APuZ - Westliche Wertegemeinschaft, B 5-6:2008

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    PuZAus Politik und Zeitgeschichte

    56/2008 28. Januar 2008

    Westliche Wertegemeinschaft?

    Stefan Immerfall Hermann KurthenDie transatlantische Wertegemeinschaft im 21. Jahrhundert

    Gret HallerFreiheit und Sicherheit in Europa und in den USA

    Volker BerghahnDie Amerikanisierung der westdeutschen Industrie

    Josef BramlZur Sprengkraft religiser Werte

    Helke RauschWie europisch ist die kulturelle Amerikanisierung?

    Jessica Gienow-HechtEuropischer Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert

    Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament

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    EditorialAls die Zwillingstrme des World Trade Centers in New York

    City durch die Terroranschlge vom 11. September 2001 in sichzusammenstrzten, konnten sich die USA des weltweiten Mitge-

    fhls und einer Welle bisher nichtgekannter Solidaritt der inter-nationalen Staatengemeinschaft sicher sein. Bundeskanzler Ger-hard Schrder versicherte der US-Regierung gar die uneinge-schrnkte Solidaritt Deutschlands im Kampf gegen deninternationalen Terrorismus. Diese sollte indes nur bis zur Redevon US-Prsident George W. Bush am 1. Juni 2002 whren, inder er ankndigte, mit allen Mitteln einen Regimewechsel imIrak erzwingen zu wollen.

    Zusammen mit dem franzsischen Prsidenten Jacques Chiraclehnte Schrder einen US-Alleingang ohne UN-Mandat ab. Erstnach einer Rede von US-Vizeprsidenten Dick Cheney am26. August, in der er einen Krieg gegen den Irak auch an derUNO vorbei in Aussicht stellte, lehnte Schrder jede deutscheBeteiligung an einem Waffengang kategorisch ab. Daraufhin ent-brannte in Deutschland aufs Neue eine Debatte ber Anti-amerikanismus.

    Eine solche Debatte gibt es seit 1776 immer wieder in ganz Eu-ropa, sie ist keine deutsch Eigenheit. Kritik an den USA kommtdabei sowohl von konservativer als auch links-liberaler Seite.

    Der europische Antiamerikanismus ist primr ein kulturellesPhnomen, das oft in einem bestimmten politischen Klima ge-deiht; sein Zwillingsbruder ist der Philoamerikanismus. Diedeutsche Kritik am Regierungshandeln der Bush-Administrationwar kein Antiamerikanismus, sondern Ausdruck der Besorg-nis ber eine waghalsige Politik. Wie entgegnete der ehemaligedeutsche Auenminister Joschka Fischer auf der 39. MnchnerKonferenz fr Sicherheitspolitik im Februar 2003 auf die Aussa-ge des amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld,alle diplomatischen Mittel im Umgang mit Saddam Hussein

    seien erschpft: Excuse me, I am not convinced.

    Ludwig Watzal

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    Stefan Immerfall

    Hermann Kurthen

    Die trans-atlantische Werte-

    gemeinschaft im21. Jahrhundert

    E ine Vielzahl von Kommentatoren, Jour-nalisten und Autoren haben die Auswir-kungen auf die europisch- und deutsch-ame-rikanischen Beziehun-gen im Vorfeld desIrakkrieges und un-mittelbar danach ana-lysiert. Es ist jetztschon offensichtlich,dass sich viele davonals kurzsichtig erwie-sen haben. 1 Das gilt

    beispielsweise frneokonservative Stra-tegien, welche eineschnelle und nach-drckliche Demokra-tisierung des NahenOsten voraussahenund damit ein NeuesAmerikanisches Jahr-hundert einlutenwollten. Stattdessen

    hat Amerikas Politik seinen Einfluss und sein

    Ansehen in einem Mae geschwcht, dasseine Verbndeten ernsthaft besorgt machensollte. Auch eine irreparable Schdigungtransatlantischer Bande hat nicht stattgefun-den, trotz der tiefen Risse, die zwischen derUS-Regierung und vielen ihrer europischenVerbndeten zu Tage getreten sind. Geradedie nach der Ausrufung des War on Terrorins Amt gekommenen europischen PolitikerAngela Merkel und Nicolas Sarkozy bem-hen sich um die transatlantischen Beziehun-gen, whrend die schwache US-Regierungvon George W. Bush am Ende ihrer Amtszeitfr jede Untersttzung dankbar sein muss.

    Welche langfristigen Auswirkungen undSchden von der Bush-Regierung verursachtwurden, ist noch nicht absehbar. Trotz abervielleicht auch wegen des Irakkriegs ist dieislamistische Bedrohung eher grer als klei-ner geworden. Selbst eine Supermacht tut

    sich schwer, die immensen Kriegskosten zuschultern, finanziell wie psychologisch. Wel-che Lehren lassen sich aus den jngsten trans-atlantischen Auseinandersetzungen fr dieZukunft speziell der Beziehungen zwischenDeutschland und den USA ziehen?

    Warum kam es zur transatlantischenEntfremdung?

    Bevor Aussagen ber mgliche Entwicklun-gen gemacht werden, mssen die Ursachenbekannt sein, die zu ihnen gefhrt haben.Was waren die wichtigsten Triebfedern frdie deutsch-amerikanische Entfremdung imGefolge des Irakkrieges? Sehr vereinfachtwurden insbesondere drei Ursachen benannt:subjektive, strukturelle und politisch-kultu-relle.

    Die subjektive Erklrung konzentriert sich

    auf Unterschiede in den Persnlichkeiten derbeteiligten Akteure und auf kurzfristige Er-eignisse, die Meinungsverschiedenheiten undMissverstndnisse begnstigen. So offenbar-ten George W. Bush, Dick Cheney und Ro-nald Rumsfeld nicht nur einen fr GerhardSchrder oder Jacques Chirac kaum akzepta-blen Fhrungsanspruch nach dem Motto:wer nicht mit uns ist, ist gegen uns , sondernbefleiigten sich von vornherein eines Fh-rungsstils, der die europischen Verbndetenbefremden musste. Dazu gehrte etwa die in

    religise Beschwrungsformeln gekleidete Si-

    Stefan Immerfall

    Dr. phil. habil., geb. 1958; seit

    2000 Professor fr Soziologie

    an der Pdagogischen Hoch-

    schule Schwbisch Gmnd,

    Oberbettringer Str. 200,

    73525 Schwbisch Gmnd.

    stefan.immerfall@ph-

    gmuend.de

    Hermann Kurthen

    Dr. phil., geb. 1952; seit 2004

    Professor fr Soziologie an der

    Grand Valley State University,

    Campus Drive,

    49401 9403 Allendale,

    Michigan/USA.

    [email protected]

    Der Aufsatz beruht auf einem Forschungsprojekt, des-sen Ergebnisse in Hermann Kurthen/Antonio V. Me-nndez-Alarcn/Stefan Immerfall, Safeguarding Ger-manAmerican Relations in the New Century: Un-derstanding and Accepting Mutual Differences,Lanham, Maryland 2006, verffentlicht wurden unddas durch das StADaF (DAAD, New York) gefrdertwurde.1 Die Zeit, Nr. 35 vom 23. 08. 2007 hat verdienst-

    vollerweise einige der bekanntesten Aussagen fh-render Intellektueller zu Beginn des Irakkieges aufge-

    listet. Eine Rckschau wie diese sollte Anlass zu mehrBescheidenheit bei der Zunft der politischen Analy-tiker sein.

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    cherheitsstrategie. 2 Umgekehrt war Bundes-kanzler Schrders Beharren auf Deutschlandals normale Nation und seine Rede vomneuen deutschen Patriotismus fr amerikani-sche Fhrungseliten ungewohnt. Gerade frBush war es ein Zeichen von Fhrungsschw-

    che und Opportunismus, als Schrder seinenWahlkampf mit dem Slogan bestritt, unterseiner Fhrung wrden sich keine Deutschenan einem Irakkrieg beteiligen. Damit wurdeaus seiner Sicht kurzfristiger Popularittwegen die transatlantische Solidaritt aufsSpiel gesetzt.

    In der Tat zeigen Momentaufnahmen derdamaligen Zeit, bis hin zum Bush-Besuch inMainz, eine nur mhsam verborgene persn-liche Verstimmung. Aber solche persnlichen

    Unterschiede existierten auch schon frher,etwa zwischen Jimmy Carter und HelmutSchmidt, ohne dass daraus weiterreichendeVerstimmungen erwachsen wren. Auch inVietnam, Nicaragua oder im Iran (um denSchah auf den Thron zu setzen) wurde dasRecht der USA betont und durchgesetzt, auf-grund seiner Einzigartigkeit unilateral han-deln zu drfen.

    Das vernderte Verhalten der Fhrungsper-sonen wird mglicherweise besser durch ge-

    wandelte Umstnde verstndlich. Dies bean-sprucht die strukturelle Erklrung. In der Tatnderte das Ende des Kalten Krieges die Be-weggrnde fr das transatlantische, politischeund militrische Bndnis auf beiden Seiten. 3

    Fr viele Beobachter ist offensichtlich, dassEuropa/Deutschland und die Vereinigten Staa-ten nun weniger aufeinander angewiesen sindals vorher. Unterschiedliche Einschtzungennationaler, regionaler und globaler Interessenund Ziele kristallisierten sich daher nicht erstin der angemessenen Antwort auf den 11. Sep-

    tember 2001, sondern bereits seit dem Fall derMauer am 9. November 1989 heraus.

    Weitere neue Bedingungen kommen hinzu,etwa die strukturelle Hegemonie der konser-vativen Partei im Sden und Mittleren Wes-

    ten der USA, eine Verlagerung der Handels-strme weg von Europa-USA hin zu Europa-Asien und USA-Asien. In Europa erwies sichdie Europische Union als attraktiverSchwerpunkt, whrend in den USA der mili-trisch-(l)industrielle Komplex an Einfluss

    gewann. Gesellschaftliche Unterschiede wiein der demographischen Entwicklung kom-men hinzu. 4 Deshalb sind die beiderseitigeninnerstaatlichen Prioritten, wirtschaftlichenBelastungen, innen- und auenpolitischen In-teressen, militrischen Mittel und politischenManahmen mehr noch als frher in Ein-klang zu bringen.

    Aber nicht alle diese Wandlungsprozesseweisen auf einen greren Abstand zwischenden USA und Europa hin. Beispielsweise

    fhrt der gestiegene Handel mit China auchzu gemeinsamen Interesse diesseits und jen-seits des Atlantiks, China zum strkerenSchutz von Eigentums- und Patentrechten zubewegen. Allgemeiner gesprochen: Wand-lungsprozesse bedrfen ihrer Interpretation,bevor sie politisch wirksam werden.

    Der politisch-kulturelle Ansatz untersuchtsolche Interpretationsmuster. Er analysiertden Einfluss von Weltsichten und Hinter-grundannahmen auf die gewhlte Entschei-

    dung.5

    Denn es zeigt sich immer wieder, dasshnliche Probleme unter auch sonst ver-gleichbaren Umstnden unterschiedliche Re-aktionen hervorrufen. Man betrachte nur dieunterschiedlichen Schlussfolgerungen, welcheBush Senior und Bush Junior aus der Tatsachegezogen haben, dass die USA den KaltenKrieg gewonnen haben.

    Allerdings weist auch dieser Ansatz einigeSchwchen auf. So sind Gesellschaften inihren Wertemustern weder homogen noch

    statisch. Sie sind Vernderungen unterworfenund knnen widersprchlich sein. Es ist daher

    2 Vgl. Ekavi Athanassopoulou, Transatlantic RelationsCaught up by Reality, in: Journal of Transatlantic Stu-dies, 4 (2006) 1, S. 117.3 Vgl. Michael Zrn/Martin Binder, Dekonstruktion

    oder Rekonstruktion der transatlantischen Bezie-

    hungen?, in: Jens Alber/Wolfgang Merkel (Hrsg.), Eu-ropas Osterweiterung: Das Ende der Vertiefung, Berlin2006, S. 391 412.

    4 Vgl. Erich Weede, Living with the Transatlantic Rift,in: Orbis, 49 (2005) 2, S. 323335.5 Vgl. Stephen Kalberg, The Hidden Link Between

    Internal Political Culture and Cross-National Percep-tions: Divergent Images of the Soviet Union in theUnited States and the FR of Germany, in: Theory,Culture and Society, 8 (May 1991), S. 3156; StefanImmerfall, Bonds That Hold: Germany and America inan Age of Turbulence, in: Hermann Kurthen/ders./Antonio Menndez (Hrsg.), Safeguarding German-

    American Relations in the New Century: Un-derstanding and Accepting Mutual Differences, Lan-ham 2006, S. 113132.

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    meist willkrlich, aus der kulturellen Gemen-gelage bestimmte Aspekte als besonders fol-genreich hervorzuheben. Auch knnen sichunterschiedliche Bevlkerungsgruppen unter-einander unterscheiden. Gleiches gilt fr dieEliten. Zudem mssen auch in demokrati-

    schen Systemen die politischen Eliten keines-wegs immer der breiten ffentlichen Meinungfolgen. So beteiligten sich Spanien, Italien undauch Grobritannien und Dnemark trotz sei-ner berdeutlichen Unpopularitt am Irak-krieg, was aber unmittelbar nach den Bom-benanschlgen von Madrid nur zur Abwahlder Aznar-Regierung in Spanien fhrte.

    Somit lassen sich zu einem beobachtbarenTrend in den Wertemustern stets vermeintli-che Gegenbeispiele finden. Dennoch er-

    scheint ein politisch-kultureller Zugang imFall der deutsch-amerikanischen Krise zwi-schen 2002/2005 als lehrreich. Mehrere Indi-zien sprechen dafr, nach den kulturellen Un-tertnen der diplomatischen Ereignisse zufragen: Die deutsche Reaktion auf die ameri-kanischen Kriegsvorbereitungen waren ge-messen an Deutschlands Vergangenheit alstreuer Verbndeter nicht nur ungewhnlichdeutlich. Ungewhnlich auch war die breitebereinstimmung zwischen der politischenFhrung und der Bevlkerung. Sie ging so-

    weit, dass kritische Intellektuelle vom Schlageines Jrgen Habermas oder Gnter Grass 6pltzlich bekannten, stolz auf die interna-tionale Haltung Deutschlands zu sein.

    Politisch-kulturelle Unterstrmungen

    Im Fall der deutsch-amerikanischen Entfrem-dung bietet sich als eine einfache politisch-kulturelle Erklrung diejenige an, die ffent-lichkeit Europas, seine Eliten und Medien

    seien tendenziell pazifistisch gestrickt, wh-rend die USA den 11. September als militri-sche Herausforderung verstanden habe, aufdie es ebenso reagieren msse. Ein Beispieldafr ist die bekannt gewordene Unterschei-dung von Robert Kagan 7 die Amerikanerstammten vom Mars und die Europer vonder Venus. Die Europer, klug aber auch zy-nisch geworden durch ihre Geschichte, stn-

    den militrischen Interventionen grundstz-lich ablehnend gegenber, whrend die USAals Pioniernation nicht nur Gewalt als mgli-ches Mittel betrachteten, Konflikte zu lsen,sondern auch als ein geeignetes Mittel der Po-litik.

    Bereits ein kurzer Blick auf die Geschichteder franzsischen Afrikapolitik oder Gro-britanniens Entschlossenheit im Falkland-krieg lsst diese Sichtweise fragwrdig er-scheinen. Auch die deutsche ffentlichkeitlie sich im Fall der NATO-BombardierungSerbiens durchaus zur Untersttzung eines im brigen formal vlkerrechtswidrigen Militreinsatzes bewegen. ber 7 000 deut-sche Soldaten sind derzeit stndig im Aus-landseinsatz. Schlielich werde, so der dama-lige Verteidigungsminister Peter Struck,Deutschland am Hindukusch verteidigt.

    Eine andere, politisch-kulturelle Thesegeht von einem untergrndig stets vorhande-nen Antiamerikanismus aus, der sich anlss-lich des Irakkriegs Bahn gebrochen habe. 8Hinzu komme eine Neubewertung der deut-schen Vergangenheit. Deutsche wrden sichnicht mehr nur als Tter, sondern auch alsOpfer zum Beispiel von Vertreibungen odervon alliierten Flchenbombardements sehen. Da komme es gelegen, gegenber demeinstigen Beschtzer die moralische berle-genheit zu beanspruchen.

    Zunchst einmal: Was ist und wie misstman Antiamerikanismus? Wenn man bereitseinzelne Einstellungen gegenber diesemoder jenem Attribut des amerikanischen poli-tischen, kulturellen oder sozio-konomi-schen Systems oder gar gegenber der politi-schen Fhrung als Antiamerikanismus defi-niert, wird man berall Antiamerikanismuserblicken. 9 Von Antiamerikanismus sollteman nur dann sprechen, wenn eine grund-stzliche Tendenz vorliegt, Amerika unddie Amerikaner unterschiedslos negativ zubeschreiben. 10

    6 Vgl. Gnter Grass, Erklrung zum Irakkrieg, 21. 3.2003, Radio Bremen, http://www.radiobremen.de/

    online/grass/reden/unrecht.shtml (18. 12. 2007).7 Robert Kagan, Of Paradise and Power: America andEurope in the New World Order, New York 2003.

    8 Vgl. Mary Nolan, Anti-Americanism and Ame-ricanization in Germany, in: Politics & Society, 33(2005) 1, S. 88122.9 Vgl. Andrei Markovits, Amerika, dich hasst sich' s

    besser, Hamburg 2004.10 Vgl. Sergio Fabbrini, Layers of Anti-Americanism:

    Americanization, American Unilateralism and Anti-

    Americanism in an European Perspective, in: Euro-pean Journal of American Culture, 23 (2004) 2, S. 7994.

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    Zumindest nach den Ergebnissen der Mei-nungsforschung vermag die These, dass Anti-amerikanismus im Zentrum der deutschenHaltung zum Irakkrieg gestanden habe, nichtzu berzeugen. Richtig ist, dass die Europer zumal die Deutschen der Politik von Pr-sident Bush ausgesprochen kritisch gegen-ber stehen. Diese Kritik hat zweifellos auchzu einem deutlichen Ansehensverlust derUSA insgesamt gefhrt. Dennoch unterschei-den die Deutschen weiterhin zwischen demPrsidenten und den amerikanischen Br-gern: Nur 30 Prozent schtzen gegenwrtigdas Image der Vereinigten Staaten als positivein, gleichzeitig beurteilen jedoch 63 Prozentdie Amerikaner 11 als positiv. Wenn die ber-wltigende Mehrheit der Deutschen mit derAuenpolitik Bushs nicht einverstanden ist,muss naturgem auch die Zahl derer sinken,die eine weltweite Fhrungsrolle der USAbefrworten. Dennoch ist letztere Zahl wei-terhin deutlich hher als erstere. 12

    Nach den Grnden fr die verschlechtertenBeziehungen gefragt, gaben die Deutschenan, dass dies in erster Linie am Krieg im Irak(37 Prozent) und an der Person des Prsiden-ten (41 Prozent) liege. 13 39 Prozent glaubendenn auch, dass das Ergebnis der US-Wahlen2008, bei denen Bush nicht mehr antritt, dastransatlantische Verhltnis verbessern werde.

    Zwar solle die EU nach 87 Prozent der Be-fragten mehr Verantwortung fr den Umgangmit internationalen Bedrohungen berneh-men, aber 58 Prozent der Deutschen gebenan, dies solle sie in enger Kooperation mitden USA tun. In der Summe legen die Mei-nungsumfragen nicht nur nahe, dass sichDeutsche und Amerikaner weiterhin mitSympathie begegnen und dass sie viele Ge-meinsamkeiten haben, sondern, dass sie sichauch im Allgemeinen als vertrauenswrdigeinschtzen. Diese positive Einschtzungwiegt umso mehr, als groe Lnder untersonst gleichen Umstnden als weniger ver-trauenswrdig beurteilt werden als kleine. 14

    Es sei keineswegs behauptet, dass es Anti-amerikanismus berhaupt nicht (mehr) gibt.In den vergangenen 40 Jahren gaben zirkazehn Prozent der Deutschen, Briten, Franzo-sen und Italiener an, eine schlechte oder sehrschlechte Meinung von den Amerikanern

    zu haben. Der Anteil schwankt, aber die Fluk-tuation ber die Zeit ist in allen vier Lnderndie gleiche. Einen ersten Einbruch gab es1954, insbesondere in Frankreich im Gefolgeder franko-amerikanischen Krise, dann in derzweiten Hlfte der 1950er Jahre im Gefolgeder Suez-Krise. Einen dritten Hhepunkt er-lebte der Antiamerikanismus zwischen1971 und 1976 als Konsequenz des Vietnam-kriegs und der Whrungskrise und schlielichin den frhen 1980er Jahren in Zusammen-hang mit der Raketenstationierung. 2003

    brachte der zweite Irakkrieg in allen vier Ln-dern den hchsten Anstieg. Allerdings kommt wie schon in der Vergangenheit die grund-stzliche Sympathie der groen Bevlke-rungsmehrheit gegenber den Amerikanernschnell wieder zum Vorschein. 15

    Es sei auch zugestanden, dass Meinungs-umfragen nicht die einzige oder beste Metho-de sind, Stereotypen und Vorurteilen auf dieSpur zu kommen. Meinungen sind flchtig,und Meinungsumfragen knnen daher nur

    ein ungenaues Messinstrument fr politischeKulturen sein. Doch auch andere Erhebungs-methoden 16 und komplexere Verfahren wei-sen in die gleiche Richtung. Pierangelo Iser-nia 17 kann mittels multipler Regressionsana-lyse zeigen, dass zwischen 2002 und 2004 dieEinstellung der Befragten zum Irakkrieg sehrviel weniger von antiamerikanischen Gefh-len als von Einstellungen gegenber derBush-Regierung und von auenpolitischenEinstellungen abhngig war. Die Kritik dereuropischen Brger ist also weniger von

    einer generellen, gefhlsbetonten Orientie-rung gegenber den USA als vielmehr von

    11 Vgl. Pew Global Attitudes Project, 2007, GlobalUnease With Major World Powers. Rising Envi-ronmental Concern in 47-Nation Survey, http://pewglobal.org/reports/pdf/256.pdf; (12. 11. 2007), S. 4.12 38 gegenber 13 Prozent, http://www.transatlan

    tictrends.org/trends/doc/Toplines5302TTSGPGERMANY_v1.pdf, S. 3 und 56.13

    Vgl. ebd., S. 52.14 Vgl. Jan Delhey/Kenneth Newton, PredictingCross-National Levels of Social Trust: Global Pattern

    or Nordic Exceptionalism?, in: European SociologicalReview, 21 (2005) 4, S. 311327.15 Vgl. Pierangelo Isernia, Anti-Americanism and Eu-

    ropean public opinion during the Iraq war, in: SergioFabbrini (ed.), The United States Contested. AmericanUnilateralism and European Discontent, London New York 2006, S. 130158.16 Vgl. auch Janice Bell, The Yin and Yang of U.S.

    Image: Using Focus Groups to Understand Anti-U.S.

    Attitudes in Italy, in: Qualitative Social Research, 5(2004) 2.17 Vgl. P. Isernia (Anm. 15), S. 156151.

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    der konkreten Einstellung gegenber einzel-nen Politikfeldern bestimmt. NachhaltigerAntiamerikanismus bleibt eine Einstellungvon Minderheiten.

    Transatlantisches Wertefundamentin Gefahr?

    In den Meinungsumfragen und in den ande-ren Erhebungsmethoden treten aber auch ak-tuelle Differenzen in den Einstellungen dies-seits und jenseits des Atlantiks zu Tage. Siebeziehen sich eher auf die Wahl der Mittel alsauf die angestrebten Ziele. So wollen Europ-er und Deutsche dem Iran weniger hufig mitGewalt drohen, sollte er an seinem Atompro-gramm festhalten. Generell finden militri-

    sche Optionen weniger oft Zustimmung, wiezum Beispiel Kampfeinstze gegen die Tali-ban. 18

    Unterschiede zwischen Europa und Ame-rika im Verstndnis nationalstaatlicher Souve-rnitt oder in den Einstellungen gegenberdem Sozialstaat und der Religion sind nichtneu. Seymour Lipset 19 hat zahlreiche solcherDifferenzen zusammengetragen, wobei er dieamerikanischen Wertemuster als besondersund einzigartig ansieht. Darber mssenwir hier nicht entscheiden die Frage, ob dereuropische Skularismus oder die amerikani-sche Religiositt eher in die Zukunft weist, istmehr denn je strittig. Jedenfalls sind imDurchschnitt Amerikaner eher religis, opti-mistisch, patriotisch und individualistisch. Siepldieren eher fr eine Regierung, die sich insozialen Dingen zurckhlt, und sie stimmeneher der Auffassung zu, dass jeder seines eige-nen Glckes Schmied ist. Der Anteil der Per-sonen, die einen moralischen Rigorismus ver-

    treten, die also der These zustimmen, manknne unter allen Umstnden sagen, was gutist und was bse, schwankt in Deutschlandwie in den USA. Aber immer ist ihr Anteil inden USA betrchtlich hher. 20

    Wie aber sind diese Unterschiede zu deuten? Bildetsich nach dem amerikanischen Glauben an die eigeneAusnahmeerscheinung ein eigenstndiges europischesWertefundament der Harmonie und der sozialen Ver-trglichkeit im Kontrast zum amerikanischen Hege-monialkapitalismus heraus? 21 Eine solche europische

    Selbstgeflligkeit entbehrt jeder Grundlage. Erinnertsei nur an den demokratisch zweifelhaften Charakterder Europischen Union, die ihren Brgern den verfas-sungsbildenden Reformvertrag nicht zur Abstim-mung vorlegt und an die Menschenrechtspolitik ihrerMitgliedsstaaten, die der der Vereinigten Staaten nurwenig nachsteht. Hingewiesen werden muss auchauf die fundamentalen innereuropischen Unterschie-de. In der Regel sind diese sei es in der Politik oderin der Wirtschaft grer als die zwischen der Euro-pischen Union als Ganzem und den Vereinigten Staa-ten. 22 Und schlielich bersieht die Gegenberstel-

    lung der USA als nationalistisch und Kontinentaleuro-pa als post-nationalistisch nicht nur die anhaltendeBedeutsamkeit des Nationalstaats auch in Europa. Siebersieht auch, dass bedeutsame Teile der amerikani-schen ffentlichkeit eine strkere EU befrwortenund in Europa wiederum die Mehrheit gerade nichtbereit ist, einer EU als militrische Macht die ntigenfinanziellen Mittel zu geben. 23

    Oder aber ist das Wort vom atlantischen Wertefunda-ment nur Schall und Rauch, gut allenfalls fr politischeSonntagsreden? 24 Egon Bahr fhrte krzlich aus, zwi-

    schen den USA und Europa gebe es keine gemeinsamenWerte, sondern nur eine gemeinsame Vorstellung vonDemokratie, Pluralismus und Marktwirtschaft. 25 Die-ser Unterschied der Werte sei whrend des KaltenKriegs vom gemeinsamen Sicherheitsinteresse verdecktworden. Abgesehen davon, dass sich der Unterschiedzwischen gemeinsamen Vorstellungen und gemeinsa-men Werten nicht recht erschlieen will, spricht dochvieles fr eine gemeinsame Atlantische Zivilisation. 26

    Dafr spricht schon ein Blick auf die Grenver-hltnisse der Differenzen. Unterschiede zwischen Wer-

    18 Vgl. James M. McCormick, The War on Terror andContemporary U.S.-European Relations, in: Politics &Policy, 34 (2006) 2, S. 426450.19 Seymour Martin Lipset, Exceptionalism: A Dou-

    ble-Edged Sword, New York 1996.20 Vgl. Wilhelm Haumann/Thomas Petersen, German

    Public Opinion on the Iraq Conflict: A Passing Crisis

    with the USA or a Lasting Departure?, in: Inter-national Journal of Public Opinion Research, 16 (2004)3, S. 311330.

    21 Zu den Vertretern dieser These zhlen Jeremy Rifkin, MarkLeonard, Ulrich Beck, aber auch Jrgen Habermas. Vgl. TerenceCasey, Of Power and Plenty? Europe, Soft Power, and GenteelStagnation, in: Comparative European Politics, 4 (2006) 4, S. 399422; Perry Anderson, Depicting Europe, in: London Review ofBooks vom 20. 9. 2007.22 Vgl. Jens Alber, Das europische Sozialmodell und die USA,

    in: Leviathan, 34 (Juni 2006) 2, S. 208 241.23 Vgl. Transatlantic Trends 2004, S. 6 f.: http://www.

    transatlantictrends.org/trends/doc/2004_german_key.pdf24 Vgl. Alex Danchev, How Strong are Shared Values in the

    Transatlantic Relationship?, in: British Journal of Politics and In-

    ternational Relations, 7 (2005) 3, S. 429436.25 Egon Bahr, in: Welt am Sonntag vom 12. August 2007, S. 4.26 Hannah Arendt, ber die Revolution, Mnchen 20004, S. 277.

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    ten sind nicht absolut, sondern erschlieen sich erst imvergleichenden Bezug. Es ist aber offensichtlich, dassdie Unterschiede zwischen Europa und den USA imVergleich zur grundstzlichen Geisteshaltung Chinas,Russlands oder Saudi-Arabiens eine untergeordneteRolle spielen. 27 Auch in den Einstellungen der Brger

    zum Irakkrieg haben sich keine Risse im transatlanti-schen Wertefundament gespiegelt.

    Eine andere Interpretation scheint daher naheliegen-der. Zwar ist die Wertegrundlage geteilt, aber ber diegeteilte Wertegrundlage wird oft bersehen, dass dieseWerte unterschiedlich interpretiert werden. Darausknnen strukturierte Missverstndnisse 28 in derwechselseitigen Wahrnehmung und Motivzuschrei-bung resultieren.

    Warum aber ist die Mglichkeit von Missverstnd-nissen und gegenseitiger Falschwahrnehmung im ver-

    gangenen Jahrzehnt gestiegen? Auf beiden Seiten gibtes weniger Politiker, die ein tieferes Verstndnis fr dieTraditionen ihrer transatlantischen Amtskollegenhaben. Dies lsst sich gut mit dem subjektiven unddem strukturellen Ansatz verbinden. Gewiss kam 2001eine neue Generation von Diplomaten und Fachleutenmit weniger ausgeprgten europischen Bindungen inWashington ins Amt und vielleicht vollzieht sich der-selbe Prozess in Europa und Deutschland. Zugleichsinkt mit der wechselseitigen Wichtigkeit auch die An-zahl der Lehrsthle und Forschungseinrichtungen, diesich miteinander beschftigen. Vor allem aber geht die

    Anzahl der Studierenden in den betreffenden Fchernzurck, da sie weniger hoffen drfen, mit solcher Ex-pertise Karriere zu machen.

    Was ist zu tun?

    Angesichts der bisherigen Erfahrungen sind wir derberzeugung, dass starke transatlantische Bande undeine langfristige, strategische Partnerschaft aus Grndender globalen Sicherheit, der politischen Stabilitt unddes wirtschaftlichen Erfolgs erstrebenswert bleiben. DieSicherung deutsch-amerikanischer Beziehungen imneuen Jahrhundert sollte sich daher auf jenen Bereichder politischen Kultur konzentrieren, der oft bersehenwird, nmlich auf die unterschiedliche Interpretationfundamental hnlicher Werte. Was kann getan werden,um eine aus solchen Interpretationsunterschieden resul-tierende langfristige Entfremdung zu vermeiden?

    Erstens gilt es, die Unvermeidlichkeit und vielleichtsogar die Erwnschtheit von Differenzen in den politi-schen Kulturen, gesellschaftlichen Prioritten und na-tionalen Interessen anzuerkennen. EuropischeSelbstgeflligkeit und amerikanisches Sendungsbe-wusstsein sind sowohl im wohlverstandenem Eigenin-

    teresse als auch im gemeinsamen Interesse, das Ge-wicht der westlichen Wertegemeinschaft global zustrken, kontraproduktiv. Dies umso mehr, als beideSeiten sich mit der konsequenten Umsetzung der vonihnen proklamierten Werte schwer tun.

    Zweitens ist es notwendig, zu verstehen, dass dieseUnterschiede kein Hindernis fr einen bestndigenund gegenseitig frderlichen Austausch oder sogar frden Aufbau einer besonderen Beziehung sind, solangeeine Atmosphre von wechselseitigem Vertrauen, Re-spekt und Toleranz herrscht, in der Gemeinsamkeitenanerkannt werden. Allerdings setzt dieser Ansatz vor-aus, dass Amerikaner und Europer und ihre jeweili-gen Regierungen einen genaueren Blick auf ihre ge-meinsamen humanistisch-universalistischen, normati-ven Orientierungen und Ziele werfen, welche in ihrepolitische Kultur eingebettet sind.

    Drittens sollte fr einen lebhaften transatlantischenAustausch neben den blichen Wegen der Diplomatieund der Politik auch von zwischenmenschlichenFreundschaften und Interaktionen Gebrauch gemachtwerden, die sich in den vergangenen Jahrzehnten ent-wickelt haben, und auerdem vom dichten Bezie-hungsgeflecht und Austausch ziviler Organisationen,die sich von Familien ber Hochschulen und Bildunghin zu den Unternehmen, Forschung, Journalismus,Kunst, Sport, Stdtepartnerschaften und dem Touris-mus erstrecken. Gerade weil die Anzahl derer ab-nimmt, die zwischen den unterschiedlichen Interpreta-tionen des transatlantischen Wertefundaments vermit-teln knnen, kommt den brgerschaftlichenBeziehungen gegenber der groen Politik eine beson-dere Bedeutung zu. Hier sind auch (Aus-)Bildungsin-stitutionen gefragt. 29

    Das gemeinsame transatlantische Wertefundament istnoch nicht in Gefahr. Es bedarf aber der Pflege. In derVergangenheit geschah dies angesichts der deutsch-amerikanischen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, dieein dichtes transatlantisches Wurzelgeflecht entstehenlie, quasi naturwchsig. Doch diese Phase ist zu Ende.

    27 Vgl. Jana Puglierin/Patrick Keller, Jenseits der Werte, Pldoyerfr eine interessenorientierte transatlantische Partnerschaft, in:Politische Studien, 56 (2005) 401, S. 3643; Lazaros Miliopoulos,Atlantische Zivilisation und transatlantisches Verhltnis. Politi-sche Idee und Wirklichkeit, Wiesbaden 2007.28

    Stephen Kalberg, Structured Misunderstanding: Differences inthe American and German Political Cultures, in: Art andThought/Fikrun Wa Fann, 77 (2003) 2, S. 4855.

    29 Beispielsweise fhrt die PH Schwbisch Gmnd regelmigmit ihrer Partnerhochschule in den Vereinigten Staaten, der GrandValley State University in Michigan, gemeinsame studentische

    Online-Seminare durch.

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    Gret Haller

    Die Bedeutung

    von Freiheit undSicherheit inEuropa und in

    den USA

    W enn man die Begriffe Freiheit undSicherheit in ihrer unterschiedlichenBedeutung oder Verankerung im europi-

    schen und im US-amerikanischen Ge-sellschaftsverstndnisvergleichen will, mussvorweg das unter-schiedliche Rechtsver-stndnis diesseits undjenseits des Atlantiks

    thematisiert werden.Das kontinentaleuro-pische Recht gehtvon Gesetzestextenaus, welche zunchstdurch akademische

    Juristen sowie profes-sionelle Gesetzgeber

    formuliert und schlielich durch die Parla-mente verabschiedet werden. Erst danachwerden sie durch Anwlte und Gerichte aus-gelegt und angewendet. So unterscheidet man

    ganz elementar zwischen Rechtssetzung undRechtsanwendung, und das kontinentaleuro-pische Recht bildet eigentlich ein Normen-system. Demgegenber ist das angloamerika-nische Recht ein Resultat der Zusammenar-beit von Anwlten und Richtern imProzessgeschehen. Dabei geht es vor allemum die praktische Bewltigung konkreterStreitigkeiten. In dieser Rechtstradition wirdRecht verstanden als lose geformte Masse vonRegeln, Argumenten und Entscheidungen,die als Einzelfallentscheidungen in Erschei-nung treten. In letzter Zeit findet im brigeneine zunehmende gegenseitige Beeinflussung

    der beiden Rechtstraditionen statt, man be-ginnt die Vorteile des jeweils anderen Systemszu entdecken.

    Nun gibt es innerhalb des angloamerikani-schen Rechtsbereiches eine unterschiedliche

    Entwicklung des englischen und des US-ame-rikanischen Rechts. Dabei geht es vor allemum die Mentalittsunterschiede. 1 Dem euro-pischen Betrachter, der von einer einigerma-en bersichtlichen Rechtsordnung ausgeht,erscheint das US-Recht als vllig chaotisch,dies auch wegen der fderalistischen Strukturdieses Staates, der oft auch im Bereich desHandelsrechtes von Gliedstaat zu Gliedstaatverschiedene Lsungen trifft. Dies ist keines-wegs Zufall, sondern programmiert. Man er-wartet vom Recht gar nicht, dass es berall

    gleich sei, sondern man will bewusst eineAuswahl haben. Vernderbarkeit ist wichtigerals Rechtssicherheit im europischen Sinne.Die philosophische Denkrichtung des Prag-matismus hat von allem Anfang an dieRechtsentwicklung in den Vereinigten Staatenstark beeinflusst, d. h. man orientiert sichnicht an abstrakt-ethischen Prinzipien, son-dern an den konkret-praktischen Wirkungendes Handelns, und danach richten sich auchdie richterlichen Urteile.

    Auch sind die Instrumentalisierung und diePolitisierung des Rechts zu nennen, die be-wusst und gewollt sind. Dies soll an einemBeispiel erlutert werden. In Europa werdengefhrliche Gter durch Gesetze verboten. Inden Vereinigten Staaten geschieht dies vielseltener. Wer Gter auf den Markt bringt, tutjedoch gut daran, sich genau zu informieren,wie gefhrlich diese Gter sind, denn er ris-kiert Schadenersatzklagen, oft in der Formvon Sammelklagen, wenn er ein gefhrlichesGut vertrieben hat. Erreicht wird mit beiden

    Systemen dasselbe Ziel, nmlich dass keinegefhrlichen Gter auf den Markt kommen

    Gret Haller

    Dr. jur., Dr. rer. publ. h.c., geb.

    1947; seit 2007 Lehrbeauftragte

    am Institut fr Kriminalwissen-

    schaften und Rechtsphilosophie

    der Johann-Wolfgang-Goethe-

    Universitt und Mitglied der

    Europischen Kommission frDemokratie durch Recht des

    Europarates (Venedig-Kommis-

    sion), Senckenberganlage 31,

    60054 Frankfurt/M.

    [email protected]

    Dieser Beitrag beruht auf einem redigierten Text einesVortrages, der im Rahmen der Veranstaltung der Bun-deszentrale fr politische Bildung/bpb in Zusammen-arbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigungzum Thema Freiheit und Sicherheit. Transformationals gesellschaftliche Herausforderung im Kardinal-Schulte-Haus in Bensberg gehalten worden ist.1 Vgl. zum Folgenden Mathias Reimann, Die Fremd-

    heit des amerikanischen Rechts Versuch einer his-

    torischen Erklrung, in: Knud Krakau/Franz Streng(Hrsg.), Konflikt der Rechtskulturen? Die USA undDeutschland im Vergleich, Heidelberg 2003, S. 28 ff.

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    sollen. Die Wege, dieses Ziel zu erreichen,sind aber vllig verschieden. Dies ist auch derGrund, weshalb in den Vereinigten Staatenviel hhere Schadenersatzsummen zugespro-chen werden. Die so genannten punitive da-mages gehen sogar ganz bewusst weit ber

    den entstandenen Schaden hinaus, denn siesollen generalprventiv wirken. Dasselbe er-reicht man in Europa durch die Gesetzge-bung, also durch einen Akt, der im Bereichder Politik angesiedelt ist. Mit dem StichwortPolitisierung sind nun grundlegendere trans-atlantische Unterschiede angesprochen, derenhistorische Wurzeln weit zurck bis ins 17.

    Jahrhundert gehen.

    Mit dem Westflischen Frieden kam in Eu-ropa 1648 ein Jahrhundert blutiger Religions-

    kriege zum Abschluss. Europa hat damalsden religis oder moralisch begrndetenKrieg gechtet und die Religion definitiv demStaat untergeordnet. Gleichzeitig begann dieAuswanderung nach Amerika. Die meistenAuswanderer whlten den Weg ber den At-lantik aus wirtschaftlicher Not oder ausAbenteuerlust. Die wenigen, die aber eineweltanschauliche Motivation hatten, wolltengenau diese neue europische Rangordnungzwischen Staat und Religion nicht anerken-nen. Insbesondere die puritanischen Pilgerv-

    ter verstanden ihre religisen Gemeinschaftenals eine ffentliche Ordnungsstruktur, die garkeinen Staat brauchte. Sie gingen von derIdee des auserwhlten Volkes Gottes aus undlehnten jede staatliche Einmischung ab. Sokam es in Amerika zur strikten Trennung vonKirche und Staat. Diese hatte nie den Sinn,den Staat vor der Religion zu schtzen, wiedas fr Europa gilt. Es geht im Gegenteildarum, die Religion vor dem Staat zu scht-zen, denn in den Vereinigten Staaten steht dieReligion ber dem Staat.

    Als im ausgehenden 18. Jahrhundert Natio-nalstaaten geschaffen wurden, entfaltete die-ser Unterschied seine Wirkung. Die europi-schen Nationen wurden ausnahmslos staats-politisch begrndet. Die US-amerikanischeNation begrndet sich hingegen religis undmoralisch. Die religise Begrndung uertsich in der Vorstellung vom auserwhltenVolk Gottes im alttestamentarischen Sinne,die moralische Begrndung zeigt sich darin,dass diese Nation das Gute schlechthin ver-krpere. Eine andere Begrndung der ameri-kanischen Nation war gar nicht mglich,

    denn eine staatspolitische Identitt imeuropischen Sinne gibt es in den VereinigtenStaaten nicht, weil die Rangordnung zwi-schen Staat und Religion umgekehrt ist.

    Diese umgekehrte Rangordnung hat sich

    auch ausgewirkt auf das Verhltnis zwischenRecht und Moral. In Europa sind Recht undMoral getrennt. Zwar spielen moralische Ka-tegorien in der politischen Auseinanderset-zung ber die Gesetzgebung eine wichtigeRolle. Ist das Recht aber einmal in Kraft ge-setzt, so wird es moralisch neutral. In Europagarantiert die Gewissensfreiheit, dass guteund bse Menschen rechtlich genau gleichbehandelt werden, was immer man sich untergut und bse auch vorstellen mag. AlleMenschen werden nur nach ihren Taten beur-

    teilt und nicht nach ihrer Gesinnung. DerStraftter zum Beispiel ist nicht bse, er istnur rechtlich strafbar. Die Vereinigten Staatenkennen die Trennung von Recht und Moralim europisch strikten Sinne nicht. So wirdber Sammelklagen praktisch nie rechtlichentschieden, sondern der moralische Druckder ffentlichkeit zwingt die Beklagten zumAbschluss eines Vergleiches. Straftter geltenin den Vereinigten Staaten als moralisch ver-werflich.

    Weil sich die US-amerikanische Nation re-ligis und moralisch begrndet, ist die man-gelnde Trennung von Recht und Moral auchfr das nationale Selbstverstndnis von Be-deutung. Dieser transatlantische Unterschiedwird heute vor allem im Vlkerrecht sichtbar.Das Vlkerrecht wurde in Europa ebenfallsim Westflischen Frieden 1648 erfunden. Esist eine zwischenstaatliche rechtliche Ord-nung, der sich die Staaten freiwillig unterstel-len, womit sie einen teilweisen Souvernitts-verzicht leisten. Seit etwas mehr als einem

    Jahrzehnt verweigern die Vereinigten Staatenimmer systematischer die Teilnahme an vl-kerrechtlichen Vertrgen. Sie bevorzugen dieZusammenarbeit mit befreundeten Staatenvon Fall zu Fall, und sie setzen die so ge-nannte Koalition der Willigen an die Stelleder vlkerrechtlichen Einbindung. Damittritt aber die Moral an die Stelle des Rechts:Eine weltweite vlkerrechtlich Ordnungmuss nmlich moralisch neutral sein, damitsie ihr Ziel erreichen kann. Die UNO und dieinternationalen Vertragswerke mssen mg-lichst viele Staaten einbinden, ohne zu unter-scheiden zwischen guten oder bsen

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    Staaten. Die so genannte Koalition der Wil-ligen ist hingegen ein moralisches Konzept,indem die Willigen zu Freunden der USAwerden. Die Willigen sind die Guten, dieUnwilligen werden unterschiedlich be-nannt, das Spektrum reicht vom Begriff der

    getrbten Freundschaft bis hin zum so ge-nannten Schurkenstaat. All dies sind mora-lische Begriffe. Das Freund-Feind-Schema,das die Vereinigten Staaten heute zur Anwen-dung bringen, ist die direkte Gegenpositionzu einer weltweiten vlkerrechtlichen Ein-bindung. Die beiden Konzepte schlieen sichgegenseitig aus.

    Zum Ausdruck kommt das nationaleSelbstverstndnis vor allem im Begriff desnationalen Interesses. Dieses ist nicht zu

    vergleichen mit dem, was alle europischenStaaten unter dem selben Begriff berhauptauch nur verstehen knnten. Wenn mit demUS-amerikanischen nationalen Interesse ar-gumentiert wird, so ist implizit auch immermitgemeint, dass es sich bei dieser Nation umdas auserwhlte Volk Gottes handelt. Und esist mitgemeint, dass diese Nation fr das mo-ralisch Gute schlechthin steht. Das US-amerikanische nationale Interesse kannnicht mit europischen Mastben der Moralgemessen werden, denn es stellt selber einen

    religis begrndeten, moralischen Mastabdar. Dies ist nur erklrbar durch die umge-kehrte Rangfolge von Staat und Religion inden Vereinigten Staaten. Soweit einigeAspekte des Rechtsdenkens in den Vereinig-ten Staaten sowie der ihnen zugrundeliegen-den historischen Entwicklung. 2

    Das europische Denken dagegen geht voneiner Rechtsordnung aus, und dies ist nur des-halb mglich, weil diese Ordnung dem Staatoder irgend einer Form von Staatlichkeit an-

    vertraut werden kann. Wenn hier nicht nurvom Staat, sondern von Staatlichkeit dieRede ist, so soll damit ausgedrckt werden,dass es Staatlichkeit auf ganz verschiedenenEbenen geben kann, in fderalistisch organi-sierten Staaten auch im Bereich der Kommu-nen oder der Gliedstaaten, in Europa aberauch auf der internationalen oder sogar supra-nationalen Ebene. Die Europische Union istdas Beispiel einer neuen Form von Staatlich-

    keit, die nie zu einer Nationalstaatlichkeitwerden wird: Europa wird nie eine Nationwerden. Und dennoch ist auf dieser Ebeneeine Staatlichkeit gleichsam sui generis ge-geben, der man eine Rechtsordnung anver-trauen kann. Hat man hingegen ideenge-

    schichtlich keinen Staat zur Verfgung, demman die Rechtsordnung anvertrauen kann,oder ist die Staatlichkeit so negativ besetzt,dass man ihr das Recht lieber nicht anvertraut,so bleibt gar nichts anderes brig als jenesRechtsdenken, das sich in den USA entwickelthat, und welches sich auch vom britischen dia-metral unterscheidet. Die Briten haben zurStaatlichkeit ein durchaus positives Verhltnis.

    Es kann nicht verwundern, dass all diesetransatlantisch so unterschiedlichen ideenge-

    schichtlichen Ausgangspunkte in der Tendenzzu verschiedenen Konzeptionen von Freiheitund Sicherheit fhren. Seit dem 11. Septem-ber 2001 werden diese unterschiedlichenWahrnehmungen immer deutlicher. In denVereinigten Staaten sind Freiheit und Si-cherheit die beiden zentralen Begriffe, umwelche es in der Verfassung berhaupt geht.Nachzulesen ist dies in den Federalist Pa-pers, einer Streitschrift, welche gegen Endedes 18. Jahrhunderts von James Madison,Alexander Hamilton und John Jay verfasst

    worden ist. Die Federalists bildeten damalsjene Gruppe, welche eine Verstrkung derZentralgewalt in den Vereinigten Staaten an-strebten. Sie setzten sich schlielich auchmehr oder weniger durch, und so bildet diesePublikation einen auch heute noch gltigenund sehr instruktiven Kommentar der US-amerikanischen Verfassung, welche aus deramerikanischen Revolution hervorgegangenist. 3 Die entsprechenden zentralen Begriffeder Franzsischen Revolution lauten Frei-heit Gleichheit Brderlichkeit, wobei

    Brderlichkeit heute mit Solidarittbersetzt werden kann, was der damaligenBedeutung am nchsten kommt.

    Vergleicht man die Errungenschaften deramerikanischen Revolution mit jenen der

    2

    Fr eine eingehendere Darstellung vgl. Gret Haller,Die Grenzen der Solidaritt. Europa und die USA imUmgang mit Staat, Nation und Religion, Berlin 2002.

    3 Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay,Die Federalist-Artikel, hrsg. von Angela und Willi PaulAdams, Paderborn u. a. 1994, sowie Barbara Zehn-pfennig, Die Federalists zwischen Gemeinwohl undPartikularinteresse, in: Herfried Mnkler (Hrsg.),

    Brgerreligion und Brgertugend: Debatten ber dievorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung, Ba-den-Baden 1996, S. 301.

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    Franzsischen Revolution, so stellt man zu-nchst einmal fest, welche Begriffe fehlen.Der amerikanischen Begrifflichkeit fehlt dieGleichheit und die Solidaritt, whrend derfranzsischen Begrifflichkeit die Sicherheitfehlt. Die historischen Umstnde waren vl-

    lig verschieden, indem es in Frankreichdarum ging, in einer bestehenden Ordnungden Knig zu entmachten und das Volk be-ziehungsweise seine Reprsentanten an des-sen Stelle zu setzen, whrend in Amerikanach der Lossagung vom Mutterland eineneue Ordnung geschaffen werden musste, diesich von jener im Mutterland bewusst abhe-ben sollte und dennoch nicht in die Anarchiefhren durfte.

    Ein ganz entscheidender Unterschied im

    Freiheitsverstndnis ergibt sich aber im Zu-sammenhang mit den Besitzverhltnissen, undhier tritt zum religisen Element ein wirt-schaftliches hinzu, welches aber in genau dieselbe Richtung zielt, so dass sich das religiseund das wirtschaftliche gegenseitig verstrken.So, wie sich jenseits des Atlantiks die Freiheitzur Religion Hand in Hand mit der Freiheitvom Staat entwickelt hatte whrend in Euro-pa die Freiheit von der Religion durch dieFreiheit zum Staat errungen worden war ,war nun hundert Jahre spter jenseits des At-

    lantiks die Freiheit vom Staat wichtig, um dieFreiheit zum Besitz und die Sicherheit des Ei-gentums zu garantieren. In den Federalist Pa-pers wird wiederholt darauf hingewiesen,dass es Hauptaufgabe der Regierung sei, dieunterschiedlichen Fhigkeiten zum Eigen-tumserwerb zu schtzen. 4 In diesem Denkenhaben die Gleichheits- und Solidarittsvor-stellungen der Franzsischen Revolution kei-nen Platz. Umgekehrt aber wird nun auchdeutlich, inwieweit die Vorstellung der glei-chen Wrde aller Menschen eben notwendi-

    gerweise mit irgend einer Art von Staatlichkeitverknpft ist. Der europisch verstandeneStaat ist auch Garant der Freiheit, aber dieFreiheit, welche ein solcher Staat garantiert,ist immer eine relativ gleiche Freiheit. Relativgleich deshalb, weil es auch in Europa Unter-schiede zwischen den Selbstverwirklichungs-mglichkeiten der Individuen gibt. Diese Un-terschiede stehen aber in keinem Verhltnis zu

    den bewusst gewollten gesellschaftlichen Un-gleichheiten in den Vereinigten Staaten. Dassschlielich die Sicherheit in der Begrifflichkeitder Franzsischen Revolution eine kleinereRolle spielt als in der amerikanischen, er-scheint logisch. Der Widerspruch zwischen

    Freiheit und Sicherheit ist kleiner, wenn dieStaatlichkeit positiv apostrophiert und dieFreiheit auch mit dem Element einer relativenGleichheit verbunden ist. Erst wenn wie inden USA die Staatlichkeit so negativ besetztist, werden Freiheit und Sicherheit zu einempotentiellen Gegensatz: Freiheit kann sich derEinzelne alleine nehmen. Sicherheit kann erhingegen nicht alleine herstellen, dafr brauchtes immer ein Minimum an Staatlichkeit.

    Der unterschiedliche Freiheitsbegriff fhrt

    also auch zu einem unterschiedlichen Sicher-heitsbegriff. Wenn Freiheit im europischenSinne mit dem Element einer relativenGleichheit verbunden ist, dann ist auchSicherheit mit diesem Element der relativenGleichheit verbunden. Wenn umgekehrt Frei-heit im US-amerikanischen Sinne diese Ver-bindung mit dem Element der relativenSicherheit nicht eingegangen ist, fehlt diesesElement auch dem Begriff der Sicherheit.Und erst dann entsteht wie oben erwhnt in der Tendenz ein Widerspruch zwischen der

    so verstandenen Freiheit und der so verstan-denen Sicherheit. Im Zusammenhang mit derSicherheit stellt sich immer sofort die Frage,fr wen diese Sicherheit geschaffen werdensoll. Es kann die Sicherheit fr eine einzelneNation gemeint sein, jene fr einen bestimm-ten Kontinent oder eine weltweit verstandeneSicherheit.

    Global treten heute die verschiedenen Frei-heitsbegriffe und damit auch die verschiede-nen Sicherheitsbegriffe immer hufiger in

    Konkurrenz zueinander. Dabei ist es offen,wie sich die Dinge weiterentwickeln werden.Einige berlegungen insbesondere zur Rolleder europisch geprgten Akteure seien imFolgenden genannt. Im Widerstreit der ver-schiedenen Begriffe sind jene, welche mit einerrelativen Gleichheitsvorstellung verbundenbleiben, vielleicht doch nicht ganz chancenlos.Globalisierung hat auch zur Folge, dass immermehr Bewohner dieses ganzen Planeten ihreMeinung einbringen. Und Dialog frdert ganzgenerell eine relative Gleichheit, denn schonder Akt des Miteinander-Kommunizierenshebt wenigstens formal alle Diskutanten auf

    4 Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay,

    Die Federalist papers. bersetzt, eingeleitet und mitAnmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig,Darmstadt 1993, S. 43.

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    dieselbe Ebene. Es ist kaum vorstellbar, dassder Freiheits- und Sicherheitsbegriff, wie eraus den Federalist Papers hervorgeht und inden USA nach wie vor nachhaltig wirksam ist,langfristig gesehen eine globale Verwendungfinden wird. Zum einen sind diese Begriffe in

    einer historisch speziellen Situation entstan-den, welche sich nicht wiederholt hat und sichin dieser Form auch nicht mehr wiederholenkann. Und zum anderen hat sich die Rolle Eu-ropas in der Welt gegenber damals stark ver-ndert: Wenn Europa glaubwrdig bleibenwill, wird es seine Freiheits- und Sicherheits-konzeption also die mit einer relativenGleichheit verbundene auch weltweit ein-bringen mssen. Europa wird also kaum denWeg beschreiten knnen, dieser Konzeptionnur im Innenverhltnis zu folgen.

    Wie sehr sich die Rolle Europas vernderthat, sei durch ein Zitat aus den Federalist Pa-pers belegt, welches brigens auch ein Bei-spiel darstellt fr den schon vor mehr als zwei-hundert Jahren angelegten Missionseifer jen-seits des Atlantiks: Unglcklicherweise frdie anderen drei Teile (Afrika, Asien undAmerika) hat Europa durch Waffen und Ver-handlungen, durch Gewalt und Betrug in un-terschiedlichem Grad seine Vorherrschaftber sie alle ausgedehnt. Afrika, Asien und

    Amerika haben nacheinander seine Herrschaftzu spren bekommen. Seine lange aufrechter-haltene berlegenheit hat Europa dazu ver-fhrt, sich als Herr der Welt aufzuspielen undden Rest der Menschheit als zu seinem Wohlgeschaffen zu betrachten. (. . .) Die Faktenhaben diese arrogante Anmaung der Europ-er zu lange gesttzt. Es ist an uns, die Ehre dermenschlichen Rasse zu verteidigen und jenenanmaenden Bruder Bescheidenheit zu leh-ren. Die Union wird uns in die Lage versetzen,dies zu tun. Spaltung hingegen wird seinem

    Triumph einen neuen hinzufgen. Lasst unsmit Verachtung zurckweisen, ein Werkzeugeuropischer Gre zu sein! Lasst die drei-zehn Staaten, zusammengefgt in einer festenund unauflsbaren Union, im Aufbau eineseinzigen groen amerikanischen Systems zu-sammenwirken, das keiner Beherrschungdurch die Macht oder den Einfluss transatlan-tischer Krfte mehr unterliegt und dazu in derLage ist, die Bedingungen zu diktieren, unterdenen sich alte und neue Welt verbinden! Pu-blius (Hamilton). 5

    Dieser Text ist zweihundert Jahre alt. Eskann behauptet werden, dass die Wnschevon Alexander Hamilton in Erfllung gegan-gen sind, allerdings nicht ganz in dem vorzweihundert Jahren gedachten Sinne. Es fandgleichsam ein Rollentausch statt, indem

    heute in vielen Teilen der Welt den Vereinig-ten Staaten gegenber die selben Gefhlewachsen, welche Hamilton damals Europagegenber formuliert hat. Wichtiger fr denweltweiten Umgang mit Freiheit und Sicher-heit sind aber die Vernderung, welche Euro-pa in dieser Zeitspanne durchgemacht hat.Die Federalist Papers wurden vor derFranzsischen Revolution verfasst. Und derVerlauf dieser Revolution ungleich viel-schichtiger, komplizierter und blutiger alsjener der amerikanischen konnte nicht vor-

    ausgeahnt werden. Sehr vereinfacht betrach-tet unterscheiden sich die beiden Revolutio-nen dadurch, dass in Frankreich die sozialeFrage einbezogen wurde, whrend in Ameri-ka die unterschiedlichen Besitz- und Ein-flussverhltnisse bewusst nicht angetastetwerden sollten, sondern als solche festge-schrieben wurden. 6

    Dass und inwiefern dieser Unterschied so-wohl auf religise als auch auf konomischeGrnde zurckgehen, wurde bereits erwhnt.

    Der Einbezug oder Nicht-Einbezug des Ele-mentes einer relativen Gleichheit in die Be-grifflichkeit sowohl der Freiheit als auch derSicherheit sind der augenscheinlichste trans-atlantische Unterschied, zu dem der unter-schiedliche Verlauf der beiden Revolutionengefhrt hat.

    Im Kalten Krieg bedienten sich dieVereinigten Staaten notwendigerweise ver-schiedener europisch geprgter Verteidi-gungsmethoden, so insbesondere der vlker-

    rechtlichen Einbindung des militrisch be-drohlichen Gegners, der auch die eigeneEinbindung verlangt. Dies hatte wenigstensim Auenverhltnis die Ausrichtung auf eineeuropischere Begrifflichkeit von Freiheitund Sicherheit zur Folge, welche erst mit derImplosion der Sowjetunion weggefallen ist.Die so deutliche Erfahrbarkeit der transatlan-tischen Unterschiede ist also relativ neu, so

    5 Ebd., S. 106.

    6 Hannah Arendt weist darauf hin, dass nur die ame-

    rikanische und die ungarische Revolution die sozialeFrage ausgeklammert htten. Dies., ber die Revolu-tion, Mnchen 1974, S. 142.

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    dass sich das Bewusstsein darber, dass dieWurzeln dieser Unterschiede zeitlich so weitzurckreichen, erst langsam ausbreitet. Wh-rend des Kalten Krieges hatten Europerin-nen und Europer keinen Anlass, sich mittransatlantischen Unterschieden auseinander-

    zusetzen, und sie htten sich verstndlicher-weise gehtet, derartige berlegungen auchnur anzustellen. Heute ist dies jedoch unab-dingbar geworden.

    Abschlieend soll noch auf zwei Problem-kreise hingewiesen werden, die sich aus dieserAusgangslage ergeben. Zum einen stellt sichdie Frage, wie unter diesen Umstnden dertransatlantische Dialog weitergefhrt werdenkann. Dieser Dialog ist schon deshalb uner-lsslich, weil in vielen Bereichen der interna-

    tionalen Zusammenarbeit die Interessen derVereinigten Staaten mit jenen Europas weit-gehend identisch sind. Aber auch in jenen Be-reichen, in welchen sie offensichtlich nichtoder nicht mehr ganz identisch sind wiezum Beispiel im Bemhen um eine Strkungdes Vlkerrechts , erscheint es als umsowichtiger, miteinander im Gesprch zu blei-ben, denn die europischen Staaten werdenalles daransetzen, die Partner jenseits des At-lantiks wieder vermehrt in eine weltweite Zu-sammenarbeit einzubinden.

    Nun kann man die Randbedingungenunterschiedlich bewerten, welche diesen Di-alog erschweren oder erleichtern knnten. Si-cher erscheint es zunchst als eine zustzlicheSchwierigkeit, wenn sich die europischeSeite bewusst wird, wie unterschiedlich dieAusgangspunkte sind, und dies aufgrundeiner jahrhundertelang verschiedenen ideen-geschichtlichen Entwicklung, welche manwhrend des Kalten Krieges aus verstndli-chen Grnden nicht hat wahrnehmen kn-

    nen. Wollte man jedoch umgekehrt die Un-terschiede, die in den vergangenen Jahren sodeutlich zu Tage treten, einfach ignorierenund sich so verhalten, als ob der Westen dies-und jenseits des Atlantiks eine absolut identi-sche Wertegemeinschaft darstellen wrde, sowre dies fr die Weiterfhrung des Dialogsmit den Vereinigten Staaten noch viel gefhr-licher. Die unterschiedlichen Ausgangspunktebetreffen so zentrale Fragen im Bereich derWertskalen, dass Illusionen in diesem Bereichden Dialog grundlegend gefhrden, wennnicht ber kurz oder lang sogar unmglichmachen wrden.

    Zum anderen wird gelegentlich auf Umfra-gen verwiesen, nach denen auch in Europa die Sicherheit vielen Menschen zur Zeit vielwichtiger sei als die Freiheit, dass sie mit an-deren Worten eine Freiheitseinschrnkungum den Preis der Sicherheit in Kauf nehmen

    wrden. Hier ist Vorsicht geboten. Es musszunchst geklrt werden, welche Freiheit ge-meint ist, und an welche Sicherheit dement-sprechend gedacht wird. Ist der Freiheitsbe-griff nach europischem Muster mit der Vor-stellung einer relativen Gleichheit verbunden,verbindet sich auch der Sicherheitsbegriff mitder Vorstellung einer relativen Gleichheit,und vor allem bilden die beiden Begriffenicht mehr in der Weise einen Gegensatz, wiesie es tun wrden, wenn die Vorstellung einerrelativen Gleichheit fehlt. Werden in einer

    Fragestellung die beiden Begriffe in einemdiametralen Gegensatz oder gar als unverein-bar prsentiert, so kommt darin leicht einMuster zum Ausdruck, welches aus den dar-gelegten Grnden viel mehr ein US-amerika-nisches als ein europisches Grundwertver-stndnis zum Ausdruck bringt. Im Zusam-menhang mit den Begriffen Freiheit undSicherheit liegen die Dinge etwas komplizier-ter, als man zunchst annehmen mchte.

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    Volker Berghahn

    Ludwig Erhard

    und die Amerika-nisierung derwestdeutschen

    Industrie

    I m Jahre 1902 verffentlichte der britischeJournalist William T. Stead ein Buch mitdem Titel The Americanization of the Worldor the Trend of the Twentieth Century, das

    seinerzeit viel Aufse-hen erregte. Fastgleichzeitig erschienin der New YorkTimes ein Artikelber die Hamburg-Amerika-Linie, in

    dem es hie, dass Al-bert Ballins weltbe-

    kanntes Schifffahrtsunternehmen sich gegeneine Americanization schtzen wolle. 1

    Hundert Jahre spter ist die Debatte, diedamals ber die politische, wirtschaftlicheund kulturelle Rolle der Vereinigten Staatenin der Welt begann und die in der Zwischen-kriegszeit sowie nach 1945 in Europa, aberauch in anderen Teilen der Welt lebhaft fort-gefhrt wurde, weiterhin im Gange. Und wie

    vor 1914 gibt es bis heute Stimmen, die ame-rikanische Einflsse auf die deutsche Gesell-schaft strikt ablehnen, und andere, die sie be-gren und aktiv untersttzen.

    Aus Platzgrnden knnen in diesem Bei-trag lediglich die Entwicklungen in der Wirt-schaft analysiert werden. Dies scheint geradeauch deshalb ntzlich, weil die deutschenWirtschaftswissenschaften selbst vor allemfr die Nachkriegszeit immer wieder diegrten Schwierigkeiten haben, die Prsenzder westlichen Hegemonialmacht USA inihre Forschungen zu integrieren. Entweder

    dominiert eine reine Innensicht, und dieFrage der Amerikanisierung kommt nichteinmal als Stichwort im Index vor; oder aberes werden die deutsch-amerikanischen Wirt-schaftsbeziehungen zu einem Kulturkampfstilisiert oder mit Konvergenztheorien pla-

    niert.2

    Unter diesen Umstnden herrscht auchber die Einstellung Ludwig Erhards zumamerikanischen Wirtschaftssystem Unklar-heit. War seine Konzeption wie er es ange-sichts der damaligen Kritik an seiner Politikeinmal ironisierend formulierte ein ameri-kanisches Pflnzchen, das er nach Deutsch-land bringen wolle oder in erster Linie einsehr deutsches Gewchs, das in der ordolibe-ralen Freiburger Schule seine Wurzeln

    hatte wie es in zahllosen Stellungnahmenvon Politikern und Unternehmern bis heutezu hren und in diversen volkswirtschaftli-chen Textbchern nachzulesen ist? 3

    Es wird sich zeigen, dass es zumindest vieleAffinitten zwischen Erhards Vorstellungenber die Organisation einer modernen Indus-triewirtschaft und denen der Amerikaner gab.Wie weit diese Affinitten durch nachweislichamerikanische Einflsse entstanden, ist dieFrage, die hier angeschnitten wird, weil sich

    eine genauere Durchleuchtung lohnen drfte.Allerdings kann ich mich hier nur auf zweiAspekte konzentrieren, die fr eine Beurtei-lung meiner Fragestellung gleichwohl funda-mental sind: die Ordnung von Produktionund Markt sowie die Rolle der Konsumenten.

    Produktionssphre undMarktorganisation

    Betrachtet man den deutschen und amerika-nischen Kapitalismus unter dem Blickwinkelder Marktorganisation, so wird deutlich, dasssich die beiden Systeme Ende des 19. Jahr-hunderts in sehr verschiedene Richtungen be-

    Volker Berghahn

    Dr. phil., geb. 1938; Seth Low

    Professor of History an der

    Columbia University, Depart-

    ment of History, New York City,

    NY 10027, USA.

    [email protected]

    1 Vgl. New York Times vom 12. 11. 1901.2 Vgl. Rolf Walter, Wirtschaftsgeschichte, Kln 2003;

    Michael von Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichtenach 1945, Gttingen 2006 (mit starker Betonung desFreiburger Ordoliberalismus); Werner Abelshauser,Kulturkampf, Berlin 2003; Barry Eichengreen, TheEuropean Economy since 1945, Princeton 2007 (mit

    Betonung der Konvergenzen).3 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11.1953.

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    wegten. Mit der Ratifizierung des ShermanAct verankerte der US-Kongress 1890 perGesetz das Wettbewerbsprinzip in den USA.Die Errichtung von Monopolstellungen amMarkt, aber auch von Kartellen (d. h. vonwettbewerbsbeschrnkenden, horizontalen

    Vereinbarungen zwischen unabhngigen Un-ternehmen ber Produktionsquoten, Preise,Konditionen etc.) sowie von Syndikaten (d. h.kollektiven Verkaufsorganisationen) wurdeverboten und kriminalisiert, auch wenn inspteren Zusatzgesetzen gewisse Ausnahmenerlaubt wurden. Zwar gingen die Konzentra-tionsbewegungen des spten 19. Jahrhundertsin Amerika weiter, doch blieb der Markt oli-gopolistisch organisiert, wobei auch den mit-telstndischen Unternehmen gengend Raumzum eigenen Erfolg am Markt blieb. 4

    Im deutschen Kaiserreich entwickelte mansich zur gleichen Zeit in die entgegengesetzteRichtung, nmlich zum Bau von protektionis-tischen Kartellen und Syndikaten, und als dasReichsgericht 1897 diese fr zulssige undsogar einklagbare Vereinbarungen erklrte,stieg ihre Zahl weiter an. Die Wettbewerbs-idee, wie sie sich in Amerika entwickelte,hatte unter deutschen Unternehmern auf demBinnenmarkt immer weniger Anhnger. 5 Dasnderte sich auch nach 1918 nicht. Zu Beginn

    der 1930er Jahre war Deutschland eines deram hchsten kartellisierten Lnder der Welt.Dem folgte dann im Dritten Reich die sowohlvom Hitlerregime als auch von der Unterneh-merschaft erstrebte Totalkartellisierung.

    Genau diese Entwicklung hatten die Ame-rikaner schon vor dem Zweiten Weltkriegscharf beobachtet. Aus ihrer Sicht war ineinem System, in dem der wirtschaftlicheWettbewerb weitgehend abgeschafft war,auch der politische Wettbewerb unter den

    Parteien und die Demokratie berhaupt ge-fhrdet. Dementsprechend war fr sie die To-talkartellisierung der deutschen Wirtschaftdas logische Komplement zur Errichtung derNS-Diktatur. Es gab jetzt weder einen politi-schen noch und einen wirtschaftlichen Wett-bewerb.

    Seit ihrem Eintritt in den Zweiten Weltkriegverfolgten die USA daher zwei interdepen-dente Friedensziele gegenber den Achsen-mchten Deutschland, Japan und Italien: ers-tens die Zerschlagung der Diktatur und dieWiederherstellung demokratisch organisierter

    politischer Systeme; zweitens die damit kon-zeptionell untrennbar verknpfte Wiederer-richtung einer liberal-kapitalistischen Wettbe-werbswirtschaft, in der Kartelle und Syndikateper Gesetz verboten waren. Die Wirtschaftsollte entsprechend nicht nur wiederaufgebaut,sondern auchumgebaut werden. 6

    Doch ging es nicht nur um den Umbau vonStrukturen und Institutionen, sondern auchum eine Vernderung unternehmerischerMentalitten. Mit der Umerziehung der

    Deutschen zur politischen Demokratie gingeine Umerziehung der Wirtschaftseliteneinher, die aus ihrem Kartelldenken heraus inden oligopolistisch organisierten marktwirt-schaftlichen Wettbewerb gedrngt werdensollten.

    Ludwig Erhard hat sich nicht nur schonfrh ganz allgemein auf eine Anerkennungder USA als der westlichen Hegemonial-macht eingestellt, auf deren Hilfe er beieinem erfolgreichen materiellen Wiederauf-

    bau angewiesen war, sondern auch deren Ent-schlossenheit erkannt, der deutschen Kartell-wirtschaft auf immer ein Ende zu bereiten.Die Frage, die einer nheren Untersuchungbedarf, ist, ob er sich an das amerikanischeDenken anpasste oder ob er unabhngigdavon schon vor 1945 zu hnlichen Erkennt-nissen ber Produktion und Markt gekom-men war. Fest steht, dass er nach 1945 mitdiesem Denken bereinstimmte und seineAmerikareisen ihn darin bestrkten.

    Nun war die Amerikanisierungsdebatteschon in der Zwischenkriegszeit in Gang ge-kommen, wobei wir wissen, dass WilhelmVershofen, Erhards Chef am Nrnberger In-stitut fr Wirtschaftsbeobachtung der deut-schen Fertigwaren, amerikanischen Metho-den und Strukturen ablehnend gegenber-stand und kartellfreundlich war. Wir wissenauch, dass Erhard in Marktordnungs- und an-deren Fragen nicht die Meinung von Versho-4 Vgl. R.F. Himmelberg (Hrsg.), The Rise of Big

    Business and the Beginnings of Antitrust and RailroadRegulation, 18701900, Bd. 1, New York 1994.5

    Vgl. Volker Hentschel, Wirtschaft und Wirtschafts-politik im wilhelminischen Deutschland, Stuttgart1978.

    6 Vgl. Volker Berghahn, Unternehmer und Politik inder Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1985.

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    fen teilte und dessen Institut im Kriege ver-lie. 7

    Mit Hilfe seines Schwagers Karl Guth,dem Geschftsfhrer der mchtigen Reichs-gruppe Industrie, sowie einigen dazu geh-

    rigen Groindustriellen, darunter auch derZigarettenfabrikant Philipp Reemtsma, ge-lang es ihm, das Institut fr Indus-trieforschung zu grnden, in dem er sichgegen Kriegsende noch strker als zuvorgegen Kartelle und fr den Wettbewerb ein-setzte. Signifikant ist hierbei nicht nur, dass ermit der Groindustrie zusammenarbeiteteund in diesem Zusammenhang 1943/44 seineumfangreiche Denkschrift ber Kriegsfinan-zierung und Schuldenkonsolidierung fr dieNachkriegszeit verfasste, sondern dass er zur

    Sicherung des Wettbewerbs dem Staat aucheine aktive Rolle zusprach. Die Regierungund der Gesetzgeber so Erhard hatten dieAufgabe, der Wirtschaft einen klaren rechtli-chen Rahmen zu setzen, innerhalb dessen derWettbewerb stattfand und in dem fr Kartelleund andere Wettbewerbsbeschrnkungenkein Platz war.

    Mit dieser Konzeption, die heute den Kernder bundesrepublikanischen Wirtschaftsver-fassung ausmacht, stand Erhard der amerika-

    nischen Sherman-Tradition eindeutig nherals der Freiburger Schule. Letztere tratnach 1945 zwar auch fr den Leistungswett-bewerb ein. Doch vertraten die Freiburgerzugleich die Konzeption eines ausgesprochenmittelstndischen, dezentralisierten Kapitalis-mus. Dementsprechend befrworteten sieeine weitaus radikalere Entflechtung vonGrounternehmen und eine Strkung desMittelstandes mit Formulierungen fr einKartellgesetz, die eine oligopolistische Re-konzentration verhindert htten. 8

    Soweit wir wissen, kannte Erhard nebender amerikanischen Antikartelltradition auchderen Plne zur Wiederherstellung der OpenDoor und des multilateralen Welthandels. Eswar ein Internationalismus, den er im Prinzipebenfalls schon vor 1945 vertreten hatte.Gleiches galt fr seine Auffassung von der In-terdependenz von freier Marktwirtschaft und

    politischer Demokratie, ebenso wie er aucheinen logischen Zusammenhang von Staats-wirtschaft und politischer Diktatur sah. 9

    Ob zufllig oder aufgrund von Osmose, aufjeden Fall fiel seine Konzeption nach 1945 mit

    der der Amerikaner zusammen: Beide wolltenkeine radikale Entflechtung, sondern nur einAufbrechen der Kartelle und der De-facto-Monopole (z. B. Vereinigte Stahlwerke undI.G. Farben) in grere Einheiten, die dannnicht nur auf dem Binnenmarkt in den (oligo-polistischen) Wettbewerb treten wrden, son-dern die auch auf dem Weltmarkt gegen dieauslndischen Konzerne, voran die amerikani-schen, bestehen konnten. Deshalb ist die da-malige Kartellverbotspolitik von der Ent-flechtungspolitik strikt zu trennen. Die erstere

    war absolut, die zweite begrenzt mit dem Ziel,den Wettbewerb nach amerikanischem Vor-bild zu frdern.

    Bei den Amerikanern kam noch eine weite-re berlegung hinzu. Sie wollten die deutscheIndustrie mit ihren greren Konzerneinhei-ten zum Motor des Wiederaufbaus im gesam-ten Westeuropa machen und mit ihrer gegenKartelle gerichteten industriellen Umbaupoli-tik auch Lnder wie Frankreich oder Belgien,in denen die Kartelltradition sich in der Zwi-

    schenkriegszeit ebenfalls etabliert hatte, ge-wissermaen auf dem Umwege berDeutschland in den Wettbewerb drngen.Deshalb untersttzen sie Jean Monnet bei derSchaffung der Europischen Gemeinschaftfr Kohle und Stahl, deren Modernisierungs-effekte sie erkannten, bestanden zugleich aberdarauf, dass der Montanvertrag eine Antikar-tellklausel enthielt. 10

    Erst vor diesem greren Hintergrundwird verstndlich, warum der Sherman Act,

    der seit 1890 den Kern der amerikanischenWirtschaftsverfassung darstellte, den West-deutschen und den Europern als Vorbildprsentiert wurde und warum Erhard imZuge eines westdeutschen Kartell(verbots)ge-setzes letzteres ganz konsequent als das un-entbehrliche wirtschaftliche Grundgesetzder Bundesrepublik bezeichnet hat, whrenddie Gegner dieses Gesetzes, voran die Kar-

    7 Vgl. Alfred C. Mierzejewski, Ludwig Erhard, Mn-

    chen 2005, Kap. 1, auch fr das Folgende.8 Vgl. James van Hook, Rebuilding Germany, Cam-bridge 2004, S. 242 ff.

    9 Vgl. Reinhard Neebe, Weichenstellung in die Glo-

    balisierung, Kln 2004.10 Vgl. John Gillingham, Coal, Steel, and the Rebirthof Europe, 1945 1955, Cambridge 1991.

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    tellisten in der Ruhrschwerindustrie, vondenen die meisten nach 1945 in ihren altenMachtpositionen verblieben waren, es fr einamerikanisches Gewchs hielten. 11 Es ist frdie tiefe Verwurzelung der deutschen Kartell-tradition bezeichnend, dass Erhard bei der

    Durchsetzung dieses Grundgesetzes voneinflussreichen Unternehmerkreisen heftigbekmpft wurde und das Wettbewerbssiche-rungsgesetz erst mit siebenjhriger Verzge-rung 1957 endlich ratifiziert werden konnte. 12

    Ging es bei der oft erhitzten Diskussionum den strukturellen Umbau der westdeut-schen Wirtschaft und ein Hinausdrngen ausdem Kartellismus in den (oligopolistischen)Wettbewerb, so erkannten Erhard und dieAmerikaner auch, wie tief bestimmte anti-

    amerikanische Mentalitten vor allem in derzunchst noch tonangebenden Schwerindus-trie verwurzelt waren. Dies ist der Kontextder so genannten Productivity Councils. AusMitteln des Marshallplans (European Reco-very Program/ERP) finanziert und von PaulHoffman, dem ERP-Administrator und fr-heren Prsidenten der Studebaker Corp. (Au-tomobile), gefrdert, ermglichte man euro-pischen Unternehmern und Gewerkschaf-tern Studienreisen nach Nordamerika, wo siesich in den groen Industriezentren von

    Pennsylvania, Ohio und Michigan ber mo-derne Produktions- und Managementmetho-den, ber Arbeitsbeziehungen und Lebens-standards informierten. Die Hoffnung war,dass die Besucher ber ihre Eindrcke undErfahrungen in den eigenen Unternehmenberichten und an eine Adaption denken wr-den wohlgemerkt nicht als direkte Kopie,sondern als eine auf die einheimischen Zu-stnde zugeschnittene neue Praxis. 13

    Letztlich stand den Amerikanern dabei

    eine von Henry Ford inspirierte moderne In-dustriegesellschaft vor Augen, in der Erhard,der seit langem der Konsumgterindustrienahe stand, sich angesichts seines Studiumsdes amerikanischen Industriesystems in sei-ner Idee einer oligopolistisch organisierten

    und auf den offenen Weltmarkt orientiertenWettbewerbswirtschaft bestrkt fhlte. 14

    Der bergang zum fordistischenKonsumkapitalismus

    Die Idee einer rationalisierten Massenpro-duktion hatte sich vor 1914 vor allem in denUSA verbreitet. Anstze dazu gab es gewissauch in Europa; aber es ist bezeichnend, dassdeutsche Unternehmer schon damals nachAmerika reisten, um sich die dortigen Indus-trieunternehmen und ihre Produktionsme-thoden anzusehen, nicht umgekehrt. Dabeiinteressierten sie sich oft auch besonders frdie Rezepte, die die Scientific-Management-Bewegung entwickelt hatte.

    Mehr noch: Beim Besuch der Ford MotorCompany waren die Amerikareisenden auervon den kilometerlangen Fliebandanlagenauch von einer Idee Henry Fords beeindruckt,die frappierend einfach war: Die durch Ratio-nalisierung und den bergang zur Massen-produktion zu erwartenden hheren Gewinnesollten nicht allein in die Taschen der Eigen-tmer und Aktionre flieen; vielmehr solltensie durch Preissenkungen auch dem Konsu-menten zugutekommen. Fords Kalkulationwar, dass die verbilligte Massenproduktionauch bis dahin teure, langlebige Konsumgter in seinem Falle: Automobile fr einenwachsenden Kreis von Durchschnittsbrgernerschwinglich machen wrde. Der Konsumwrde so nicht nur durch verbesserte Lhne(und das Kartellverbot), sondern auch durchneue Verbraucherkreise stark angekurbelt:Massenkonsumkapitalismus als Ergnzungund Verstrkung des im 19. Jahrhundert ent-standenen Produktionskapitalismus. 15

    Schon in der Weimarer Republik gab esdeutsche Unternehmer, die dieses Rezept zupraktizieren suchten, hnlich wie Ford es mitdem Bau von Produktionssttten in Klnoder General Motors mit dem Einstieg beiOpel in Rsselsheim taten. Infolge des nachdem Zweiten Weltkrieg erhhten Amerika-nisierungsdrucks (Werner Bhrer) fandenfordistische Massenproduktions- und Mas-senkonsumkonzepte nach 1945 auch in der

    11 Ludwig Erhard, Wohlstand fr alle, Dsseldorf1957, S. 9.12 Vgl. R. Robert, Konzentrationspolitik in der Bun-

    desrepublik, Berlin 1976; Volker Berghahn/Paul Joa-chim Friedrich, Otto A Friedrich. Ein politischer Un-

    ternehmer, Frankfurt/M. 1993.13 Vgl. Matthias Kipping/Ove Bjarnar (eds.), TheAmericanisation of European Business, London 1998.

    14

    Vgl. R. Neebe (Anm. 9).15 Vgl. Mary Nolan, Visions of Modernity, Oxford1994.

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    Bundesrepublik eine breitere Akzeptanz. FrErhard war dies schon seit seiner Ttigkeit inder Konsumforschung vor 1945 das Konzeptder Zukunft. Ihm lag die Schaffung einesWohlstand[s] fr alle wie er ihn auf sei-nen Amerikareisen gesehen hatte nicht nur

    fr den westdeutschen Wiederaufstieg amHerzen; vielmehr rechnete er auch damit,dass eine materiell stetig besser gestellte Be-vlkerung die politische Stabilisierung unter-sttzen wrde, derer das Land nach Diktaturund Krieg dringend bedurfte.

    Wie ist all dies nun mit seiner sozialenMarktwirtschaft in Einklang zu bringen? Er-hard war sich bewusst, dass sich West-deutschland in einer besonderen Situation be-fand. Der Zweite Weltkrieg hatte Millionen

    von Witwen, Waisen und Kriegsversehrtenhinterlassen. Hinzu kamen etwa elf MillionenFlchtlinge und Vertriebene. Sie konntennach der Whrungsreform von 1948 nichteinfach den eisigen Winden eines wiedererste-henden Wettbewerbskapitalismus ausgesetztwerden. Fr sie musste auch aus den schongenannten politischen Stabilittsgrnden einsoziales Netz geknpft werden, das sie inihrer damaligen Not auffing und ihnen einmenschenwrdiges Leben bot.

    Mochte das deutsche System der sozialenAbsicherung gegen Krankheit, Unfall undAlter auch seine Wurzeln im Kaiserreichhaben, der Druck, dieses System zu erweiternund zu finanzieren, war nach dem ZweitenWeltkrieg noch strker als nach dem Ersten mitseiner damaligen Verarmung. Erhard verstandseine Marktwirtschaft nie im Sinne des heutegngigen Neoliberalismus, der dem Marktalles berlassen will und fr den systema-tischen Abbau des Sozialnetzes steht.

    Fr ihn war dieses Netz fr die durch denKrieg so schwer geschdigten Schichten inForm der diversen Sozialgesetze und Lasten-ausgleichsmanahmen ein fester Bestandteilseines marktwirtschaftlichen Konzepts. Dasgalt auch fr den ebenfalls noch schutzbe-drftigen mittelstndischen Einzelhandel,den er nicht sofort einer Aufhebung derPreisbindung und damit dem freien Wettbe-werb aussetzen wollte. 16

    Bedurfte es daher bei Erhard im Sozialenkeiner besonderen Anste durch die USA, sosollten die Affinitten gleichwohl nicht ber-sehen werden. Auch die Amerikaner ein-schlielich der Mehrheit ihrer Volkswirtewaren damals keineswegs Anhnger Milton

    Friedmans und der Chicago School, derenStunde erst in den 1980er Jahren schlug. Unterden Eindruck der Depression der 1930er Jahrewaren auch sie mit dem Rooseveltschen NewDeal dazu bergegangen, ein sozialstaatlichesAuffangnetz zu befrworten. Zwar waren dieradikalen New Dealers schon im Kriege zu-rckgedrngt worden; doch blieben dieGrundfesten des Systems der 1930er Jahreauch nach 1945 bestehen. 17

    Es ist bekannt, dass Erhard trotz seiner fes-

    ten berzeugungen weder in der Leitungeines groen Ministeriums noch in seinerWirtschaftspolitik ein besonders sys-tematischer Mensch war. Das hie aber nicht,dass seine soziale Marktwirtschaft keine deramerikanischen Wirtschaftspolitik und -theo-rie hnlichen Steuerungselemente enthielt.Der Grundansatz war nicht im heutigenSinne friedmanistisch, sondern eher keyne-sianisch, ehe Karl Schiller ihn 1966/1967 sys-tematischer praktizierte. 18

    So sind das westdeutsche Wirtschaftswun-der und Erhards soziale Marktwirtschafteher ohne die Freiburger Schule als ohne dieAmerikaner zu verstehen, die direkt als Be-satzungsmacht oder indirekt als Hegemonbeim westdeutschen Wiederaufbau struktu-rell und geistig dauernd prsent waren unddiesen ausdrcklich mitgestalteten. Das giltauch fr den Bereich des Firmenmanage-ments und vieler anderer Praktiken, die sichseit den 1950er Jahren trotz mancherlei Wi-derstands seitens konservativer Unternehmer

    langsam durchsetzen. Letztlich kam es daherzu einer Vermischung von deutschen undamerikanischen Elementen, die sich auch andem frappierenden Wandel der Geschfts-sprache ablesen lsst.

    Lediglich bei den Arbeitsbeziehungenwaren die Versuche einer Amerikanisie-rung wenig erfolgreich. Hier bemhten sich

    16

    Vgl. Axel Schildt, Die Sozialgeschichte der Bun-desrepublik Deutschland bis 1989/90, Mnchen 2007,S. 1 ff.

    17 Vgl. Robert M. Collins, The Business Response to

    Keynes, 19291964, New York 1984.18 Vgl. Alexander Ntzenadel, Stunde der ko-nomen, Gttingen 2005.

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    vor allem die amerikanischen Gewerkschaf-ten mit ihren in die Bundesrepublik entsand-ten Vertretern in den 1950er Jahren um eineAnpassung der westdeutschen Gewerk-schaftsbewegung an deren Praktiken. Siekamen nicht weit, und vor allem in der Mit-

    bestimmung ging der DGB in eine andereRichtung, die an Traditionen aus der Weimar-er Republik anknpfte. 19

    Indessen wre es verfehlt, anhand diesesBeispiels die amerikanische Rolle beimUmbau und beim Einstellungswandel derwestdeutschen Unternehmerschaft herunter-zuspielen. Auch sollte man Erhards sozialeMarktwirtschaft nicht lediglich aus dem In-nern der deutschen Nachkriegsgesellschaftheraus erklren. Die Frage, ob es sich beimVergleich seiner Vorstellungen von Marktor-gansation und fordistischem Konsumkapita-lismus nicht lediglich um zufllige Konkor-danzen handelte, bleibt eine auch weiterhinzu diskutierende Frage. Das gilt auch ange-sichts der heutigen erneuten Amerikakritik.In der Tat gibt es viele Anzeichen, dass dieDeutschen vor einer Amerikanisierungs-falle stehen. 20 Es geht darum, wie weit dieAmerikanisierung, die fr alle sichtbarnicht nur in der Wirtschaft, sondern auch inGesellschaft und Kultur stattgefunden hat,

    getrieben werden soll.Das ist eine Frage, die sich auch frhere Ge-

    nerationen schon gestellt haben. Und doch istdie Prsenz Amerikas im wirtschaftlichen undtglichen Leben seit 1945 strker geworden,auch nach 1989/90. Zwar gibt es seit dem Kol-laps des Sowjetblocks das Schlagwort von derGlobalisierung, der seitdem alle Gesellschaf-ten ausgesetzt seien. Doch scheint es, dass essich hierbei bis vor kurzem immer noch umeine (verdeckte) Amerikanisierung Deutsch-

    lands und der Welt gehandelt hat, die WilliamStead 1902 vorhersah.

    Dennoch gibt es mancherlei Anzeichendafr, dass die Hypermacht USA berallan Macht und Einfluss verliert. In der Auen-politik ist dies am deutlichsten. Washingtonsneokonservativer Unilateralismus hat zu

    einem imperial overstretch (Paul M. Ken-nedy) gefhrt. Wir bewegen uns wieder aufein multipolares internationales System zu, indem auch die Amerikaner auf Partner undKompromisse angewiesen sind.

    Weniger klar greifbar sind die Probleme imInnern des Landes, nicht zuletzt, weil vielenDurchschnittsbrgern ein geschrftes Be-wusstsein fr sie bisher fehlt. Da ist man inder Bundesrepublik weiter. Nicht nur die f-fentliche und private Verschuldung der USAsind auf Dauer untragbar, sondern auch dieTatsache, dass sich die Schere zwischen Armund Reich immer weiter ffnet. Hinzukommt die Krise in der Krankenversorgungmit etwa 46 Millionen Unversicherten undweiteren Millionen Unterversicherten.

    Es ist jetzt schon klar, dass die staatlicheRentenversicherung in einigen Jahren ihrenVerpflichtungen nicht mehr wird nachkom-men knnen. In der lange vernachlssigtenInfrastruktur (Straen, Brcken, Massenver-kehrsmittel etc.) sind Milliardeninvestitionenerforderlich, um nur den gegenwrtigenStand zu erhalten. Kurzum, es scheint, dassdas amerikanische Modell neoliberaler Wirt-schafts- und Sozialpolitik hnlich wie dieAuenpolitik an ihre Grenzen stsst und

    auch in den USA das Begehen neuer Wegeunvermeidlich wird.

    Fr Deutschland bedeutet dies, dass derHegemonialdruck, der die Amerikanisierungseit 1945 vorantrieb, nachlassen wird und sichdie Amerikaner am Ende gar fr Lsungenvon Auen- und Innenpolitik (einschlielichder Umweltpolitik) interessieren werden, diein Europa entwickelt worden sind bzw. ent-wickelt werden.

    So sehr dies Spekulationen auf die Zukunftbleiben mssen, hinsichtlich der Vergangen-heit bewegen wir uns gerade bei den deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen nach1945 auf festerem Boden. So wollte ich in die-sem Beitrag auf die konstruktive Rolle hin-weisen, die die USA beim Wiederaufbau undbeim nach den Erfahrungen im Dritten Reichnotwendigen Umbau des deutschen Indus-triesystems gespielt haben. Erhard hatte diesseinerzeit erkannt. Es wre wnschenswert,wenn die Wirtschaftshistorie dies auch tte.

    19 Vgl. Jonathan Zeitlin/Gary Herrigel (eds.), Ame-ricanization and its Limits, Oxford 2000.20 Vgl. Ulrike Reisach, Die Amerikanisierungsfalle,

    Dsseldorf 2007; Volker Berghahn/Sigurt Vitols(Hrsg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus?,Frankfurt/M. 2006.

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    Josef Braml

    Westliche Werte-

    gemeinschaft?Zur Sprengkraftreligiser Werte

    K ulturelle Faktoren und Ideologien pr-gen die Risikowahrnehmung. 1 Religismotivierte Weltbilder bestimmen die Bedro-

    hungswahrnehmungund damit auch dieHaltung zur ent-scheidungsrelevantenFrage, welche Mittelzur Abwehr gegen diewahrgenommene Be-drohung erforderlich

    sind. Whrend dieharten Fakten geopolitischer Vernderungenseit dem Ende des Ost-West-Konfliktes vonWissenschaft und Politik hufig thematisiertund als Erklrung fr die Vernderungen inden transatlantischen Beziehungen herange-zogen wurden, kamen weiche Faktoren, na-mentlich kulturelle Entfremdungen, bislangkaum zur Sprache.

    In feierlichen Ansprachen wird hufig dieTransatlantische Wertegemeinschaft be-

    mht: Nach dem Ende des Ost-West-Gegen-satzes gebe es zwar mehr unterschiedliche In-teressen, doch knne man sich auf gemeinsa-me Werte berufen, die das Fundament derVerstndigung bilden. Der folgende Beitragdagegen soll exemplarisch verdeutlichen, dassWerte nicht der Kitt transatlantischen Zusam-menhalts sind. Vielmehr sind (religise) Wer-teunterschiede die Ursache divergierender In-teressens-Wahrnehmungen dies- und jenseitsdes Atlantiks und fr Meinungsunterschiede,insbesondere bei der Terrorismusbekmpfungund der Konfliktlsung im Nahen und Mitt-leren Osten.

    Die Natur terroristischer Bedrohung

    Die Bush-Administration hat unter ande-rem auch mit Waffengewalt bislang vergeb-lich versucht, die Herzen und Kpfe(hearts and minds) in der muslimischen Welt

    zurckzugewinnen, um dem vermeintlich re-ligis motivierten Terrorismus ein Ende zubereiten. Doch die Erklrung der Terroris-musursachen mit religisen Faktoren beruhtnicht auf Tatsachen, sie entbehrt jeder empiri-schen Grundlage. So hinterfragte sechs Jahrenach den Anschlgen vom 11. September2001 die renommierte Gallup-Organisationeinige Grundannahmen, auf denen die ameri-kanische Anti-Terror-Politik basiert. 2 DasErgebnis der Analysen von Umfragewertenin muslimischen Lndern verdeutlichte, dass

    der wahre Unterschied zwischen jenen, dieterroristische Akte dulden, und solchen, diesie verurteilen, nicht religis, sondern poli-tisch begrndet ist. So haben politisch Radi-kalisierte am hufigsten Okkupation undUS-Dominanz als Beweggrnde ihrer radi-kalen Gesinnungen und Handlungen angege-ben.

    Auch die gngige Annahme, dass MuslimeModernitt und westliche Werte ableh-nen, erwies sich in der Umfrage als falsch. Im

    Gegenteil: Die Brger von Saudi-Arabien bisMarokko, von Indonesien bis Pakistan be-wundern westliche Technologie und demo-kratische Werte wie Pressefreiheit und ver-antwortliche Regierungsfhrung. PolitischRadikalisierte sprechen sich sogar noch deut-licher fr diese Werte aus als die moderateMehrheit in diesen Lndern. Die Umfrage-analysen widerlegen somit geistige Grundan-nahmen, die auf dem so genannten US-Marktplatz der Ideen verbreitet und politi-schen Entscheidungstrgern als Bedrohungs-analysen zugrunde gelegt werden.

    Neben der direkten Beeinflussung von po-litischen Entscheidungstrgern versuchen dieExperten amerikanischer Think-Tanks auch

    Josef Braml

    Dr. phil., geb. 1968; seit Okto-

    ber 2006 wiss. Mitarbeiter der

    Deutschen Gesellschaft fr

    Auswrtige Politik (DGAP),

    Rauchstr. 18, 10787 Berlin.

    [email protected]

    1 Vgl. Robert Dahl, Democracy and Its Critics, NewHaven-London 1989, S. 75; Stanley Rothman/RobertLichter, Elite Ideology and Risk Perception in NuclearEnergy Policy, in: American Political Science Review,81 (1987) 2, S. 383404; Mary Douglas/Aaron Wil-

    davsky, Risk and Culture, Berkeley 1982.2 Vgl. Dalia Mogahed, Framing the War on Terror,Gallup News Service, Washington, D. C. 11. 9. 2007.

    21APuZ 56/2008

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    ber ihre verffentlichten Meinungen undExpertisen zu wirken, um das geistige Klimaihrer Gesellschaft zu prgen. Indem sie imZusammenspiel mit den Medien die Agendabestimmen, Bedrohungen thematisieren undnicht selten auch das Wesen dieser Bedro-

    hungen postulieren, gewinnen sie Einfluss aufdie Wahrnehmungen und die Weltbilder derBevlkerung und Regierenden. 3

    Im Zuge der allgemeinen Verunsicherungnach den Anschlgen des 11. September 2001erhielt das Orientierungswissen von Exper-ten umso mehr Deutungskraft. Laut WinandGellner fhrt vor allem die Suche nach Mg-lichkeiten, die tatschlichen oder eingebilde-ten Gefahren zu verringern, zu hoher Glaub-wrdigkeit und Abhngigkeit von Experten-

    urteilen und scheinbar verlsslichenAntworten, die sich je nach Prsentation derDaten oder normativen Vorannahmen derExperten unterscheiden und die ihrerseitswiederum die Einstellungen zu den wahrge-nommenen Risiken und Gefahren beeinflus-sen. 4

    Zwei konkurrierendeInterpretationsmuster

    In den USA konkurrieren ein kontextualisti-sches und ein essentialistisches Interpretati-onsmuster um die Diskurshoheit: Aus kon-textualistischer Perspektive wird der weit ver-breitete Antiamerikanismus und tiefe Hass inTeilen der muslimischen Welt als Reaktionauf spezifische auenpolitische Entscheidun-gen und Handlungen der USA interpretiert.Selbst Francis Fukuyama, der bis zu seinerDistanzierung 5 den neokonservativen Vor-denkern zugerechnet werden konnte, sieht

    den Krieg gegen den Terrorismus als klas-sischen Krieg zur Aufstandsbekmpfung

    (a classic counter-insurgency war). 6 DieseEinschtzung entspricht empirischen Befun-den, wonach beinahe alle Terroranschlge imbeobachteten Zeitraum von 1980 bis 2003 aufein strategisches Ziel schlieen lassen, nm-lich moderne Demokratien zu zwingen, ihr

    Militr von Gebieten abzuziehen, welchediese Terroristen als ihr Heimatland betrach-ten. Zwar wrden religise Motive von terro-ristischen Organisationen hufig zur Rekru-tierung benutzt, jedoch sei islamistischerFundamentalismus nicht die Wurzel allenbels. Vielmehr sind nach dieser Einscht-zung der Waffengang im Irak und die ameri-kanische Militrprsenz also die Versucheder Bush-Administration, dem Terrorismusvor Ort mit militrischen Mitteln zu begeg-nen Teil des Problems. Diese Manahmen

    seien demnach auch schlecht geeignet, umden Mittleren und Nahen Osten zu befriedenoder die Region zu demokratisieren. 7

    Im Gegensatz zu den Kontextualistensehen die Essentialisten eine totalitre Bedro-hung existentieller Natur, die es mit allenMitteln auszurotten gelte. Im Februar 2004erluterte zum Beispiel der neokonservativeKolumnist Charles Krauthammer die Wahr-haftigkeit seiner Anfang der 19