Hubert Seiwert

den wurde, sondern als universell gültig. In konfuzianischem Verständnis war der Kaiser Herrscher über »alles unter dem Himmel« (tian xia), d.h. die gesamt Welt. Es entsprach seiner Stellung im Gefüge der sozialen Beziehungen, die Ordnung der Gesellschaft zu gewährleisten, wozu er sich seiner Beamten bediente und Gesetze erließ. Nur unter dem Gesichtspunkt, dass die faktische Macht der kaiserlichen Ad­ministration an den Grenzen des Reichs endete, können wir von einer theoretischen

Begründung des chinesischen Staates sprechen. War der konfuzianische Staat ein säkularer Staat? Die Antwort auf diese ein­

gangs gestellte Frage ist nicht eindeutig. Strukturell gesehen bestehen bemerkens­werte Parallelen zu modernen säkularen Staaten. Der Trennung von Kirche und Staat entsprach im konfuzianischen China die Trennung staatlicher Institutionen von den

i~stitutionalisierten Religionen Buddhismus und Daoismus. Die Zugehörigkeit zu emer Religion war eine Sache privater Entscheidung. Wie in modernen säkularen

Staaten. bes:and eine qualifizierte Religionsfreiheit, die gewährt wurde, soweit Religi­onen rucht im Verdacht standen, die Legitimität der staatlichen Ordnung in Frage zu stellen und zu unterminieren.

.. Auch die Begründung staatlicher Herrschaft und sozialer Ordnung hat gewisse Ahnlichkeiten mit modernen säkularen Staaten, zumindest in negativer Hinsicht. Seit der Song-Zeit stellte der Konfuzianismus ein philosophisches System zur Verfügung, das es erlaubte, Herrschaftsverhältnisse rational zu begründen, ohne dabei auf Gott oder Götter rekurrieren zu müssen. Die Geltung staatlicher Gesetze beruhte auf der Autorität des Kaisers und nicht auf religiös begründeten Normen. Staatliches Recht war säkulares Recht. Allerdings war zumindest in der konfuzianischen Theorie nicht

das gesetzte staatliche Recht die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Beachtung der rituellen Pflichten, in denen die Struktur der sozialen Beziehun­gen zum Ausdruck kam. Auch die rituelle Ordnung berief sich nicht auf göttliche Gebote. Die Riten wurden auf die weisen Herrscher des hohen Altertums zurück­geführt, waren also menschlichen Ursprungs und konnten auch den Zeitumständen angepasst werden.28 Aber sie entsprangen nicht menschlicher Willkür, sondern der E~sicht in die naturgegebene Ordnung sozialer Beziehungen. In der Beachtung der Riten verwirklichten sich die der Natur des Menschen entsprechenden Tugenden.

Es fällt schwer, hier von einer religiösen Begründung sozialer Ordnung zu spre­chen. Sie hat ihre Basis nicht in Gott oder Göttern, sondern in der Natur des Men­~chen. Aber es ist auch deutlich, dass diese Ordnungskonzeption von anderer Art ist als moderne säkulare Begründungen staatlicher Ordnung. Der moderne säkulare Staat gründet auf der Autonomie des Menschen, die Gesetze, denen er sich unter-

28 Patricia Buc~ey Ebrey, Chu Hsi} Famify Rituals. A twelfth century Chinese manual far the perfarmance of cappmgs, weddings,fonerals, and ancestralrites, Princeton, NJ 1991, S. x:v-xx:i.

Die Säkularität des konfuzianischen Staates und das Böckenförde-Dilemma 205

wirft, frei zu bestimmen und zu verändern. Die Geltung staatlicher Gesetze beruht

dabei auf der Einhaltung demokratischer Verfahren, die durch die freie Zustimmung der Staatsbürger legitimiert sind. Die private Moral der Bürger kann jedoch nicht mit den Mitteln staatlichen Rechtszwangs reguliert werden. Das Dilemma des säkulari­

sierten Staates besteht nach der Diagnose Böckenfördes ja gerade darin, dass er die

moralische Substanz der Gesellschaft nicht begründen kann.29

Moralische Integration im säkularen Staat

Böckenfördes Dilemma resultiert jedoch nur scheinbar aus der Säkularität des frei­

heitlichen Staates. Diese wird erst dann zum Problem, wenn der Staat in einer säku­

larisierten Gesellschaft bestehen muss. Deshalb kommt er zu der Frage, ob der säku­larisierte Staat nicht aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben müsse,

die der religiöse Glaube seinen Bürgern vermittele.30 Nicht die Säkularisierung des Staates - die Trennung von Kitche und Staat gefährdet die moralische Integration der Bürger, sondern die Säkularisierung der Gesellschaft. Diese enthält das Risiko, dass die vom Staat den Bürgern gewährte Freiheit als nur durch die staatliche Rechts­ordnung begrenzt wahrgenommen wird. Die moderne Säkularisierung des Staates bedeutet nämlich nicht nur eine Privatisierung der Entscheidung für oder gegen eine

Religion, sondern auch eine Privatisierung der Moral. Man kann jedoch fragen, ob allein der religiöse Glaube in der Lage ist, jene in-

neren Antriebe und Bindungskräfte zu schaffen, die eine moralische Integration der Gesellschaft ermöglichen. Eine solche Lösung des Dilemmas setzt eine religiöse Homogenität voraus, die auch in europäischen Staaten längst nicht mehr gegeben ist. In China besteht sie seit Jahrtausenden nicht. Und doch war der konfuzianische Staat in der Lage, ein Reich gewaltigen Ausmaßes mit einer nach modernen Maß­stäben winzigen Bürokratie über Jahrhunderte zusammenzuhalten. Gewiss war dieser Staat kein freiheitlicher, aber schon allein aus praktischen Gründen konnte er nicht mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Geboten die »inne­ren Regulierungskräfte« der Gesellschaft garantieren.31 Die Integration der Gesell­

schaft basierte vielmehr auf der erfolgreichen Etablierung einer rituellen Ordnung sozialer Beziehungen, die Pflichten und Rechte jedes Einzelnen bestimmte. Weder zur Begründung noch zur Anerkennung dieser rituellen Ordnung bedurfte es eines

religiösen Glaubens.

29 Vgl. Böckenffüde, »Die Entstehung des Staates« (wi.e Anm. 2), S. 112.

30 Vgl. ebd., S. 113 f. 31 Formulierung in Anlehnung an. Böckenförde, »Die Entstehung des Staates« (wi.e Anm. 2), S. 112 f.

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206 Hubert Seiwert

Auch wenn die domestizierten Religionen sich die Normen der konfuzianischem

Moral zu eigen gemacht hatten, beruhte dieses Modell sozialer Ordnung nicht auf re­ligiösen Voraussetzungen, sondern auf einem rationalen Naturalismus. Die Geltung

moralischer Normen wurde nicht theologisch, sondern anthropologisch begründet. In diesem Punkt ähnelt die konfuzianische Moraltheorie dem säkularen westlichen Verständnis, das gleichfalls die Geltung sozialer Normen nicht von Gott, sondern

vom Menschen her bestimmt. Auch die konfuzianische Moral war eine säkulare Mo­

ral. Jedoch unterschied sich die Anthropologie der Konfuzianer in einem wesent­lichen Punkt vom Menschenbild der säkularisierten Moderne: Die Autonomie des

Menschen in der Gestaltung seiner Verhältnisse war begrenzt. Die Grenzen wurden

durch die dem Kosmos immanente Ordnung gesetzt, die als unwandelbar galt und

die Natur des Menschen genauso bestimmte wie die der zehntausend anderen Dinge

der Welt. Da die moralische Ordnung der Gesellschaft ihre Wurzeln in der Natur des Menschen hatte, waren ihre Grundlagen menschlicher Verfügungsmacht entzogen.

In dieser Sicht ist der Mensch zwar in seinem Handeln aber nicht autonom ' '

weil er die Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung nicht außer Kraft setzen kann.

Gegen sie kann zwar verstoßen werden, aber nur um den Preis des sozialen Chaos.

Die säkulare Anthropologie des Konfuzianismus bildete so die Basis einer Ge­sellschaftstheorie, die dem Staat in Gestalt des Kaisers und seiner Beamten zwar die

Aufgabe zuschrieb, für den Erhalt der sozialen Ordnung zu sorgen, aber den Staat nicht als deren Urheber ansah. Auch der Kaiser und die Beamten hatten die ihrem Sta­

tus im Gefüge der sozialen Beziehungen entsprechenden Aufgaben zu erfüllen. Dabei waren sie nicht völlig autonom, sondern hatten jedenfalls nach der konfuzianischen

Theorie ihre moralische Natur zu kultivieren, so dass ihr Handeln im Einklang mit

der dem Kosmos immanenten Ordnung stand. Wenn sie dazu nicht bereit oder fähig

waren, führte dies zu sozialen Verwerfungen und in letzter Konsequenz zum Sturz der Dynastie. Das Scheitern staatlicher Herrschaft war damit nichts weiter als ein Symptom

für die Missachtung der unwandelbaren Prinzipien gesellschaftlicher Ordnung.

Für den konfuzianischen Staat bestand damit nicht das Dilemma moderner säku­larer Staaten, die moralische Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht be­

gründen zu können. Der Konfuzianismus betrachtete den Staat nicht als Grundlage,

sondern als Teil und Ausdruck einer gesellschaftlichen Ordnung, die dem Staat vor­aus geht. Damit waren einem möglichen Totalitätsanspruch des Staates Grenzen ge­setzt, denn auch die Repräsentanten des Staates waren in ihrem Handeln moralischen

Normen unterworfen, deren Verletzung ihrer Herrschaft die Legitimität entzog.32

32 Es btaucfit nicht betont ZU werden, dass die politische Praxis des konfuzianischen Staates nicht immer der Theorie entsprach, weil dies für alle staatlichen Verfassungen gilt - einschließlich der moderner freiheitlicher und säkularer Staaten.

Die Säkularität des konfuzianischen Staates und das Böckenförde-Dilemm.a 207

Da der konfuzianische Staat in seinen Grundlagen ein säkularer Staat war, in dem

die Trennung von Religion und Staat verwirklicht war und die Begründung gesell­

schaftlicher Ordnung keiner religiösen Voraussetzungen bedurfte, kann Böckenför­des Diktum nicht generalisiert werden. Möglicherweise besteht das erwähnte Dilem­

ma nur für den säkularisierten Staat, den die europäische Neuzeit hervorgebracht hat.

Der Kern des Dilemmas ist nicht die Trennung von Staat und Religion, sondern die

Trennung von Staat und Moral. Der moderne säkularisierte Staat ist in seinem Wesen frei von Moral, weil er nur der selbst gesetzten Rechtsordnung unterworfen ist. Im

Rahmen dieser Rechtsordnung folgt er seiner eigenen Rationalität, der raison d'etat. Er

ist weder in der Lage, moralische Grenzen seines eigenen Handelns zu bes tirnmen,

noch ist es ihm möglich, von seinen Bürgern anderes einzufordern als die Befolgung

der staatlichen Gesetze.

Der freiheitliche säkularisierte Staat moderner Prägung basiert auf der Denkfigur

menschlicher Autonomie. Autonome Individuen schaffen in freier Entscheidung die Institution des Staates und damit auch die Gesetze, die das soziale Zusammenleben

regulieren. Das Dilemma besteht darin, dass die staatlichen Gesetze allein nicht aus­

reichen, um die moralische Integration der Gesellschaft zu gewährleisten. Deshalb

kommt Böckenförde zu der Frage, ob nicht der religiöse Glaube als Grundlage der

individuellen Motal notwendig sei. Damit wird freilich gewissermaßen durch die

Hintertür die säkulare Idee menschlicher Autonomie aufgehoben, indem ihr Gren­zen gesetzt werden, deren letzte Begründung in Gott liegt.

Tatsächlich lässt sich die moralische Integration der Gesellschaft nicht mit dem

Glauben an eine unbegrenzte Autonomie des Menschen, die nur den selbst geschaffe­nen Gesetzen unterworfen ist, vereinbaren. Die Autonomie des Individuums schließt

eine Moral aus, die allgemeine Geltung beanspruchen kann. Der konfuzianische Staat

zeigt jedoch, dass es nicht nur möglich ist, individuelle Moral ohne Rekurs auf Gott zu begründen dies wird auch in der europäischen Philosophie unternommen. Es

gelang ihm auch, in der Bevölkerung einen moralischen Habitus zu erzeugen, der die

Grundlage sozialer Integration lieferte, indem der rituellen Ordnung sozialer Bezie­

hungen Geltung verschafft wurde. Der intellektuelle Preis für die Verwurzelung der Moral in der immanenten Ordnung des Kosmos war freilich kein anderer als im Fall

des religiösen Glaubens: der Verzicht auf das Postulat einer grenzenlosen menschli­

chen Autonomie.