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archithese Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Europa und Kalifornien – Transatlantischer Austausch Julius Ralph Davidson Neue Blicke auf Mies van der Rohe Victor Gruen und die Revolution des Konsums Abba Tor – Ingenieur von Kahn und Saarinen Rudolf Arnheim im Exil O. M. Ungers und die USA Anmerkungen aus dem nächsten Osten Sanierung der HfG Ulm Ken Architekten Mehrfamilienhaus in Zürich Interview Andreas Fuhrimann Gabrielle Hächler 5.2011 Go West

archithese 5.11 - Go West

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ZEITLOS Wenn ein Teppich nicht nur schmuckes Accessoire, sondern modernes Design ist. Wenn seine Ästhetik Räume durchflutetund ein Gefühl von stiller Intimität schafft. Dann steht gewiss der Name TISCA TIARA dahinter. Mit aussergewöhnlichen Materialien undfaszinierenden Strukturen. Für Teppich- und Stoffkreationen von bleibender Schönheit. www.tisca.ch THE TOTAL TEXTILE COMPANY

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Leserdienst 103

architheseInternationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Europa und Kalifornien – Transatlantischer Austausch

Julius Ralph Davidson

Neue Blicke auf Mies van der Rohe

Victor Gruen und die Revolution des Konsums

Abba Tor – Ingenieur von Kahn und Saarinen

Rudolf Arnheim im Exil

O. M. Ungers und die USA

Anmerkungen aus dem nächsten Osten

Sanierung der HfG Ulm

Ken Architekten Mehrfamilienhaus in Zürich

Interview Andreas Fuhrimann Gabrielle Hächler

5.2011

Go West

4 archithese 5.2011

E d i t o r i a l

Go West

Adolf Loos’ Aufenthalt in den USA zwischen 1893 und 1896, der in euphorischen Be­

richten über die Potenziale des «Landes der unbegrenzten Möglichkeiten» seinen

Niederschlag gefunden hatte, verankerte die Faszination USA fest in den Köpfen

von europäischen Architekten – wie etwa Richard Neutra, der 1923 zunächst nach

New York und Chicago aufbrach, bei Frank Lloyd Wright arbeitete, in Los Angeles

auf seinen österreichischen Landsmann Rudolph Schindler traf und schliesslich

dort sein eigenes Architekturbüro eröffnete, das wie kaum ein zweites die Archi­

tektur der Westküste zwischen 1930 und 1970 prägen sollte.

Doch die architektonische Faszination Amerikas setzte früher ein: Sie begann

mit Henry Hobson Richardson, dessen monumentalisierte Neoromanik als erster

eigenständiger Stil des Landes gelten kann und dem noch Sigfried Giedion in

Space, Time and Architecture gebührend Tribut zollte. Als überragende Figur des

transkontinentalen Kulturtransfers ist auch Frank Lloyd Wright zu nennen, dessen

Wasmuth Portfolio 1910 in Deutschland erschien und der nicht nur vor dem Ersten

Weltkrieg die europäischen Architekten in seinen Bann zog, sondern auch in späte­

ren Dekaden. Werner Max Moser oder Ernst Anderegg sind Beispiele von Schwei­

zer Architekten, die Berufsjahre im Büro des amerikanischen Meisters verbrachten.

Doch Amerika lockte auch ausserhalb von Taliesin: Der Ingenieur Othmar Am­

mann war schon 1904 in die Neue Welt ausgewandert, der Architekt William Les­

caze 1920. Der Faschismus der Dreissigerjahre trieb schliesslich eine grosse An­

zahl von mitteleuropäischen Architekten ins Exil. Das vorliegende Heft rückt nicht

die prominentesten Figuren ins Blickfeld, sondern widmet sich in einer Reihe von

Fallstudien Architekten, die hierzulande vergleichsweise unbekannt geblieben

sind und ihrer eigentlichen Entdeckung noch harren.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hielt der transatlantische Kulturtransfer an,

wie am Beispiel von Oswald Mathias Ungers gezeigt werden kann. Die Zeiten der

gezwungenen Emigration sind vorbei – man kann im Zeitalter der Globalisierung

wohl sinnvollerweise von Migration sprechen.

Noch bis 8. Oktober 2011 haben Sie Gelegenheit, die von Martin Steinmann kura­

tierte Jubiläumsausstellung zum beispiel die archithese – 40 jahre, 235 hefte im

Architekturforum Zürich bei freiem Eintritt zu besichtigen.

Redaktion

L. A. Wilshire Boulevard (Foto: Hannes Stiefel)

20 archithese 5.2011

Ken ArchiteKten: MehrfAMilienhAus

in Zürich-unterstrAss

Nachverdichtung auf einem kleinen, zentral

und doch etwas versteckt gelegenen

Grundstück in Zürich: Ein kompaktes Doppel-

volumen ist am Hang entstanden, das mit

einer Prinzipien der Camouflage adaptieren-

den Fassade versehen ist und damit die

Beziehung zur umgebenden Natur sucht.

eine kleine «grüne lunge» inmitten von stadt, in

nächster nähe zum schaffhauserplatz, Zürich-unter-

strass gelegen, versteckt, auf dem stadtplan jenseits

des strassennetzes zu suchen. es ist also nicht ganz

leicht zu finden – wenn man nicht weiss, wohin der

Weg einen führen soll. Dass der neu entstandene

Bau auf diesem hidden place dabei den namen

lindenrinde trägt, ist hinweis und Programmatik

zugleich. hinweis auf die hier und für den stadtraum

ungewöhnliche Pflanzenvielfalt sowie den das Ge-

lände umschliessenden Baumbestand, als dessen

bezugsgebende Grösse die namensverleihende

linde auserkoren wurde. Programmatik, weil es für

die erbengemeinschaft von grosser Bedeutung war,

eben diesen noch angedeutet ländlichen charakter

aufrechtzuerhalten – der vor allem von der Geschich-

te des standorts erzählt: noch vor hundert Jahren

befand man sich hier ausserhalb des stadtraums

und vier Gebäude bildeten auf diesem Gelände einen

hof. Mittlerweile hat die stadt diesen Ort umschlos-

sen. Das Mehrfamilienhaus lindenrinde wird von

konventionellen Doppelhäuser umgeben und grenzt

an den hof der Gesamtschule unterstrass.

natürlich stellt sich dabei die frage, ob, aber

vor allem wie der Versuch, naturhaftigkeit und Ge-

schichtsträchtigkeit zu suggerieren, gelingen kann.

Was in der Presse als «auffallend trotz tarnfarben»

umschrieben wurde, definieren Ken Architekten

selbst als eine Art «camouflagehaftes» Bauen – als

eben jenen Versuch also, den neubau in die umge-

bung und «in den Kontext der natur zu integrieren,

der immer noch den Ort prägt». um die Massivität

des Bauvolumens zu reduzieren und es der Körnig-

keit der nachbarbauten anzugleichen, «schmiegen»

sich nun zwei richtung süden ebenfalls gestaf-

felte Gebäudeteile an den hangverlauf, welcher in

richtung Zürichsee weist. ungefähr einen Meter

beträgt diese höhendifferenz zwischen nord- und

südhaus, und um ungefähre viereinhalb Meter

wurden die beiden Grundrisse gegeneinander ver-

setzt. Durch ein zentrales treppenhaus miteinander

verbunden, finden sich im nördlicher gelegenen

A r c h i t e K t u r A K t u e l l

Im Gewand von Natürlichkeit

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Gebäudekomplex drei Viereinhalb- und eine Drei-

einhalbzimmerwohnung, während das zum see

weisende Volumen über je vier Dreieinhalbzimmer-

wohnungen verfügt. Zentral für die jeweiligen Woh-

nungseinheiten sind je 37 und 40 Quadratmeter

grosse Wohnräume, die aufgrund der zueinander

gestaffelten Grundrisse nicht nur in beiden fällen

nach süden ausgerichtet sind, sondern die mittels

raumhoher französischer fenster auch über dreisei-

tigen lichteinfall verfügen. Daneben gibt es loggien,

welche die Wohnräume nach aussen erweitern – im

einen fall richtung südwesten, im anderen fall

nach südosten, während ausserdem eine gross-

zügige terrasse auf dem südlichen Bau den Blick

richtung see freigibt.

Auffallend macht den in zwei Dimensionen ver-

setzten Bau, der unter Verzicht eines sockels sowie

einer Attika sowie mit den knapp geschnittenen

Grundrissen eine städtebaulich vertretbare Dichte

und relativ pure Gestalt fokussiert – allerdings sei-

ne fassade. Auffällig – oder eben auch unauffällig,

denn lasierte holzlatten gliedern sich, in Analogie

zu den umgebenden Baumstämmen, in vertikale,

unregelmässig wirkende acht und zwölf Zentimeter

breite streifen und umgeben die gesamte Gebäu-

dehöhe des kompakten Baus. insbesondere aber

soll die färbung der latten in hell- und Dunkelgrün

sowie Dunkelbraun in Verbindung mit den ebenfalls

eingefärbten fugen in hellgrün oder Dunkelbraun,

die einem ebenso unregelmässigen rhythmus fol-

gen, auf abstrakte Art und Weise die rinde der auf

dem Gelände machtvoll wachsenden linde zitieren.

Die Analogie der «tarnung» angesichts eines solch

artifiziellen, die färbung und Geometrie der um-

gebenden natur «kopierenden» Gewands ist also

naheliegend.

Obergeschoss

5m0

Eingangsgeschoss Obergeschoss

5m0

Eingangsgeschoss

Obergeschoss

5m0

Eingangsgeschoss

1 Ansicht Zugangsseite (Fotos: Hannes Henz)

2 Gartenansicht

3 Umgebungsplan

4 Schnitt

5 +6 Geschossgrundrisse

Längsschnitt

5m0

34 archithese 5.2011

Text: Lilian Pfaff

Der schon 1923 nach Los Angeles ausgewanderte deutsche

Architekt Julius Ralph Davidson (1889 – 1977), welcher das

Haus für Thomas Mann 1941 baute, aber auch am Case

Study House-Programm beteiligt war, ist weitgehend unbe-

kannt, obwohl er als «ingenious and underrated»1 bezeichnet

wurde. Sein Werdegang ist deswegen interessant, weil er

zum einen im Alleingang und noch vor Richard Neutra an die

Westcoast übersiedelte, zum anderen einige Zeit Anfang der

Dreissigerjahre in Chicago verbrachte.

«A more gemütlich version of the internAtionAl style»

Obwohl sein Werk in Esther McCoys 1984 herausgegebe-

nem Buch The Second Generation integriert wurde, kann er

eigentlich nicht mit seinen fast eine Generation jüngeren

Kollegen Gregory Ain, Raphael Soriano und Harwell Hamil-

ton Harris in eine Reihe gestellt werden. McCoy räumt dies

auch in ihrem Vorwort ein, weiss aber nicht, wo sie Davidson

sonst unterbringen soll,2 denn Davidson war fast gleich alt

wie Neutra, realisierte viele Bauten aber erst Ende der Dreis-

sigerjahre. Er lässt sich aber auch deswegen nicht in die Se-

cond Generation einordnen, weil er «the one designer in the

Julius Ralph Davidson wanderte schon 1923 in die USA aus – früher als die meisten

Berufskollegen, welche die kalifornische Moderne prägen sollten. Aus seinem umfangreichen

Werk ragt insbesondere das Haus für Thomas Mann in Pacific Palisades hervor.

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30s who most elegantly brought the European Modern and

California styles together» war, während die anderen Archi-

tekten fast ausschliesslich den International Style vertraten

und allesamt Mitarbeiter in Richard Neutras Büro waren. Er

ist also neben Neutra und Schindler einzureihen, denn wie

Gebhard bemerkte: «[He] handsomely sum[s] up the ideal

pre-World War II Modern house.»3 So war er auch schon 1930

in der von Pauline Schindler konzipierten Ausstellung Con-

temporary Creative Architects in California4 als einer der

Hauptvertreter der kalifornischen Moderne beteiligt.

Ausbildung in Europa

Davidson wurde in Berlin geboren und hat seinen Erinnerun-

gen nach das Fagus-Werk von Gropius in Alfeld sowie das

Wertheim-Warenhaus in Berlin von Alfred Messel bewun-

dert. Als Jugendlicher hatte er in den Sommerferien durch

Zufall Peter Behrens getroffen, der dem zeichnenden Jungen

schon damals architektonisches Talent bescheinigte. Auf-

grund familiärer Schwierigkeiten – er wuchs bei einem Onkel

auf – konnte Davidson letztlich keine Ausbildung als Archi-

tekt abschliessen, sondern arbeitete mit 19 Jahren für zwei

Jahre bei dem ungarischen Architekten Moritz Hirschler. In

seinen Notizbüchern finden sich Zeichnungen von Möbeln

und Bauten, die er aus Büchern abgezeichnet hatte.

Mit 21 reiste er mit der Modedesignerin Greta Woll-

stein erst nach Schweden, dann nach Belgien und liess sich

schliesslich in London nieder, um bei Frank Stuart Murray

als Zeichner anzufangen. Dieser entwarf Schiffsinneneinrich-

tungen, was Davidson nicht nur lehrte, auf kleinem Raum

viel Stauraum unterzubringen, sondern auch mit indirektem

Licht umzugehen. «This was before the First Wold War when

modern design was shy, but the most provocative of it was

the interiors of linders, usually in the smaller boats, and never

in first cabin. The best design was always in second or third

cabin, very simplified solutions. The experience was invalu-

able for learning space economy and coordination.»5 Durch

seinen englischen Vater war Davidson zweisprachig aufge-

wachsen und konnte darüber hinaus Französisch, sodass er

Gretas wegen noch zwei weitere Jahre in Paris verbrachte,

welche ihn vor allem hinsichtlich der Farbauswahl und Ein-

blicken in den Kubismus prägten. 1914 heirateten sie kurz

vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Berlin, den Davidson

von 1915 bis 1919 als Soldat erlebte. Nach seiner Rückkehr

liess sich das Paar in Berlin nieder und baute 1920 /1921 die

ehemaligen Bedienstetenräume auf dem Dach des Hauses

des Verlegers Ernst Wasmuth in Berlin zur eigenen Wohnung

um. Als die Inflation 1923 in Berlin alles lahmlegte, reisten

sie über New York nach Los Angeles. Hier lebte bereits der

deutsche Architekt Kem Weber, der durch den Bau des von

Bruno Paul entworfenen deutschen Pavillons für die Panama-

Pacific International Exposition während des Ersten Welt-

kriegs in San Francisco hängengeblieben war und sich 1921

in L. A. angesiedelt hatte.

Anfänge in L. A. und International Style

Als Davidson 1923 nach Los Angeles kam, war er zuerst Mit-

arbeiter bei Robert D. Farquhar, dann Assistent bei MGM-Di-

rektor Cedric Gibbons und schliesslich freischaffender Archi-

tekt. Seine ersten Aufträge waren die Innenbeleuchtung des

legendären Nachtclubs Coconut Grove im Ambassador Hotel

(1926) und diverse Geschäftseinrichtungen. Hierfür war Da-

vidson durch seine Arbeit bei Murray prädestiniert, weil er,

wie oben erwähnt, gewohnt war, möglichst viel Stauraum

unterzubringen und den Bewegungsradius der Kunden mit-

einzuplanen. Zudem konnte er Möbel entwerfen und deren

Produktion überwachen. Durch eine Reihe von Arztpraxen,

Läden und Ladenfronten am Wilshire Boulevard – wie dem

Satyr Book Shop, dem Hi-Hat Restaurant oder The Bachelors

(alle 1929) – wurde sein Name bekannt; Publikationen doku-

mentierten Materialbearbeitung und Detailfinesse. Aufgrund

dieser kleineren Aufträge für Innenarchitektur konnte David-

son darauf an der Chouinard School Innendesign unterrich-

ten; ab 1938 war er Lehrer am Art Center. Kem Weber hatte

die Davidsons mit den Schindlers und auch mit Neutras be-

kannt gemacht, woraus sich eine lebenslange Freundschaft

zwischen Greta Davidson und Dione Neutra entwickelte.

1 Wohnzimmer in  Davidsons eigenem Wohnhaus, Barrington Ave, Los Angeles 1947 (Foto: Julius Shul-man, aus: Esther McCoy, The Second Generation, Salt Lake City 1984, S. 3)

2 Läden am Wilshire Boulevard, Los Angeles 1929 (Foto: Willard D. Morgan, aus: Mc Coy, a. a. O. 1984, S. 11)

40 archithese 5.2011

Text: Carsten Krohn

Wer sich die Mühe macht, das gesamte gebaute Werk von

Mies van der Rohe aufzusuchen, wird verblüfft sein. Das, was

man zu sehen bekommt, ist nicht deckungsgleich mit dem

Bild, das durch die Literatur vermittelt wird. Es ist paradox:

je gründlicher die Recherche, desto verzerrter zeigt sich die-

ses Bild. Während sogenannte Meisterwerke immer wieder

aus den gleichen Perspektiven abgebildet werden, wissen

selbst führende Mies-Experten nichts davon, dass es in New

York neben dem Seagram Building noch drei weitere Hoch-

häuser von ihm zu besichtigen gibt. Das hängt möglicher-

weise damit zusammen, dass man sich dafür auf die New-

Jersey-Seite trauen muss – in eine als gefährlich geltende

Gegend. Eine Viertelstunde von der Penn Station entfernt,

stehen sich zwei Apartmentscheiben noch nahezu unverän-

dert gegenüber und demonstrieren, was Mies in einem Inter-

view einmal formulierte: «Oft ist der Raum zwischen diesen

Gebäuden so wichtig wie die Gebäude selbst.»1 In fast einem

Kilometer Abstand steht eine dritte Scheibe, und dazwi-

schen erstreckt sich die Stadt mit Häusern, einer Schule und

einer Kirche. Die mediale Verdrängung dieser Bauten hängt

mit einer allgemein verbreiteten Überzeugung zusammen,

dass ein derartiger Grossformstädtebau abzulehnen ist. Pro-

blematisch erscheint aus heutiger Perspektive, dass hier

identische Wohnräume in alle Himmelsrichtungen weisen,

ohne dass sich die Fenster öffnen liessen. Dennoch zeigt sich

ein grundlegendes Mies-Phänomen: Er schuf meist Gruppen

aus mehreren Baukörpern.

Es sind insbesondere die sehr frühen und die sehr späten

Werke, die von der Mies-Forschung systematisch vernach-

lässigt wurden. Diese Bauten sind unscheinbar. Ein Kritiker

bemerkte zu einem der ersten Häuser treffend: «Heute wür-

den nur wenige Passanten dem Haus mehr als einen flüchti-

gen Blick schenken.»2 Auch wenn das Unscheinbare für Mies

ein Ideal darstellte, trug er auch selbst zur Verdrängung

bestimmter Werkphasen mit bei. Sein Mitarbeiter Sergius

Beobachtungen zu Mies Angesichts einer seit Jahrzehnten

anhaltenden Euphorie um Mies van der Rohe könnte

man von einer gesamthaften Erschöpfung seines Werkes in der

Architekturgeschichte ausgehen. Stattdessen sind einige

realisierte Projekte, insbesondere in den USA, kaum bekannt

oder lange unentdeckt geblieben.

unscheinbares im Fokus

Ruegenberg berichtete, dass er von Mies beauftragt wurde,

sämtliche Zeichnungen der frühen Häusern zu vernichten.

Da Mies, auch nachdem er avantgardistische Manifeste und

radikale visionäre Projekte veröffentlicht hatte, im Büro wei-

terhin konventionelle Häuser baute, wurden diese «Broter-

werbsarbeiten» als künstlerisch unbedeutend eingestuft.

Umso überraschender war es für mich, beim Besuch des

Hauses Mosler in Potsdam festzustellen, dass dieser Bau ein

Meisterwerk darstellt – nicht in stilistischer Hinsicht, son-

dern von der Qualität der Bauausführung sowie der Raum-

wahrnehmung her. In phänomenologischer Hinsicht, also in

Bezug auf die Blickachsen, die Wegeführung und die Atmo-

sphäre, zeigen sich bereits an diesem Bau die Prinzipien sei-

ner «reifen» Architektur.

Während die Fülle von Texten über Mies in Büchern,

Zeitschriften und im Internet immer schneller anwächst,3

wird noch heute behauptet, das erste Mies-Buch von 1947

sei «noch immer die beste Monografie über Mies». Die Un-

terscheidung von wichtigen und unwichtigen Bauten blieb

nicht ohne Folgen. 2009 wurde Mies’ Test Cell des IIT in

Chicago abgerissen. – Auf die Frage, welche Bauten er selbst

für seine «wichtigsten» halte, antwortete er, es «hebt sich

kein einzelnes Gebäude heraus».4 Diese Aussage ernst neh-

mend, habe ich mich auf die Reise gemacht, um das Werk zu

fotografieren.

1 Ludwig Mies van der Rohe, Die neue Zeit ist eine Tatsache, Berlin 1986, S. 12, Übersetzung von Andreas Müller.

2 Peter Blake über das Haus Perls, in: Drei Meisterarchitekten – Le Corbusier, Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright, München 1962, S. 160.

3 Kenneth Frampton, Die Architektur der Moderne – Eine kritische Baugeschichte, München 2010, S. 341.

4 Ludwig Mies van der Rohe, a. a. O. 1986, S. 9.

Autor: Carsten Krohn lebt und arbeitet als Archtektur-historiker und -kritiker in Berlin.

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1 Haus Mosler, Potsdam 1924 – 1926. Das mit Pommelé-Mahagoni furnierte Ankleidezimmer ist als begehbarer Schrank konzipiert. Das hochwertige Material erscheint als ein hineinge-stellter massiver Block. Dieses Haus war jahrzehntelang unzugänglich, da durch den Garten die deutsch-deut-sche Grenze verlief (Alle Fotos: Carsten Krohn)

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2 Arts Club, Chicago 1948 – 1951. Den Umbau des Arts Club of Chicago hat Mies nicht nur bis ins Detail gestaltet, sondern war dort auch selbst Stamm-gast. Da das Werk in der Literatur als zerstört bezeichnet wird, war es umso überraschender, diese Original-treppe zu entde-cken. Sie wurde zerlegt und an anderer Stelle wie-deraufgebaut

54 archithese 5.2011

Kornel Ringli: In einem Vortrag beschrieben Sie einmal die

«ideale Zusammenarbeit» zwischen Architekten und Bau-

ingenieuren und nannten dabei Kriterien wie frühes Ein-

beziehen des Ingenieurs, Aufbau eines Dialogs, Lösungen

gemeinsam erarbeiten. Ihre Idealvorstellung wurde wohl

oft enttäuscht?

Abba Tor: Ja, manchmal. Aber lieber erinnere ich mich an

die gelungenen Kooperationen. Von allen Architekten, mit de-

nen ich zusammenarbeiten konnte, war Louis Kahn derjenige,

dem es am besten glückte, das strukturelle Konzept mit der

Architektur zu vereinen. Viele seiner raffinierten Erfindungen

waren auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen, benötigten

aber viel Entwicklungszeit. Im Mellon Center konnten wir auf

die Leitungen für die Rückluft der Klimaanlage verzichten,

weil es uns gelang, einen Verteilerkanal in die Gebäudestruk-

tur zu integrierten. Bei den Wolfson Center Labs in Tel Aviv

Ein Gespräch mit Abba Tor Der aus Israel stammende Bauingenieur Abba Tor begann seine Karriere

in den Fünfzigerjahren in den USA. Im Gespräch mit Kornel Ringli äussert er sich über die Besonderheiten

seiner Zusammenarbeit mit Louis Kahn und Eero Saarinen.

Der IngenIeur von Kahn unD SaarInen

griffen wir beim Dach auf jene Schalen in der Form einer Rad-

kurve zurück, die Kahn bereits beim Kimbell Art Museum ent-

worfen hatte. Die relativ flache Wölbung führte zu günstigen

Raumproportionen – breiten, aber niedrigen Innenräumen.

Noch wichtiger aber: Die gewählte Schalenkrümmung ver-

teilt das natürliche Licht, das durch eine Aussparung längs

des gesamten Daches eindringt, schön im Innenraum.

Gibt es Beispiele anderer Architekten?

Ein Beispiel ist auch die Assembly Hall an der University of Il-

linois von Harrison & Abramovitz. Hier gelang es zusammen

mit dem Architekten, das Prinzip der Kuppel zu erweitern.

Wir versteiften die 120 Meter breite Schale mit der Bildung

von Falten. Zudem konnten wir dank eines vorgespannten

Betonrings, welcher den Kräfteverlauf optimierte, auf einige

Pfeiler verzichten.

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2

3

Sie haben auch Erfahrungen gemacht, die Sie als be-

schränkte Zusammenarbeit oder gar als Nicht-Zusammen-

arbeit bezeichneten …

Ja, das habe ich. Am einfachsten erkläre ich zuerst die Nicht-

Zusammenarbeit, die einfachste der beiden. Dabei kreuzt der

Architekt beim Ingenieur auf, die fertigen Pläne in der Hand,

und sagt: «Mach, dass es hält – und bitte günstig!» In ande-

ren Worten: «Tu, was ich sage!» Solche Architekten treten

mit einem von vornherein feststehenden Führungsanspruch

auf, als Nachfolger des Baumeisters vergangener Zeiten, der

in Personalunion den Entwurf und die Statik beaufsichtigte.

Während diese Haltung manchmal legitim ist – etwa bei ei-

ner Baugestalt mit äusserst eingeschränktem Gestaltungs-

spielraum –, entspringt sie meiner Meinung nach meist einer

Kombination von Ungeduld, Ignoranz und einem gewissen

Egoismus. Viele Architekten sehen die Gebäudestatik als

lästige Pflicht. Auf der anderen Seite verhalten sich die Bau-

ingenieure mit ihrer wissenschaftlichen Arbeitsweise nicht

selten besonders empfindlich und nehmen von vornherein

eine defensive Haltung ein.

Wie verhält es sich mit der beschränkten Zusammenarbeit? 

Sie ist ähnlich wie die ideale Zusammenarbeit – bis zu je-

nem Punkt, an dem der Architekt den gegenseitigen Be-

fruchtungsprozess beendet und die Gebäudegestalt allein

aufgrund formaler Gesichtspunkte bestimmt, ohne den struk-

turellen Erwägungen des Ingenieurs weiter Beachtung zu

schenken. Auch wenn diese Vorgehensweise – mindestens

aus Sicht des Ingenieurs – weniger befriedigt, funktioniert

die Zusammenarbeit dennoch, sofern die Parteien ehrlich

miteinander sind: Wenn der Ingenieur den Architekten über

die strukturellen und kostenmässigen Folgen seiner äs-

thetisch motivierten Entscheide informiert, kennt letzterer

die Konsequenzen und kann Mehrkosten und gesteigerte

Baukomplexität rechtfertigen. Das erachtete ich stets als

meine Pflicht.

An welches Projekt denken Sie dabei?

Die Zusammenarbeit mit Eero Saarinen verlief so. Er ver-

suchte, den Ingenieur zu verstehen, aber nur bis zu einem ge-

wissen Punkt; dann schwenkte er ab, weil er eine bestimmte

Gebäudeform anstrebte. Beim Vivian Beaumont Theater bei-

spielsweise verwendeten wir für die Tragkonstruktion einen

besonders belastungsfähigen Stahl, sodass der Querträger

der Frontfassade trotz einer Spannweite von dreissig Metern

ziemlich dünn wurde. Saarinen verblendete den Querbalken

1 Eero Saarinen: TWA Terminal, New York; Innenansicht der Haupthalle (Foto: Hubertus Adam)

2 + 3 Mellon Center for British Art, Skiz-zen zum Verhältnis von Konstruktion und Lüftung (© Abba Tor)

64 archithese 5.2011

Text: André Bideau

Ungers traf Anfang 1968 in Ithaca, New York, ein. Es dürfte

ihm nicht vorgeschwebt haben, über ein Jahrzehnt lang an

der Cornell University zu lehren, die Hälfte davon als ein-

flussreicher Department Chair der Architekturabteilung zu

wirken. Dass seine seit 1950 erfolgreiche Baupraxis über ein

Jahrzehnt ruhen würde, konnte er damals ebenso wenig er-

ahnen. Er hatte Westberlin in der Mitte des akademischen

Jahres verlassen und seinen Lehrstuhl an der Technischen

Universität von Mitarbeitern weiterführen lassen. Seine Ab-

reise war die unmittelbare Reaktion auf Ereignisse in Berlin,

die zu einer Politisierung der Studentenschaft geführt hatten

und die Ungers veranlassten, eine von Colin Rowe zuvor aus-

gesprochene Einladung, als Gastdozent in Cornell zu wirken,

anzunehmen. Sein Berufsverständnis als Wohnungsbauar-

chitekt hatte ihn in das Fahrwasser eines inzwischen verru-

fenen «Systems» gebracht, obwohl er als Lehrer in dieser Zeit

immer wieder differenzierte und experimentelle Positionen

Oswald Mathias Ungers und die USA 1967 – 1977 Ungers gilt als eine der wichtigsten Figuren des Architekturdiskurses

in der BRD und prägt, manchmal polarisiert, durch sein Vermächtnis und seine Schüler. Bevor sein hauptsächlich in

Deutschland gebautes Spätwerk eine Verfestigung seiner Ansichten manifestierte, war Ungers vor allem ein Lehrer, dessen

Denkweisen und Projekte den transatlantischen Austausch mit dem akademischen Umfeld der USA wiedergeben.

Die Suche vor Der FeStlegung

vertrat. Als Dekan der Architekturfakultät war ihm nach der

Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967

die Aufgabe zugefallen, die Wellen zu besänftigen.

Ein früher Kritiker des sogenannten Bauwirtschafts-

funktionalismus, vorübergehend Rudolf Schwarz und sogar

dem Expressionismus nahestehend, hatte Ungers durchaus

nach Freiräumen in den systembedingten Zwängen seines

Metiers gesucht – gerade an der TU Berlin, wohin er 1963

als Nachfolger von Hans Scharoun berufen worden war. So

mündete im Dezember 1967 seine Einleitung zum dortigen

Symposium zur Architekturtheorie in der Fragestellung, ob

es eine «immanente Erscheinung des Formalen» gebe, eine

«formale Äusserung, die unabhängig ist von Historie, von

den jeweiligen technischen Mitteln und den gesellschaftli-

chen Bezügen». Ungers verwies insbesondere auf die Be-

sonderheiten im Kontext Westberlins, wo «Kommunen, In-

teressengruppen, Oppositionen» keine «zufällige temporäre

Erscheinung, sondern ein durchaus ernst zu nehmendes

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Phänomen» seien. Es ist bezeichnend, dass einerseits der

mit Gästen wie Sigfried Giedion, Peter Blake, Reyner Ban-

ham und Colin Rowe bestückte Kongress angesichts der

massiven Proteste der Studierenden abgebrochen werden

musste und dass andererseits die Architekturfakultät ab-

gewickelt und in die Fachbereiche für Gesellschafts- und

Planungswissenschaften, Umwelttechnik sowie für Bau-

planung und Fertigung aufgeteilt wurde. Wie an anderen

Schulen hatte sich die Architekturausbildung an der TU Ber-

lin zum Schauplatz einer Gesellschaftskritik entwickelt, die

jegliche architektonische Grundlagenforschung als reaktio-

när bezeichnete, sofern diese nicht gleichzeitig ihre politi-

schen Rahmenbedingungen thematisierte.

Implodierende Städte

Angesichts dramatischer Strukturreformen in der bundes-

deutschen Bildungslandschaft versprach das kleinstädtische

Ithaca ein weniger turbulentes Umfeld. Die Tatsachen, dass

Ungers 1969 die Leitung der Architekturabteilung in Cornell

übernahm und seine Familie nach Ithaca übersiedelte, besie-

gelten seinen Abschied von Berlin. Im gleichen Jahr kam es

in Cornell jedoch zur Besetzung der Mensa durch bewaffnete

afroamerikanische Studenten, denen die Förderprogramme

zu wenig weit gingen. An der Kent State University wurde

1970 eine Anti-Vietnam-Kundgebung von der Armee blutig

beendet. Aber auch inhaltlich war die akademische Idylle

befristet: Persönliche und personalpolitische Entscheide

zerrütteten die anfängliche Allianz mit Colin Rowe, nach-

dem Ungers in seiner Funktion als chairman Abteilung und

Lehrplan in seinem Sinn umgekrempelt hatte. Belastet blieb

das Verhältnis der beiden Europäer in Cornell auch aufgrund

konzeptioneller Differenzen, die zu einer Lagerbildung füh-

ren sollten.

Der Grüne Archipel, das städtebauliche Theorem, zu dem

Ungers im Verlauf seiner Cornell-Jahre gelangen sollte, un-

terscheidet sich diametral von Colin Rowes Collage City. Die

Prämisse, derzufolge die schrumpfende, postindustrielle

Stadt als ein Territorium fragmentierter, komplementärer

Orte zu begreifen ist, basiert auf entwerferischen Erfahrun-

gen, in denen Ungers Elemente seiner bisherigen Arbeit zu

verarbeiten verstand. Insofern relativiert sich die Bedeutung

des mit dem Weggang aus Berlin entstandenen Bruchs. Auch

in den Siebzigerjahren blieb Westberlin das Labor, in dem

OMU seine entwerferischen Thesen erprobte. Wie der Grüne

Archipel später zeigte, scheint sich mit der amerikanischen

Distanz der Charakter von Berlin als ein Resonanzraum für

entwerferische Spekulation sogar verstärkt zu haben. Ent-

scheidend für diese konzeptionelle Zuspitzung ist die Über-

lappung der Lehrtätigkeit Ungers’ an der TU Berlin und in

Cornell. Hier spielten die ab 1965 von seinem Lehrstuhl pub-

lizierten Veröffentlichungen zur Architektur auch nach dem

Weggang des Lehrstuhlinhabers eine wichtige Rolle, da Un-

gers von Ithaca aus weitere Untersuchungen in die Reihe

einspeiste. Doch im Lauf seiner Abwesenheit veränderte

sich allmählich die Beziehung zwischen theoretischen Kon-

zepten und urbanen Räumen. Die sich auf die Innenstädte

niederschlagenden politischen und ökonomischen Verände-

rungen sowie ein allgemeiner Ausdifferenzierungsprozess,

der die bundesdeutsche Gesellschaft erfasst hatte, wirkten

sich jeweils auf die Handlungsräume der Planung aus. In

seiner Abwesenheit von der Baupraxis konstruierte Ungers

eine Theorie, die ihm bei der beruflichen Repositionierung in

diesem neuen Dispositiv behilflich sein sollte.

Welchen Nährboden für ein neues Berufsverständnis bo-

ten die USA im Schicksalsjahr 1967 angesichts der Krise des

Massenwohnungsbaus? – Als einer der Mitverantwortlichen

des Märkischen Viertels, «des Prügelknaben des Deutschen

Wohnungsbaus» , mit der sich fortan eine Flut von Publikati-

onen und Seminaren, gerade an der TU Berlin, auseinander-

setzte, sah sich Ungers veranlasst, die eigene Praxis zu über-

denken. Von Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit wurde

er als einer der namhaften Entwerfer der Berliner Grosssied-

lung so diffamiert wie damals auch die Allianz zwischen tech-

nokratischen Planern und Bau- und Immobilienwirtschaft.

In seinem Interview im Spiegel von 1969 suggerieren Auf-

nahmen des parallel zur Berliner Lehrtätigkeit realisierten

Märkischen Viertels eine unüberbrückbare Kluft zwischen

dem gebauten Alltag des westdeutschen Sozialstaats und

einem verwissenschaftlichten Architekturbetrieb. Nichts-

destotrotz galt Ungers als einer der «progressiv gesonne -

nen Professoren», der zur Lage der deutschen Hochschulen

dem Spiegel einräumt: «Wir stehen vor einem Dilemma, aus

dem wir noch keinen Patentweg wissen.»

Jasper Cepls Darstellung dieser Übergangsphase hat

Licht auf die thematischen Überlappungen geworfen. So

liess der Weggang von Berlin Ungers sein konzeptionelles

Interesse an Grossplanungen vorerst nicht verlieren. Im Ge-

genteil – Wettbewerbsbeteiligungen sowie der Vergleich sei-

ner Forschungstätigkeit zwischen Berlin und Cornell belegen,

dass Ungers den territorialen Massstab architektonischer

Konzepte damals nicht preisgab. Ungers erwies sich der be-

reits 1966 von Vittorio Gregotti in Il territorio dell’architettura

geforderten radikalen Ausweitung des Architekturbegriffs

verpflichtet. Eine Studie wie Berlin 1995 radikalisierte den

territorialen Bezug sogar noch. Berlin 1995, als Experiment

1969 an der TU durchgeführt, entwickelt Planungsmodelle

für eine Fünfmillionenstadt im Übergang zu den siebziger

Jahren. Als Entwurfsaufgabe wird das gesamte Territorium

Berlins als System zur Diskussion gestellt und als «Feld ei-

nander überlagernder Bezugsstrukturen» bearbeitet. Auf

einem 720 x 720-Meter-Raster basierend, entstehen unter-

schiedliche städtische Systeme, mit denen die Studenten

Bebauungsstrukturen für jeweils fünf Millionen Einwohner

entwickeln. Die im selben Jahr als Heft 25 der Veröffent-

lichungen zur Architektur publizierte Studie kann – wenn-

gleich dystopisch – als Höhepunkt eines morphologischen

Megastrukturalismus gesehen werden, zugleich kann darin

eine plakative Anwendung des territorialen grid gesehen

werden, mit dem Ungers in den USA konfrontiert ist.

Die zeitgenössischen Probleme der deutschen Städte ver-

blassen im Licht des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen

Verfalls, der seit Mitte der Sechzigerjahre zahllose ameri-

1 Schwer bewaff­nete afroamerikani­sche Studenten verlassen die Willard Straight Hall an der Cornell University in Ithaca, N. Y., am 20. April 1969. Die Studenten hatten sich unter der Führung von Ed Whitfield, ganz rechts im Bild, im Gebäude verbarri­kadiert, um ein anerkanntes African American Studies Program einzu­fordern. Der 36 Stunden dauernde Protest führte zur Eröffnung des Africana Studies and Research Center an der Cornell University. Ungers war Zeuge der Proteste (Fotos 1 + 4: Key-stone/AP Photo/Steve Starr)