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Arbeit zur Studienzeit vom 1. Juni bis 31. August 2017 Der moderne sakrale Raum Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, dargestellt an ausgewählten Kirchen vorgelegt von Sylvia v. Kekulé Pfarrerin der ev. Kirchengemeinde Hermsdorf Wachsmuthstrasse 25 13467 Berlin a

Arbeit zur Studienzeit - EKBO

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Page 1: Arbeit zur Studienzeit - EKBO

Arbeit zur Studienzeit

vom 1. Juni bis 31. August 2017

Der moderne sakrale Raum

Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne,

dargestellt an ausgewählten Kirchen

vorgelegt von Sylvia v. Kekulé

Pfarrerin der ev. Kirchengemeinde Hermsdorf

Wachsmuthstrasse 25

13467 Berlin

a

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Arbeit – Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne -- 2 --

Inhaltsverzeichnis

Vorwort …………………………………………………… 3

Begriffsklärung: Nachkriegsmoderne …………………… 4

Ronchamp ……………………………………………….. 5

Begriffsklärung: Arche und Zelt ………………………….. 7

Kirchenbautag 1951 und St. Canisius ……………………. 9

Architektur und Liturgie ………………………………….. 10

Grundrissformen und Wesensmerkmale …………………. 11

Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ……………………… 15

Das Gemeindezentrum …………………………………… 19

Kirche im Gemeinwesenzentrum Heerstrasse Nord .. 19

Eine Gegenüberstellung ……………………………. 21

Schlussbetrachtung ……………………………………….. 23

Literatur …………………………………………………… 24

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Arbeit – Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne -- 3 --

Vorwort

Eusebius von Caesarea (3./4. Jh.) beschrieb in seiner Kirchweihpredigt in Tyrus die

Bedeutung des Kirchengebäudes als Abbild der Gemeinschaft der Gläubigen. Er war

es, der erstmals das Kirchengebäude ausdrücklich in allen Teilen als Bild der Ekkle-

sia begriff. Damit bezeichnete er den Ort und die gottesdienstliche Gemeinde mit

dem gleichen Wort.1 Dieser Gedanke wirkte wegweisend für den Kirchenbau der

Nachkriegsmoderne.

Bei einer Erörterung des Themas muss zwischen den Entwicklungen in Ost- und

Westdeutschland unterschieden werden. Ich habe mich auf den Westen beschränkt.

Weiterhin habe ich mich – bis auf wenige Ausnahmen – auf Kirchen in Berlin kon-

zentriert.

Zeitgleich zu den neuen Wegen, die die Architektur in dieser Zeit beschritt, wurde in

der evangelischen und in der katholischen Kirche über neue Formen der Gottes-

dienstgestaltung nachgedacht. In der katholischen Kirche hatte Johannes XXIII. das

2. Vatikanische Konzil einberufen. Dort wurde u.a. das Thema „Liturgie“ diskutiert.

So wurde z.B. mehr Einsatz der jeweiligen Landessprache im Gottesdienst gefordert,

die Gläubigen sollten als Gemeinde aktiv ins liturgische Geschehen einbezogen wer-

den und die Zentrierung auf den Priester sollte zurücktreten. Mit dem neuen römi-

schen Messbuch von 1969/70 wurde die alte Tridentinische Messe abgeschafft, bei

der die Priester das Messopfer mit dem Rücken zur Gemeinde feiern.2

In Berlin brachte der evangelische Pfarrer Ernst Lange zusammen mit Alfred Bute-

nuth das Experiment „Ladenkirche“ auf den Weg. Zu Pfingsten 1960 wurde die La-

denkirche eingeweiht. Ein ehemaliger Bäckerladen in Berlin-Spandau war zugleich

Gottesdienstraum und Gemeindezentrum. Im Mittelpunkt des Gemeindelebens stand

der Gottesdienst am Runden Tisch. Die Predigt bestand aus einem Impuls mit an-

schließendem Bibelgespräch.

Die Kirche sollte im Alltag der Menschen verankert werden - in Form eines Nachbar-

schaftszentrums mit Besuchsdiensten in Familien und bei Vereinen, gemeinsamen

Seminaren und Nachbarschaftssonntagen. Gemeinsam gestaltete die Gemeinde Kir-

che und Alltag: Nach dem Gottesdienst blieben die Gemeindemitglieder zum Kaffee-

trinken zusammen, es wurde ein Predigtvorbereitungskreis eingerichtet, bei dem die

Geistlichen zusammen mit den Laien den jeweiligen Predigttext besprachen.

Verantwortung und Wertschätzung der Gemeindemitglieder waren die tragenden

Säulen des Konzepts. So setzte die Gemeinde durch, dass im Kirchenkreis Spandau,

anders als in den anderen Berliner Kirchenkreisen, das Superintendenten-Amt abge-

schafft und durch ein Leitungsgremium ersetzt wurde.3

Die Ladenkirche existierte in dieser Form bis 2004, wurde aber als Mischung von

einladenden Angeboten, sozialem Engagement und Diskussionsforum zu einem der 1Miriam Czock: Gottes Haus: Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis ins Frühmittelalter.

S. 33 2 www.domradio.de

3 Ohne Namen: Es muß nicht wie immer sein. www.ev-akademiker.de

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meistbeachteten Reformprojekte der evangelischen Kirche. Vieles, was damals als

neu und reformerisch erlebt wurde, ist heute im Alltag und Gottesdienst der Gemein-

den selbstverständlich. Und viele Ideen und Gedanken sind in die Architektur einge-

flossen.

Begriffsklärung: Nachkriegsmoderne4 5

Der Begriff „Nachkriegsmoderne“ ist im Rückblick formuliert worden. Er entstand

in den 1990er Jahren. Wie jede Zeitunterteilung in Phasen stößt auch diese Benen-

nung an ihre Grenze, weil die Übergänge oft nicht klar begrenzt sind und/oder be-

grenzt werden können. Bei der Differenzierung innerhalb dieser Periode wird in allen

Publikationen grundsätzlich von einer Unterteilung in zwei Phasen ausgegangen, die

meist ganz allgemein als „die fünfziger Jahre“ und „die sechziger Jahre“ angegeben

wird. Ihre Vorläufer waren die sog. Klassischen Moderne der 1920er und frühen 30er

Jahre des 20. Jahrhunderts.

So begrenzen die Herausgeber der „Baukunst der Nachkriegsmoderne“ den Zeitrah-

men von 1949 bis 1979. „Der Bearbeitungszeitraum endet also nicht mit der politi-

schen Wende von 1989 und dem Ende der Teilung, sondern bereits rund ein Jahr-

zehnt zuvor mit der architekturpolitischen Wende … . In Westberlin war es die seit

den späten 1970er Jahren vorbereitete Internationale Bau-Ausstellung (IBA) 1984,

die mit der „behutsame Stadterneuerung“ und „kritischen Rekonstruktion“ (Kleihues

1987) in Bestandsgebieten und mit einer durch eine Elite postmoderner und spätmo-

derner Architekten des In- und Auslandes umgesetzten Stadtreparatur die Rückkehr

zum Leitbild der europäischen Stadt der Vormoderne einleitete.“6

Ronchamp

In der Nachkriegsmoderne entstanden im Kirchenbau neue Gestalten und Formen, die

ebenso theologisch inspiriert waren wie jene des Mittelalters und der Neuzeit.

Einer der einflussreichsten und wegweisenden Architekten dieser Zeit war Charles-

Édouard Jeanneret-Gris, der unter dem Namen Le Corbusier bekannt wurde. Er, „der

große Planer und Vorreiter der Avantgarde, trat in den Jahren nach dem Weltkrieg …

mit Projekten an die Öffentlichkeit, die seine Bedeutung als wohl wichtigster Archi-

tekt des Jahrhunderts festigten.“7 Mit der Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut

setzte er die Gedanken des Dominikaners Alain Marie Courturier um.

Dieser leitete mit seiner Äußerung „Alles Ewige ist gleichzeitig modern" in der ersten

Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Notwendigkeit zu einem umfassenden Dialog

zwischen zeitgenössischer Kunst und der Theologie ab. So wurden Matisse, Picasso,

4 Baukunst der Nachkriegsmoderne, S. 24ff. Herausgegeben von Adrian von Buttlar, Kerstin Wittmann-Englert, Gabi

Dolff-Bonekämper 5 https://de.wikipedia.org/wiki/Nachkriegsmoderne

6 Baukunst der Nachkriegsmoderne, S. 24f

7 Jürgen Tietz: Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts, 1998, S. 63

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Braque, Léger, Le Corbusier und einige andere große Gestalten aus der Kunst des 20.

Jahrhunderts zu seinen herausragenden Gesprächspartnern. Diese Dialoge führten

durch die von ihm geleitete Zeitschrift "L'Art Sacré" nicht nur zu einer außergewöhn-

lichen Breitenwirkung, sondern bescherte der Kunstgeschichte auch einige herausra-

gende sakrale Bauten wie z.B. in Ronchamp.8

Chapelle Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp ( Unsere Liebe Frau von der Höhe)

Mit dem Bau dieser Kirche kam eine Diskussion in Gang, in der sich negative wie

positive Stellungnahmen abwechselten. In den Äußerungen des Jesuiten Herbert

Schade kam beides zur Sprache. Einerseits nahm er die abendländischen Überliefe-

rungen wertschätzend zur Kenntnis. „Dagegen scheint der Bau in einer Art in den

Kosmos hineingestellt zu sein, wie es nur die alte Sakralarchitektur kennt. Für die

Alten war der Osten nicht nur Aufgang der Sonne, sondern auch Thron der Gottheit.

Der Westen galt als Kampfstätte der Dämonen und aus dem Norden kam das Böse.

Der Süden war der Ort der Heiligkeit und Gerechtigkeit. … Tatsächlich lässt sich das

Bemühen um jene alte kosmische Struktur des Kirchenbaus in Ronchamp nicht über-

sehen: Schon im Grundriss erscheint der Raum nach Osten und Süden konkav geöff-

net, während er sich nach Westen und Norden konvex schließt. Die Bauführung

selbst spricht noch deutlicher: Völlig geschlossen ist die Westwand. Nur zwei Wöl-

bungen zeigen die Stelle des Beichtstuhls in der Wand an, den Ort, an dem sich für

den modernen Christen vor allem die Auseinandersetzung mit der Sünde vollzieht.

Wuchtige Türme fassen die Westwand und befestigen die Nordseite. Gegen Süden

8 Aus „Informationen zum Buch“: Hartwig Bischof: Marie-Alain Couturier. Ein Traditionalist und Revolutionär - Eine

theologische Biografie.

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liegt das große Portal und die Wand, die - von den Anrufungen der Muttergottes

gleichsam willkürlich durchbrochen - sich der Sonne und der Gnade in gleicher Wei-

se öffnen. Ähnliches gilt auch vom Dach, das gebaut ist, das Wasser - den Segen des

Himmels - aufzufangen und an die Menschen auf wasserlosem Berge weiterzugeben.

Besonders eindeutig ist das Programm der Ostwand. Im Osten steht der Altar, im Os-

ten steht aber auch im offenen Fenster das Gnadenbild der Muttergottes von zwölf

unregelmäßigen Mauerdurchbrüchen umgeben.“9

Ronchamp Innenansicht

Andererseits äußerte er seine geistliche Sorge um den Kirchenbau. Besorgt schaute er

darauf, dass die Unterscheidung von tragenden und getragenen Elementen, das Ge-

setz von Stütze und Last, die Bindung an den Boden verloren gegangen sind. Und er

bemerkte – durchaus zwiespältig – dass es erst durch Stahl und Beton möglich wurde,

„schwebende" Bauten zu schaffen.

Kirche als Zelt und schwankendes Gehäuse, der „unbehauste Mensch“, unter dessen

Füßen der Boden schwankt, erschienen ihm nicht die Fülle göttlichen Wirkens wie-

derzugeben.

Sehr viel schroffer äußerte sich die zweimal im Monat erscheinende jesuitische Zeit-

schrift: „Es ist vielleicht nicht ganz unnötig, hier daraufhinzuweisen, dass man nicht

senil ist, wenn man Ronchamp als Kirche ablehnt.“10

Ganz anders A. Henze, der über Ronchamp schrieb: „Le Corbusier nannte die Kapel-

le eine Arche. Andere sprachen von einem Schiff Petri, von einem Zelt Gottes, von

einem Zelt Mariens, wieder andere von einer Grotte. Das eine Bild widerspricht nicht

den anderen. Arche und Schiff, Zelt und Höhle sind Quartiere des Menschen auf der

9 Herbert Schade: Im Spiegel der Zeit 1956?, S. 455-461

10 Orientierung. Katholische Blätter für weltanschauliche Information. Nr. 14/15. Zürich, 31. Juli 1956

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Wanderschaft und Zuflucht in unbehauster, ungewisser Zeit. Höhle und Zelt, Arche

und Schiff durchdringen sich in diesem Kirchenraum zu der Einheit, die sie in letzter

Bedeutung sind.“11

Ein Blick auf zwei Begriffe der biblischen Überlieferungen soll exemplarisch dabei

helfen, die Formensprache Le Corbusier und anderer Architekten der sogenannten

„Nachkriegsmoderne“ und ihre Rückgriffe auf die Jahrtausende alten Bilder nachzu-

vollziehen.

Begriffsklärung: Arche und Zelt

Das Wort, das von Martin Luther mit „Arche“ übersetzt worden ist, leitet sich aus

dem lateinischen „arca“ – „der Kasten“ ab, womit er sich an dem hebräischen ה ת ה ב

orientiert hat. In der Form ת ב “begegnet das „kastenartige Fahrzeug Noahs ב12

in der

Geschichte des Mose wieder als kleines Behältnis, in dem dieser als Kind ausgesetzt

war13

.

Beides sind Rettungsgeschichten. Das eine mal dient die Arche Noah, der als ein Ge-

rechter mit seiner Familie – insgesamt sind es acht Personen - in dem Schiff die alles

vernichtenden Fluten überlebt. Er tauscht die Welt mit der Arche, die

als „Kleinausgabe der Welt“ die Gefahren übersteht und so sinnreich das Vorausbild

für den geschützten großen Weltenraum nach der Flut wird.14

Das andere Mal wird ein Säugling vor der Ermordung bewahrt. Mose wurde aus dem

Wasser gezogen, um der Retter des Volkes Gottes zu werden.

Das Obdach, das Gott Mose aufträgt, für ihn zu errichten, wird in der Lutherüberset-

zung mit „Stiftshütte“ wiedergegeben. In Ex 25, 8+9 nennt Gott seine Bestimmung:

„Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, dass ich unter ihnen wohne. Wie ich dir

ein Vorbild der Wohnung und alles ihres Geräts zeigen werde, so sollt ihr's machen.“

Die Stiftshütte war ein Zelt, in dem Gott mit seinem Volk, das als Beduinen lebte,

zusammen sein konnte. So wird es auch „Zelt der Zusammenkunft“ (Ex 33,7) oder

„Zelt des Zeugnisses“ (Num 17,8) genannt. Dieses Zelt war zuerst eine Wohnung nur

für Gott allein. Es war kein Haus, in dem sich die Gemeinde versammelte, sondern

vielmehr der Ort, wo – unter Ausschluss der Öffentlichkeit - sein Wille bekannt ge-

geben wurde.

Im Rahmen des bildhaften Denkens in der Architektur dominierte eindeutig das Mo-

tiv der Kirche als Zelt: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen; er wird bei

ihnen wohnen, sie werden sein Volk sein und er wird ihr Gott sein!“ (Offb 21,3).

11

Anton Henze: „Ronchamp, Le Corbusieres erster Kirchenbau 12

Gesenius, S. 869 13

Gesenius, S. 869 14

Norbert Clemens Baumgart: Sintflut, www.bibelwissenschaft.de

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Als Beispiel sei hierfür die Zehlendorfer Kirche Schönow (1960-61) mit ihrem stei-

len, tief heruntergezogenen Satteldach genannt. Die organische Form und zeltartige

Konstruktion ist ein wesentliches Merkmal der Architektur von Frei Otto. Für die

Kirche Schönow, die er zusammen mit Ewald Bubner entworfen hat, „wählte Frei

Otto eine auf Druck und Zug beanspruchte Tragkonstruktion aus Stahl, die die holz-

verschalte Decke aufnimmt und knapp zwei Meter oberhalb des Erdbodens endet.

Diese Dachkonstruktion ruht auf dreifüßigen Betonstützen. Stirn- und Seitenwände

sind klarsichtig verglast, so dass der Eindruck eines „schwebenden“ Daches ent-

steht.“15

Kirche Schönow

Kirche Schönow

15

Kerstin Englert, Vortrag. masch.schriftl. Manuskript, S. 8. Gehalten im Februar 1999 an der Freien Universität Berlin.

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Kirchenbautag 1951 und St. Canisius

Von den 342 Kirchen und Synagogen, die zu Beginn des Krieges in Berlin existier-

ten, wurden zwischen 1933 und 1945 309 entweder ganz zerstört oder zumindest

schwer beschädigt.

Die evangelische Kirche reagierte auf die veränderte Situation der Nachkriegszeit mit

der Organisation von „Kirchbautagen“. Seit 1946 finden sie auf Einladung der je-

weils gastgebenden Landeskirche an stets wechselnden Orten in Deutschland statt.

Anhand ihrer Themen lässt sich bundesrepublikanische Nachkriegskirchengeschichte

ablesen. So ging es zunächst vor allem um Wiederaufbau.16

Das Thema der 2. Tagung, sie fand 1951 in Rummelsberg statt, lautete „Grundsätze

für die Gestaltung des gottesdienstlichen Raumes der evangelischen Kirchen“. Damit

sollte all denen, die mit dieser Aufgabe befasst waren, eine Hilfe an die Hand gege-

ben werden. Damit wurde zugleich die Loslösung vom Historismus und die Offenheit

gegenüber dem Neuen propagiert.17

Dass das Konzept genauso in der Katholischen Kirche angewendet wurde, zeigt der

eigentliche Auftakt der modernen Berliner Sakralarchitektur: die katholische St. Ca-

nisius-Kirche, die von Reinhard Hofbauer entworfen, von 1954 bis 1957 gebaut und

1995 durch einen Brand zerstört wurde.

St. Canisius

16

Sonntagsblatt 19/2014 vom 11.05.2014 17

2. Evangelische Kirchbautagung Rummelsberg 1951. A. Einleitung.

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St. Canisius

Der Bau erhob sich über einem gestaffelten Grundriß, der sich nach Osten zum er-

höhten Chor hin verjüngte. „Zwischen dem massiven Ost-und Westwerk aus Mauer-

werk und Stahlbeton steht ein System von Stahl-Gitterbindern, die durch sichtbar ge-

lassene Stahlrohre in der Längsrichtung der Kirche gegeneinander abgesteift sind.“

Die Vorhalle wurde flankiert von Werktags- und Taufkapelle. Im Aufriß erschien die

Kirche als eine Folge von tonnengewölbten Raumabschnitten (Brückenbindern) un-

terschiedlicher Krümmung, deren westliche Wandabschnitte sich in Buntglas öffne-

ten.18

„Die plastische Raumidee wird unterstrichen durch den Wechsel zwischen den

Flächen der weißen Lichtkappen und der silbergrauen, niedrigeren Schattenkappen,

deren tragende Stahlkonstruktionen sichtbar als schmale gelbe Bänder erscheinen.

Der Kirchenboden ist mit schwarzem Gußasphalt belegt.“19

So wurde ein Gotteshaus aus dem Geist der Zeit mit den Mitteln der Zeit – Beton,

Stahl, Glas – gebaut.

Architektur und Liturgie

Im Mittelpunkt kirchlichen Bauens der ersten Nachkriegsjahrzehnte steht der liturgi-

sche Sinn des Gebäudes, das mehr als nur ein funktionaler Raum sein soll.

Schon 1921 hatte Cornelius Gurlitt in einem Handbuch für Pfarrer und Gemeinde als

Kriterium für die Gestaltung einer Kirche empfohlen: „Jedes dieser Gotteshäuser ist

18

Kerstin Englert. Vortrag. masch.schriftl. Manuskript, S. 4. Gehalten im Februar 1999 an der Freien Universität Berlin. 19

Franz Wagenhäuser: Vom inneren Baugesetz der Kirche in „Planen und Bauen im Neuen Deutschland“, S. 191

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nur dann in seiner Gestaltung vollkommen, wenn es dem Zwecke entspricht, dem es

dient.“20

Bartning, der „als Erneurer des evangelischen Kirchenbaus im 20. Jahr-

hundert aus dem Geist der Liturgie“21

verstanden wird, öffnete behutsam die Sicht

auf den Kirchenbau. „Der Gang in eine Kirche ist … bereits ein religiöser Inhalt. Der

Einzelne bindet sich freiwillig an die Gemeinschaft. Kirchengebäude sind nun dieser

öffentliche Ort, an dem die Gemeinschaft sichtbar wird, die durch ein gemeinsames

nicht egozentrisches Verhalten verbunden ist. Kirchenbau ist daher mehr als nur das „Gehäuse der Versammlung, er ist die sichtbare Form und Gestalt der Gemeinschaft“.

Damit ist aber die strenge Bindung an die liturgische Anordnung für den Kirchenbau

mindestens erweitert.“22

Ausdruck fand das in den 50er Jahren in der sich verändernden Strukturierung der

Innenräume: Die Kirche dient ebenso der Liturgie – umgreift und behaust sie

– wie die Liturgie der Kirche dient – von ihr empfängt sie ihre Gestalt.23

Es ging

Bartning um die „Wechselwirkung von architektonischer und liturgischer Span-

nung“24

Die Grenzen fand sein Konzept, wo „die Erneuerung des evangelischen Kir-

chenbaus im 20. Jahrhundert als eine Architektur von Sitzordnungen missverstanden

wurde. Weite Teile seiner Ausführungen zum Kirchenbau kreisen um die Frage, wie

Kanzel, Altar und Sitzordnung der Gemeinde in ein stimmiges Gesamtkonzept über-

führt werden konnen.25

Grundrissformen und Wesensmerkmale

Charakteristisch für den Kirchenbau der späten 50er und 60er Jahre sind polygonale

Grundrissformen, z. B.

Kirche am Lietzensee in Charlottenburg– fünfeckiger Grundriss,

Architekt Paul Baumgarten (1957-59);

Philippus-Kirche in Friedenau – sechseckiger Grundriss,

Architekt Hansrudolf Plarre (1959-60);

Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Charlottenburg – achteckiger Grundriss

Architekt Egon Eiermann (1957-1961).

Vorherrschend blieb jedoch der rechteckige Grundriss, z.B. bei der

Michaels-Kirche in Schöneberg,

Architekten Günther Kohlhaus und F. O. Seeger (1955/56);

Kirche zur Heimat,

Architekt Peter Lehrecke (1955-1957)

20

Cornelius Gurlitt: Pflege der kirchlichen Kunstdenkmäler. 21

Grundwissen Christentum Band 4: Thomas Erne (Hg.) Kirchenbau. S.231 22

ebd, S. 229 23

ebd, S. 231 24

Otto Bartning: Vom Raum der Kirche, S. 114. 25

Grundwissen Christentum Band 4: Thomas Erne (Hg.) Kirchenbau. S.231

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Michaelskirche

Darüber hinaus fallen großflächige Verglasungen der Wandflächen auf. Diese sind

auch in der profanen Baukunst dieser Zeit zu finden. Einer der sehr bekannten Bauten

ist die Neue Nationalgalerie von Ludwig Mies van der Rohe.

Neue Nationalgalerie

Außergewöhnlich ist in der Sakralarchitektur indes die vollständige Verglasung der

Altarwand – zumindest dann, wenn sie farblos ist wie in der Kirche am Lietzensee,

der Kirche zur Heimat, Kirche Schönow Buschgraben.

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Kirche zur Heimat

Kirche am Lietzensee

Kirche Schönow Buschgraben

Damit weisen die Wände hinter dem Altar und damit der gesamte Kirchenraum auf

die Umgebung. In der Kirche zur Heimat steht das Kreuz in der Sichtachse zum Al-

tar, aber außerhalb des Kirchenraumes. Das spitz zulaufende Dach, gegeneinander

gestellte Pultdächer, lässt unschwer „Zelt“ assoziieren. So sind Form und Inhalt bib-

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lisch aufeinander bezogen: Das Gottesvolk, geborgen in der Wohnung Gottes, ist zu-

gleich mit seinem gelebten Glauben Teil der Welt.

Weitaus verbreiteter in der Sakralarchitektur ist die Gestaltung der Wandflächen

durch Farbverglasungen. Damit wurde ein Aspekt aus der Gotik weitergeführt: „Ziel

war eine lichtdurchflutete diaphane Struktur, die dem Gläubigen eine Ahnung von

der Schönheit und Stimmigkeit des Reiches Gottes vermittelte.“ 26

Chartres, Nordrose ab 1194

Die Himmelfahrtskirche von Otto Bartning im Wedding (1954-56) und die Philippus-

Kirche sind Beispiele dafür. Beide Bauten bilden in sich abgeschlossene Raumeinhei-

ten, deren Wirkung wesentlich von den intensiv leuchtenden Farbverglasungen be-

stimmt wird.

26

Stefan Breitling: Bauformen und Baustile. Vorlesung am 10.06.2003: Bauformen der Gotik

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Himmelfahrtskirche

Philippus-Kirche

Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche

Dies gilt insbesondere für die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche (1957-63) von

Egon Eiermann. Sie ist nicht nur architektonisch, sondern auch städtebaulich von be-

sonderem Interesse, wie ein Blick auf die veränderte Platzsituation zeigt. Und auch

die Namen des Platzes in je unterschiedlicher Zeit sind Programm. Zuerst hieß der

Platz, auf dem die alte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stand Auguste-Viktoria-

Platz, benannt nach der Kaiserin Auguste Viktoria (1858 -1921), Ehefrau Wilhelm II.

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Nach dem Krieg wurde er umbenannt in Breitscheidplatz, benannt nach Rudolf Breit-

scheid (1874-1944), einem der führenden Köpfe der Sozialdemokratie in der Weima-

rer Republik. Er kam im KZ Buchenwald um.

Blick auf den Auguste-Viktoria-Platz

Blick auf den Breitscheidplatz

Die Entstehungsgeschichte der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche erstreckt

sich insgesamt über einen Zeitraum von sechszehn Jahren: Am 29. Januar 1947 wur-

de die erste Sitzung des Stiftungskuratoriums zum Thema „Wiederaufbau, Erhaltung

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und Verwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche“ einberufen. Am 14. De-

zember 1963 wurde das Foyer als letzter Bauteil des Gesamtensembles eingeweiht.

Die nach Ende des Krieges einsetzenden Verhandlungen zwischen dem Kuratorium

der Stiftung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und der städtischen Behörde über

die Sicherung der Ruine wurden begleitet von der kontroversen Diskussion um Ab-

riss, Standortverlegung und Wiederaufbau der Kirche.

So äußerte sich der Magistrat27

von Berlin 1949: „Ein Wiederaufbau der Kirche in

der alten, völlig insularen Stellung und in den bisherigen Architekturformen kommt

unter keinen Umständen in Betracht. Davon abgesehen dürfte nach Grundsätzen des

modernen Städtebaus die Kirche in einer so wichtigen Geschäftsgegend, wie sie das

Gebiet ‚Rund um den Zoo‘ darstellt, ohnedies nicht mehr den Mittelpunkt bilden. Es

würde sich vielmehr empfehlen, sie ganz am Rande eines solchen Gebietes aufzustel-

len.“28

Diese Debatte dauerte an bis zum Oktober 1953, als das Kuratorium schließlich einen

Wettbewerb zur Neugestaltung des Sakralbaus beschloss. Noch bevor dieser ausge-

schrieben wurde, wurde der Architekt Werner March mit einem Entwurf, der vorhan-

dene Bauteile einbeziehen sollte, beauftragt. Nach March „wird es sich darum han-

deln, die noch bestehenden Teile, soweit sie ohne wesentliche Eingriffe zu schützen

sind, nur im Notwendigsten zu ergänzen und in ihrer für das Stadtbild heute charakte-

ristischen, zum Teil ruinenhaften Erscheinung zu erhalten. An Stelle des völlig zer-

störten Mittelteils wäre jedoch ein schlichter Neubau in den Ausdrucksformen der

Gegenwart dem kirchlichen Bedürfnis entsprechend einzufügen“.29

Zu den führenden Kritikern von Marchs Entwurf zählte der Kulturkreis im Bundes-

verband der Deutschen Industrie, der die Konzeption als zu vergangenheitsorientiert

ablehnte: „Sie [die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche] steht im Mittelpunkt des heu-

tigen Zentrums der Stadt, und ihre künftige Gestalt wird damit zum Symbol für den

Geist, der bei dem Wiederaufbau Berlins waltet“.

Der Ablehnung von Werner Marchs Konzeption folgte dann im Frühjahr 1956 die

Ausschreibung eines begrenzten Wettbewerbes, zu dem 9 Architekten eingeladen

wurden.

Die in der Wettbewerbsausschreibung vom 13. März 1956 formulierte Bauaufgabe

läßt den Wunsch nach einem repräsentativen Kirchenbau erkennen: „Es soll ein

evangelisches Gotteshaus errichtet werden, das einen würdevollen und zur rechten

Andacht führenden Raum für den evangelischen Gottesdienst, also die Verkündigung

des Wortes und die Austeilung der Sakramente, bildet und der Bedeutung der Kaiser-

Wilhelm-Gedächtnis-Kirche entspricht, die in der Geschichte des evangelischen Ber-

lins immer eine besondere Bedeutung gehabt hat und auch in Zukunft über die ge-

27

bis 1950 in den westlichen Sektoren (dem späteren Senat mit einem Regierenden Bürgermeister) 28

Zitiert nach Gerhard Limpach: X. Der Neubeginn der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirchengemeinde nach dem Zwei-ten Weltkrieg - „Auferstanden aus Ruinen“. Beitrag in „Alles hat seine Zeit“ - 300 Jahre evangelisches Charlottenburg 29

Archiv der Kaiser-Wilhem-Gedächtnis-Kirche

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meindlichen Bedürfnisse hinaus gesamtkirchlichen Aufgaben zur Verfügung stehen

soll.“30

Ergänzt wurde dies durch die Forderung seitens der Gemeinde: „Der Kirchenbau soll

eine Kirche des 20. Jahrhunderts sein, Klarheit, Einfachheit und Aufrichtigkeit ver-

körpern.“

Von den zehn während der ersten Wettbewerbsphase eingereichten Entwürfen (von

Eiermann stammten zwei alternative Konzeptionen), haben nur vier die Erhaltung der

Turmruine vorgesehen. Da die Jury keinen der Entwürfe für ausführbar hielt, wurden

in einer zweiten Wettbewerbsphase drei Architekten, darunter Eiermann, zur Über-

arbeitung ihrer Konzeptionen aufgefordert. Den ersten Preis erhielt schließlich der

überarbeitete Entwurf von Egon Eiermann – mit der Begründung: „Es wird ein Kir-

chenraum angestrebt, der von lichtdurchlässigen Doppelwänden umschlossen und

doch ganz nach innen gewendet ist. Zugleich wird durch die Doppelwand eine gute

Isolierung gegen den Straßenlärm, eine gute Wärmehaltung und durch die Gliederung

der Wände auch eine gute Raumakustik erreicht.“

Aber auch dieser Entwurf wurde nicht realisiert, da der von Eiermann vorgesehene

Abriß der Turmruine einen Proteststurm in der Berliner Bevölkerung hervorrief.

„Ich lasse den alten Turm stehen, wie er ist; [...]“, stellte Eiermann im November

1957 zur Erläuterung seines letzten Entwurfs mit Turm fest, „Der Standort der neuen

Bauelemente ist so, dass ich von allen Seiten ‘neu vor alt’ sehe.“

In diesem Sinne legte er einen Komplex aus fünf Baukörpern an, von denen die au-

ßerhalb der Achse liegende alte Turmruine mit der Gedenkhalle das Zentrum mar-

kiert. Westlich davon steht ein oktogonaler Kirchenbau, an den ein rechteckiges,

niedriges Foyer angrenzt. Östlich der Ruine befindet sich ein sechseckiger Glocken-

turm und ein rechteckig ummantelter, verglaster Kapellenbau. Alle Bauteile liegen

auf einem 90 cm hohen Plateau von 100 Meter Länge und 40 Meter Breite.

Im Gegensatz zur alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, die isoliert auf einer

Verkehrsinsel nach Osten ausgerichtet war, plazierte Eiermann den Eingang zum un-

gerichteten Kirchenneubau auf der Ostseite.

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ist im Laufe der Zeit die bekannteste Se-

henswürdigkeit der City West und eine der wichtigsten Kirchen der Stadt – und zu-

gleich noch so viel mehr. Der rund 68 Meter hohe Turmcorpus blieb als Mahnmal

gegen den Krieg erhalten und wurde durch ein vierteiliges Bauensemble ergänzt: das

achteckige Kirchenschiff (vgl. Grundrissformen und Wesensmerkmale), der sechs-

eckige Glockenturm, die viereckigen Kapelle und das Foyer. Sie ist Mahnmal für

Frieden und Versöhnung, sie erinnert an den Aufbauwillen der Berliner in der Nach-

kriegszeit und ist ein Ort des Innehaltens.

30

Archiv der Kaiser-Wilhem-Gedächtnis-Kirche

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Das Gemeindezentrum

Ab Mitte der 60er Jahre wurde die Multifunktionalität des kirchlich genutzten Rau-

mes zu einem wesentlichen Kriterium in der Konzeption der evangelischen Kirchen-

räume.

Das Zelt, das zu Anfang allein Gottes Wohnung gewesen war (vgl. Arche und Zelt),

hatte sich im Laufe der Jahrtausende zum Versammlungsort der Gemeinde entwi-

ckelt. Somit beschreibt der Begriff „Gemeindezentrum“ eigentlich eine Selbst-

verständlichkeit. Allerdings setzte die Kirche in dieser Zeit und im Gegensatz zu

früheren Jahrhunderten keine markanten Zeichen mehr, sondern paßte sich architek-

tonisch immer stärker der profanen Umgebung an.

In der Entwicklungsgeschichte der Sakralarchitektur verkörpert das „moderne“ Ge-

meindezentrum gewissermaßen den Kirchentypus einer säkularisierten Zeit, in der

das Leitbild „Kirche“ zunehmend verblaßte. Gemeindezentren entstanden überwie-

gend in Neubaugebieten, in denen eine gewachsene kirchliche Tradition fehlte, sowie

dort, wo große Gemeinden geteilt wurden. Mit der Absicht, möglichst viele Gemein-

deglieder unterschiedlicher Altersgruppen anzusprechen, erweiterte die institutionali-

sierte Kirche das Spektrum ihrer Aufgaben und passte sich den Forderungen der je-

weiligen Standorte an, zu denen auch die Trabantenstädte zählten.

Kirche im Gemeinwesenzentrum Heerstraße Nord (Berlin-Staaken)

Heerstraße Nord ist eine Bezirksregion im Berliner Bezirk Spandau, Ortsteil Staaken.

Sie liegt beiderseits der Bundesstraße 5, die hier den Namen Heerstraße trägt.

Von 1962 bis Anfang der 1980er Jahre wurden in diesem Gebiet die Obstallee-

Siedlung und die Rudolf-Wissell-Siedlung errichtet.

Die markanten Punkthochhäuser im Zentrum des Gebiets entstanden ab 1971 nach

Entwürfen von Klaus Müller-Rehm, gemeinsam mit dem Einkaufszentrum Staaken

Center.

Heerstrasse, nördlicher Teil

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Am 1. Januar 1969 wurde die „Evangelische Gemeinde Heerstraße Nord“ gegründet.

Als Projekt zur Gemeindereform wurde „eine menschennahe und gemeinwesenorien-

tierte Gemeinde“ angezielt.31

Es wurde in Kooperation mit dem „Gemeinwesenverein

Heerstraße Nord e. V.“, einer ärztlichen Praxisgemeinschaft und dem „Fördererverein

Heerstraße Nord für Senioren-und Behindertenarbeit e. V.“ ein Zentrum der Begeg-

nung und der Unterstützung für die Bewohner geplant. So wurden die Reformbestre-

bungen des evangelischen Pfarrers Ernst Lange umgesetzt. Man verzichtete auf einen

„klassischen“ Kirchbau. Von 1976-1977 wurde nach Plänen von Heinz E. Hoffmann

das Gemeinwesenzentrum Heerstrasse Nord errichtet, „in dem die Evangelische Ge-

meinde zu Staaken, die Praxisgemeinschaft Ärztehaus, der Fördererverein Heerstraße

Nord, Spielhaus e.V. und der Gemeinwesenverein Heerstraße Nord in enger inhaltli-

cher und organisatorischer Abstimmung zusammenarbeiten.“32

Eingang zur Kirche, Obstallee 22 e Gemeindehaus, Pillnitzer Weg 8

Mehrteilig und mehrgeschossig in Anlage und Aufbau, enthält das Gemeinwesen-

zentrum – bezugnehmend auf die Umgebung – neben den Räumlichkeiten für die üb-

lichen sozial-karitativen Einrichtungen auch eine Beratungsstelle für Mieterfragen,

sowie ein Spiel- und ein Ärztehaus. Hinzu kommt eine Kapelle mit separatem Zu-

gang, die sich durch Raumform und Materialien von den übrigen Gebäuden unter-

scheidet.

In dem Gemeindehaus im Pillnitzer Weg 8 befindet sich heute neben den Büros der

Geschäftsführung und Grundstücksverwaltung, den Räumlichkeiten der Kinder- und

Jugendarbeit auch der Förderverein Heerstr. Nord e.V. mit dem Reinigungsservice,

betreutem Wohnen und Gartenbau. Die hauseigene Turnhalle wird von verschiedenen

Sportgruppen bzw. der Kita Regenbogen genutzt. Ebenso finden im Gemeindehaus

regelmäßig Angebote für Senioren statt.33

31

www.kirchengemeinde-staaken.de 32

www.staaken.info/stadtteil/geschichte-des-stadtteils 33

www.kirchengemeinde-staaken.de: Standorte

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Der Kirchenraum selbst entwickelt sich als polygonaler niedriger Baukörper aus dem

Gebäudekomplex nach draußen. Er wird indirekt von oben durch ein vorgesetztes

Fensterband beleuchtet. Im Inneren des Gebäudes ist er bei größeren Gottesdiensten

um das Foyer des Gemeindezentrums erweiterbar. Altar und Bestuhlung sind mobil

gehalten, um schöpferische Formen des Gottesdienstes zu ermöglichen.

Die Decke ist als Kassettendecke in Beton ausgebildet, die Wände sind mit Fliesen in

Brauntönen verkleidet. Auch von außen ist der Kirchenraum an solchen Fliesen und

dem Kreuz an der Fassade erkennbar.34

Kirchraum Heerstrasse Nord

Eine Gegenüberstellung

In der Gegenüberstellung des Gemeindezentrums Plötzensee von Dietmar Grötze-

bach (1968-70) in Charlottenburg mit dem Gemeindezentrum Am Germersheimer

Platz von Arnold Bischof (1969) zeigt sich das breite Spektrum in der Gestaltung ei-

nes solchen Raums. Der Baukomplex des Gemeindezentrums Plötzensee schließt ei- 34

www.kirchengemeinde-staaken.de: Gebäude und Kirchenraum

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nen Kirchenraum in Form eines Zentralbaus über quadratischem Grundriß ein, in der

auch kulturelle Veranstaltungen (Konzerte, Theaterstücke) stattfinden können.

Gemeindezentrums Plötzensee

Gemeindezentrum Plötzensee

Das Gemeindezentrum Am Germersheimer Platz35

wurde dagegen aus Fertigteilen

errichtet mit zwei, durch eine Faltwand getrennten, neutralen Mehrzweckräumen.

35

„Der Name der Ev. Kirchengemeinde Am Falkenhagener Feld und Am Germersheimer Platz, Kirchenkreis Spandau, wird geändert in „Evangelische Jeremia-Kirchengemeinde“. Kirchliches Amtsblatt Nr. 8 / 2003 - Urkunde über die

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Gemeindezentrum Am Germersheimer Platz

Schlussbetrachtung am 31.08.2017

Es gäbe zum Thema „Sakralbauten der Nachkriegsmoderne“ noch unendlich viel zu

schreiben und zu zeigen. Es konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend aus-

geleuchtet werden. Ein Blättern in den in der Literaturliste angegebenen Büchern und

die Internetrecherche (bei dem Suchbegriff „Sakralbau der Nachkriegsmoderne“

werden 262.000 Artikel angezeigt) lassen die Breite und Tiefe des Themas erkennen.

Mir hat das Eintauchen in das Thema geholfen, die vielen kleinen Wissenssteinchen,

die ich hatte, zu einem stimmigen Bild zusammenfügen zu können.

Dass der Absatz über die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche länger geraten ist als

alle anderen, ist eine Reminiszenz an meine Tätigkeit dort.

Änderung des Namens der Ev. Kirchengemeinde Am Falkenhagener Feld und Am Germersheimer Platz, Kirchenkreis Spandau, §1

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Literaturverzeichnis

Archiv der Kaiser-Wilhem-Gedächtnis-Kirche

Bartning, Otto: Vom Raum der Kirche

Baumgart, Norbert Clemens: Sintflut, www.bibelwissenschaft.de

Buttlar, Adrian von, Wittmann-Englert, Kerstin, Dolff-Bonekämper, Gabi (Hg.):

Baukunst der Nachkriegsmoderne

Bischof , Hartwig: Marie-Alain Couturier. Ein Traditionalist und Revolutionär - Eine

theologische Biografie

Breitling, Stefan: Bauformen und Baustile. Vorlesung am 10.06.2003: Bauformen der

Gotik

Czock, Miriam: Gottes Haus: Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der

Spätantike bis ins Frühmittelalter. S. 33

Englert, Kerstin: Vortrag. masch.schriftl. Manuskript, gehalten im Februar 1999 an

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Erne, Thomas (Hg.) Grundwissen Christentum Band 4: Kirchenbau

Gesenius, Wilhelm: hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Tes-

tament

Gurlitt, Cornelius: Pflege der kirchlichen Kunstdenkmäler.

Henze, Anton: Ronchamp, Le Corbusieres erster Kirchenbau

Kirchbautag: 2. Evangelische Kirchbautagung Rummelsberg 1951. A. Einleitung.

Kirchliches Amtsblatt Nr. 8 / 2003 - Urkunde über die Änderung des Namens der

Ev. Kirchengemeinde Am Falkenhagener Feld und Am Germersheimer Platz, Kir-

chenkreis Spandau, §1

Limpach, Gerhard: X. Der Neubeginn der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-

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trag in „Alles hat seine Zeit“ - 300 Jahre evangelisches Charlottenburg

Ohne Namen: Es muß nicht wie immer sein. www.ev-akademiker.de

Schade, Herbert: Im Spiegel der Zeit 1956?, S. 455-461

Sonntagsblatt 19/2014 vom 11.05.2014

Tietz, Jürgen: Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts, 1998, S. 63

Wagenhäuser, Franz: Vom inneren Baugesetz der Kirche in „Planen und Bauen im

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www.domradio.de

www.kirchengemeinde-staaken.de

www.staaken.info/stadtteil/geschichte-des-stadtteils

www.wikipedia.org/wiki/Nachkriegsmoderne