22
Universität Oldenburg Abt. Wirtschaftsinformatik Prof. Dr.-Ing. Norbert Gronau Escherweg 2 26121 Oldenburg Tel. (0441) 97 22 - 150 Fax (0441) 97 22 - 202 E-Mail:[email protected] www.wi-ol.de Arbeitsbericht WI - 2000 - 01 Norbert Gronau: Modellierung von Flexibilität in Architekturen industrieller Informationssysteme Zitierhinweis: Gronau, N.: Modellierung von Flexibilität in Architekturen industrieller Informationssysteme. In: Schmidt, H. (Hrsg.): Modellierung betrieblicher Informationssysteme. Proceedings der MobIS-Fachtagung Siegen 2000, S. 125-144

Arbeitsbericht WI - 2000 - 01wi.uni-potsdam.de/.../$FILE/WI-2000-01.pdf2. Flexibilität als Gestaltungsparameter von Informationssystemarchitekturen 2.1 Der Begriff der Informationssystemarchitektur

Embed Size (px)

Citation preview

Universität OldenburgAbt. Wirtschaftsinformatik

Prof. Dr.-Ing. Norbert GronauEscherweg 2

26121 OldenburgTel. (0441) 97 22 - 150 Fax (0441) 97 22 - 202

E-Mail:[email protected]

Arbeitsbericht WI - 2000 - 01

Norbert Gronau:

Modellierung von Flexibilität in Architekturen industriellerInformationssysteme

Zitierhinweis: Gronau, N.: Modellierung von Flexibilität in Architekturen industrieller Informationssysteme. In: Schmidt, H. (Hrsg.): Modellierung betrieblicher Informationssysteme. Proceedings der MobIS-Fachtagung Siegen 2000,

S. 125-144

Modellierung von Flexibilität inArchitekturen industrieller

Informationssysteme

Prof. Dr.-Ing. Norbert Gronau

Universität Oldenburg

Fachbereich Informatik

Abt. Wirtschaftsinformatik

Escherweg 2

26121 Oldenburg

Tel. 0441/ 9722-150, Sekr. -201, Fax -202

http:// www-wi.offis.uni-oldenburg.de/

E-Mail: [email protected]

1. Zusammenfassung

Flexibilität ist ein in der Wirtschaftsinformatik häufig verwendetes Attribut. Flexibel soll ein Unternehmen

auf die Wünsche seiner Kunden reagieren und gegebenenfalls seine Wettbewerbsposition anpassen. Flexi-

bel soll eine Einplanung oder Umdisposition der aus Kundenaufträgen resultierenden Werkstattaufträge

erfolgen. Schließlich sollen die zur Bewältigung der Werkstattaufträge eingesetzten Maschinen und Anlagen

so flexibel sein, unterschiedliche Teilegeometrien ohne aufwendige Umrüstvorgänge bewältigen zu können.

Aufgrund des heute mit der Bewältigung der Geschäftsprozesse verbundenen Informationssystemeinsatzes

stellt sich auch die Frage nach der Flexibilität der eingesetzten Informationssysteme. Dieser Beitrag stellt ein

Anforderungsmodell an Architekturen industrieller Informationssysteme auf, die in der Lage sind, sich an

veränderte Gegebenheiten schnell und effizient anpassen zu können. Diese Klasse von Informationssyste-

marchitekturen wird als nachhaltig bezeichnet, um ihren gegenüber dem Flexibilitätsbegriff erweiterten

Eigenschaften Rechnung zu tragen. Es wird gezeigt, wie Elemente und Vorgehensmodelle, die diesen

Anforderungen genügen, im Rahmen der Modellierung von Informationssystemarchitekturen gefunden

werden können.

2. Flexibilität als Gestaltungsparameter vonInformationssystemarchitekturen

2.1 Der Begriff der Informationssystemarchitektur

Als Informationssysteme werden Softwaresysteme bezeichnet, die die Aufgaben der Datenhaltung, Daten-

verarbeitung und Präsentation von Informationen in Bezug auf eine konkrete betriebliche Aufgabe oder

Funktion erfüllen [StHa97, S. 426]. Sie verbinden betriebswirtschaftliche Anwendungskonzepte mit ihrer

Realisierung durch Informationstechnologie [Sche97, S. 49. Hansen erweitert diese Definition durch Einbe-

ziehung der Benutzer und charakterisiert ein Informationssystem als Menge aus Menschen und Maschinen

(Automaten), die Informationen erzeugen oder benutzen und durch Kommunikationsbeziehungen miteinan-

der verbunden sind [Hans98, S. 67]. Einigkeit besteht in der Literatur darin, daß Informationssysteme

technische, betriebswirtschaftliche und psychosoziale Aspekte aufweisen.

Unter einer Architektur im Diskursbereich der Wirtschaftsinformatik versteht Scheer die Komponenten

eines Systems und ihre Beziehungen zueinander [Sche97, S. 3]. Diese Begriffsauslegung enthält jedoch

keine neuen Elemente gegenüber den oben skizzierten Definitionen. Der Architekturbegriff sollte jedoch

stärker normativ und als Leitbild wirken. Daher wird im folgenden eine Informationssystemarchitektur als

geplantes Zusammenwirken technologischer, betriebswirtschaftlicher, organisatorischer und psychosozialer

Aspekte bei der Entwicklung und Nutzung von betrieblichen soziotechnischen Informationssystemen

definiert.

Die zuvor angeführten Definitionen werden somit um den organisatorischen Blickwinkel und um den

Aspekt des Lebenszyklus von Informationssystemen erweitert. Die Einbeziehung des organisatorischen

Blickwinkels in die Gestaltung von Informationssystemen erfordert eine Betrachtung der Wirkzusammen-

hänge zwischen betrieblicher Organisation und der Nutzung von Informationssystemen. Der Lebenszy-

klusaspekt verdeutlicht, daß auch die Phasen der Einführung und des Betriebs eines Informationssystems

unter Berücksichtigung seiner organisatorischen Einbettung betrachtet werden müssen.

2.2 Flexibilität

Der Begriff der Flexibilität entstammt dem Lateinischen und bedeutet Veränderbarkeit, Beweglichkeit oder

Biegsamkeit. Flexibilität wird die Eigenschaft eines Systems genannt, das ein im Bedarfsfall zu aktivierendes

Änderungsvermögen bzw. Änderungspotential aufweist. In einem offenen System wird dieser Änderungs-

bedarf im System durch das Systemumfeld ausgelöst, indem Impulse oder Stimuli auf das System einwir-

ken oder Störungen in der Beziehung zwischen Umwelt und System auftreten. Ein System ist dann flexibel,

wenn dem Änderungsbedarf ein in angemessener Zeit aktivierbares Änderungspotential im System gegen-

übersteht [Knof92, S. 67].

Der Änderungsbedarf enthält eine sachliche und eine zeitliche Dimension. Gefordert wird die Durchsetzung

von Änderungen in einem bestimmten Zeitablauf. Daher ist das Änderungspotential als Einflußfaktor auf die

Flexibilität eines Systems um das Reaktionsvermögen zu ergänzen. Die Reaktionsfähigkeit bezieht sich

jedoch nur auf die nachträgliche Anpassung an eine bestehende Anforderung. Gefordert wird, auch die

antizipative Anpassung des Unternehmens, etwa durch Erkennen und Ausnutzen von Marktchancen, in die

Definition des Flexibilitätsbegriffes einzubeziehen [Cors88]. Flexibilität umfaßt daher auch die Schaffung

von Chancen für ein Unternehmen im Sinne von Innovationen [Knof92, S. 69]. So ist es erforderlich, daß

unausgenutzte Ressourcen und Potentiale vorhanden sind, zu deren Umsetzung Handlungsspielräume

bestehen.

Durch die zunehmende Forderung nach Flexibilität von Informationssystemen verschiebt sich der Schwer-

punkt der Betrachtung zunehmend von der technischen zur organisatorischen Infrastruktur [Rolf98, S. 12].

Mit organisatorischen Änderungen sind nahezu immer auch Veränderungen in der Informationssystemarchi-

tektur verbunden. Diese Veränderungen reichen von einer Addition bzw. Stillegung von Funktionen über

die Ergänzung von Aggregationsmechanismen, die Anpassung von Schnittstellen und Übertragungswegen

bis zur Änderung von Algorithmen und Datenstrukturen.

Der Begriff der Flexibilität erscheint jedoch nicht ausreichend, um zu beschreiben, wie eine Anpassung von

Informationssystemen an organisatorische Änderungen erfolgt. So läßt er z.B. die Frage offen, wer die zur

Anpassung notwendigen Arbeiten vornimmt (zentrale Stellen oder dezentrale Einheiten). Nicht enthalten im

Flexibilitätsbegriff ist auch die Bewertung des notwendigen Ressourcenpotentials, das für eventuelle Anpas-

sungen vorgehalten werden sollte. Anzustreben ist - schon aus wirtschaftlichen Gründen - ein möglichst

niedriges Niveau.

Im folgenden sollen Informationssystemarchitekturen, die eine effiziente und mit geringen Aufwand verbun-

dene Anpassung an veränderte organisatorische Bedingungen erlauben, als nachhaltig bezeichnet werden.

Um die Wahl dieses gegenüber der Flexibilität erweiterten Begriffes zu verdeutlichen, wird im folgenden

Abschnitt der Begriff der Nachhaltigkeit definiert.

2.3 Nachhaltigkeit als Paradigma der Modellierung vonInformationssystemarchitekturen

Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt aus der Umweltökonomie. Die Bezeichnung nachhaltige Entwick-

lung (sustainable development) entstammt dem sog. Brundtland-Report der Vereinten Nationen [u.a.

Hubi95]. Der Begriff des ”sustainable development” wird ins Deutsche mit ”beständige” oder ”nachhaltige”

oder ”zukunftsfähige” oder ”zukunftsbeständige” oder ”dauerhaft umweltgerechte Entwicklung” übertragen.

Unter Nachhaltigkeit wird eine Handlungsweise eines Systems verstanden, die über einen beliebig langen

Zeitraum ohne Einbuße an Überlebensfähigkeit durchhaltbar ist [Krot98].

Auf dieser Definition basieren unterschiedliche Definitionen der Nachhaltigkeit in unterschiedlichen Fachdis-

ziplinen, die alle die Aussage beinhalten, daß mittel- bis langfristige Perspektiven stärker als bisher bei

Plänen und Handlungen mitberücksichtigt werden müssen. Naturwissenschaftliche Definitionen des

Nachhaltigkeitsbegriffes basieren auf einem jeweils spezialisierten Bezugssystem, also z.B. Wald, See oder

klimatologische, terrestrische oder hydrologische Systeme.

Daraus kann abgeleitet werden, daß Nachhaltigkeit eine systemorientierte Betrachtungsweise voraussetzt

und diese zur Grundlage der Beschäftigung mit dem Begriff und seinen Deutungen macht. Aus dieser

Überlegung heraus wird im folgenden ein systemorientierter Abgrenzungsansatz verwendet

3. Gestaltungsansatz flexiblerInformationssystemarchitekturen

Um zu einem in der unternehmerischen Praxis handhabbaren Modellierungsansatz zu kommen, wird folgen-

der Weg beschritten:

1. Als zentrale These wird die Notwendigkeit einer strukturellen Analogie zwischen Unternehmensorgani-

sation und Informationssystemarchitektur postuliert.

2. Als Basis für das Verständnis organisatorischer Veränderungen werden aus dem Systemansatz organi-

satorische Gestaltungsoptionen abgeleitet.

3. Aus den organisatorischen Gestaltungsoptionen werden Anforderungen an nachhaltige Informationssys-

temarchitekturen abgeleitet.

3.1 Organisatorische Gestaltungsoptionen

Um unterschiedliche organisatorische Gestaltungsoptionen voneinander abgrenzen zu können, wird ein am

Systemansatz orientiertes Modell verwendet. Die klassische systemtheoretische Konzeption begreift ein

Unternehmen als eine gesellschaftliche Institution, die sich durch Komplexität, Offenheit, Dynamik und

Zweckorientierung auszeichnet [Krys97, S. 33]. Ein System besteht aus einer Anzahl von Elementen, die

durch Relationen miteinander verbunden sind. Über eine Systemgrenze hinweg gibt es einen Austausch von

Informationen und Material. Im weiteren Umfeld befindet sich die relevante bzw. die nichtrelevante

Umwelt, die in einem Systemabgrenzungsprozeß danach differenziert wird, ob sie vom System beeinflußbar

ist oder nicht.

Im systemorientierten Abgrenzungsansatz werden als organisatorische Gestaltungsoptionen Segmentierung,

Ablauforientierung, Kontinuierliche Reorganisation und Auflösung der Unternehmensgrenzen unterschieden.

Segmentierende Ansätze

Auf der Basis des Systembegriffes können segmentierende Reorganisationsansätze als Subsystembildung

innerhalb des Systems Unternehmung aufgefaßt werden. Die Subsystembildung, die zur Komplexitätsredu-

zierung eingesetzt wird, erzeugt Subsysteme, die eine Vielzahl von Relationen zwischen den sie bildenden

Elementen aufweisen, aber eine im Verhältnis dazu geringere Zahl von Relationen zwischen den Subsyste-

men. Bei segmentierenden Gestaltungsoptionen findet eine neue Strukturierung der Aufbau- und Ablaufor-

ganisation mit dem Ziel statt, Aufgaben zu integrieren, die bisher von verschiedenen Stellen bewältigt

wurden. Diese Segmentierung drückt sich u.a. in der Fertigungssegmentierung, der Gruppenarbeit oder der

Fraktalbildung aus.

Ablauforientierte Ansätze

Ablauf- oder prozeßorientierte organisatorische Gestaltungsoptionen setzen an den Relationen zwischen

den einzelnen Elementen an. Diese Relationen können Materialien, Realflüsse, Informationsflüsse, aber

auch Führungs- und Leitungsbeziehungen zwischen den einzelnen Elementen ausdrücken. Sie werden im

Zuge der ablauforientierten Reorganisation so ausgerichtet, daß sich durchgängige, nicht unterbrochene

Ketten von an der Wertschöpfung beteiligten Systemelementen ergeben. Der ablauforientierte Ansatz stellt

somit aus systemtheoretischer Sicht ein Strukturbildungsprinzip dar.

Kontinuierliche Reorganisation

Bei den Prinzipien der kontinuierlichen Reorganisation wird das Verhalten des Systems im Zeitablauf

betrachtet. Zwischen zwei Zeitpunkten finden Prozesse der Subsystembildung ebenso wie Prozesse der

Ausrichtung und Neuausrichtung von Relationen statt. Es kann somit Komplexitätsreduzierung wie auch

Strukturbildung beobachtet werden. Kontinuierliche Ansätze beschreiben und beeinflussen das zeitdynami-

sche Änderungsverhalten des Systems. Dazu werden Änderungsparameter angegeben, deren wesentlicher

die Lernfähigkeit des Systems darstellt.

Auflösung der Unternehmensgrenzen

Bei der Gestaltungsoption “Auflösung der Unternehmensgrenzen” wird die Systemgrenze, die das System

von der relevanten Umwelt trennt, partiell verschoben. Die Unterschiede zwischen Systemelementen inner-

halb des und Elementen außerhalb des Systems wird zunehmend weniger wichtig. Es besteht nur noch eine

Abgrenzung zwischen System und relevanter Umwelt einerseits und der nichtrelevanten Umwelt anderer-

seits. Der Teil der relevanten Umwelt, d.h. der Umwelt, deren Verhalten durch das System beeinflußt

werden kann, ist bei Ansätzen der Auflösung von Unternehmensgrenzen erheblich größer.

Mischformen

Die genannten Gestaltungsoptionen finden sich in der betrieblichen Praxis nicht in reiner Form. Sie bauen

teilweise aufeinander auf und werden vielfach gemeinsam eingesetzt. Mischformen vereinen mehrere der

oben genannten Maßnahmen. Der Lean-Production-Ansatz [Betz96, S. 43] setzt beispielsweise sowohl

auf Komplexitätsreduzierung als auch auf Ausrichtung an den Wertschöpfungsprozessen.

3.2 Strukturelle Analogien zwischen Organisationsarchitektur undInformationssystemarchitektur

Unabhängig von der Wirkungsrichtung des Einflusses zwischen Organisation und Informationstechnologie

wird in der Literatur zwischen Parallelen in der Entwicklung beider Architekturen hingewiesen. Die Evolu-

tion der Organisation und der Informationstechnologie bewegen sich in die gleiche Richtung [Schm99, S.

53] (Abb. 1).

Abb. 1: Evolution von Informationstechnik und Organisation [Schm99, S. 53]

Die in Abschnitt 3.1 skizzierten organisatorischen Gestaltungsoptionen gestatten folgende Ausgestaltung der

These von der Strukturellen Analogie, bezogen auf den Informationssystemeinsatz:

? Die Objektorientierung als Programmierparadigma entspricht der Segmentierung der Organisation.

? Die organisatorische Ablauforientierung über Abteilungsgrenzen entspricht dem Workflowmanagement

über Anwendungssysteme hinweg.

? Der kontinuierlichen Reorganisation und dem damit einhergehenden Lernprozeß entsprechen z.B.

kontinuierliche Releasewechsel bei Standardsoftwareapplikationen mit verbesserter Funktionalität und

geringerer Fehleranfälligkeit.

? Der Auflösung der Unternehmensgrenzen hat ihre Entsprechung in der Nutzung verteilter Applikationen

im Netzwerk über Remote Procedure Calls und die damit verbundenen Kommunikations- und

Synchronisationsmechanismen.

Als Gründe für die Anwendung der Strukturellen Analogie bei der Modellierung von Informationssystemar-

chitekturen können u.a. genannt werden:

? Weil ähnliche Muster vorliegen, wird die Abbildung von Geschäftsprozessen und organisatorischen

Strukturen in Informationssystemen einfacher. Es ergeben sich Vorteile bei der Spezifikation und

Wartung, da Anforderungen aus der organisatorischen Realität abgeleitet werden können.

zentralisiert

hierarchisch

dezentralisiert

bestärkt

erweitert

virtuell

Evolution der Organisation

Evolution der Informatik

Mainframe-zentriert

Kontrolle

Einzel-PC

IndividuelleProduktivität

Client-Server

Kollaboration

netzwerkzentriert

dynamisch

? Die Übereinstimmung bzw. Analogie zur Organisation erleichtert die Einführung und Nutzung von

Informationssystemen, weil das System aufgrund der Analogien zu bereits existierenden Strukturen

besser und schneller verstanden wird.

? Die Abbildung von rechnerunterstützten Informationsflüssen entlang der von der Organisation vorgege-

benen Informationswege vermeidet unnötige, zu lange oder redundante Informationsflüsse.

Als Beispiel für den Verzicht auf strukturelle Analogie wird im folgenden der Plan einer zentralen Mailser-

verkonfiguration in einem dezentral organisierten international agierenden Unternehmen analysiert.

Ausgangspunkt ist eine Konfiguration, bei der etwa 20 europäische Standorte über Frame Relay-Verbin-

dungen unterschiedlicher Leistungsfähigkeit mit einem zentralen Mailserver verbunden sind. Ausgegangen

wird von einem Mailaufkommen von 5 MB/User und Tag und von einer Gesamtzahl von etwa 2250

Nutzern, davon etwa 500 direkt am Standort des geplanten zentralen Mailservers.

? Bei einer zentralen Konfiguration muß auch der lokale Mailverkehr über die Zentrale abgewickelt

werden. Dies verringert die Gesamtleistungsfähigkeit des Mailsystems erheblich und steigert die

Kosten für die Bereitstellung der Frame Relay-Verbindungen. Dabei steigt die Belastung des WAN mit

der Zahl der Empfänger einer Mail an. Eine Nachricht mit einem Anhang von 500k, die an 50 lokale

Nutzer geht, belastet bei einer zentralen Konfiguration den Server 50mal stärker als bei einer dezentra-

len Lösung.

? Die Kosten notwendiger Verbindungen liegen bei zentralen Lösungen stets erheblich über den

Kosten dezentraler Systeme, da stets auch der normalerweise lokale Mailverkehr über die Zentrale

abgewickelt werden muß. Da der interne Mailverkehr zumeist erheblich größer ist als der externe,

bürdet eine zentrale Mailserverkonfiguration den Weitverkehrsleitungen ein Vielfaches der eigentlich

notwendigen Verbindungslast im Weitverkehr auf.

? Bei einer zentralen Lösung muß darüber hinaus jede Veränderung bei entfernten Standorten (Benut-

zer, Berechtigungen) sofort am zentralen Mailserver vollzogen werden. Die Flexibilität der Organisation

wird in diesem Beispiel durch eine zentrale Lösung eingeschränkt.

? Schließlich weist ein zentraler Mail-Standort das Problem auf, daß bei Ausfall des zentralen Mailser-

vers alle anderen Standorte gleichzeitig ebenfalls ohne E-Mail-Funktionalität sind.

Eine sinnvolle Lösung unter Nutzung des Prinzips der strukturellen Analogie wäre es, die einzelnen europä-

ischen Standorte jeweils mit einem Mail-Server auszustatten. Die oben beschriebenen Nachteile würden

entfallen. Aus der Sicht des Verfassers zeigen die vorgenommenen Analogieschlüsse sowie das aus der

Praxis stammende Gegenbeispiel, daß die These der strukturellen Analogie für die Modellierung von Infor-

mationssystemarchitekturen anwendbar ist.

3.3 Ableitung von Anforderungen aus organisatorischen Gestaltungsoptionen

Das Anforderungsmodell nachhaltiger Informationssystemarchitekturen, das in diesem Beitrag vorgestellt

wird, umfaßt drei Gruppen von Anforderungen:

? Der These der strukturellen Analogie folgend, werden aus den charakteristischen Merkmalen der

organisatorischen Gestaltungsoptionen Anforderungen an eine nachhaltige und flexible Informati-

onssystemarchitektur abgeleitet.

? Der bei der Definition der Nachhaltigkeit vorgenommene Vergleich mit natürlichen Systemen führt zur

Eigenschaft der weitgehenden Selbstorganisation dieser Systeme (autopoietische Systeme). Daher

wird begründet, inwieweit diese Eigenschaft auch bei Informationssystemarchitekturen gefordert

werden kann.

? Schließlich werden aus der notwendigen Integration zwischen den einzelnen Modellebenen und

Betrachtungsweisen von Informationssystemarchitekturen weitere Anforderungen abgeleitet.

3.3.1 Anforderungen aus struktureller Analogie

Strukturelle Analogie wird von den Informationssystemen gefordert, damit sie sich möglichst harmonisch

an die jeweils vorherrschende organisatorische Gestaltungsausprägung anpassen. So entspricht die Struktur

segmentierter Organisationseinheiten objektorientierten Informationssystemen, während sich prozeßorien-

tierte Organisationen zu Workflowmanagementsystemen als strukturell analog erweisen. Die Abbildung von

Wertschöpfungspartnerschaften im Netzwerk kann z.B. durch Multiagentensysteme erfolgen, da die

Agenten Autonomie und ein gewisses Maß an Kompetenz aufweisen.

Das Charakteristikum der Dezentralität, das bei den Gestaltungsoptionen der Segmentierung und der

Auflösung von Unternehmensgrenzen auftritt, läßt sich als Anforderung auf die Informationssystemarchitek-

tur übertragen. Ziel muß es sein, zu einer intensiven Vernetzung innerhalb von Subsystemen zu gelangen,

aber im Gegensatz dazu nur eine schwache Vernetzung zwischen Subsystemen zuzulassen.

Aus dem Charakteristikum der ständigen Veränderung leitet sich die Anforderung nach Flexibilität und

Dynamik der Informationssysteme ab. Flexibilität setzt sich aus den Bestandteilen Anpassungsfähigkeit und

Anpassungsgeschwindigkeit zusammen. Flexible und nachhaltige Informationssystemarchitekturen müssen

in der Lage sein, sich an wandelnde organisatorische Strukturen anzupassen und zwar in einer Zeitspanne,

die nicht größer sein darf als die Veränderungsgeschwindigkeit durch die Reorganisation selbst. Weil Flexi-

bilität innerhalb des Anforderungsmodells nur eine der wünschenswerten Eigenschaften ist, werden Infor-

mationssystemarchitekturen, die über die Flexibilität hinaus weitere der hier aufgestellten Anforderungen

erfüllen, als nachhaltig bezeichnet.

3.3.2 Anforderungen aus dem Systemansatz

Allen organisatorischen Gestaltungsoptionen gemeinsam ist die Orientierung am Systemgedanken. Nahezu

alle Ansätze streben an, den handelnden Organisationseinheiten ein im Vergleich zum Zustand vor der

Reorganisation höheres Maß an Autonomie zu gewähren. Die Segmentierung verlagert Entscheidungen in

die Segmente, die Ablauforientierung setzt auf die umfassende Auskunfts- und Handlungsfähigkeit jedes

Elementes in einer Prozeßkette, während bei der Auflösung der Unternehmensgrenzen die handelnden

Elemente Autonomie schon aufgrund ihrer Rechtspersönlichkeit aufweisen. Als weiteres wesentliches

Prinzip zur Generierung von Anforderungen an nachhaltige Informationssystemarchitekturen wird daher

das Konzept eines offenen evolutionären und zumindest teilweise autonom agierenden und daher als

autopoietisch bezeichneten Systems verfolgt.

Als Begründer der Theorie autopoietischer Systeme können Maturana und Varela bezeichnet werden, die

u.a. folgende Charakteristika selbstorganisierender Systeme aufgestellt haben [MaVa87, Kua96, S. 21]:

? Autopoietische Systeme entstehen spontan, sie wachsen und erhalten sich selbst.

? Bezogen auf Selbstreferentialität und Zirkularität operieren diese Systemen als geschlossene Systeme.

? Autopoietische Systeme gestalten und organisieren sich selbst. Ihre Autonomie ist nicht gleichzusetzen

mit Unabhängigkeit von außenstehenden Systemen.

? Diese Systeme strukturieren ihre Umgebung selbst. Sie verfügen über die Systemgrenzen und steuern

damit ihre Systemidentität.

? Autopoietische Systeme sind komplex und können komplexe Elemente enthalten.

Einige die Systemautonomie betreffenden Anforderungen können darüber hinaus aus organisatorischen

Gestaltungsoptionen abgeleitet werden. Aus dem Charakteristikum der teilweisen oder vollständigen

Autonomie kann nach dem Prinzip der strukturellen Analogie die Anforderung an zukünftige Informations-

systemarchitekturen aufgestellt werden, über ein hohes Maß an Autonomie zu verfügen. Erfüllt wird diese

Anforderung von Informationssystemarchitekturen, die in der Lage sind, ihre innere Struktur ganz oder

teilweise selbst zu bestimmen.

Die partielle Autonomie fordert, organisatorische Einheiten so mit Informationssystemen auszustatten, daß

sie ein Maximum an Aufgaben autonom, d.h. ohne Eingriffe von außen abwickeln können. Das bedeutet

z.B. in der Produktionsplanung, daß das Dogma der zentralen Feinplanung von Aufgaben und Ressourcen

z.B. zugunsten einer dezentralen Koordination aufzugeben ist.

Die autopoietische Systemtheorie wurde u.a. durch Vergleich mit natürlichen Systemen abgeleitet. Wird die

Natur als Beispiel für nachhaltige Entwicklungen betrachtet, so ergeben sich einige Parallelen zur Entwick-

lung von Organisationsstrukturen. Natürliche Ökosysteme weisen durch Selektions- und Mutationsmecha-

nismen einen sehr hohen Grad an Autonomie und Selbstorganisation auf. Dies wird auch als self

sustainability bezeichnet [Habe95, S. 20], was stark mit den Bestrebungen nach Selbstorganisation und

Autonomie korrespondiert. Starke Eingriffe in Systeme, die sich im natürlichen Gleichgewicht befinden,

können Fehlverhalten und Versagen dieser Systeme zur Folge haben [Clau98, S. 29]. Auch dieses Beispiel

aus der Natur kann auf Informationssystemarchitekturen übertragen werden.

Die Selbstähnlichkeit ist ein Phänomen, das vielen natürlichen Objekten (Wolken, Pflanzen, Gebirge etc.)

eigen ist. In verschiedenen Größenmaßstäben zeigen sich immer dieselben Grundstrukturen. Viele chaoti-

sche Systeme zeigen selbstähnliches Verhalten. Häufig ist diese Selbstähnlichkeit der einzige Zugang zur

Analyse komplexer Strukturen oder dynamischer Systeme. Selbstähnlichkeit als Eigenschaft autopoieti-

scher Systeme korrespondiert mit dem Anspruch der Modellierung auf Verkürzung des Gegenstandsberei-

ches zur Komplexitätsreduzierung. Selbstähnliche Systeme ermöglichen unterschiedlich tiefe

Modellierungen, ohne daß ein Modellierungsergebnis auf einer höheren Ebene aufgegeben werden muß

und erleichtern so die Modellierung. In der Organisation wird diese Eigenschaft z.B. bei der Bildung von

Produktionsfraktalen [Warn93, S. 200] genutzt.

Aufgrund der Nähe dieser Eigenschaften zu realen soziotechnischen Systemen wird vorgeschlagen,

Merkmale autopoietischer Systeme als Anforderungen an nachhaltige Informationssystemarchitekturen zu

benutzen.

Autonomie, bezogen auf Informationssysteme, kann dann definiert werden als Fähigkeit eines Informations-

systems, eine gegebene Aufgabe mit möglichst geringer zusätzlicher Inanspruchnahme von Ressourcen zu

bewältigen. Als Beispiel sei ein fiktives Bürokommunikationssystem erwähnt, das bei einem Tippfehler in

einer E-Mail-Anschrift die Nachricht nicht an den Empfänger zurücksendet, sondern in der Lage ist, den

korrekten Empfänger herauszufinden. Ein weiteres Beispiel für teilweise Autonomie stellt die Adreßraum-

vergabe bei IP-Adressen dar, die die nahezu vollständig freie Wahl von IP-Adreß-Strukturen in sog. priva-

ten Adreßräumen ermöglicht. Es wird ohne weitere Inanspruchnahme von Ressourcen (durch

Adreßumsetzung) sichergestellt, daß über das Internet eine Kommunikation zwischen Inhabern von IP-Ad-

ressen privater Adreßräume möglich ist.

Auf der Basis dieser Überlegungen wurden aus der Betrachtung autopoietischer Systeme als Anforderun-

gen partielle Autonomie, Selbstorganisation und Selbstähnlichkeit in das Anforderungsmodell übernommen.

3

.3.3 Anforderungen aus der Integration von Modellebenen

Voraussetzung für die Bewertung von Informationssystemarchitekturen in Bezug auf ihre dauerhafte

Zukunftsfähigkeit ist das Aufstellen von Zielkriterien. Im Sinne eines Ebenenkonzeptes [Schu93, S. 170]

werden bei der Aufstellung von Zielkriterien und -indikatoren mehrere Abstraktionsebenen des Untersu-

chungsgegenstandes unterschieden. Dabei wird zwischen den Bestandteilen der Informationssystemarchi-

tektur (Elementeebene), dem Vorgehen bei ISA-Projekten (zusammenfassend als Methodenebene

bezeichnet) und dem Wissen über Elemente und Methoden (Metaebene) differenziert. Diese Darstellung

kann wie in Abb. 2 gezeigt, als Modell orthogonaler Ebenen verstanden werden.

Abb. 2: Ebenen des Anforderungsmodells nachhaltiger Informationssystemarchitekturen

Einsatz von Elementen

Anwendung vonVorgehens-modellen

Wissen

ISA 0

Wissen überVorgehensmodelle

ISA-Kombinationsbereich

Elementewissen

größere Nachhaltigkeit

größere Nach-haltigkeit

geringe Nach-

haltigkeit

Die x-Achse stellt symbolisch die Auswahl zur Verfügung stehenden Softwarebestandteile (Elemente) dar.

Auf der Y-Achse sind die zur Verfügung stehenden Vorgehensmodelle zur Konstruktion, Entwicklung und

Nutzung von Informationssystemarchitekturen aufgetragen. Elemente und Vorgehensmodelle können nur

nach dem Grad der Nachhaltigkeit ordinal skaliert werden. Klassische Phasenmodelle ohne Benutzerbetei-

ligung liegen bei dieser Skalierung eher am Skalenursprung, während zyklische partizipative Vorgehensmo-

delle entfernt vom Skalenursprung zu lokalisieren sind. Analog sind Elemente von

Informationssystemarchitekturen nach der Erfüllung von Anforderungen der Nachhaltigkeit ordinal skalier-

bar. In der Praxis werden mehrere Methoden und Elemente unterschiedlicher Nachhaltigkeit eingesetzt, so

daß sich kein Punkt, sondern ein Gebiet ergibt, in dem Elemente und Methoden lokalisiert werden können.

Eine Kombination von Elementen und Vorgehensmodellen stellt eine Informationssystemarchitektur zu

einem bestimmten Zeitpunkt dar. In Abb. 2 ist das die Fläche ISA 0.

Als integrierendes Element wird nun das Wissen um die eingesetzten Vorgehensmodelle sowie die genutz-

ten Elemente in die Darstellung durch die Dicke der Scheibe ISA 0 eingebracht. Dies sei an einem Beispiel

erläutert. So enthält betriebswirtschaftliche Standardsoftware wie das System SAP R/3 eine Vielzahl von

Festlegungen über Abläufe, Stammdaten, Nutzung von Funktionen o.ä. [Hufg99, S.425ff]. Solange der

Einsatzbereich der Software sich nicht ändert, ist eine sehr dünne Scheibe zum erfolgreichen Betrieb der

Software ausreichend. Aber wenn sich Einsatzbedingungen und Anforderungen ändern, dann kann eine

Anpassung, Reaktion und Wiedererlangen eines zufriedenstellenden Zustandes um so eher erfolgen, je

mehr Wissen darüber zur Verfügung steht, also je dicker die Wissensscheibe hinter der konkreten Ausprä-

gung einer Informationssystemarchitektur ist. Die Darstellung macht auch deutlich, daß bei einem sehr breit

gefächerten Portfolio aus Elementen und Methoden das erforderliche Wissen stark wächst.

Modellierung der Elementebene

Elemente in Informationssystemarchitekturen lassen sich in drei Gruppen unterscheiden:

? Als Softwarekonstruktionselemente werden die von der Informatik zur Verfügung gestellten

Bausteine zur Erstellung von Applikationen bezeichnet. Es kann sich dabei um Programmiersprachen,

Bausteinbibliotheken, Anwendungsentwicklungskomponenten o.ä. handeln.

? Als Softwareintegrationselemente werden proprietäre, standardisierte oder genormte Schnittstellen

zwischen verschiedenen Anwendungssystemen zur Überwindung der Verteiltheit dieser Anwendungs-

systeme bezeichnet.

? Aus der organisatorischen Arbeitsteilung resultiert eine Dispersion von Aufgaben auf mehrere Aufga-

benträger, die innerhalb von Organisationen zusammenwirken. Anwendungssysteme, die zur organisa-

torischen Integration arbeitsteilig tätiger Aufgabenträger beitragen, fallen in diese Gruppe.

Grundsätzlich ist im Sinne der propagierten strukturellen Analogie für jedes Element zu prüfen, inwieweit

die in den vorigen Abschnitten aufgestellten Anforderungen erfüllt sind. Beispielhaft wird diese Prüfung und

Bewertung weiter unten für das organisatorische Integrationselement Workflowmanagementsystem

vorgenommen.

Modellierung der Methodenebene

Die Überprüfung der Anforderungen, die sich aus der Forderung nach Nachhaltigkeit ergeben, erfolgt

neben der Elementebene auch auf der methodischen Ebene. Als weitere relevante Anforderung tritt die

Partizipation, d.h. die Beteiligung von Benutzern und Betroffenen, hinzu. Ansätze zur Behandlung der

Anforderungen von Nutzern finden sich z.B. bei [Geli98, S. 65ff.].

Modellierung der Metaebene

Die oben beschriebene Auflistung von Elementen und Methoden einer Informationssystemarchitektur ist

nicht ausreichend für die Beurteilung der Nachhaltigkeit. Insbesondere der Dynamik des Wandels muß

Rechnung getragen werden. In der Literatur besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß der größte Teil

des Aufwands bei betrieblichen Planungs- und Dispositionssystemen nach dessen Einführung entsteht

[Curt89, S. 7], [Klös95, S. 4], [Müll97, S. 1]. Die Hauptursachen dafür liegen im ständigen Wandel des

internen und externen Umfeldes. Äußere Einflüsse bedingen innere Anpassungen und selbstinitiierte

Verbesserungsmaßnahmen beeinflussen die Unternehmensorganisation. Folglich besteht ständig eine Lücke

zwischen Anforderungen und Zustand der Informationssystemarchitektur [Hufg99, S. 425].

Daher wurde als Metaebene die Beherrschung des zum Umgang mit Elementen und Methoden erforderli-

chen Wissens in das Anforderungsmodell einbezogen. Dieses Wissen läßt sich differenzieren in

? Wissen über Software, z.B. Dokumentation, Ziele zum Einsatzzeitpunkt, Controllingergebnisse

? Wissen über Organisationsstrukturen

? Wissen über Märkte und deren Veränderungen, denn die Veränderungen gehen meist nicht von den

Unternehmen aus, sondern werden durch Markterfordernisse zumindest vorangetrieben.

3.3.4 Berücksichtigung des Lebenszyklus von Informationssystemen

Abb. 3 zeigt konventionelles und durch Nachhaltigkeit geprägtes Vorgehen bei der Anpassung von Appli-

kationen an veränderte Rahmenbedingungen (in Anlehnung an [Ante96, S. 61]).

Abb. 3: Nachhaltigkeit im Lebenszyklus

Während bei einer konventionellen Betrachtung die Informationssystemarchitektur im wesentlichen als

gegeben angesehen wird, setzt eine nachhaltige Betrachtung bereits bei der normativen Wirkung des Archi-

tekturmodells an. So wird vermieden, daß Reparatur- bzw. Kompensationsmaßnahmen erforderlich

werden bzw. aus Kostenrestriktionen sogar eine Duldung des Auseinanderklaffens zwischen Anforderun-

gen und Realisierung hingenommen wird. Während die ökonomische Bewertung des Schadens mit zuneh-

mendem Durchlauf durch das Lebenszyklusmodell zunimmt, verringern sich gleichzeitig die

Einflußmöglichkeiten zur Behebung des Anforderungsdefizites. Verlangt wird daher eine Berücksichtigung

des Lebenszyklusaspektes bei der Modellierung von Elementen und Methoden. Das aus den obigen

Ausführungen resultierende vollständige Bewertungsschema zeigt Abb. 4.

konventioneller Ansatz

WirkungUrsache Schaden

ReparaturKapselung mitOO-Methoden

Add-onsUser Exits

Kompensationweitere Systeme

Mehrfach-aufwand

DuldungVerzicht aufFlexibilität,

Konnektivität

Präventionnachhaltige

Methoden undKomponenten

ökonomische Höhe des Schadens

Potential zur Abwendbarkeit von Schäden

Entwicklung Einführung Nutzung

Abb. 4: Anforderungsmodell nachhaltiger Informationsystemarchitekturen

4 Anwendungsbeispiel Workflowmanagement

In diesem Abschnitt wird anhand eines organisatorischen Integrationselementes von Informationssystemar-

chitekturen, am Beispiel adaptiver Workflowmanagementsysteme, skizziert, wie bereits verfügbare

Elemente bzw. Vorgehensmodelle auf ihre Eignung für den Einsatz in nachhaltigen Informationssystemarchi-

tekturen überprüft werden können. Ziel ist die Anwendung des in diesem Aufsatz vorgestellten

Anforderungsmodells.

Die heute verfügbaren Workflowmanagementsysteme berücksichtigen nur in eingeschränkter Form Anpas-

sungserfordernisse von Seiten der Endbenutzer [Hage97]. Da ein Workflowmanagementsystem proaktiv

steuert, wie mehrere Beschäftigte bei der Erledigung von Geschäftsprozessen zusammenarbeiten, sind

neben den verwendeten Dokumenten vor allem die implementierte Arbeitsverteilung und die koordinie-

rende Ablaufsteuerung Gegenstand der Anpassung.

Der momentan üblicherweise praktizierte Ansatz zur Unterstützung von Geschäftsprozessen durch

Workflowmanagementsysteme verläuft von der Modellierung der Ist-Prozesse über Schwachstellenanalyse

und anschließende Sollkonzeption bis hin zur Verfeinerung der Geschäftsprozeßmodelle in Workflow-Mo-

delle [GaSc95]. Bei erforderlichen Anpassungen werden Rückmeldungen aus der Führungs- oder Ausfüh-

rungsebene an die Geschäftsprozeß- oder Workflow-Modellierer weitergegeben, ein erneuter

Transformationsprozeß beginnt. Dieser Prozeß weist meistens Schnittstellen zwischen unterschiedlichen

Kriterium

Dezentralität

Flexibilität

Dynamik

Strukturanalogie

(Partielle) Autonomie

Selbstorganisation

Selbstähnlichkeit

Wissenshandhabung

Partizipativer Ansatz

Bezug zu nachhaltigen Methoden (bei Elementen)

Bezug zu nachhaltigen Elementen (bei Methoden)

Lebenszykluskonzept

Strukturelle Analogien zu Reorganisationstypen

Autopoiesis

Integration der Informationssystemarchitektur

Modellierungsmethoden und -werkzeugen auf und ist verbunden mit einem großen Kommunikationsbedarf

zwischen verschiedenen Spezialisten. Diese Vorgehensweise kann nur in längeren Zeitintervallen wiederholt

werden und verhindert eine kurzfristige Anpassung der durch Workflowmanagementsysteme unterstützten

Prozesse.

Es ist daher sinnvoll, Möglichkeiten vorzusehen, durch die die Ausführenden der Geschäftsprozesse in die

Lage versetzt werden, die Eigenschaften eines Geschäftsprozesses an die aktuellen Erfordernisse eines

konkreten Falls anzupassen. Als Ansätze zur Flexibilisierung werden unterschieden:

? Modellierung nicht planbarer Teilprozesse zur Laufzeit,

? Prozeßadaption durch Variantenerzeugung und

? Schrittweises Festlegen von Bedingungen zur Durchführung von Adaptionen.

Bei der Modellierung nicht planbarer Teilprozesse zur Laufzeit wird erst zur Laufzeit der Workflow-

Anwendung bestimmt, auf welche Art ein Prozeß bearbeitet werden soll. Unplanbarkeit kann bei den

Geschäftsprozeß-Merkmalen Lösungsweg, Kooperationspartner und Informationsbasis bestehen. Für

unstrukturierte und nicht modellierbare Teilprozesse wird eine nachträgliche Modellierung zur Laufzeit

vorgesehen. Erst wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt, wird die Nachmodellierung dieses Teilprozesses

erforderlich. So können auch solche Teilprozesse, deren genauer Ablauf zum Zeitpunkt der Modellierung

nicht bekannt ist, in die Workflow-Anwendung integriert werden. Voraussetzung ist, daß zum Zeitpunkt

der Modellierung die modifikationsauslösenden Ereignisse und die nachträglich zu spezifizierenden Teile des

Workflows bestimmt werden können.

Bei der Prozeßadaption durch Variantenerzeugung wird anstelle des herkömmlichen top-down-Vorge-

hensmodells zur Workflow-Modellierung ein Ansatz verfolgt, der durch die Erzeugung und Auswertung

von Varianten der Workflow-Modelle zu adaptiven Workflow-Management-Systemen führt. Bei dieser

Alternative sind keinerlei Modellierungskenntnisse seitens des Benutzers erforderlich.

Adaptivität von Workflow-Anwendungen an Änderungen der Aufbau- und Ablauforganisation setzt eine

Erweiterung der Geschäftsprozeßbeschreibungssprache voraus. So muß das Prozeßmodell um Informatio-

nen erweitert werden, wie sie üblicherweise in Organigrammen und Aufgabenbeschreibungen von Unter-

nehmen zu finden sind. Zur Flexibilisierung der Workflow-Bearbeitung sollten dem Benutzer darüber hinaus

Anpassungsmöglichkeiten wie das Überspringen bestimmter Funktionen oder die Wahl eines anderen

Anwendungsprogrammes zur Unterstützung der zu bearbeitenden Funktion gegeben werden. Zudem muß

der Bearbeiter die Möglichkeit haben, bei Bedarf zusätzliche Funktionen oder Teilprozesse einzufügen.

Beim schrittweisen Festlegen von Bedingungen zur Durchführung von Adaptionen wird ein Workflow

als eine Abfolge einzelner Schritte verstanden, wobei jeder Schritt genau zwei Aktivitäten miteinander

verbindet. Diese Verbindung beschreibt den Transfer von Arbeitsergebnissen zwischen diesen Aktivitäten.

Die Sollkonzeption des Geschäftsprozesses bestimmt, ob ein Schritt obligatorisch ist oder abhängig. Ist ein

Schritt abhängig, so wird er nur ausgeführt, wenn vorab festgelegte Bedingungen mit den spezifischen

Eigenschaften des jeweils in Bearbeitung befindlichen Falls vereinbar sind.

Bewertung der Nachhaltigkeit

Die Anforderungen aus struktureller Analogie werden von flexiblen Workflowmanagementsystemen

vollständig erfüllt. Allerdings ist der Grad an Dezentralität abhängig von den eingesetzten Anwendungssys-

temen. Durch die Architektur der adaptiven Workflowmanagementsysteme ist die geforderte Flexibilität

gegeben. Der Anspruch an Reagibilität gegenüber Dynamik wird durch die Möglichkeit, unterschiedliche

Varianten von Prozessen gleichzeitig zu speichern, unterstützt. Strukturanalogie selbst ist durch die Abbil-

dung von Prozessen im Workflowmanagementsystem gegeben.

Autopoietische Anforderungen werden von flexiblen Workflowmanagementsystemen nur schwach erfüllt.

Partielle Autonomie und Selbstorganisation sind höchstens dort erkennbar, wo der Benutzer z.B. zur

Laufzeit die Abarbeitungsreihenfolge festlegen kann. Ansätze zur Verfolgung des Konzepts der Selbstähn-

lichkeit sind nicht erkennbar.

Im Bereich der integrativen Anforderungen bieten Workflowmanagementsysteme gute Ansatzpunkte zur

Wissensgenerierung und -verteilung. Eine Berücksichtigung partizipativer Ansätze ist nicht erkennbar. Eine

Bezugnahme auf nachhaltige Elemente hängt von den im Workflowmanagementsystem integrierten Anwen-

dungen ab. Im Lebenszykluskonzept von Informationssystemarchitekturen können adaptive Workflowma-

nagementsysteme präventiv oder korrektiv eingesetzt werden.

5. Ausblick

Die Wege der klassischen Konstruktion von Informationssystemen zur Lösung begrenzter Problemstellun-

gen werden um eine dynamische Betrachtung der sich wandelnden Organisationsstrukturen in den Unter-

nehmen erweitert. Der revolutionäre Charakter liegt bei der Modellierung nachhaltiger

Informationssystemarchitekturen somit in einer starken Erweiterung der zeitlichen Perspektive. Statt einer

Begrenzung auf die Folge Problemstellung - Konzeption - Konstruktion der Lösung werden organisatori-

sche Veränderungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie die durch sie erforderliche Anpas-

sungsfähigkeit der vorhandenen und zu erschaffenden Bausteine einer Informationssystemarchitektur

betrachtet. Schon aus wirtschaftlichen Gründen ist ein vollständiger Neuaufwurf der unternehmensspezifi-

schen Informationssystemarchitekturen nicht möglich. Ziel der Gestaltung muß es daher sein, Entwicklungs-

pfade zu stärkerer Nachhaltigkeit in diesem Bereich zu eröffnen bzw. zumindest nicht zu verbauen.

Der Beitrag zeigt, daß auf der Basis des vorgestellten Anforderungsmodells über den Einsatz geeigneter

Elemente und Vorgehensmodelle zur Gestaltung nachhaltiger und damit auch flexibler Informationssyste-

marchitekturen entschieden werden kann. Dennoch sind zur Umsetzung der hier skizzierten Vorschläge

noch erhebliche Forschungsanstrengungen zu erbringen.

Literatur

[Ante96] Antes, R.: Präventiver Umweltschutz und seine Organisation in Unternehmen. Wiesbaden 1996

[Betz96] Betzl, K.: Entwicklungsansätze in der Arbeitsorganisation und aktuelle Unternehmenskonzepte -

Visionen und Leitbilder, In: Bullinger, H.J., Warnecke, H.J. (Hrsg.): Neue Organisationsformen im Unter-

nehmen. Ein Handbuch für das moderne Management. Berlin Heidelberg New York 1996, S. 29-64

[Clau98] Clausen, J.: Ziele für das nachhaltige Unternehmen. In: Fichter, K., Clausen, J.: Schritte zum

nachhaltigen Unternehmen. Zukunftsweisende Praxiskonzepte des Umweltmanagements. Berlin Heidelberg

New York 1998, S. 27-44

[Cors88] Corsten, H.: Komponenten und Instrumente der produktionswirtschaftlichen Flexibilität. WISU

17 (1988) 10

[Curt89] Curth, M., Giebel, M.: Management der Software-Wartung. Stuttgart 1989

[GaSc95] Galler, J., Scheer, A.-W.: Workflow-Projekte: Vom Geschäftsprozeßmodell zur unternehmens-

spezifischen Workflow-Anwendung. Information Management 10 (1995) 1, S. 20-35

[Geli98] Gelinas, M. u.a.: Implementierungsqualität gestalten durch Collaborative Organizational Design. In:

Spalink, H.: Werkzeuge für das Change-Management. Frankfurt/Main 1998, S. 65-94

[Habe95] Haber, W.: Das Nachhaltigkeitsprinzip als ökologisches Konzept. In: Fritz, P., Huber, J., Levi,

H.W. (Hrsg.): Nachhaltigkeit in naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Stuttgart

1995, S. 17-30

[Hage97] Hagemeyer, J.; Herrmann, T.; Just-Hahn, K.; Striemer, R.: Flexibilität bei Workflow-Manage-

ment-Systemen. In: Tagungsband zur Software-Ergonomie `97, Stuttgart: Teubner, 1997, S. 179-190

[Hans98] Hansen, H.R.: Wirtschaftsinformatik I. 7. Auflage, durchgesehener Nachdruck Stuttgart Jena

1992

[Hubi95] Hubig, Ch.: Technikbewertung in Unternehmen. In: Deutsches Institut für Fernstudienforschung

(Hrsg): Funkkolleg Technik einschätzen - beurteilen - bewerten, Studienbrief 6, Studieneinheit 19, DIFF

Tübingen 1995

[Hufg99] Hufgard, A., Wenzel-Däfler, H.: Reverse Business Engineering - Modelle aus produktiven

R/3-Systemen ableiten. In: Scheer, A.-W., Nüttgens, M.: Electronic Business Engineering. Berlin Heidel-

berg New York 1999, S. 425-441

[Klös95] Klösch, R., Gall, H.: Objektorientiertes Reverse Engineering - von klassischer zu objektorientier-

ter Software. Berlin Heidelberg New York 1995

[Knof92] Knof, H.-L.: CIM und organisatorische Flexibilität. München 1992

[Krot98] Krotschek, C.: Prozeßbewertung in der nachhaltigen Wirtschaft. Dissertation am Institut für

Verfahrenstechnik der Technischen Universität Graz, Fakultät für Maschinenbau, Graz 1998

[Krys97] Krystek, U., Redel, W., Reppegather, S.: Grundzüge virtueller Organisationen. Elemente und

Erfolgsfaktoren, Chancen und Risiken. Wiesbaden 1997

[Kuar96] Kuark, J.K.: Factors in the Organizational and Technical Development of CIM Strategies and

CIM Systems. Dissertation ETH Zürich 1996

[MaVe87] Maturana, H., Varela, F.: The Tree of Knowledge. Boston 1987

[Müll97] Müller, B.: Reengineering - eine Einführung. Stuttgart 1997

[Rolf98] Rolf. A.: Grundlagen der Organisations- und Wirtschaftsinformatik. Berlin Heidelberg New York

1998

[Sche97] Scheer, A.-W.: Wirtschaftsinformatik. Referenzmodelle für industrielle Geschäftsprozesse. 7.

Auflage Berlin Heidelberg New York 1997

[Schm99] Schmitt, J.: Zwischen zentraler Steuerung der IT und dezentraler Führungsorganisation. Compu-

terwoche 25 (1999) 3, S. 53-54

[Schu93] Schumann, M.: Wirtschaftlichkeitsbeurteilung für IV-Systeme. Wirtschaftsinformatik 35 (1993)

2, S. 167-178

[StHa97] Stahlknecht, P., Hasenkamp, U.: Einführung in die Wirtschaftsinformatik. 8. Auflage Berlin

Heidelberg New York 1997

[Warn93] Warnecke, H.-J.:Revolution der Unternehmenskultur. Das Fraktale Unternehmen. 2. Auflage

Berlin Heidelberg New York 1993