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ARGUMENTE 4/2011 Marx heute Teil 2

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ARGUMENTE4/2011Marx heute Teil 2

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ARGUMENTE4/2011Marx heute

Teil 2

Impressum

Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-ParteivorstandVerantwortlich Sascha Vogt und Jan BöningRedaktion Simone Burger, Matthias Ecke, Ralf Höschele, Thilo Scholle, Jan Schwarz, Robert SpönemannRedaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesbüro, Willy-Brandt-Haus, 10911 BerlinTel: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.deVerlag EigenverlagDruck braunschweig-druck GmbH

Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

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2 Inhalt Argumente 4/2011

INHALT

Intro .......................................................................................................................... 4Von Matthias Ecke, Thilo Scholle und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion

Magazin

Perspektiven für eine sozial gerechte und gesamtwirtschaftlich effiziente Politik in Europa ....................................................................................................... 6Von Fabian Lindner und Till van Treeck, Institut für Makroökonomieund Konjunkturforschung (IMK)

Prekäres Leben – nicht mit uns! ..............................................................................12Von René Rudolf, DGB-Bundesjugendsekretär

Generation Zukunft – Phrase oder Phase ..............................................................17Von Maike Eckel, Vorsitzende des Bundesjugendwerks der Arbeiterwohlfahrt

Schwerpunkt

Marxismus und Menschenrechte … ...................................................................... 22Von Andreas Fisahn, Professor für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht, Rechtstheorie, Universität Bielefeld

Integraler Staat, Hegemonie und Philosophie der Praxis – der MarxismusAntonio Gramscis … .............................................................................................. 29Von Matthias Ecke, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender

Marx und die internationale Politik ....................................................................... 34Von Benno Teschke, Senior Lecturer für Theorien Internationaler Beziehungen an der University of Sussex

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Marxistische Theorie, ökologische Krise und sozial-ökologische Transformation ....................................................................................................... 41Von Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien

Marx und die Religion – eine aktuelles Thema? ................................................... 48Von Rosemarie Will, Professorin für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtstheorie, Humboldt-Universität Berlin

Die kritische Theorie und der Kampf um eine radikale Demokratie ................... 52Von Rainer Winter, Professor für Medien- und Kulturtheorie an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt

Wieso Post-Marxismus? ........................................................................................ 57Von Martin Nonhoff, Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen

Kleine Leseliste ...................................................................................................... 62Von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied im Juso-Bundesvorstand

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MARXISMUS UND MENSCHENRECHTEVon Andreas Fisahn, Professor für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht, Rechtstheorie, Universität Bielefeld

Schwerpunkt

Über Marxismus und Menschenrechtezu schreiben, scheint geradezu ver-messen angesichts der Fülle an Litera-tur, die sich aus sehr unterschiedlichenPerspektiven mit dieser Frage be-schäftigt hat. Es gibt allein zwei Schrif-ten mit genau demselben Titel. Schon1949 hat der Linkssozialist und zu denführenden Mitgliedern des Marxisti-schen Arbeitskreises der Berliner SPDgehörende Willy Huhn1 einen Aufsatzso überschrieben, in dem er sich mitder These von Hans Leisegang ausein-andersetzt, dass die „tieferen Gründefür die menschenunwürdigen Zustän-de“ in der UdSSR letztlich auf die „Kri-tik und Ablehnung der ... Menschen-rechte durch Karl Marx“zurückzuführen sei - eine Argumentati-onsfigur, die insbesondere nach demZusammenbruch der sich selbst als„realsozialistisch“ bezeichnendenStaaten gern wieder verwendet wird:„Im Grunde war der ganze Schlamas-sel schon bei Marx vorgedacht“, laute-

te kurz die bekannte These, die wegenihrer Popularität beantwortet werdenmuss.

Willy Huhn führt gegen den christlichenPhilosophen Leisegang ins Feld, dass Mar-xens Argumentation in „Zur Judenfrage“gerade darauf zielt, die Religionsfreiheit alsElement der Menschenrechte zu akzeptie-ren. Aber Marx bleibe dabei nicht stehen.Er unterscheidet zwischen droit du citoy-en, also Staatsbürgerrechte und droit del’homme, die er als Rechte des Bürgertumscharakterisiert. Das Problem liege nun dar-in, dass die droit de l’homme dem bürger-lich liberalen Menschenbild entspringen,das die menschliche Freiheit nur als einedes vom Gemeinwesen getrennten egoisti-schen Menschen begreifen könne. WillyHuhn schreibt dazu: „Für den wahren und

1 Näheres zu Willy Huhn und dem weiteren Wirken von Linkssozialisten in der SPD der 50erJahre: Kritidis, Gregor, Linkssozialistische Oppo-sition in der Ära Adenauer, 2008, S. 172 ff.

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eigentlichen Menschen gilt also nicht derStaatsbürger, das zoon politikon, sondernder Bourgeois, der homo oeconomicus. ...Dieser wird nun als Mitglied der bürgerli-chen Gesellschaft die Grundlage und Vor-aussetzung des modernen bürgerlichenStaates. Die Anerkennung dieser Monadeerfolgt in den Menschenrechten der bür-gerlichen Revolutionen.“ Die Menschen-rechte, fährt Huhn fort, werden in der bür-gerlichen Gesellschaft, wenn es der Machtrichtig scheint, anstandslos durchbrochen,was 1949 nicht bewiesen werden musste.Insofern sei der Bolschewismus nur dieVollendung des autoritären Zuges der bür-gerlichen Gesellschaft, er stelle „nur diemoderne Form des französischen Jakobi-nismus dar, der praktisch auch schon denStaatsbürger über das Individuum stellte.Im stalinistischen Polizeistaat ist aber dieliberale Ausnahme zur totalitären Regelgeworden.“2 Damit steht es, folgt manHuhn, in dieser Frage zwei zu null.

Die Überheblichkeit der sich selbst alsgeschichtliche Sieger deklarierenden bür-gerlichen Gesellschaft - das kann sich of-fenbar schnell ändern - ist alles andere alsberechtigt und vergisst die Unmenschlich-keit ihrer Vollstrecker von Nazideutschlandüber südamerikanische Diktaturen bis Guantanamo.

Auch Hermann Klenner, der großeRechtsphilosoph der DDR, legte 1982 einumfangreiches Werk mit dem Titel „Mar-xismus und Menschenrechte“ vor. Darinverfolgt er die These, dass die Menschen-rechte einen bedeutenden Fortschritt inder Geschichte der menschlichen Gesell-schaft dargestellt hätten, sie aber gleich-wohl in der bürgerlichen Gesellschaft „nur“oder - neben ihrem emanzipatorischen

Gehalt - auch Klassenrecht gewesen seien.Im nicht leicht verdaulichen Duktus derDDR knüpft Klenner zunächst ebenfallsan Marx Schrift zur Judenfrage an undrechnet dieser das Verdienst zu, nachge-wiesen zu haben, dass „bei den Menschen-rechten ... sich Wort und Wesen notwendigin den Haaren liegen, weshalb die Regie-renden die vorgeblichen Menschenrechteauf einen ihren jeweiligen Klasseninteres-sen gemäßen Inhalt zu reduzieren unter-nehmen.“3

Dann zeigt er mit einer Fülle von Quel-len - implizit gegen die Herrschenden derDDR -, dass sich die „proletarische Bewe-gung“ immer auch auf die Menschenrechteberief, ihre Umsetzung auf die Fahnen ge-schrieben hatte. Marx und Engels hättengewusst, mit wem sie es zu tun hatten, alssie 1847 dem „Bund der Gerechten“ beitra-ten, die „mit der Zauberformel liberté, èga-litè, fraternité die Welt aus den Angeln he-ben wollten.“4

Einstweilen habe diese Formel ausge-reicht, aber Marx habe darauf bestanden,dass die ökonomischen Verhältnisse umge-worfen werden müssen, um eine wirklicheEmanzipation des Menschen zu erreichen.Der junge Marx habe genial erkannt, dass„weder die buchstabengetreue Verwirkli-chung ... der Menschenrechte von 1776/89noch die Erfindung neuer nun endlich

2 Huhn, Willy, Marxismus und Menschenrechte:http://raumgegenzement. blogsport.de/2010/03/31/felix-klopotek-willy-huhn-underdog-gegen-grossbuerger-2010/ (24.10.2011).

3 Klenner, H., Marxismus und Menschenrechte,(Berlin 1982), S. 70.

4 Klenner, H., Marxismus und Menschenrechte, S. 82.

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wirklicher Menschenrechte ... die Antago-nismen der Klassengesellschaft, die im Pri-vateigentum an den Produktionsmittelnwurzelnde Entmenschung durch denMenschen aufheben“ können.5 Der Ant-agonismus könne nur durch eine sozialeRevolution überwunden werden - aber waspassiert mit den Menschenrechten in dersozialen Revolution? Klenner muss kryp-tisch formulieren6 und liefert nun einenAbschnitt über den Einfluss von Hegel aufMarx - es lässt sich folgern: Bei dialekti-schem Denken wird der Fortschritt, dendie Menschenrechte gebracht haben, auchin der sozialen Revolution aufgehoben,dass heißt überwunden und bewahrt wer-den.

Marx und Engels kritisieren einerseits,dass die bürgerliche Gesellschaft ihre eige-nen Versprechen nicht einlöst.7 Sie kritisie-ren die Menschenrechte als „nur“ bürger-lich, loben sie gleichzeitig alsgeschichtlichen Fortschritt, verteidigen siegegen die Missachtung in der repressivenPraxis.8 Sie fordern das Recht auf Presse-freiheit, Versammlungsfreiheit usw. zu-sammen mit dem allgemeinen Wahlrecht,um die Bedingungen des politischenKampfes für die Arbeiterbewegung zu ver-bessern. Und sie wissen, dass es genau die-se Freiheiten sind, die der bürgerlichenGesellschaft gefährlich werden können.9

Und sie fordern selbstverständlichSchutzrechte für die arbeitenden Klassen,etwa die acht Stunden Bill - so alt wie dieForderung ist, so schlecht steht es um denacht Stunden Tag wieder im neoliberalenKapitalismus.

Das eigentliche Verdienst der „Klassiker“liegt aber wohl darin, dass sie die

5 Klenner, H., Marxismus und Menschenrechte, S. 84.

6 Er formuliert implizit eine Kritik am Menschen-rechtsverständnis der DDR, die gepaart ist undschmackhaft für die Herrschenden dort wirddurch einen Angriff auf die Wertejudikatur bun-desdeutscher Gerichte, die Berufsverbote recht-fertigte und sich die wehrhafte Demokratie aufdie Fahnen schrieb, die deshalb auch von derWestlinken scharf angegriffen wurde. Die DDRwar genauso wenig ein monolithisches Gebildewie es der Staat der BRD ist.

7 So schreibt Engels: „Wobei es für den spezifischbürgerlichen Charakter dieser Menschenrechtebezeichnend ist, dass die amerikanische Verfas-sung, die erste, welche die Menschenrechte aner-kennt, in demselben Atem die in Amerika beste-hende Sklaverei der Farbigen bestätigt: dieKlassenvorrechte werden geächtet, die Racenvor-rechte geheiligt“ (Engels, Anti-Dühring, MEW20, S. 98).

8 Marx schreibt auf der anderen Seite in seinemGratulationsschreiben zur Wiederwahl von Abra-ham Lincoln: „Als die Oligarchie der 300000Sklavenhalter zum erstenmal in den Annalen derWelt das Wort Sklaverei auf das Banner der be-waffneten Rebellion zu schreiben wagte; als aufdem selbigen Boden, dem kaum ein Jahrhundertvorher zuerst der Gedanke einer großen demokra-tischen Republik entsprungen war, von dem dieerste Erklärung der Menschenrechte ausging undder erste Anstoß zu der europäischen Revolutiondes 18. Jahrhunderts gegeben wurde; als auf die-sem selbigen Boden die Kontrerevolution“ los-schlug, „da begriffen die Arbeiter Europas sofort,... dass die Rebellion der Sklavenhalter die Sturm-glocke zu einem allgemeinen Kreuzzug des Ei-gentums gegen die Arbeit läuten würde.“ (Marx,„Über die USA und den Sezessionskrieg“MEW16, S. 18 f ).

9 So schreibt Engels: „Die Bourgeoisie kann ihrepolitische Herrschaft nicht erkämpfen, diese poli-tische Herrschaft nicht in einer Verfassung und inGesetzen ausdrücken, ohne gleichzeitig dem Pro-letariat Waffen in die Hand zu geben. ... Konse-quenterweise muss sie also das allgemeine, direkteWahlrecht, Preß-, Vereins- und Versammlungs-freiheit und Aufhebung aller Ausnahmsgesetzegegen einzelne Klassen der Bevölkerung verlan-gen. Dies ist aber auch alles, was das Proletariatvon ihr zu verlangen braucht.“ (Engels: Die preu-ßische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpar-tei, MEW 16, S. 76).

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Homologie10 zwischen kapitalistischerProduktionsweise und Recht, speziell denMenschenrechten, aufzeigen. Das Rechtformuliert die Bedingungen der Produk-tionsverhältnisse, folgt diesen, sichert sieab, schreitet voran oder hinkt ihnen hinter-her.

Das Recht ist keineswegs immer aufder Höhe der Zeit, also nicht simple Wi-derspiegelung der ökonomischen Verhält-nisse, aber die Grundstrukturen des Rechtsweisen einen Gleichklang zu den Bedin-gungen der materiellen Produktion undZirkulation in einer Gesellschaft auf. Marxbezieht die Menschenrechte direkt auf dieZirkulationssphäre, wenn er schreibt: „DieSphäre der Zirkulation oder des Warenaus-tausches, innerhalb deren Schranken Kaufund Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt,war in der Tat ein wahres Eden der ange-bornen Menschenrechte. Was allein hierherrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum... . Freiheit! Denn Käufer und Verkäufereiner Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nurdurch ihren freien Willen bestimmt. Siekontrahieren als freie, rechtlich ebenbürti-ge Personen. Der Kontrakt ist das Endre-sultat, worin sich ihre Willen einen ge-meinsamen Rechtsausdruck geben.Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur alsWarenbesitzer aufeinander und tauschenÄquivalent für Äquivalent. Eigentum!Denn jeder verfügt nur über das Seine.“11

Hier knüpft Eugen Paschukanis (1892-1937) in seinem Hauptwerk „AllgemeineRechtslehre und Marxismus“ (1923) ausder Perspektive der linken Opposition ge-gen Stalin an. Gegen dessen Order vertrater die Auffassung, dass es in der UdSSRnicht darum gehen könne, ein spezifischsozialistisches Recht zu entwickeln. Ähn-lich wie beim Staat folge aus der marxisti-schen Perspektive, dass das Recht als ty-

pisch bürgerliche Form der Vergesell-schaftung im Sozialismus absterben werde.Sieben Jahre später wurde Paschukanis ge-zwungen, wesentliche Elemente seinerTheorie zu widerrufen, weitere sieben Jah-re später gehörte er zu den „zur Millionen-schar anwachsenden Opfern des stalinisti-schen Mordterrors.“12

Paschukanis Argumentationsfigur ist ein-gängig. Die freien und gleichen Rechts-subjekte können in einer Waren produzie-renden Gesellschaft nicht selbst über denformell korrekten Äquivalententausch wa-chen. Von einem marktförmigen Waren-austausch lasse sich nicht sprechen, wenneine der Parteien von der anderen direktzum Vertragsabschluss gezwungen oder -noch deutlicher - schlicht mit Gewalt aus-geraubt werde. Das Recht schaffe die Vor-aussetzungen des Warenaustausches undsichere diesen gleichzeitig ab, z.B. gegenWucher, Verzug oder Schlechtleistung. Pa-schukanis schreibt: „Die Entwicklung desRechts als System wurde nicht durch dieErfordernisse des Herrschaftsverhältnisseserzeugt, sondern durch die Erfordernissedes Handelsverkehrs mit gerade solchenVölkerschaften, die noch nicht durch eineeinheitliche Machtsphäre erfasst wer-den.“13 Das richtet sich offensichtlich ge-

10 Homologie wird im Sinne Pierre Bourdieus alseine „Vielfalt in Homogenität“ verstanden. D.h.,dass trotz der Vielfältigkeit eine prinzipielle Ähn-lichkeit bestehe. Dies resultiere daraus, dass „jedesSystem individueller Dispositionen [...] einestrukturelle Variante der anderen Systeme [...]“bilde (Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn. Kritik dertheoretischen Vernunft, 1987, S. 113).

11 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 189.12Klenner, H., Zur vorliegenden Ausgabe von Pa-

schukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxis-mus (Freiburg/ Berlin) S. 230.

13Paschukanis, E.. Allgemeine Rechtslehre undMarxismus, S. 88.

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gen die Primitivorthodoxie, die in allerSchlichtheit das Recht zum Willen undden Staat zum Instrument der herrschen-den Klasse erklärt. Dann kommt es nurnoch darauf an, wer gerade die herrschendeKlasse ist.14

Die reale Voraussetzung für den Todder Rechtsform, d.h. für das überflüssigWerden des Rechts, ist nach Paschukanisdie sozialistische Gesellschaft, die keineWaren produzierende Gesellschaft sei, d.h.„ein Zustand der Gesellschaft, in dem derWiderspruch zwischen individuellen undgesellschaftlichen Interessen überwundenist.“15 Aber: Ist ein solcher Zustand vor-stellbar? Selbst wenn er vorstellbar ist, wäreer wünschenswert? Wäre das nicht derAlptraum einer uniformen Gesellschaft?Wie werden die Widersprüche zwischenindividuellen Interessen geregelt - wennnicht rechtlich? Oder fallen diese auchweg? Hier könnte man einfach sagen:„Schaun wir mal“, aber selbstverständlichsind mit der Rechtsformanalyse strategi-sche Implikationen verbunden. WennRecht die spezifische Form der bürgerli-chen Vergesellschaftung ist, scheint erstenseine radikal-reformerische Perspektive, diesich auf das Recht als Instrument der ge-sellschaftlichen Steuerung stützt, ausge-schlossen. Zweitens: Das Verhältnis zu denMenschenrechten gerät taktisch und nichtprinzipiell.

Ernst Bloch antwortet auf die Miseredes „real existierenden Sozialismus“ kon-trär zu Paschukanis. Im Jahre 1961 er-scheint sein Buch „Naturrecht undmenschliche Würde“, im gleichen Jahrwird die Mauer gebaut und Ernst Blochkehrt nach einer Reise in den Westen nichtmehr zurück in die DDR, nach dem Siegüber den Faschismus seine Wahlheimat.Den Machthabern der DDR schreibt er

gleichsam ins Stammbuch; er sei „voll Ge-wissheit: Es gibt sowenig menschlicheWürde ohne Ende der Not, wie menschli-ches Glück ohne Ende alter oder neuerUntertantätigkeit.“16 Gegen die Untertan-tätigkeit helfe nicht das Absterben desRechts, sondern vielmehr die Ausstattungder Menschen mit subjektiven Rechten ge-gen die Macht. Dazu sei eine Verbindungvon Sozialutopie mit dem Gehalt derMenschenrechte erforderlich. Letzterehätten die Sozialutopien aus den Augenverloren.

Bloch unterscheidet zwischen absolu-tem und relativem Naturrecht. Letztereslieferte die Legitimation für Herrschaft,rechtfertigte Ausbeutung und den Unter-schied von Herren und Knecht als naturge-geben oder -notwendig. Im absoluten Na-turrecht hingegen seien - der jeweiligenhistorischen Situation entsprechend - Zu-stände der Befreiung, der Beseitigung von

14 Das Recht sei ebenso wie der bürgerliche StaatProdukt der kapitalistischen, Waren tauschendenGesellschaft, der sich - im Unterschied zu voran-gegangenen Gesellschaften - durch die Besonde-rung der politischen Macht von der sozialenMacht auszeichnet, also durch die Herausbildungeines spezifischen politischen Apparats, der vonden herrschenden Klassen getrennt ist. Ebensowie die Rechtsform, meint Paschukanis, lasse sichder Staat aus dem Warentausch „ableiten“. Dieden korrekten Warentausch regelnden Normenbedürften der Überwachung durch einen „neutra-len“ Dritten, sie werde bei einer von der Gesell-schaft separierten öffentlichen Instanz, dem Staat,angesiedelt. An diese Überlegungen knüpfte inden 1970er Jahren mit der ersten Renaissance desMarxismus die sog. Ableitungsdebatte an, bei derRechtsform und Staatsform in den Mittelpunktdes Interesses rückten, nicht der besondere Inhaltdes Rechts.

15 Paschukanis, E., Allgemeine Rechtslehre undMarxismus, S. 100.

16 Bloch, E., Naturrecht und menschliche Würde(Frankfurt/M. 1977), S. 14/ 237.

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Herrschaft vorausgedacht, um diese zu er-kämpfen. Sozialutopie und absolutes Na-turrecht unterscheidet Bloch folglich so:„Die Sozialutopie ging auf menschlichesGlück, das Naturrecht auf menschlicheWürde. Die Sozialutopie malte Verhältnis-se voraus, in denen die Mühselig und Bela-denen aufhören, das Naturrecht konstruiertVerhältnisse, in denen die Erniedrigtenund Beleidigten aufhören.“17 Dieses Vor-scheinen menschlicher Verhältnisse imNaturrecht rekonstruiert Bloch in einemGang durch die Geschichte des philoso-phisch, revolutionären Denkens. Das heißt,er entwirft eine Fortschrittsgeschichte desNaturrechts, das in unterschiedlichen Epo-chen anders argumentiert, auf die jeweili-gen Konflikte und Kämpfe der Epocheantwortet, wobei das naturrechtliche Den-ken die Fortschritte der je vorangegange-nen Epochen überwindet, bewahrt undgleichzeitig weiter entwickelt.

Bloch kommt so zu einem sozialisti-schen Naturrecht, das die Inhalte desemanzipatorischen, absoluten Naturrechts,d.h. auch das zu bewahrende Erbe des „al-ten“, bürgerlichen Naturrechts auf eine hö-here Stufe hebt. Das geht so: „War es nichtzuletzt ein Vermächtnis von Freiheit,Gleichheit, Brüderlichkeit, das Rosa Lu-xemburg ganz actualiter sagen ließ: ‚KeineDemokratie ohne Sozialismus, kein Sozia-lismus ohne Demokratie’.“18 Und es bleibedas „Postulat menschlicher Würde“, dasBloch in der sozialistischen Tradition sofortschreibt: Denn „auch der Mensch,nicht nur seine Klasse hat, wie Brecht sagt,nicht gern den Stiefel im Gesicht, und dasBleibende am Naturrecht gab dieser Ab-neigung, einer schon seit Spartacus revolu-tionären, begriffliches, ob auch noch ab-straktes Format.“ Und weiter bleibt alseigenes Erbe des revolutionären Natur-

rechts das Postulat der „Aufhebung allerVerhältnisse, in denen der Mensch mit denDingen zur Ware entfremdet wird undnicht nur zur Ware, sondern zur Nullität anEigenwert.“19 So ergibt sich die „sozialisti-sche Rechtsnorm ... als die pro rata kodifi-zierte Solidarität zur Herstellung einesökonomisch-politischen Zustandes“,20 fürden gilt: „Keine wirkliche Installierung derMenschenrechte ohne Ende der Ausbeu-tung, kein wirkliches Ende der Ausbeutungohne Installierung der Menschenrechte.“21

Schließlich: „Das letzte subjektive Rechtwäre so die Befugnis, nach seinen Fähig-keiten zu produzieren, nach seinen Bedürf-nissen zu konsumieren; garantiert wird die-se Befugnis durch die letzte Norm desobjektiven Rechts: Solidarität.“22

Das heißt nicht, dass Bloch meint, die „Er-findung neuer nun endlich wirklicherMenschenrechte“ (Klenner) mache die so-ziale Revolution überflüssig, aber deutli-cher als Klenner betont er die Verbindungvon Menschenrechten und Sozialutopie,um den Untertanengeist und mit ihm dieHerren, die er in der DDR kennen gelernthatte, in die Schranken zu weisen. In die-sem Sinne gehören Menschenrechte undMarxismus zusammen, denn ohne sozialeUmwälzung bleiben die bürgerlichenMenschenrechte immer fragil, ohne Men-schenrechte droht die soziale Revolution in

17 Bloch, E., Naturrecht und menschliche Würde, S. 13.

18 Bloch, E. Naturrecht und menschliche Würde, S. 227.

19 Bloch, E., Naturrecht und menschliche Würde, S. 232.

20 Bloch, E., Naturrecht und menschliche Würde, S. 259.

21 Bloch, E., Naturrecht und menschliche Würde, S. 13.

22 Bloch, E., Naturrecht und menschliche Würde, S. 252

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28 Marxismus und Menschenrechte Argumente 4/2011

eine „Diktatur im bürgerlichen Sinne“(Luxemburg) zu degenerieren. Das könnteder Zeitpunkt sein, zu dem der Menschseine individuellen Kräfte „als gesellschaft-liche Kräfte erkannt und organisiert hatund daher die gesellschaftliche Kraft nichtmehr in der Gestalt der politischen Kraftvon sich trennt, erst dann ist die menschli-che Emanzipation vollbracht,“23 was ebennicht heißt, dass das Individuum im Staatverschwindet, sondern umgekehrt die be-sonderte Herrschaftsorganisation in dervereinten Assoziation der Individuen. �

.23 Marx, K., Zur Judenfrage, MEW 1, S. 370.