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Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg 1,50 EUR davon 90 CT für den_die Verkäufer_in No. 9, Mai 2016 EXKLUSIV Mister »Only You« Keith Tynes (Seite 14) VERRÜCKT Superhelden überall! (Seite 16) BELIEBT Was Berlin so anziehend macht (Seite 8) ARM, ABER SEXY

Arm aber Sexy - Ausgabe 09 2016 strassenfeger

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Page 1: Arm aber Sexy - Ausgabe 09 2016 strassenfeger

Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg

1,50 EURdavon 90 CT für

den_die Verkäufer_in

No. 9, Mai 2016

EXKLUSIVMister »Only You« Keith Tynes (Seite 14)

VERRÜCKTSuperhelden überall! (Seite 16)

BELIEBTWas Berlin so anziehend macht(Seite 8)

ARM, ABER SEXY

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 20162 | INHALT

strassen|feger Die soziale Straßenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob – obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie können selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkäufer erhalten einen Verkäuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notübernachtung und den sozialen Treff punkt »Kaff ee Bankrott « in der Storkower Str. 139d.

Liebe Leser_innen,als ich 1998 nach Berlin zog, war die Welt noch eine andere. Prince tourte durch Europa und gab in Köln sein einziges Deutschlandkonzert und David Bowie veröffentlichte nach dem großen Erfolg seines ersten »Best Of«-Albums den Nachfolger »The Best Of Bowie 1974 / 1979«.

Auch die Stadt, in die ich kam, war eine andere. Der Potsda-mer Platz feierte einen großen Teil seiner Fertigstellung. Für die Berliner sollte hier eine neue Lebenskultur beginnen und wäh-rend es im Zentrum der Stadt boomte und glitzerte, zeigten im »Arbeiterbezirk Neukölln Verwahrlosung, Gewalt und Hunger den sozialen Niedergang an«, schreibt Peter Wensierski damals im Spiegel. Doch keine zwei Jahrzehnte später hat sich dieser Arbeiterbezirk zu einem der angesagtesten Stadtteile in Berlin entwickelt (Berlin im Wandel, S. 6).

Als Klaus Wowereit, der frühere Bürgermeister Berlins, auf die Frage eines Journalisten mit dem Satz »Wir sind zwar arm, aber trotzdem sexy« antwortete, erfüllte er Tausende Berliner mit Stolz. Über Nacht gelang es ihm mit diesen Worten, das Image der Hauptstadt als Kult-Metropole aufzupolieren und Tor und Tür für namenhafte Musiker und Künstler zu öffnen, die schließlich kamen und auch blieben (Stadt der Welt, Stadt der Künstler, S. 8).

Vieles hat sich in den letzten Jahrzehnten zum Besseren gewen-det. Manches weniger. Für wohnungslose und kranke Men-schen, die auf der Straße leben müssen, gibt es immer noch zu wenige warme Zufl uchtsorte. Besonders hart ist es für sie in den kalten Herbst- und Wintermonaten (Nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, S. 5).

Und manches ändert sich nicht, wie zum Beispiel die Trauer über den Verlust großer Musikgrößen (When Doves cry, S. 30) oder die Kulturtipps, von unserer Redaktion zusammengetragen, (skurril, famos und preiswert, S. 24) hier in der aktuellen Aus-gabe des strassenfegers.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen.

Nadin Schley

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AKTUELLAktuelle Meldungen aus dem In- und Ausland, zusammengetragen von der Redaktion

Bahnhof Zoo: Tag der Bahnhofsmission

Nur ein Tropfen auf dem heißen Stein

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ARM, ABER SEXYBerliner Kieze im Wandel

Stadt der Welt, Stadt der Künstler

Straßenkunst der besonderen Art

Menschen, Macher & Moneten: Klumppi trifft ? Mister »Only You« Keith Tynes

Superhelden überall!

Eine Frau, ein Fußball, eine Idee

Zweite Hand und trotzdem schick

20AUF ANDEREN STRASSENBett enpatenschaft en: »Das hier war meine Rett ung«

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BRENNPUNKTEin Konto für Obdachlose

Betrachtungen zum Spruch eines ehemaligen Berliner Kommunalpolitikers

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TAUFRISCH & ANGESAGTK u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert

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AUS DER REDAKTIONRandgruppe der Erinnerung

H a r t z I V - R a t g e b e rTipps und Urteile, Teil 4

K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

Vo r l e t z t e S e i t eLeserbriefe, Vorschau, Impressum

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 AKTUELL | 3

Obdachlose zeigen eher altersbedingte BeschwerdenQ U E L L E : R E U T E R S , K a t h r y n D o y l e

Obdachlose haben laut einer US-amerikanischen Studie ein erhöhtes Risiko, gesundheitliche Probleme, die mit dem Älterwerden zu tun haben, viel früher zu entwickeln als Menschen, die Wohnungen haben. Laut der Studie berich-ten Obdachlose in ihren 50ern von Beschwer-den, die eigentlich eher Menschen über 75 betreffen - wie kognitive Schwierigkeiten, Inkontinenz und Stürze. Reuters hat Experten über die Gründe hinter diesen alarmierenden Erkenntnissen befragt.

Straßenzeitungs-Verkäufer bringt Kindern mit einem

Buch Obdachlosigkeit naheQ U E L L E : I N S P, L a u r a S m i t h

Ein ehemals obdachloser Straßenzeitungsverkäu-fer aus Michigan hat ein Buch herausgebracht,

das Kindern und ihren Eltern mit verschiedenen Aktivitäten verständlich machen soll, was

Obdachlosigkeit bedeutet. Randy Parcher lebte sieben Jahre lang als Obdachloser in Traverse

City. Seit der Gründung von »Speak Up« im Jahr 2014 hat er die Straßenzeitung verkauft und

dafür geschrieben. Parcher hofft, dass sein Buch, das sich an Kinder bis sieben Jahre richtet, auch

in Schulen verwendet werden wird.

Bahnhof Zoo: Tag der BahnhofsmissionSolidarisch engagiert für HilfesuchendeB E R I C H T : C a r l S . B a d | F O T O S : C a r m e n L e n k C C - B Y - S A

Seit wann genau es den »Tag der Bahnhofs-mission« gibt, kann von den dort tätigen Menschen niemand mehr sagen. Sie wis-sen nur, dass aus dem klassischen »Tag der

offenen Tür« ein großes Straßenfest in der Jebens-straße am Bahnhof Zoo wurde. Es findet jährlich an jedem dritten Sonnabend im April bundesweit statt, in diesem Jahr war es der 16. April.

Rund 5 000 Besucher nahmen an der Ver-anstaltung teil. Rund 2 000 Besucher waren Menschen, die mehr oder weniger täglich auf die Angebote der Mission wie Speisen,

Aktuelle Meldungen aus dem In- und Ausland

zusammengetragen von der Redaktion

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 20164 | AKTUELL

Schlafsäcke und Kleiderspenden angewiesen sind. Wei-tere waren interessierte Bürger, die regelmäßig aushelfen und andere, die sich bei der Gelegenheit über die Mission infor-mieren wollten. Aber auch Politiker kamen.

G l ä u b i g e v e r s c h i e d e n e r R e l i g i o n e n a k t i v d a b e iVierzehn Stände mit unterschiedlichen Angeboten fanden in der kleinen Straße Platz. Es gab Döner und Currywurst. Nor-bert Wittke, Vorsitzender des Sozialausschusses im Bezirk-samt Charlottenburg, grillte schon im dritten Jahr und war ständig im Gespräch mit Stammgästen der Mission. Freimau-rer boten Schmalzstullen an. Gläubige Menschen verschie-dener Religionen und Kulturen beteiligten sich aktiv an dem evangelischen Straßenfest. Das Hotel Mövenpick spendierte gebackenen Kuchen. Die Berliner Tafel war ebenso vertre-ten. Die Freiwillige Feuerwehr aus Buchholz rückte mit einer Erbsensuppe an. »Lauter kleine schöne Blumen fanden sich zu einem großen Strauß in der Jebensstraße zusammen«, so Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission.

«Manchmal gerät das Leben aus der Spur. Dann brauchen Menschen Hilfe.” (Bahnhofs-

mission)

Essen und Trinken waren kostenlos. Puhl rechnete, wie viel Geld jemand an einem Tag auf einem Straßenfest ausge-ben müsste, um alles genießen zu können. Er kam auf 25 bis 30 Euro. Was den Chef der Mission besonders beeindruckte, niemand von seinen Gästen schlug alkoholtechnisch über die Stränge.

E i n z i g e G a g e : B e i fa l l u n d Vo l l v e r p f l e g u n g

Von früh bis spät wurde das Fest musikalisch begleitet. Für beinahe jeden Geschmack war etwas dabei. Den Auftakt machte das Blasorchester der Bundespolizei. Es gab Pop, Volksmusik und weitere Liedermacher. Die einzige Gage für die Künstler waren Beifall und Vollverpflegung.

Vor dem »Tag der Bahnhofsmission« wurde auf Facebook dazu aufgerufen, Wünsche für das Fest zu posten. Die stell-vertretende Leiterin Claudia Haubrich zitierte einen Wunsch: »Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen dafür einsetzen. Und dass die Politik versteht, dass soziale Gerechtigkeit, Ge-rechtigkeit für alle Menschen bedeutet.«

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 AKTUELL | 5

Nur ein Tropfen auf dem heißen SteinNotbetten in der NotunterkunftB E R I C H T & F O T O S : A n d r é B e r g

Wer, so wie ich, erst seit Ende Ok-tober in einer Notunterkunft für Obdachlose arbeitet, hätte sich ganz naiv vorstellen können, dass

mit dem Ende der Winterhilfe zum 31.03.2016 die Arbeit einfacher wird. Doch das ist nicht so. Das Ende der Winterhilfe bedeutet, dass viele Notübernachtungen in Berlin schließen und erst wieder zum Beginn der nächsten Kältesaison im Oktober öffnen. Von über 730 Schlafplätzen bleiben ungefähr 130 Schlafplätze übrig, die das ganze Jahr für obdachlose Menschen bereitste-hen. Allerdings gibt es zwischen drei- bis fünf-tausend obdachlose Menschen in Berlin.

Wa s b e d e u t e t d a s f ü r d i e A r b e i t i n d e r N o t u n t e r k u n f t v o n m o b e .V. i n d e r S t o r ko w e r S t r a ß e ?

Es bedeutet mehr Andrang ab 18 Uhr vor unse-rer Tür. Oftmals bildet sich schon zu Beginn der Öffnungszeit eine große Menschentraube vor unserer Tür, die alle einen dringenden Schlaf-platz brauchen. Während der Winterhilfe-Saison konnten wir den Gästen, denen wir kein Bett für die Nacht anbieten konnten, zumeist in andere Notunterkünfte vermitteln. Diese Chance ist nun sehr klein geworden. Neben der Notunterkunft von mob e.V. gibt es nur noch in der Franklin-straße und in der Tieckstraße ganzjährige Notun-terkünfte, die jetzt, ebenso wie wir, hoffnungslos überlaufen sind.

Ebenso bedeutet das Ende der Winterhilfe nicht, dass das Wetter sich daran hält. Auch im April und Mai gibt es noch viele kalte, feuchte und windige Tage. Nach einem solchen Tag auf der Straße braucht man abends ein war-mes Bett. Außerdem sind viele der Menschen auf der Straße krank. Das ständige Leben und andere Widrigkeiten, denen Obdachlose ausge-setzt sind, zerren an der Gesundheit. Fehlende Krankenversicherungen verschlimmern die Si-tuation nur noch.

N o t b e t t e n , u m z u h e l fe n

Natürlich fällt es unter solchen Umständen un-seren ehrenamtlichen Mitarbeitern sehr schwer, hilfebedürftige Menschen einfach wieder weg-zuschicken. Also kam die Idee auf, Notbetten aufzustellen.

So bekamen wir einige amerikanische Feld-betten von unseren Nachbarn aus dem Flücht-lingsheim zur Verfügung gestellt. Aber auch Brandschutzbestimmungen mussten eingehal-

ten und beachtet werden. Natürlich muss auch darauf geachtet werden, dass die Notunterkunft nicht zu überfüllt ist, denn letztlich soll unseren Gästen ein ruhiger und sicherer Rückzugsraum für einige Nächte gegeben werden.

Doch auch wenn wir einigen Menschen nun mehr helfen können, so bleiben die sechs Notbet-ten doch ein Tropfen auf dem heißen Stein, der schnell wieder verpufft. Die paar Notbetten sind natürlich auch nur eine temporäre Lösung und man kann nach dem Ende der Winterhilfe nur hoffen, dass das Wetter schnell sommerlich wird, denn die wenig regulären Betten (etwa 130) rei-chen für die im wörtlichen Sinne ungezählten obdachlosen Menschen in Berlin nicht aus.

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01 Moabit im Sommer: Der Torfstraßen-steg am Ende der Torfstraße (Foto: Flickr/Kai Wegner CC BY 2.0)

02 Neukölln: Ein Bioladen nach dem anderen öffnet hier. (Foto: Flickr/Swithun Crowe CC BY 2.0)

03 Maybachufer war gestern. Heute sitzt man am Spreeufer in Moabit (Foto: Flickr/ands78 CC BY 2.0)

04 So schön mediterran kann der Leopoldplatz wirken. Die Nazareth-kirche wurde 1835 von Karl Friedrich Schinkel entworfen. (Foto: Flickr/Michael CC BY-NC-SA 2.0)

05 London oder Berlin? Berlin: Dieses Telefon befindet sich in der Turmstraße

(Foto: Flickr/Stephen Smith CC BY 2.0)

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Berliner Kieze im WandelB E R I C H T : N a d i n S c h l e y

Die Ergebnisse einer aktuellen Studie der Senatsverwaltung für Stadtent-wicklung und Umwelt zur sozialen Stadtentwicklung (MSS 2015) zei-

gen es wieder einmal: Berlin ist an vielen Ecken im Umbruch. Insbesondere die zentralen Bezirke Wedding, Moabit und Nord-Neukölln weisen trotz knapper Kassen und hoher Arbeitslosigkeit eine »überdurchschnittlich positive Dynamik« auf. Eine Momentaufnahme:

We d d i n g - d e r b e , a b e r e h r l i c h

Der Wedding kommt! Seit Jahren hält sich die-ses Gerücht unter den Berlinern. So richtig sollte das bisher nicht klappen. Doch nun scheint es

ernst zu werden: Rund um den Leopoldplatz gibt es weniger leerstehende Wohnungen, schicke Kunstgalerien, Feinkostläden, Biomärkte und deutlich mehr Touristen als jemals zuvor.

»Nirgends verändert sich der Wedding mehr als hier«, sagt Axel, 27 Jahre, Student. Erst vor wenigen Monaten ist er in die Gegend gezogen. »Die Mieten sind noch bezahlbar und es gefällt mir, dass hier wirklich alles aufeinander prallt: Frauen mit Kopftüchern, hippiemäßig gekleidete Männer, die Schlauen mit den Ideen, die Bunten, stinknormale Leute, Künstler und Kulturschaf-fende.« Einst hieß es, im Wedding gebe es für junge gebildete Menschen keine Chancen. Nun kommen die, die Chancen suchen, so wie Axel.

Der Wedding hat seinen Ruf: Breite Straßen mit Spielhöllen, Wettstudios, bizarre Kneipen mit ungemütlichen Gestalten. Hier passiert, was abends in den Nachrichten erzählt wird. Verfol-gungsfahrten, Amokläufe und Diebstahl - auf den ersten Blick bietet der Wedding wenig Lie-benswertes. Doch wenn man das Alltagsleben in Berlin kennenlernen möchte, sollte man in den Wedding kommen - daran glaubt Axel fest. »Wedding ist authentisch, nicht so verschnörkelt und hip wie Prenzlauer Berg.

Seit ein paar Monaten entwickelt er sich zu einem Raum voller Möglichkeiten. Die Gericht-straße, vom Weddingweiser als »Labor des neuen Wedding« bezeichnet, bietet den Berlinern und Touristen so einiges. Ein absolutes Highlight ist das Krematorium mit seiner achteckigen Aus-segnungshalle, das vor kurzem unter dem Label »Silent Green Kulturquartier« ein privater Inves-tor gekauft hat. Er nutzt das Gebäude als Gale-

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rie- und Ausstellungsort. Die Halle umfasst 1 000 Quadratmeter Ausstellungsfläche und steht unter Denkmalschutz. Zwischen 1911 und 2001 wur-den hier fast eine Million Berliner feuerbestattet, unter ihnen auch Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Dann wurde das Krema-torium stillgelegt. Jetzt halten die Kunst und das Leben Einzug an diesem besonderen Ort.

Ja, der Wedding kommt, allerdings sehr un-aufgeregt und im Kleinen.

M o a b i t - e i n C h a r a k t e r f ü r s i c h

Eines ist sicher; nicht alle wohnen freiwillig in Moabit. Die Häftlinge etwa, die in der Justizvoll-zugsanstalt in Alt-Moabit ihren Freiheitsentzug absitzen, tun es nicht. Aber es gibt sie, die Berli-ner, die gerne in Moabit leben. »Moabit ist Beste« ist für viele Anwohner das inoffizielle Motto des zentral gelegenen Bezirks, dessen Grenzen sich durch Wasserläufe bilden. Moabit ist tatsächlich eine Insel, und unter den Insulanern herrscht großer Kiezpatriotismus. »Gitarre Moabit«, wie er sich nennt, kann ein Lied davon singen: »Moa-bit is wie ne Insel nur über Brücken zu erreichen. Hier wohnt allet. Multikulti – nich die Reichen. Das letzte Revier, wo man viele Seiten sieht. Berlin ist Berlin, doch Moabit ist Moabit.« Der Straßenmusiker tingelt mit seiner Gitarre seit Jahren durch Kneipen und Cafés. Er wartet auf

den Durchbruch. Mit Moabit ist das ganz ähn-lich. Denn Arbeitslosigkeit und Kriminalität sind nach wie vor hoch.

Jahrelang schaute Moabit in die Röhre, wäh-rend Aufbaugelder unaufhörlich in andere Be-zirke flossen. Bis sich rund um den Hauptbahn-hof die Bagger in Bewegung setzten, ist viel Zeit ins Land gezogen. Heute ist die dahinter gelegene Lehrter Straße ein beliebter und lebendiger Kiez mit tollen Restaurants, Cafés und Bars. Auch der Kiez rund um die Turmstraße, die zentrale Ader Moabits, wird immer beliebter. Wie auf einem Ba-zar schallt es auf türkisch und arabisch über die Bürgersteige, wenn die Obst- und Gemüsehänd-ler ihre Ware verkaufen. In den Nebenstraßen eröffnen orientalische Restaurants und kleine libanesische Lokale. Und auch die vielen neuen Geschäfte, Feinkostläden und Märkte bringen frischen Wind in die einstige Trostlosigkeit der Turmstraße. Doch es gibt auch Dinge, die sich nie ändern: Wolfgang Ritschl serviert seit 32 Jahren im Restaurant »Paris Moskau« an der Straße Alt-

Moabit französische und russische Spezialitäten in einem noch viel älteren Fachwerkhaus. Alt-Moabit lädt auch zum Flanieren ein. Imposante Gründerzeitbauten reihen sich aneinander. Und neben der Johanniskirche öffnet jedes Jahr ein kleiner Biergarten, in dem es sich im Sommer un-ter Kastanien gut sitzen lässt. Was kaum jemand weiß: Die Emdener Straße in Moabit wurde 2013 zur schönsten Straße Deutschlands gekürt. Die-ser Preis ist vor allem dem Engagement der An-wohner zu verdanken, die gemeinsam ihre Straße fegten und bepflanzten. So sind sie, die Moabiter: waschechte Kiez-Patrioten.

N o rd - N e u kö l l n , v o l l i m Tre n d

Der Bezirk Neukölln ist den Bundesbürgern vor allem durch den Hilferuf der Lehrer von der Rütli-Hauptschule ein Begriff. Die damalige Leiterin sah keine andere Möglichkeit mehr, als unverblümt die Lage zu schildern. Sätze wie »Ei-nige Kollegen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können,« hallten durch die Republik. Ber-lin sah sich genötigt, schnell zu handeln. Was einst als No-Go-Area und sozialer Brennpunkt bekannt wurde, gilt heute, zehn Jahre später, durch gezielte Förderung als rehabilitiert.

Dieses Prinzip lässt sich auch auf Nord-Neukölln übertragen. Die Gegend rund den Reuterplatz galt lange Zeit als Kiez »mit beson-derem Entwicklungsbedarf«, als Ort krimineller Machenschaften, mangelnder Integration und hoher Arbeitslosigkeit. Doch hier, an der Grenze zu Kreuzberg zwischen Landwehrkanal und Son-nenallee, hat sich Neukölln in den vergangenen Jahren rasant verändert. Mittendrin gelegen: die Weserstraße. Dort reiht sich eine Kneipe an die nächste. Neue Cafés, Feinkostläden und Kunst-galerien ziehen neue Bewohner aus Mitte, Kreuz-berg und Prenzlauer Berg an. Im Reuterkiez ist mittlerweile eine lebendige Clubszene entstanden.

Vorwiegend Touristen, Backpacker und Studenten suchen hier das, was sie von Berlin erwarten: neue Musik, Läden mit alten Möbeln und ohne Tapeten. Was macht das mit den An-wohnern? »Manchmal denke ich, ich müsste noch mal eine Fremdsprache lernen, damit ich meine neuen Nachbarn verstehe«, sagt Simone, die seit mehr als 15 Jahren im Kiez lebt. »Naja, seien wir ehrlich, das Klima hier hat sich ver-ändert. Es ist rauher geworden. Aber ich muss nicht mehr nach Kreuzberg fahren, wenn ich einen ordentlichen Kaffee trinken möchte.« Trotzdem liebt sie es, dort zu leben: »Ich gehe gerne spazieren. Hinter mir die Hasenheide und das Tempelhofer Feld, vor mir das Maybachu-fer. Dieser Kiez hat so unendlich viel Raum und Weite. Das findet man selten.«

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 20168 | ARM, ABER SEXY

Stadt der Welt, Stadt der KünstlerWas findet Ihr sexy an Berlin?B E R I C H T : N i n a L ö r k e n | F O T O Q U E L L E : D i e K ü n s t l e r _ i n n e n

Berlin ist mehr ein Weltteil als eine Stadt«, schrieb der Schriftsteller Jean Paul schon im Jahr 1800. Da-mals wie heute zieht Berlin Menschen aus aller Welt an, darunter viele Künstler.

Schriftsteller wie Mark Twain, Franz Kafka und Alexej Tolstoi lebten hier und in den siebziger Jahren auch Popikonen wie David Bowie und Iggy Pop. Die Internationalisierung der Stadt hat in den letzten Jahren rasant zugenommen. Für 2015

Snövit Snow HedstiernaRegisseurin, bildende Künstlerin und Performance-Künstle-rin aus Stockholm, Schweden

»Ich finde an Berlin sexy, dass es so eine vibrierende, trans-formative und transkulturelle Stadt ist, die allem Unbekann-ten und Undefinierten gegenüber sehr offen ist. Was andere europäische Städte dreckig, traschig oder sogar einfach arm nennen könnten, wird hier ohne weiteres akzeptiert. Ich liebe die Graffiti und die Tatsache, dass man respektiert wird, selbst wenn man mit Löchern in der Kleidung herumläuft und dass der Ausdruck von Sexualität als etwas Schönes und Normales wahrgenommen wird und nicht als beschämend oder dreckig. Es gibt auch viel weniger Regeln als in Stockholm, was es-sentiell ist für Spontaneität und Kreativität. Ich glaube, dass diese Freiheit der Grund für viele Künstler ist, nach Berlin zu kommen: Sie befreien sich von den einschränkenden Be-dingungen in ihren Heimatstädten und lassen sich von der internationalen Kunstszene und der Clubszene inspirieren. Auch mein Interesse an der Stadt ist mit meinem Interesse an elektronischer Musik, Design und Kunst verbunden. Vor allem aber ist Berlin für mich der ideale Ort, um Kunst zu produzieren. Der Zugang zu Räumen und Materialien ist sehr einfach. Und ich habe hier einen Platz gefunden, an dem ich introvertiert sein, mich auf meine Ideen konzentrieren und ungestört meine Projekte umsetzen kann.«

Snövit Snow Hedstierna arbeitet in nahezu allen Medien, insbesondere Video und Performance. In ihrer Kunst unter-sucht sie vor allem verdeckte Diskurse von Körperlichkeit, Identität und Sexualität. Sie zog 2008 nach Berlin und pen-delt zwischen Berlin-Neukölln und Montreal, Kanada.

verzeichnete das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg einen Rekordzuwachs von 100 000 Zuzügen aus dem Ausland. Un-ter Berücksichtigung der Fortzüge hat die Stadt damit allein im letzten Jahr 46 000 neue Einwohner aus dem Ausland hinzu-gewonnen. Und auch heute noch, sind viele der sogenannten Expats, die aus aller Welt für einen dauerhaften Aufenthalt hierherziehen, Künstler. Wir haben im ersten Teil dieser Reihe einige von ihnen gefragt, was sie an Berlin sexy finden.

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 ARM, ABER SEXY | 9

CÉSAR QUERUZMusiker aus Bogotá, Kolumbien

»Ich mag an Berlin die Atmosphäre, das Gefühl. In den Or-chestern kommen Leute aus der ganzen Welt zusammen, und auch sonst wird die Stadt immer internationaler. Und es sind alle nett - auch die Berliner! Ich habe das Gefühl, dass die Leute hier kunstinteressierter und vor allem sozialer sind als anderswo. Die Menschen kümmern sich umeinander, und die Schere zwischen Arm und Reich wirkt nicht so groß wie zum Beispiel in Kolumbien. Vielleicht hat das mit der Geschichte zu tun, die hier allgegenwärtig ist. So vieles von dem, was die moderne Welt definiert, ist hier passiert. Ich glaube, das hat eine Wirkung auf die Menschen. Dasselbe gilt für die Freiheit, mit der die Berliner viel besser umgehen können als andere. In London sind zur Sperrstunde alle besoffen und werden dann oft auch aggressiv. Hier laufen die Leute die ganze Nacht fried-lich mit ihrem Bier in der Hand durch die Gegend. Dabei ist Berlin sicher. In Bogotá musst du immer nach hinten gucken, und manche Viertel kann man gar nicht betreten. Mittlerweile kann ich mir nicht mehr vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Ich bekomme sogar Heimweh, wenn ich mal länger nicht in Berlin bin.«

César Queruz spielt klassische Gitarre, Theorbe und Ba-rockgitarre auf Konzerten weltweit. Er lebte u.a. auf Kuba, in London und in München. Seit 2011 wohnt er in Berlin-Prenzlauer Berg.

SIDSEL SCHJERVEN Bildende Künstlerin aus Oslo, Norwegen

»Wir finden an Berlin sexy, dass wir uns jedes Mal glücklich und zu Hause fühlen, wenn wir hierher kommen. Das liegt vor allem am Prenzlauer Berg. Früher waren wir oft in Westberlin zu Besuch, aber als wir Prenzlauer Berg entdeckten, wussten wir, dass wir gerne mehr Zeit in der Stadt verbringen wollen. Nun haben wir dort sogar eine Wohnung gekauft. Wir finden hier vor allem Ruhe. In Oslo erleben wir viel mehr Stress. Es liegt etwas anderes in der Luft in Berlin. Der kreative Geist der Stadt ist für uns als Künstler besonders reizvoll. Er stei-gert die Lust des Schaffens. Überall auf den Straßen finden wir Inspiration. Da ist die Mischung von Schönheit und alten Sachen voller Geschichte - und natürlich das große kulturelle Angebot mit den vielen Museen, Galerien und so weiter. Ich finde, die Stadt ist voll von so viel Kreativität, Ideen, Vielfalt. Das alles wirkt auf uns wie eine Glücksmedizin.«

Sidsel Schjerven arbeitet auf dem Gebiet der Malerei. Seit 2009 pendelt sie – gemeinsam mit ihrem Lebenspartner, dem Maler Jørn E. Vestad – zwischen Oslo und Berlin-Prenzlauer Berg.

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REDFERN JON BARRETTSchriftsteller aus Sheffield, England

»Was ich an Berlin sexy finde: die Menschen! Die Leute hier haben keine Angst, sie selbst zu sein. Sie haben keine Angst, anders zu sein und eigenartig und freakig und ihr Leben genau so zu leben, wie sie es leben wollen. Ich selbst lebe polyamourös und führe eine Dreierbeziehung mit zwei Männern. Diese Ausrichtung war für mich einer der Gründe, nach Berlin zu ziehen. Mein Freund und ich wollten Leute kennenler-nen, die für so etwas offen sind. Aber auch wenn jemand andere Vorstellungen hat als ich und so lebt, wie er es möchte, ist das für mich etwas sehr ehrenhaftes. Und sicher auch ein Grund dafür, dass Berlin Leute aus der ganzen Welt anzieht: Die suchen alle Menschen, die anders sind, Menschen, die so denken wie sie. Die Viel-falt, die dadurch entsteht, finde ich sehr sexy – gerade hier in der Gegend um das Kottbusser Tor. Durch die steigenden Mieten ist es für arme Künstler zwar schwieriger geworden, hierher zu ziehen, und auch die Punks verschwinden allmählich. Aber es ist immer noch eine sehr lebendige, facettenreiche Gegend, mit vielen schönen Orten, an denen man Leute treffen

kann, ohne dass es viel Geld kostet. Im Sommer spielen die Leute im Park Theater oder machen Musik. Diese Art von kreativer Energie habe ich immer geliebt. Trotz der steigenden Kriminali-tät lebe ich daher viel lieber hier als irgendwo, wo es langweilig ist.«

Redfern Jon Barrett hat bislang zwei Romane und diverse Kurzgeschichten veröffentlicht. Er ist Polyamory-Aktivist und arbeitet auch als Lek-tor, Übersetzer und Journalist. Seit 2000 lebt er mit seinen beiden Partnern in Berlin-Kreuzberg.

DINKY IGLESIASDJane & Produzentin aus Santiago de Chile, Chile

»Die Leute hier sind in jeder Beziehung locke-rer als anderswo. Niemand beurteilt dich da-nach, ob du auf einer Party in Jeans und T-Shirt oder absolut »fashionable« erscheinst. Ich finde, das zeigt ein Vertrauen in Menschen, das sehr attraktiv sein kann.«

Dinky veröffentlichte diverse Alben mit expe-rimenteller elektronischer Musik und spielt in Clubs weltweit. Zuvor studierte sie Tanz und lebte längere Zeit in New York City. 2004 zog sie nach Berlin. Sie wohnt mit ihrem Freund, dem DJ Matthew Stiles, und ihren zwei Kindern in Berlin-Prenzlauer Berg.

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 ARM, ABER SEXY | 11

ELEONORA MEONIBildende Künstlerin aus Florenz, Italien

»Der Sommer in Berlin ist immer sexy. Aber wenn man seit zehn Jahren hier lebt, erscheint es auch sehr sexy, woanders hin-zuziehen. Berlin ist wunderschön, und all die Menschen, die hierherkommen, all die unterschiedlichen Kulturen, sind eben-falls wunderschön. Doch es ist wie mit einer Beziehung: Irgendwann wird es zur Gewohnheit, und man weiß sein Glück nicht mehr zu schätzen. Als ich hierher zog, war vor allem die Freiheit sexy. Denn wenn du frei bist, kannst du Dinge aus-drücken. Du kannst im Schlafanzug auf die Straße gehen. Du kannst Kunstpro-jekte in der U-Bahn verwirklichen, öffent-liche Kunst machen, ohne naiv zu sein. Und die Musik war immer fantastisch! Aber Berlin ist nicht mehr arm und sexy. Die Preise steigen, die Nachbarschaft ist voller Hipster, und Touristen kommen hierher, um die Freaks anzuschauen, als gingen sie in den Zoo. Vieles, was früher Ausdruck von Freiheit, Andersartigkeit, Leichtigkeit war, ist zu einem Markt ge-

worden. Damit hat es auch seine Sexyness verloren. Besucher kommen hierher we-gen der Freiheit, alles tun zu können. Sie lassen los, haben unverbindlichen Sex, nehmen Drogen. Aber die Energie, die zu-rückbleibt, ist nicht hell und frisch, son-dern dunkel. Es ist eine neue Generation, in der auch Isolation ein großes Thema ist, weil vieles nur noch über Social Me-dia abläuft. Wir werden sehen, was diese Generation tun wird. Aber ich finde das nicht mehr sexy. Für mich ist es Zeit zu gehen, irgendwohin, wo man das alte Berlin-Gefühl neu erschaffen kann. Viel-leicht kehre ich dann eines Tages zurück und verliebe mich erneut in die Stadt.«

Eleonora Meoni arbeitet mit Lichtinstal-lationen und veranstaltet künstlerische Events in ihrem Projektraum »atthebar« in Berlin-Schöneberg. Sie lebte für län-gere Zeit in Paris und wohnt seit 2006 in Berlin-Kreuzberg. Derzeit plant sie ihren Umzug nach Athen.

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 201612 | ARM, ABER SEXY

Straßenkunst der besonderen ArtWie breitgetretene Kaugummis zu Kunst werdenB E R I C H T : C a r l S . B a d

Stellen Sie sich vor, Sie begegnen unterwegs einem Mann, der auf einer Iso-Matte auf dem Boden kau-ert, um sich herum Acrylfarben und ein Gasbrenner. Auf den ersten Blick sehen Sie, wie er etwas kaum Erkennbares zeichnet. Auf den zweiten Blick sehen

Sie, dass er etwas mit einem ausgekauten Kaugummi anstellt. Der Künstler ist der Engländer Ben Wilson, 53 Jahre alt. Seine Leinwand ist ein Kaugummi von Passanten ausgespuckt und breitgetreten. Für die Stadtreinigung sind solche Kaugummis schwer zu entfernender Müll, was Sie sicher bestätigen kön-nen, wenn Sie sich mal einen Kaugummi in die Schuhsohle eingetreten haben. Ben Wilson sieht darin sofort ein geeigne-tes Objekt für seine Straßenkunst.

K ü n s t l e r u n d U m w e l t a k t i v i s t

Im Jahr 1998 begann er, Kaugummis zu Kunstwerken auf der Straße zu veredeln. Zunächst nur gelegentlich. Seit Herbst 2004 widmet er sich ausschließlich dieser Kunst, für die er vermutlich weltweit das Alleinstellungsmerkmal hat. Anfangs in London, später in vielen Städten der Welt, überwiegend aber in der britischen Metropole. Weit mehr als 10 000 sei-

ner Kaugummi-Bilder entstanden seither, viele davon sind Auftragswerke, schließlich soll das Kaugummibemalen keine brotlose Kunst sein. »Wenn jemand ein bestimmtes Motiv ha-ben will, nehme ich auch Geld an - aber niemals von Kindern oder Obdachlosen« schildert Wilson einer Zeitung. Dafür hat er extra ein Auftragsbuch. Darin hält er Ideen und Aufträge fest, die er nicht sofort umsetzen kann.

Für seine Kunst hat Ben Wilson eine klar strukturierte fünf Tage-Arbeitswoche von Montag bis Freitag, von 9.00 bis 17.00 Uhr verwandelt der Künstler graue Schandflecke in bunte Motive auf dem Asphalt. Jedes Kunstwerk hat seine eigene Geschichte. Sogar Heiratsanträge gehören zu seinen Auftragswerken. Er will mit seiner Arbeit eine Bühne schaf-fen, ein Forum für Menschen und deren Geschichten. Seine Zeichnungen sind winzige Landschaften, Porträts, Namen und Botschaften. Dabei sieht er sich nicht nur als Künstler, sondern zugleich auch als Umweltaktivist. Zunächst war Wil-son genervt vom Müll und der Verschmutzung inklusive breit-getretener Kaugummis. Er hatte Lust, aus dem Dreck etwas Schönes, Farbenfrohes werden zu lassen. Er mag es, etwas Konstruktives aus dem, was Menschen wegwerfen, entstehen zu lassen. »Die Leute sollten mehr Respekt für ihr Lebens-

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01 Seine nachhaltige Kaugummi-Kunst soll mehr Bewusstsein für die Umwelt wecken. (Foto: © salimfadley/Flickr)

02 Der Künstler Ben Wilson bemalt auf Londons Gehwegen Kau-gummis für mehr Umweltbewusstsein. (Foto:Wikipedia)

03 Seit Jahren hat er seine eigene Art im Umgang mit den Resten eines Kaugummis. (Foto: © salimfadley/Flickr)

umfeld entwickeln und Verantwortung übernehmen für ihre Mitmenschen und ihre Umwelt«, sagt er. Schließlich kam ihm die Idee für seine Passion.

S k u r r i l e M i s s v e r s t ä n d n i s s e

Wenn er vor einem Gebäude kauert, erfährt er durch Gesprä-che mit Passanten oder Anwohnern die Geschichten hinter der Fassade des Hauses, die in seinen Bildern kreativ verarbeitet. Aber es gibt auch skurrile Missverständnisse. Immer wieder wird er für einen Obdachlosen gehalten, und bekommt Spei-sen oder Kleingeldspenden angeboten. Besorgte Mitmenschen riefen für ihn nicht selten einen Rettungswagen. Zweimal wurde er sogar verhaftet, ihm drohten Anklagen wegen Sach-beschädigung. Ohne Anklage kam er nach kurzer Zeit frei.

Für seine Kunst arbeitet Wilson am liebsten an Kaugum-mis, die schon mindestens ein Jahr an einer Stelle kleben. Dann sind sie ideal ausgehärtet für seine Kunst. Wenn er einen geeigneten Kaugummi entdeckt, macht er sich an die Arbeit. Für seine Zeichnungen macht er durchaus Überstunden, nicht selten benötigt er bis zu zehn Stunden. Zunächst benutzt er seinen Gasbrenner, um seine spezielle Leinwand aufzuwei-

chen. Dann verleiht er dieser den letzten Schliff und gibt ihr die gewünschte Form. Anschließend geht es an die Arbeit. Er verteilt sein mobiles Atelier um sich herum und lässt aus dem Kaugummi Kunst werden. Bevor er ihn mit Acrylfarben bemalt, besprüht er ihn mit Lack, um eine geeignete Grundie-rung zu bekommen. Leider gingen im Laufe der Jahre viele seiner Werke verloren, da die Londoner Stadtreinigung alle Kaugummispuren entfernt hat. Davon lässt er sich aber nicht beirren und macht weiter.

Übrigens gibt es das Gerücht, dass sich Ben Wilson der-zeit in Berlin aufhält. Also rufen Sie bitte keinen Rettungs-wagen oder die Polizei, wenn Sie einem Mann begegnen, der kniend auf dem Bürgersteig zeichnet. Suchen Sie lieber das Gespräch mit ihm.

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Menschen, Macher & Moneten ... Klumppi trifft ?Weltstar & Musiklegende Mister »Only You« Keith TynesI N T E R V I E W : C h r i s t i a n K l u m p p | F O T O Q U E L L E : A u t o r

Seit mehr als 20 Jahren lebt die Soul- und Jazzstimme in Berlin. Der 1954 in Mi-ami, USA geborene Künstler Keith Tynes ist über die Jahre zu einer wahren Jazz-

und Soullegende avanciert. Gerade kommt der Künstler von einer vierzehntägigen USA-Reise zurück. Von Westküste zur Ostküste, einmal quer durch die USA mit Stop in Las Vegas - so das Programm.

Welterfolge feiert er mit dem Song »Only You«. Viele Millionen Tonträger wurden bis heute verkauft. In unzähligen Film- und Kinoproduktio-nen wurde dieses Lied als Filmmusik verwendet.

Vor vielen Jahren, als er in Europa richtig durchstartete, hat er während eines Auftritts in Berlin die Stadt für sich entdeckt. Gute 20 Jahre lebt Keith Tynes nun schon in Berlin, in seinem Kiez - und wenn er von seinem Kiez spricht, dann meint er Charlottenburg.

Ve r l i e b t i n B e r l i n

»Nach langen Reisen bin ich froh, wieder in Berlin, in meiner Stadt zu sein. Ich schlendere dann gerne über den Ku`damm oder sitze in den kleinen Cafe`s am Savignyplatz, da wo Du auch gerne sitzt«, sagt er und schmunzelt.

Schon als Kind stand für den 1,90 Meter gro-ßen Sänger fest: Ich werde Sänger. Während sei-ner Kindheit begleitete ihn die Musik fast täglich.

Keith Tynes durchlief die klassische Schullaufbahn und begann nach dem Abschluss an der High School ein Musikstudium an der University of Miami.

1976 schloss er dieses mit einem Bachelor of Music ab. Schon während seines Studiums wurde er bei der »Miami Beach Symphony« und der »Greater Miami Opera Guild« (mit Engage-ments in »Macbeth” (2. Tenor), »La Traviata«, »La Boheme«, »Madame Butterfly«, »Tosca«, »Porgy and Bess«, u. a.) als Sänger engagiert. Im selben Jahr hatte er mit »Hooray USA« sogar eine eigene Show in New York.

Zwei Jahre später trat er als Entertainer im »Opryland Nashville« mit eigener Show auf. 1979 zog Keith Tynes nach New York, wo er die Haupt-rolle im Musical »A New York Summer« in der New Yorker Radio City Music Hall übernahm. Anschließend tourte er mit »I Love New York« durch die USA. In den Jahren 1980 und 1981 gastierte er in einer Hauptrolle im »Musical Show Boat« in New York und mehreren Städten.

E r e ro b e r t e E u ro p a

Im Jahre 1980 hatte Keith Tynes sein erstes festes Engagement in Europa, im »Queen Alexandra House« in London. Vier Jahre lang, von 1981 bis 1985, trat er in »The Platters Golden Hits Re-vue« als erster Tenor in zahlreichen Großstädten Europas auf. Noch im selben Jahr sollte es für den Sänger eine berufliche Neuausrichtung ge-ben. Keith Tynes begann seine Solokarriere mit Auftritten überall in Europa und den USA.

Im Sommer 1987 trat er im Vorprogramm von »Disco Queen Gloria Gaynor« in Zypern auf. Im selben Jahr machte er eine Solotour durch Schweden und Finnland als Soul- und Jazzsän-

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ger. Zwischen 1989 und 1991 tourte er als einer der Hauptdarsteller in den Revuen »One Night On Broadway!« und »Broadway, Broadway« durch Deutschland und die Schweiz.

1998 trat er in einem Open-Air-Concert mit den Weather Girls auf. Ein Jahr darauf wurde Keith Tynes nach Südafrika für Solo-Konzerte eingeladen.

Christian Klumpp: Stimmt es, dass Du auch mal vor dem Präsidentenehepaar von Singapur gesungen hast?

Keith Tynes: Oh ja. This was great. Es war eine große Ausszeichnung für mich. Das war 1995 und es war für mich eine schöne Erfahrung. Ich war damals ziemlich aufgeregt.

Im Jahr 2001 gründete er mit drei Musikern die »Keith Tynes Band« – eine Soul-Jazz-Formation, zu der bereits ein Jahr später elf Musiker und ein Backgroundchor gehörten. 2001 war er als Gastsänger bei »Jazz goes Gospel« mit Jocelyn B. Smith dabei.

Nach dem Studium warst Du auch mal als Mu-siklehrer tätig?

Hahaha, das stimmt. In den Jahren 1977 bis 1979 habe ich an der bekannten »Dade County Public School« als Musiklehrer unterrichtet.

Während dieser Zeit, der »Keith Tynes Band«, folgten zahlreiche Auftritte in Deutschland und auch weltweit. Er war Gaststar der Tanzshow

»Dirty Dance Nights« in Berlin, am Wörthersee und am Chiemsee. Das war im Jahr 2006.

» E s g a b n i e e i n e n P l a n B f ü r m i c h «

Gab es für Dich auch eine Alternative zur Mu-sik, sozusagen einen Plan B?

No! Niemals. Ich wollte immer Musik machen oder zumindest ins Showgeschäft. Vielleicht wäre ich auch ein singender Schauspieler geworden.

Während er so erzählt, blättere ich in seinen al-ten Fotoalben und muss voller Neid feststellen, Keith Tynes hat mit allen Größen des Showbiz zusammengearbeitet. So war er mit Steve Won-der im Jahr 2010 auf Tour, sang mit Nina Hagen, Keith Sweat, Gloria Gaynor oder den Weather Girls und vielen anderen.

Du hast auch mal für einen Werbespot die Ti-telmelodie aufgenommen. Für was und wann war das?

Das war im April 2007. Das war die Titelme-lodie »You’ll Never Walk Alone« des Werbespot von dem Autohersteller Suzuki Swift. Im Mai 2007 wurde die Titelmelodie sogar als Single veröffentlicht.

Du hast fast alle Länder der Erde bereist, gibt es ein Land, wo Du gerne mal auftreten würdest?

Ich finde Kuba als Land sehr schön. Es gibt viele Länder, wo ich gerne mal auftreten würde. Dazu aber in einem nächsten Gespräch mehr.

» I c h m a g s c h ö n e M e n s c h e n «

Nicht nur als Sänger und Entertainer macht Keith Tynes eine gute Figur. Er wurde auch mehrmals als Jurymitglied und Moderator bei verschiedenen Contests und Misswahlen enga-giert. So zum Beispiel bei der »Miss Interconti-nental-Wahl« auf den Seychellen, als Moderator und Sänger bei der »Misses-Deutschland-Wahl« in Merseburg oder zur Wahl des »Top Models of the World« in Ägypten.

Er war Stargast der Hollywood Filmgala, der Star-Entertainments, Hamburg sowie Jury-mitglied und Sänger der Wahl »Miss Interconti-nental« in Minsk in Weißrussland.

Warum hast Du Dich damals entschieden in Berlin zu wohnen? Hätte es auch New York, London oder Paris sein können?

Ach, weißt Du, Berlin ist eben Berlin. Die Stadt ist weltoffen, multikulturell und liegt zen-tral. Man hat hier alle Möglichkeiten, beruflich wie privat. Berlin ist eine beliebte Weltstadt, auch damals schon. Man sagt, entweder bist du sofort in Berlin verliebt, oder du wirst es nie sein. Bei mir war es ersteres. In New York habe ich ja mehrere Jahre gelebt und Paris oder London kann man von Berlin wunderbar erreichen.

Meine letzte Frage: Welche Zukunftsspläne hat Keith Tynes ?

Ich glaube, jeder Musiker träumt von so einem Welthit wie »Only You«. So etwas wäre sicher nochmal schön. Im Moment gibt es viele Gespräche über Konzerte und TV-Projekte im In- und Ausland, da muss man sehen, was dar-aus wird. Natürlich stehe ich gerne auf der Bühne und werde dies auch weiterhin tun.

Vielen Dank an Weltstar und Soullegende Keith Tynes. Man kann nicht glauben, dass der Enter-tainer diesen Oktober schon 62 Jahre alt wird.

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Superhelden überall!Was macht Batman und Co so sexy?

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01 Eric Royster (links), in Captain America Kostüm, spaziert mit seiner Frau Andrea O‘Leary und ihrer 4-jährigen -Tochter Isabella während sie die Messe Comic Con in New Orleans, Louisiana, genießen. (Foto: REUTERS/Bill Haber)

02 Peter Norbot und Kris Hamilton (links), verkleidet als Spiderman, lesen eine Zeitschrift, während sie auf ihren Auftritt im Rahmen einer Werbekampagne für die Veröffentlichung des neuen Films »The Amazing Spider-Man 2« in Chicago warten. (Foto: REUTERS/Jim Young)

03 Künstler, verkleidet als Thor (links) und Iron Man, posieren für die Fotografen neben einer Reihe Polizisten während einer Demonstration außerhalb des Regie-rungsgebäudes am Zocalo Platz in Mexiko Stadt am 13. Juli 2012. (Foto: REUTERS/

Edgard Garrido)

04 Tadahiro Kanemasu, auch bekannt als »Carry-Your-Pram-Ranger«, trägt am 23. August 2014 die Einkäufe einer Frau in der U-Bahn von Tokio. In einer grün-silbernen Verkleidung mit passender Maske wartet der Superheld an der Treppe in der U-Bahn von Tokio, um Älteren, Menschen mit schwerem Gepäck oder Müttern mit Kinderwagen zu helfen. (Foto: REUTERS/Yuya Shino)

05 Kinder fahren Achterbahn mit Spiderman (links), Cyclops und Captain America (rechts) während einer Werbeveranstaltung von Universal Orlando. (Foto: REU-

TERS/Rick Fowler/Universal Orlando)

06 Ein unbekannter Mann, der sich selbst Mangetsu-man (Herr Vollmond) nennt, macht eine Pause, während er mit einem Freiwilligen und einem Besen die Ni-honbashi Brücke reinigt. Er ist in einem Kostüm verkleidet, dass einen Vollmond als Kopf hat. Tokio 25. August 2014. (Foto: REUTERS/Issei Kato)

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Eine Frau, ein Fußball, eine IdeeSie entwickelte ein kleines, sexy KraftwerkC h r i s t i a n K l u m p p i m G e s p r ä c h m i t J e s s i c a M a t t h e w s ( 2 8 )

Sie erfand nicht den Fußball neu, nur was man damit noch machen kann, ist absolut verrückt und genial zugleich. Jessica Matthews, aufgewachsen in New York, aber Wurzeln in Nigeria, studierte Wirtschaft und Psychologie und begann aus Neugier im Jahr

2008 ein Ingenieurkurs für Anfänger. »Ich war schon immer sehr gierig nach Wissen und Technik. Das ist nicht nur was für Männer«, sagt sie. Die Aufgabe ihres Professors lautete damals, mit Hilfe eines Hamsterrades einen kleinen Stromgenerator zu bauen. »Das war der Grundstein meiner Erfolgsgeschichte«, sagt sie.Die Idee war sofort da. »Ich dachte an die Kinder in Nigeria, die alle draußen, in den Straßen, und auf den Plätzen mit ei-nem Ball spielen.« Das Leben findet in Nigeria nun einmal außerhalb der vier Wände statt. Wie wäre es, wenn man diese Energie nutzt, so dass die Armen der Armen mit sehr we-nig, ganz viel bekommen. »Meine Idee war: Den Fußball als Stromquelle zu nutzen. Durch die rollende Ballbewegung im Inneren, die einen Schwungkreisel aktiviert und einen Dy-namo antreibt, der die Bewegung in elektrische Energie um-wandelt und per Akku speichert.«

Gesagt getan. Zwei Versuche scheitern, es liegt am Gewicht oder am Material. Ballversuch Nummer drei sollte dann schließlich funktionieren. Das war im Jahr 2011.

»Wie muss der richtige Stromball sein?«, frage ich. »Rund, leicht und strapazierfähig", sagt Jessica. »Trotz Technik muss er leicht zu spielen und vor allem widerstandsfähig sein.«Das Ergebnis ist, der Ball »Soccket«. Er hat eine Lederhülle, hält etwa drei Jahre und nur dreißig Minuten Bewegung rei-chen aus für drei Stunden Energie. Außerdem hat er einen Kabelanschluss und man kann kleine Kühlschränke, Lampen und Handys damit betreiben. Ich frage nach dem Preis. »Die-ser Ball wird aus Spenden finanziert und auch an die Armen in den Entwicklungsländern kostenlos verteilt. Aber natürlich kann er auch bei meiner Firma unter www.unchartedplay.com für 99 Euro erworben werden.«

Selbst der amerikanische Präsident, Barack Obama, hat mit solch einem Ball schon gekickt. »Er war sehr begeistert von der Idee und der Technik«, sagt Jessica.

Danke Jessica Matthews für das nette Gespräch!

(Foto: Public Domain)

(Quelle: Autor)

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Zweite Hand und trotzdem schickSexy Mode aus der Kleiderkammer E i n e B e t r a c h t u n g a u s u n s e r e r Te x t w e r k s t a t t v o n A s t r i d

Mit Kleiderkammern identifizieren viele Leute Einrichtungen für Ob-dachlose, die sich bei verschiedenen Ausgabestellen umsonst Kleidung

abholen. Entweder, weil die Kleidung, die Ob-dachlose tragen zerrissen oder unsauber ist, oder sie aus dem Krankenhaus oder Gefängnis entlas-sen wurden. Das ist im Prinzip richtig. Es gibt aber auch Kleiderkammern, die für Menschen sind, die kein hohes Einkommen haben.

Da auch ich mal obdachlos war, besuchte ich eine Kleiderkammer um mir, als es langsam Win-ter wurde, wärmere Kleidung zu suchen. Wäh-rend der Mitarbeiter etwas holen ging, sah ich mich ein wenig um und staunte nicht schlecht. An einem Regal hingen Gürtel. Einer davon trug die Aufschrift »Dolce und Gabbana«. Marken-ware in einer Kleiderkammer? Der Mitarbeiter kam wieder und gab mir einige Hosen, Pullover und Socken. Auch darunter befand sich Mar-kenware. Ich sortierte aus, was ich nicht tragen konnte, sammelte den Rest ein, ließ mich für eine Tasse Kaffee in der Einrichtung nieder und be-gann nachzudenken.

S e h e n w i r d o c h m a l

Ich arbeite auf unserem Verkaufswagen. Einer steht am Ostbahnhof in Berlin, der andere am Bahnhof Zoo. Dort, am Zoo, befindet sich auch die Bahnhofsmission. Wenn man sich die Zeit nimmt, oder wie ich dort arbeite, bekommt man mit, wie Leute dort anhalten, Tüten und Taschen aus dem Auto holen und sie abgeben. Meistens sind das Kleiderspenden, die den Obdachlosen zugute kommen sollen. Die Autos, die dort hal-ten, sind nicht nur Kleinwagen. Es sind auch Au-tos, die schon mal zu der gehobenen Preisklasse gehören. Jetzt macht meine Entdeckung Sinn. Auch Leute, die ein etwas besseres Einkommen haben, geben ihre Kleidung ab. Da landet dann schon mal Markenware in der Kleiderkammer für obdachlose Menschen.

Auch auf unserem Wagen am Ostbahnhof kommen Leute vorbei und lassen Sachen dort. Ich sortiere die Sachen dann vor. Entweder sind sie für unsere Notübernachtung, oder um sie dort zu lassen. Auch einige unserer Verkäufer

sind obdachlos und können Kleidung gebrau-chen. Nur sind es meistens Frauenkleider, die wir bekommen, die meisten Verkäufer sind aber Männer. Aber wie auch am Bahnhof Zoo: die Kleidung ist, wenn auch nicht immer Marken-ware, kein Billigprodukt.

E s g i b t n u r e i n P ro b l e m

Inzwischen lebe ich in einem Wohnheim, be-komme eine kleine Rente und versuche meine Kleidung dort zu kaufen, wo sie nicht viel kostet. Deshalb landete ich letztens in einer Kleider-kammer, wo man Second Hand Kleidung kau-fen kann. Ich nehme Tabletten, habe an Gewicht zugelegt und kann deshalb nicht mehr Größe 38/40 tragen. Und da liegt, wie in vielen Klei-derkammern mein Problem. Ich finde in meiner Größe zwar Oberteile, aber selten schöne Ho-sen. Ich bin eine Frau, etwas älter, will aber keine Oma-Hosen tragen. Röcke und Kleider gefallen mir nicht. Ich bin in Jeans aufgewachsen. Muss

man, wenn man modisch sein will, Geld haben? Nein, eigentlich nicht, so dachte ich. Aber wenn die modische Kleidung in den Kaufhäusern zu teuer für den Geldbeutel ist, dann denkt man schon mal so.

S a g n i e m a l s n i e

Mann könnte meinen, ich wäre nur am Meckern. Das ist nicht wahr! Der Modewahn - »Ich muss die Marke tragen, sonst bin ich nicht cool« - inte-ressiert mich nicht. Den Obdachlosen und Leute mit geringem Einkommen wohl auch nicht. Aber, gut gekleidet zu sein, ohne gleich sein hal-bes Einkommen ausgeben zu müssen, muss doch möglich sein. Ich werde weiter in den Kleider-kammern suchen, mir meine Gedanken machen und wenn es gar nicht anders geht, auch mal die Männerkleidung prüfen. Auch dort gibt es Mar-kenware und ich habe keine Probleme damit, schicke Männerkleidung zu tragen. Dann kann Frau auch schick aussehen.

(Foto: Daniel Krieg CC BY-ND 2.0)

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 201620 | AUF ANDEREN STRASSEN

»Das hier war meine Rettung«Von der Idee einer Bettpatenschaft für obdachlose und kranke Menschen  B E I T R A G : H I N Z U N D K U N Z T - G E R M A N Y, A n n a b e l Tr a u t w e i n | F O T O S : M a u r i c i o B u s t a m a n t e

Manchmal macht es den Unterschied zwischen Leben und Tod: In der Krankenstube der Caritas finden Obdachlose bedingungslose Hilfe. Die Nachfrage ist groß, doch das Geld ist knapp. Bettenpatenschaften sollen helfen.

Der Abschied ist hart. Panikattacken, Weinkrämpfe - das er-lebt Leiterin Ingrid Kieninger oft, wenn einer der Patienten sein Bett in der Krankenstube für Obdachlose räumen muss. Verheilte Hautkrankheiten brechen wieder aus, manche krat-zen sogar ihre Wunden auf, um bleiben zu können. Dabei sollte die Entlassung ein gutes Zeichen sein: Der Körper ist weitgehend geheilt, stark genug für ein Leben ohne ständige Behandlungen und Operationen. Doch Ingrid Kieninger ver-steht auch die Angst ihrer obdachlosen Patienten. Draußen zu leben ist für sie lebensgefährlich. In der Krankenstube in der Seewartenstraße in Hamburg wissen sie das.

Thomas (55) wollte es lange nicht wahrhaben. Als seine Freunde den schweren weißhaarigen Mann im November von der Platte zur Krankenstube schleppten, war er zu schwach zum Stehen. »Ich konnte mich nicht mehr bewegen, habe kaum Luft bekommen«, erzählt er. Freiwillig wäre er nie zum Arzt gegangen, aus Angst vor der Diagnose, doch zur Gegen-wehr fehlte ihm die Kraft. Nach gutem Zureden der Schwes-tern in der Krankenstube traute er sich sogar in die Klinik. »Die haben hier so lieb auf mich eingeredet, da habe ich mich breitschlagen lassen.« Dass es um sein Leben ging, war ihm damals noch nicht klar.

Heute weiß Thomas, was mit ihm los war: schwere Diabetes, ein Lungenflügel war zusammengefallen. »Ein paar Stunden später wäre ich hinüber gewesen«, sagt er. »Das hier war

meine Rettung.« Als er aus der Klinik zurückkam, waren die Zimmer in der Krankenstube schon voll belegt, aber die Schwestern schoben noch ein Bett für ihn dazu. Sie halfen ihm beim Insulinspritzen, vier Mal am Tag, und pflegten seine ge-schundenen Beine und Füße. »Das kenne ich sonst nicht, dass einem bedingungslos geholfen wird«, sagt Thomas.

Achtzehn Betten hat die Krankenstation der Caritas auf St. Pauli in Hamburg, vier davon sind reserviert für Menschen mit Tuberkulose, sofern die Lungenkrankheit nicht mehr an-steckend ist. Die meisten Obdachlosen kommen mit Entzün-dungen an Füßen und Beinen, Hautgeschwüre, Bronchitis, Lungenentzündung, Krätze, schwere Erschöpfung, kaputte Zähne, Diabetes. Doch ohne Arzt, Medikamente und ein war-mes Bett zum Auskurieren sind auch solche Gebrechen schnell sehr ernst. »Eine entzündete Stelle kann schon zu Amputati-onen führen«, sagt Ingrid Kieninger. Auch erfrorene Finger, Füße oder Beine seien oft nicht mehr zu retten. Im vergange-nen Winter, bei vergleichsweise milden Temperaturen, muss-ten bei zwei Männern erfrorene Füße abgenommen werden.

Zu r ü c k i n e i n s e l b s t s t ä n d i g e s L e b e nSieben Tabletten, zwei Kapseln: »Das ist das Frühstück«, sagt Pavel. Über den Tag verteilt schluckt der 36-Jährige aus Polen zwölf Medikamente. Für ihn ist klar: »Ohne Krankenstube wäre ich tot.«Pavel ist schwer krank. Drei Jahre auf der Straße und viel zu viel Alkohol haben seine Leber zerstört. Immer wieder war er für kurze Zeit Patient in der Krankenstube, dann landete er wieder bei Kollegen oder auf der Straße. Diesmal bleibt er länger. »Die Krankenstube ist eine große Chance«, sagt er. »Aber auch die letzte Chance.«Seit fast einem Jahr lebt Pavel in der Pflegeeinrichtung auf St. Pauli. Alkohol hat er seitdem nicht mehr angerührt. Dafür lernt er

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 AUF ANDEREN STRASSEN | 21

»Das hier war meine Rettung«Von der Idee einer Bettpatenschaft für obdachlose und kranke Menschen  B E I T R A G : H I N Z U N D K U N Z T - G E R M A N Y, A n n a b e l Tr a u t w e i n | F O T O S : M a u r i c i o B u s t a m a n t e

Deutsch und macht Termine beim Arbeitsamt und beim Jobcenter. »Ich brauche eine richtige Arbeit«, sagt er. »Ich muss selber existieren.« »Es gibt viele Menschen, die kapiert haben: So wie die da draußen will ich nicht mehr leben«, sagt Ingrid Kieninger. Trotzdem müssen die Pa-tienten, sobald sie können, wieder weiterziehen. Im Schnitt sind sie nach 42 Tagen wieder drau-ßen - schlimmstenfalls auf der Straße. Um das zu verhindern, helfen die Sozialarbeiter in der Krankenstube auch beim Start in ein selbststän-diges Leben. Sie beschaffen verloren gegangene Dokumente, prüfen Ansprüche auf Rente oder Arbeitslosengeld, machen Termine beim Jobcen-ter, suchen ein neues Zuhause, einen neuen Ar-beitsplatz für die Patienten. Niemand soll hilflos vor die Tür gesetzt werden. »Wir müssen auch im Sinne der anderen kranken Obdachlosen da-für sorgen, dass wir die Leute weitervermitteln«, sagt Caritas-Sprecher Timo Spiewak.

Nur wenn ein Platz frei wird, kann ein neuer Patient nachrücken. Doch das Vermitteln wird immer schwieriger, sagt der Sprecher. 150 Men-schen suchten im vergangenen Jahr Schutz in der Krankenstube, mehr als 20 waren mehrmals in Behandlung. Danach landen einige doch wieder draußen - und müssen, wenn sie krank werden, wieder auf ein Krankenbett an der Seewarten-straße hoffen. Dabei sind es nicht nur alte Be-kannte, die die Hilfe der Krankenstube brauchen. »Es kann jeden treffen«, sagt Ingrid Kieninger.

Auch Volker (69) hatte einen anderen Plan. Der Plan war gut: Jahrelang arbeitete er im Controlling einer Reederei für Passagierschiffe, verdiente or-dentlich, lernte Schwedisch, Norwegisch und Dä-nisch. Als er aufs Rentenalter zuging, vereinbarte er mit der Firma eine zweijährige Verlängerung, um bleiben zu können. Doch als er 65 war, stellte sich der Betriebsrat quer. »Da war ich von einem Tag auf den anderen Rentner.«Er wollte das nicht wahrhaben, pfiff auf den Rentenantrag, lebte wei-ter wie bisher - »nur eben ohne Einkünfte«. Er verdrängte, dass seine Ersparnisse dahinschwan-den, er die Wohnung nicht mehr halten konnte, nicht mehr regelmäßig aß. Volker landete auf der Straße, jeden Gedanken an Zukunft blendete er aus. Auch dass er sich eines Tages im Kranken-haus von St. Georg wiederfand, scheint ihm heute schleierhaft. »Da liegt man in einem Bett, was ein anderer dringender braucht«, sagt er. In der Kran-kenstube hatte er Zeit, seine Wunden auszukurie-ren - auch die seelischen, die der plötzliche Schnitt in seinem Leben hinterlassen hatte. Inzwischen ist der Rentenantrag gestellt, Volkers Lebensabend ist gesichert. »Es ist gut, dass man hier einen An-laufpunkt hat, damit man wieder auf den richtigen Weg kommt«, sagt er. Und wenn es die Kranken-stube nicht gegeben hätte? »Da denke ich lieber nicht dran«, sagt Volker.

E i n e B e t t p a t e n s c h a f t f ü r 1 5 E u ro i m M o n a tThomas denkt oft daran, und dann geht es ihm mies. Die Medikamente sind teuer, weiß er. »Da schäme ich mich eigentlich schon für.«Wie die meisten Obdachlosen hat er keine Krankenversi-cherung, deshalb übernimmt die Caritas die Kos-ten für Behandlungen und Operationen. Für Per-sonalkosten, Miete und Essen kommen jedes Jahr

300 000 Euro von der Stadt. Mit einer neuen Idee versucht die Krankenstube nun, sich selbst zu hel-fen: Für 15 Euro im Monat können Menschen eine sogenannte Bettpatenschaft übernehmen. Das reicht zwar noch nicht für weitere Plätze, gleicht aber einige Engpässe aus, sagt die Leiterin.

Trotzdem muss die Krankenstube sparen. Es fehlt an Geld für Medikamente, gute Pflege-betten, ausgewogenes Essen. Einen Großteil der Ausstattung konnten die Schwestern und Pfleger aus dem ehemaligen Hafenkrankenhaus übernehmen, das früher an der Seewartenstraße stand. Was noch fehlte, wurde »zusammenge-schnorrt«, wie Ingrid Kieninger lachend sagt. Ihren Mut bewahrt sie sich, nach zwei Jahren als Leiterin der Krankenstube hat sie noch viel vor. Ihr Traum: Ein Pflegeheim, in dem kranke Ob-dachlose in aller Ruhe versorgt werden können – ohne die Angst vor dem nahenden Abschied.

Dieser Beitrag aus der Krankenstube in Ham-burg ist eine Momentaufnahme. Schon im Ja-nuar haben wir Thomas, Pavel und Volker dort kennengelernt. Thomas hat sein Krankenzimmer inzwischen geräumt, versucht nun wieder auf ei-

gene Faust zurechtzukommen. Volker und Pavel sind noch dort. Infos über das Projekt Bettpaten-schaften gibt es bei Caritas-Sprecher Timo Spie-wak unter [email protected].

01 Manchmal macht es den Unterschied zwischen Leben und Tod: In der Krankenstube der Caritas finden Obdachlose bedingungslose Hilfe. Die Nachfrage ist groß, doch das Geld ist knapp. Bettenpatenschaften sollen helfen.

02 Seit zwei Jahren leitet Ingrid Kieninger (links) die Krankenstube auf St. Pauli. Die in Hamburg ein-zigartige Einrichtung EXISTIERT bereits seit 1999. Ein Großteil der Ausstattung stammt aus dem ehemaligen Hafenkrankenhaus.

03 Wer ohne ärztliche Hilfe auskommt, muss die Krankenstube wieder VERLASSEN – und landet womöglich wieder auf der Straße. Weil viele Patienten nicht krankenversichert sind, zahlt die Caritas die Behandlungskosten.

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 201622 | BRENNPUNKT

Die Ehre gebührt euch: Deutsche Straßenmagazinverkäufer teilen Erfolg für Auszeichnung für StraßenmagazinT E X T : H I N Z U N D K U N Z T - G E R M A N Y, B e n j a m i n L a u f e r | F o t o s : M a u r i c i o B u s t a m a n t e

Das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt wurde kürzlich für seine Arbeit mit Obdachlosen und verletzlichen Menschen der Stadt mit

dem hochwertigen Bundesverdienstkreuz ausge-zeichnet. Aber die Herausgeberin Birgit Müller war fest entschlossen, dass ihre Straßenmaga-zinverkäufer die Ehre teilen sollten, denn deren Motivation zum Erfolg ist ein wahrer Beweis für das Motto der Straßenzeitung »Aufstehen statt aufgeben«. Trefft die Verkäufer die ihr eigenes Bundesverdienstkreuz bekommen haben.

HristoAuf der Sonnenseite des Lebens kennt Hristo sich aus: Er hat als Profifußballer in Bulgarien gutes Geld verdient. Dann hat er vor einigen Jahren alles verloren - und ist mit wenigen Eu-ros in der Tasche nach Hamburg gekommen. Hier war er sich dann für nichts zu schade, hat auch als Flaschensammler gearbeitet. Hristo hat sich nie beschwert, wenn es ihm mal schlecht ging. Inzwischen ist er Fußballtrainer in Harburg. Aufgeben kommt für ihn nicht in Frage - bewundernswert!

Sie leben auf der Straße, sind krank, allein oder haben immer wieder Pech im Leben: unsere Hinz&Künztler. Trotzdem schaffen sie es täg-lich aufs Neue, sich zu motivieren. Nach dem Motto: aufstehen statt aufgeben. Wer so mit sich beschäftigt ist, hat nie die Chance, einen echten Orden überreicht zu bekommen. Daher haben wir einigen Hinz&Künztlern einen ver-liehen. Stellvertretend für alle. Denn wir fin-den: Menschen, die das schaffen, haben eine Auszeichnung verdient.

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 BRENNPUNKT | 23

AnkeAnke ist eine echte Kämpferin! Das Leben kriegt sie einfach nicht klein. Egal wie hart es kommt: Anke glaubt daran, dass alles besser wird - ob-wohl sie die kalte Jahreszeit im Winternotpro-gramm verbringen und eine Bauchspeicheldrü-sen-Entzündung auskurieren musste. »Ich bin auf dem Weg raus aus der Obdachlosigkeit«, sagt sie überzeugt. Sie hofft, dass sie auch an-deren Obdachlosen Mut machen kann. Dass sie für ihren Durchhaltewillen jetzt einen Orden be-kommt, findet sie »total geil«. Eigentlich kennt sie Ordensverleihungen nur aus dem Fernsehen. »Dass ich so was selbst auch mal tragen darf, macht mich total stolz.« Und uns auch!

AdamAdam hat es nicht leicht. Jeden Tag habe er starke Schmerzen, sagt der gebürtige Pole. Seit drei Jahren hat er fünf Schrauben im Knie, die eigentlich längst wieder raus sein müssten - aber weil Adam nicht krankenversichert ist, kann er sich die Operation nicht leisten: »Ohne Versicherung kann ich nicht zum Arzt«, sagt er traurig. Häufig greift er stattdes-sen zur Flasche, wenn er morgens aus dem Winter-notprogramm raus muss. Trotzdem ist unter seiner rauen Schale ein weicher Kern. Wenn er kann, hilft er anderen gerne. Lass den Kopf nicht hängen!

SigiFrüher war Sigi selbst mal obdachlos und hat Hinz&Kunzt verkauft. Doch seit 22 Jahren arbeitet er jetzt schon in unserem Vertrieb. In seinem Leben gab es viele Hochs und Tiefs: Lange hatte er Schul-den, die er eisern wieder abarbeitete. Er war Alko-holiker und bekämpfte hartnäckig und erfolgreich seine Sucht. Er hatte einen schlimmen Unfall und mühte sich monatelang mit Physiotherapie; Sigi ist immer wieder aufgestanden - mit einer Energie, vor der man seinen Hut ziehen muss. Er ist das beste Beispiel dafür, dass es aus jeder Situation einen Aus-weg geben kann. Wir sind stolz auf dich, Sigi!

UweSein Job als Verkäufer ist wichtig für Uwe, der früher mal spielsüchtig war: »Für mich ist alles gut, seit ich bei Hinz&Kunzt bin«, sagt er. Schon 1993 fing er bei uns an - und hat hier seine Fa-milie gefunden, wie er sagt. Seine zweite Familie sind für ihn seine Kunden in der Rathauspas-sage. Dort ist er per Du mit so manchem Politi-ker und wird als »Volkes Stimme« gehört. Dass er jetzt auf dem Titelblatt zu sehen ist, macht ihn richtig stolz: »Wenn die in Hollywood das Foto sehen, kriege ich bestimmt einen Vertrag für einen Film.« Na hoffentlich!

FlummySchon seit zehn Jahren lebt Flummy auf der Straße - obwohl er erst 34 Jahre alt ist. »Zehn Jahre Tränen, Schweiß und Blut«, so nennt er es. Jede Nacht schläft er trotz Rückenschmer-zen auf dem kalten Boden, geschützt nur von einer Isomatte. Und denkt trotzdem an die, die noch weniger Glück hatten als er: »Eigentlich haben die Leute, die auf der Straße verstorben sind, so einen Orden verdient«, sagt Flummy. Genau dafür, dass er das so sieht, verleihen wir ihm einen. Und denken dabei auch an die vielen Toten, die die Straße fordert.

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 201624 | BRENNPUNKT

Ein Konto für Obdachlose (Bildquelle Flickr/Carsten Frenzl)

Ein Konto für ObdachloseEin Erfahrungsbericht A u s u n s e r e r Te x t w e r k s t a t t v o n D e t l e f F l i s t e r

Nachdem ich dieses Thema bekommen hatte, be-gann ich mutig mit meiner Recherche. Ich ging sowohl zur Commerzbank als auch zur Berliner Sparkasse, wo mir gesagt wurde, dass den Mit-arbeitern keine Informationen über ein Konto

für Obdachlose vorliegen. Es gab auch keine Informations-blätter, die die Kunden über ihr Recht auf ein Basiskonto ab September 2016 informieren.

D e s i n t e re s s e u n d m a n g e l h a f t e Vo r b e re i t u n gIch finde es höchst seltsam, dass die zuständigen Geldins-titute, die per Gesetz ab September dazu verpflichtet sind, ein Konto auch für obdachlose Menschen und Flüchtlinge anzubieten, ihren Mitarbeitern keine weiteren Informationen über das entsprechende Gesetz zukommen ließen. Die Com-merzbank und die Sparkasse, bei denen ich versucht habe, Informationen über das geplante Bürgerkonto einzuziehen, wirkten desinteressiert und unvorbereitet und es entstand der Eindruck, als wäre dieses Konto unerwünscht, vielleicht auch deshalb, weil sich damit kein Geld verdienen lässt.

Laut Gesetz müsste die Einrichtung von Bürgerkonten schon ab Herbst 2016 möglich sein. Des weiteren findet man Informationen nur im Internet auf speziellen Seiten, und es liegen keine Informationen in den Banken darüber aus, die den Bürger und Kunden über diese Möglichkeit informieren.

D e r Ve r s u c h , s i c h v o r d e r Ve r a n t w o r t u n g z u d r ü c ke nHaben die Geldinstitute etwa vor, die Gesetzgebung zu um-gehen? Dies würde ich in der Tat als Skandal sehen. Wenn man daran denkt, dass die Banken auch ihre unverbindliche Selbstverpflichtung von 1995, ein »Girokonto für Jeder-

mann« einzurichten, nur unzulänglich umgesetzt haben, liegt diese Vermutung sehr nahe. Die Bundesregierung vertritt die Ansicht, dass die Banken diese nur sehr halbherzig umgesetzt und zum Beispiel durch extrem unattraktive Bedingungen konterkariert haben. Die Europäische Union ist der Meinung, dass in Deutschland nach wie vor mehr als 700 000 Menschen kein Girokonto haben und sah sich daher gezwungen, die freiwillige Selbstverpflichtung in eine gesetzliche Vorschrift umzuwandeln. Mit der Schaffung des Bürgerkontos wird üb-rigens erst jetzt, ganze zwei Jahre später, eine EU-Richtlinie von 2014 umgesetzt. Die Frage ist: Warum erst jetzt?

B ü rg e r ko n t o a u c h f ü r O b d a c h l o s e u n d F l ü c h t l i n g eDas Recht auf ein Konto soll für jeden gelten, der sich le-gal auf dem Gebiet der Europäischen Union aufhält. Das soll für Staatsbürger von EU-Staaten genauso gelten wie für alle, die unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Gemeint sind Asylsuchende genauso wie Geduldete, die keinen Aufenthaltsstatus haben, aber nicht abgeschoben werden können.

Auch Menschen ohne festen Wohnsitz, also insbesondere Obdachlose, haben nach der Neuregelung ein Recht auf ein Konto. Das Recht soll auch für Inländer gelten, die eigentlich nicht auf ein Basiskonto angewiesen sind, es aber in Zukunft leichter haben sollen, in einem EU-Land ihrer Wahl ein Konto zu eröffnen.

Wa s B a n ke n a n b i e t e n m ü s s e n Dem Kontoinhaber müssen verbindlich, wie der Name Basis-konto schon sagt, die normalen Leistungen angeboten wer-den, die ein normales Girokonto ermöglicht. Dabei geht es vor allen um Ein- und Auszahlungen, Überweisungen, Last-schriften und sogenannte Zahlungskarten. Den Banken bleibt allerdings die Entscheidung überlassen, ob sie reine Gutha-benkonten anbieten oder ein Dispokredit gewähren.

Das Basiskonto muss nicht kostenfrei geführt werden und es dürfen marktübliche Gebühren und Entgelte erhoben werden. Gegen zu hohe Gebühren kann die Finanzdienstleis-tungsaufsicht (Bafin) vorgehen und auch Klagen von Verbrau-cherschutzverbänden sind zulässig. Bei Ablehnung des Antra-ges darf Beschwerde eingelegt werden, der innerhalb von vier Wochen entscheiden muss und die Bank zwingen kann, ein Basiskonto zu eröffnen, wenn der Eindruck entsteht, dass die Ablehnung zu Unrecht passierte.

A b l e h n u n g e i n e s K o n t o s u n d K ü n d i g u n gEine Ablehnung soll nur möglich sein, wenn der Antragsteller bereits über ein Basiskonto verfügt, eine Straftat gegenüber der Bank begangen hat oder ein Konto schon einmal aufgrund von Zahlungsverzug gekündigt wurde. Über eine Kontoeröff-nung muss innerhalb von zehn Tagen entschieden werden.

Wenn der Kontoinhaber unberechtigt sein Konto über-zieht und in Zahlungsverzug kommt, ist es der Bank möglich, das Konto zu kündigen. Bei Begleichung der Schulden kann er aber ein neues Konto beantragen.

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 BRENNPUNKT | 25

Wer ist arm? Wer sexy?Betrachtungen zum Spruch eines ehemaligen Berliner KommunalpolitikersE i n K o m m e n t a r a u s u n s e r e r Te x t w e r k s t a t t v o n J a n M a r k o w s k y

Als Klaus Wowereit noch Regierender Bürgermeister von Berlin war, sagte er vor laufender Kamera und offenen Mikrofonen über das hoch verschul-

dete Berlin, die Stadt sei »arm, aber sexy«. Das war im November 2003. Berlin hatte mit den Folgen der Deindustrialisierung zu kämpfen, und die damals schon riesigen Schulden des Stadtstaates wuchsen munter weiter. Doch die klamme Stadt war schon damals attraktiv. Fast fünf Millionen Touristen übernachteten 2003 in Berliner Hotels und Pensionen und sorgten für 11 Millionen Übernachtungen.

I c h a r m ?Ich lebte von 2000 bis 2008 ohne festen Wohn-sitz. Die meiste Zeit war ich mittellos. Nach der Definition der OECD war ich arm. Doch war ich wirklich arm? Auch ohne Geld habe ich in der Regel gut und fest geschlafen, habe regelmäßig ausreichend gegessen, habe mich regelmäßig ge-duscht, regelmäßig meine Kleidung gewechselt und noch Zeit gehabt, mich einzubringen. An-dere Menschen wollten, dass ich zu bestimmten Zeiten sauber mache, dass ich außerhalb von Berlin auftrete, dass ich mich als Schauspieler an Theaterprojekten beteilige. Um meine Teil-nahme an solchen Projekten zu sichern, wurde für mich Essen organisiert, wurden Fahrkarten gekauft. Ich habe mir nie Sorgen über das phy-sische Überleben machen müssen, und ich habe mich eingebracht. Gelebte Inklusion.

I s t e i n M e n s c h , d e s s e n K o n t o g u t b e s t ü c k t i s t , w i r k l i c h re i c h ?Die offiziellen Mitarbeiter in Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit wurden materi-ell bevorzugt. Materiell fehlte es ihnen an nichts. Aber sonst? Ein kleiner Ausschnitt aus einem nicht ganz freiwilligen Gespräch soll das illust-rieren. »Sind Sie für die Solidarnosc?« - »Aber selbstverständlich, mein Herr.« - »Wussten Sie, dass der Herr Walesa Millionen mitgenommen hat?« - »Ich gebe Ihnen einen guten Rat… Weni-ger Schundliteratur…« Die Genossen Vernehmer hatten null Ahnung, Umgang nur mit ihresglei-chen und Meinungen nur aus zugelassenen Quel-len. Das »Hintergrundmaterial für den Propagan-disten« hatte mit der Wirklichkeit auf dieser Welt so viel zu tun wie der berüchtigte, im Fernsehen der DDR gesendete »Schwarze Kanal« eines Karl Eduard von S. Dies ist eine andere Art von Armut - und ein Beispiel, dass Geld nicht alles ist.

Ein anderes Beispiel ist Thilo Sarrazin, den »Bild« und »BZ« kürzlich wieder aus der Ver-senkung holten. Etwas wirklich Neues hatte er

nicht zu sagen. Warum der ehemalige Bahnvor-stand, Finanzsenator, Vorstand der Bundesbank und Autor fremden- und menschenverachtenden Trashs (»Deutschland schafft sich ab«) Wert auf Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Par-tei legt, erschließt sich mir nicht. Dieser Mensch lebt in seiner eigenen Welt. Er steht für die gut betuchten Menschen, die sich von uns abge-schottet haben. Wie bei den Stasi-Mitarbeitern gilt auch für Thilo Sarrazin: Materiell abgesi-chert, aber geistig arm.

We r i s t s e x y ?Karriere wird in den Medien oft als sexy darge-stellt. Ist das wirklich so?

In meinen Ostberliner Jahren hatte ich Mo-nika kennen gelernt, eine Frau, die fast nie über ihre Eltern sprach. Bei der Frage nach dem Vater gingen ihre Mundwinkel nach unten. Eine ein-deutige Antwort. Von Beruf oder Dienststelle war nie die Rede. Eines Tages tauchte im Freun-deskreis ein junges Mädel auf. Sie war Monikas Schwester, 16 Jahre alt. Ich wurde Zeuge, als sie zornig ihrem Freund von dem Gespräch mit ih-rem Vater erzählte. Dies waren typische Sätze: »Du wirst deine Zukunft ruinieren, wenn du dich da rumtreibst!« »Die Kreise sind gefähr-lich« »Willst du so werden wie deine Schwes-ter?« Auf die Frage, woher er denn wisse, wo sie gewesen und was das für ein Mensch sei, folgte ein entwaffnendes: »Meine Kollegen haben das genau beobachtet!«. In dem Augenblick wurde mir klar, weshalb Monika ihren Vater verach-tete. Er war bei der Dienststelle. Und er war sehr darauf bedacht, dass seine Töchter seinen Ruf nicht gefährdeten…

Ideologie hat den Vorteil der einfachen Antwort. Die Wirklichkeit wird ausgeblendet. Strenge Disziplin sorgt nach außen hin für Ord-nung. Doch wenn nach außen hin für die Karriere der Schein einer heilen Familie gewahrt werden muss, hat dies seinen Preis. Und die Entfremdung der Kinder, die mit den Lebenslügen ihrer Eltern nicht mehr leben wollen, ist ein verdammt hoher Preis für die Intoleranz gegenüber jedem Funken von Anderssein. Sexy ist für mich anders.

Ein Konto für ObdachloseEin Erfahrungsbericht A u s u n s e r e r Te x t w e r k s t a t t v o n D e t l e f F l i s t e r

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 201626 | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

01

skurril, famos und preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : R e d a k t i o n

01 INSTALLATION

Berlin Breslau 2016LUNETA 2016 ist eine begehbare, multimediale Installation, die Breslau und Berlin in Echtzeit miteinander verbindet. LUNETA (das Äußere ist ein hellblaues Kuppelzelt) gibt es in Breslau und in Berlin und im Inneren des Zeltes befindet man sich in Echtzeit in der jeweils anderen Stadt. Die Besucher können nicht nur die parallele Wirklichkeit des Partnerortes erleben, sie können auch etwas über Geschichte, Gegenwart und Zukunft beider Städte erfahren. Sich zur gleichen Zeit in beiden Städten in der Installation befindende Besucher werden füreinander sicht- und hörbar. Schirmherren von LUNETA sind der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, und der Stadtpräsident von Wrocław, Rafał Dutkiewicz.

9. Mai bis 3. Juli, täglich 10 – 22 Uhr • Eintritt frei

Bahnhof FriedrichstraßeDorothea-Schlegel Platz

Info: www.breslau.berlin/programm/luneta-2016/Foto: © AS-3d.de

04 NÄCHTLICHE VERANSTALTUNG

Nacht der offenen KirchenIn der Nacht von Pfingstsonntag auf Pfingstmontag werden wieder viele Kirchen in Berlin und Brandenburg ihre Türen öffnen. Rund 100 christli-che Gemeinden aller Konfessionen laden ein zu Konzerten, Kirchturm-Besteigungen, Orgelführungen, Gesprächen, Lesungen bei Kerzen-schein, Imbiss und vielem mehr. Die Liste der teilnehmenden Gemeinden mit ihren jeweiligen Programmen ist unter unten stehendem Link abzuru-fen. Die Auftaktveranstaltung zur Nacht der offenen Kirchen findet am Pfingstsonntag am Brandenburger Tor statt und beginnt um 17 Uhr.

15. Mai • kein Eintritt

Info: www.offenekirchen.deFoto: wikimedia commons/Tat2bln

03 SYMPOSIUM

Public Space: Fights and FictionsDer Öffentliche Raum ist kein Luxusproblem. Als Plattform politischer und gesellschaftlicher Ausein-andersetzungen ist er weltweit ein Grundpfeiler demokratischer Lebensform. Globales Kapital sowie autoritäre Machtstrukturen und Sicherheitsfragen gefährden die zivilgesellschaftliche Teilhabe am Öffentlichen Raum. Während eines 36-stündigen Programms mit Vorträgen, Tischgesprächen, Interviews, Filmscreenings, Performances und künstlerischen Interventionen wird die Akademie der Künste zur öffentlichen Bühne, zum Treffpunkt internationaler Diskursgeber und Gestalter. Eine Kooperation mit dem Goethe-Institut anlässlich der Ausstellung »DEMO:POLIS – Das Recht auf Öffentlichen Raum«.

19. Mai, 19 Uhr: Prolog • Eintritt frei

20. bis 21. Mai: 36-Stunden-Denkfabrik

Anmeldung unter Tel.: 200 57-1000 oder E-Mail: [email protected]

Akademie der KünsteHanseatenweg 1010557 Berlin

Info: www.adk.de/de/programm/

02 PODIUMSDISKUSSION

Internationaler Tag der PressefreiheitReporter ohne Grenzen veröffentlicht jährlich am 3. Mai, dem Internationalen Tag der Pressefreiheit, das Fotobuch »Fotos für die Pressefreiheit«. Die Buchserie dokumentiert in Bildern und Texten die Ereignisse des vergangenen Jahres und führt den Leser an Brennpunkte der Pressefreiheit. Neben der Buchvorstellung wird es an diesem Abend in einer Podiumsdiskussion um das Thema Gewalt gegen Journalisten in Deutschland gehen. Podiumsgäste sind Daniela Schadt, Peter Bandermann, Bernhard Schlink und Gemma Pörzgen von Reporter ohne Grenzen. Die Veranstaltung wird aufgezeichnet, deshalb ist nach Veranstaltungsbeginn kein Einlass mehr möglich.

3. Mai, 19:30 Uhr • Eintritt frei

Bitte anmelden unter: [email protected]

Salon Karl-Marx-BuchhandlungKarl-Marx-Allee 7810243 Berlin

Info: www.karlmarx-buchhandlung.com

04

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 TAUFRISCH & ANGESAGT | 27 K u l t u r t i p p s

VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

senden Sie ihn uns an:[email protected]

Je skurriler, famoser und preiswerter, desto besser!

06 THEATER

Public Viewing im Sony-Center Theater unter (fast) freiem Himmel: An diesem Mai-Wochenende werden auf der Großbildleinwand im Sony Center drei Inszenierungen des Berliner Theatertreffens gezeigt. Die Besucher können gemütlich im Liegestuhl Platz nehmen und inmitten von Gleichgesinnten Theater schauen und entspan-nen. Das Theatertreffen der Berliner Festspiele ist das bedeutendste deutsche Theaterfestival und versammelt Theaterschaffende und Theaterbegeis-terte aus der ganzen Welt in Berlin. Open air zu sehen sein werden: »Väter und Söhne«, eine Aufführung des Deutschen Theater Berlin (Freitag), »John Gabriel Borkman« vom Burgtheater Wien (Samstag) und »Effi Briest« - allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie« vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg (Sonntag).

13. Mai: 18 Uhr, 14. und 15. Mai: 16 Uhr • Eintritt: frei

Sony CenterPotsdamer Platz10785 Berlin

Info: www.sonycenter.de/aktuelle-events/

05 KURZKONZERT

Gedichte von Charles BukowskiClub der Toten Dichter - das sind die Musiker um Songwriter, Gitarrist und Sänger Reinhardt Repke. Gedichte von Heine, Busch, Rilke und Schiller haben sie bereits vertont. Jetzt haben sie sich Charles Bukowski vorgenommen. Gastsänger und Frontmann ist der Schauspieler Peter Lohmeyer. Gemeinsam verwandeln sie die Werke des US-amerikanischen Dichters und Schriftstellers in perfektes Kopfkino.

9. Mai, 19 Uhr • Eintritt frei

Dussmann das KulturkaufhausFriedrichstraße 9010117 Berlin

Info: www.kulturkaufhaus.de/de/¬ veranstaltungen/Foto: Oliver Betke

07 AUSSTELLUNG

Über das VerschwindenZentrales Thema von Barbara Wrede ist der Mensch, das alltägliche Drama, das Fremdsein, die Absurdität des individuel-len Seins und das Verschwinden. Mit sicherem Strich und feinem Gespür für Form und Inhalt begibt sie sich auf die Suche nach dem Wesentlichen. In der Ausstellung »Über das Verschwinden. Die Kappen der Anderen« werden figurative Werke gezeigt, die sich mit Tarnung, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Davor und dem Dahinter beschäftigen. Barbara Wrede lebt in Berlin und ist seit 1992 mit Werken in Ausstellungen vertreten.

Noch bis zum 29. Mai • Eintritt frei

Dienstag bis Sonntag, 10-18 Uhr

Schwartzsche VillaGrunewaldstr. 5512165 Berlin

Info: www.kultur-steglitz-zehlendorf.deFoto: Friedhelm Hoffmann

08 MUSIK

Jazz im ParkAm Pfingstwochenende wird der Pankower Bürgerpark wieder zu einem großen Festgelände. Dort treffen sich seit 2009 traditionell Jazzmusiker, bildende Künstler und Nachbarn zum »Jazz im Park«. So vielseitig wie der Jazz selbst präsentiert sich auch das Konzertpro-gramm des Festivals, das wieder von renommierten Jazz-Größen bestritten wird. Dazu gibt es: Kunstmarkt und Ausstellung, Attraktio-nen für Kinder und abwechs-lungsreiche Gastronomie. Unterstützt vom Bezirksamt und weiteren Partnern wird das Fest vom Verein »Für Pankow« und der Agentur Stage Craft ausgerichtet. 

14.-16. Mai • Eintritt frei

Bürgerpark PankowWilhelm-Kuhr-Str. 813187 Berlin

Info: www.pankow-feiert.deFoto: Veranstalter

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 201628 | AUS DER REDAKTION

Randgruppe der ErinnerungErstmals wurden in Berlin Stolpersteine verlegt, die an von den Nazis als »Asoziale« verfolgte wohnungslose Menschen erinnern T E X T : J u t t a H e r m s

Die Sonne scheint, aber die Luft ist kalt an diesem 21. April. Gunter Demnig legt die Steine zu-recht, die hier am Alexanderplatz in den Boden eingefügt werden sollen. Vorhandene Pflaster-steine müssen zersägt, Zwischenräume ausge-

füllt werden. Eine Menschentraube hat sich um den am Bo-den arbeitenden Demnig gebildet. Es ist laut, viele Touristen sind hier unterwegs, Trams fahren vorbei. Gunter Demnig ist Künstler und Initiator der sogenannten Stolpersteine. In Ber-lin hat er in den letzten 20 Jahren über 6 000 von ihnen verlegt; für Menschen, die von den Nationalsozialisten als »Asoziale« verfolgt wurden, sind es die ersten.

Die fünf Stolpersteine, die Demnig hier, in unmittelbarer Nähe zur Weltzeituhr, in den Betonboden einarbeitet, sind fünf wohnungslosen Männern gewidmet, deren Lebensge-schichten sich nun auf den zehn mal zehn Zentimeter großen Messing oberflächen verdichten. Alle fünf sind im KZ Sach-senhausen ermordet worden. Für drei der fünf Wohnungs-losen war das Arbeitshaus Berlin-Rummelsburg eine Station ihres Verfolgungsschicksals. Ein extra verlegter sogenannter Kopfstein bildet die Überschrift zu den fünf Steinen. Auf ihm steht: »Menschen ohne festen Wohnsitz wurden von den Na-zis als ›asozial und arbeitsscheu‹ stigmatisiert und kriminali-siert, verfolgt und ermordet.«

Als »asozial« oder »gemeinschaftsfremd« galten für die Nationalsozialisten alle von ihnen als minderwertig einge-stufte Menschen, die nicht oder ungenügend arbeiteten, be-ziehungsweise unangepasst lebten. Darunter fielen Bettler, »Wanderer« und mittellose Alkoholkranke. Bereits 1933 gab es eine groß angelegte »Bettlerrazzia«. 1938 bildete die

Gruppe der als »asozial« Verfolgten zeitweise die größte Häftlingsgruppe in den nationalsozialistischen Konzentrati-onslagern, unter ihnen auch zahlreiche Wohnungslose. »In der rassistischen Politik der Nationalsozialisten war soziale Devianz von den Normen der ›Volksgemeinschaft‹ stets ein Anlass für gewaltsame Verfolgung«, sagt Michael Wildt, His-toriker und Professor an der Humboldt-Universität Berlin.

Auf Wildts Idee geht die Schaffung von Stolpersteinen für da-mals als »Asoziale« stigmatisierte wohnungslose Menschen in Berlin zurück. Gemeinsam mit der Berliner Koordinierungs-stelle Stolpersteine wurde die Verwirklichung des Projekts initi-iert, ein Doktorand von Wildt setzte in mühsamer Archiv arbeit die Biografien der fünf damals Wohnungslosen zusammen.

Für den Alexanderplatz als Ort für die Stolpersteine ent-schied man sich, sagt Sören Schneider von der Koordinie-rungsstelle Stolpersteine Berlin, da man einen öffentlichen Ort wählen wollte, an dem sich in den 20er und 30er Jah-ren Menschen ohne Arbeit und Wohnung aufhielten und an dem sich auch heute wohnungslose Menschen aufhalten. Zudem gab es in der Nähe des heutigen Alexanderhauses während des »Dritten Reiches« das »Restaurant Aschin-ger« , welches wegen seiner günstigen Preise auch von Wohnungslosen besucht wurde.

Thomas Irmer, Leiter des Gedenkortes Arbeitshaus Rum-melsburg, erinnert in seinem Statement während der Stolper-steinverlegung am 21. April daran, dass auf dem Gelände des heutigen Kaufhauses Alexa bereits zu preußischer Zeit ein Ar-beitshaus stand, »das dazu beitragen sollte, dass die ›Gassen-Bettelei in Berlin schlechterdings abgeschafft werde‹«. Somit, so Irmer, stehe der Alexanderplatz symbolisch auch für »die Verdrängnung und das Wegschließen von sogenannten sozi-alen Außenseitern«.

Dass erst heute Stolpersteine für die Gruppe der Asozia-len verlegt werden, hat nach Ansicht von Sören Schneider von der Koordinierungsstelle Stolpersteine verschiedene Gründe. Als »asozial« Verfolgte würden in der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus noch immer margi-nalisiert und eine Anerkennung der Verfolgung, wie sie für andere Verfolgte erkämpft wurde, sei nicht gegeben. Damit gehe einher, dass die wissenschaftliche Bearbeitung der Ver-folgung »Asozialer« im Nationalsozialismus noch nicht weit fortgeschritten sei. Dies mache Nachforschungen zu diesen Menschen ungleich schwerer als zum Beispiel bei jüdischen NS-Opfern, so Schneider.

Zum großen Teil sind es in Berlin Angehörige damaliger Op-fer, die eine Stolpersteinverlegung initiieren. Als »asozial« Verfolgte haben sehr häufig keine lebenden Angehörigen mehr. Denn viele der Opfer sind bereits zur Zeit ihrer Ver-folgung mittleren Alters gewesen. Zudem sind bei einem Teil von ihnen Zwangssterilisierungen durchgeführt worden, da die Nationalsozialisten »asoziales Verhalten« auf genetische Faktoren zurückführten.

Fünf Stolpersteine und ein sogenannter Kopfstein: Alle fünf Männer kamen im KZ Sachsenhausen ums Leben (Foto: © Gerhardt/vip-pressefoto.de)

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 AUS DER REDAKTION | 29 R a t g e b e r

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»A L L E A N G A B E N O H N E G E WÄ H R«

TIPPS UND URTEILE TEIL 4Keine Zwangsverrentung bei BundesfreiwilligendienstR A T G E B E R : J e t t e S t o c k f i s c h

Ein Bundesfreiwilligendienst von mindes-tens zwölf Monaten löst einen Anspruch auf Alg I (§ 27 Abs.2 Satz 2 Nr. 1 SGB III) aus, weil Buftis voll versicherungs-

pfl ichtig sind, auch wenn die Beschäftigung nur geringfügig ist. Dieser Alg I-Anspruch verhin-dert die Pfl icht zur Antragstellung im Sinne des § 2 Unbilligkeitsverordnung.

So sieht des das LSG Berlin-Brandenburg in sei-nem Beschluss vom 28.8.2015 – L 29 1604/15 B ER, der die aufschiebende Wirkung der Klage ge-gen den Bescheid zur Stellung eines vorzeitigen Rentenantrags (ab 63 Jahre) feststellte.

Ähnlich sieht es auch das SG Berlin (Az. 135 AS 24938/ 15 ER), das die Begründung in § 4 Unbilligkeitsverordnung und somit in der voll versicherungspfl ichtigen Beschäftigung der Buftis sieht, auch wenn es sich hier, anders als bei sonstiger Erwerbstätigkeit nur um ein Ta-schengeld handelt.

Auch wenn es sich bei beiden Entscheidungen »nur« um den einstweiligen Rechtschutz handelt, der vorläufi g die Pfl icht zur Antragstellung ver-hindert, sind dies wichtige positive Beschlüsse für die Betroffenen. Haben sie sich zur Antrag-stellung von vorzeitiger Altersrente zwingen lassen, kann dieser Antrag nicht mehr zurück genommen werden. Endgültige Entscheidungen wird aber erst das Bundessozialgericht oder so-gar das Bundesverfassungsgericht treffen.

In der Regel verschicken die Jobcenter ohne jede Prüfung die Bescheide zur Verpfl ichtung der Antragstellung. Einwände der Betroffenen werden kaum beachtet. Hauptsache man muss nicht mehr für die Alg II-Bezieher zahlen. Das bis zur Rentenbewilligung an den Alg II-Bezieher gezahlte Geld holt sich das Jobcenter vom Ren-tenversicherungsträger zurück.

Wichtig! Solange Alg II-Bezieher keinen BE-SCHEID erhalten, einen Rentenantrag zu stel-len, sollten sie das auch nicht tun, wenn sie es

nicht wollen. Bekommen sie ein SCHREIBEN, dass sie Rente beantragen sollen, müssen sie das nicht tun. Dies ist nur eine Aufforderung dies zu tun!! Erst mit einer RECHTSMITTEL-BELEHRUNG wird aus dem Schreiben des Jobcenters ein Bescheid! Wollen Betroffene dem Bescheid der Verpfl ichtung zur Antrag-stellung der vorzeitigen Rente nicht folgen, müssen sie innerhalb eines Monats nach POSTEINGANG des Bescheids einen Antrag auf aufschiebende Wirkung beim Sozialgericht stellen. Es ist sinnvoll, dabei einen Anwalt in Anspruch zu nehmen.

Es gibt einige Gründe, keinen frühzeitigen Ren-tenantrag stellen zur wollen. Wenn die vorzei-tige Rente nicht bedarfsdeckend ist, bleibt man ein »Sozialfall«. Das heißt, man muss ergän-zend zur Rente aufstockende Leistungen bean-tragen. Bei vorzeitiger Rente ist dafür jedoch nicht die Grundsicherung im Alter zuständig, sondern die Sozialhilfe. In der Sozialhilfe ist der wichtigste Unterschied zur Grundsiche-rung im Alter, dass Kinder oder Eltern zum Unterhalt verpfl ichtet werden können. Erst mit der Altersrente (für 2016 beginnt die mit 65 Jahren und sieben Monaten) fällt man in die Grundsicherung bei der Eltern und Kinder erst ab einem Einkommen von mehr als 100 000 Euro pro Person unterhaltspfl ichtig werden.

Aber auch, wenn Betroffene eine bedarfsde-ckende Rente erreichen, zählt jeder Monat an dem noch keine Rente beantragt wurde, denn es vermindert die Abschläge zur Altersrente.

Übrigens, wenn Rentnerinnen die Kinder gebo-ren haben,glauben sie hätten mit der »Mütter-rente« ein wenig mehr Geld, gilt das nur für die, deren Rente zum Leben reicht. Rentnerinnen die aufstocken müssen, erhalten diese »Müt-terrente« zwar auch, doch wird sie voll auf die Sozialleistung als Einkommen angerechnet. Die Anerkennung der Kindererziehungsleistung, mit der sich die Regierung selbst bejubelt hat, fällt für arme Mütter im Rentenalter aus.

Geschenktes ZahngoldDie Mutter der Klägerin hatte ihrer Tochter ein wenig Zahngold, zur Begleichung der nicht von der Krankenkasse gedeckten Kosten der Zahn-behandlung, geschenkt. Erlös davon lumpige 30 Euro! AUSNAHMSWEISE darf es nicht auf die Sozialleistung angerechnet werden, so die Ent-scheidung des SG Bayreuth vom 22.9.2015 – S 17 AS 1078/1. Es ist so erbärmlich, dass dafür ein Gericht bemüht werden muss. Doch sind es die Gesetze, die so kleinlich sind, dass solche Hilfen AUSNAHMSWEISE vom Gericht erst gestattet werden müssen. Und keine Regierung schämt sich für solche Gesetze in Grund und Boden!

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strassenfeger | Nr. 9 | Mai 201630 | AUS DER REDAKTION K o l u m n e

Karikatur: Andreas Prüstel

Rockstars, die mit 27 berufsbedingt und alters-gerecht an einer Überdosis sterben, lösen ver-gleichsweise weniger Entsetzen aus als jene, die es mit 45 oder 57 erwischt. Denn das ist jetzt unser Alter, und eigentlich waren wir doch ge-

rade noch damit beschäftigt, nicht erwachsen zu werden. Jetzt sterben wir auf einmal. Und das ist eine radikale Neuigkeit.« Diese Erkenntnis von Sascha Lehnartz, so unglaublich präzise auf den Punkt formuliert, hat bei so manchem den Mechanis-mus, die eigene Endlichkeit zu ignorieren, in ihren Grund-festen erschüttert. Den Rest besorgt die Gemeinschaftstrauer einer begrenzten Generation über die sich lichtenden Reihen ihrer musikalischen Helden. Nicht verarbeitet in selbst ge-zimmerten Schreinen, dafür spontan in die Welt posaunt via Twitter, Facebook und Co.

Nun also auch Prince. Zu keinem passte in unserer Zeit der Name besser als zu jenem merkwürdig menschenscheuen, kleinen Kerl. Wenn es nicht geradezu grotesk anmuten würde, könnte Prince die Vorlage zu Antoine de Saint-Exupérys klei-nem Prinzen gegeben haben. Im Gegenzug der Popstar, im-mer perfekt gestylt, verpackte er seine Emotionen in Noten und atmete den Erfolg, die Bewunderung seiner Fans. An seine gelebte Musikalität reichten selbst die Fähigkeiten des King of Pop nie heran. Während sich Michael Jackson in den Metropolen der Westküste, gedrillt von seinem Vater und in die Obhut von Quincy Jones übergeben, vom Kinder- zum Popstar aufbauen ließ, erlernte der bereits virtuose Gitarrist Prince Rogers Nelson in Minneapolis weiter ein Instrument nach dem anderen, gründete Band um Band, um sie wieder aufzulösen und wieder neue zu gründen. Mit 17 war der charismatische Spross zweier Jazzmusiker schon eine kleine regionale Berühmtheit, bevor er mit 19 Jahren seinen ersten Plattenvertrag mit Warner abschloss. Für die Alben schrieb der selbstbewusste Prince sämtliche Texte und Arrangements, spielte Spur für Spur die Instrumenten-Parts ein, sang selbst

und produzierte auch noch die Alben. Eigenverantwortung für das Produkt Prince, ausnahmslos!

T h e A r t i s t Fo r m e r l y K n o w n A s P r i n c eHollywood, San Francisco, Las Vegas oder New York konn-ten seinem Minneapolis in Minnesota nicht das Wasser rei-chen. Es lag ihm einfach nicht, sich in den vermeintlich mu-sikalischen Metropolen der USA anzubiedern, den Konsens mit dem Mainstream zu suchen. Stattdessen bot er den Major Labeln die Stirn, wurde zu einer Art Urheberrechtsrebell und verzichtete unbeirrbar sieben Jahre lang für diese musikali-sche Selbstbestimmung, sogar auf das Geburtsrecht seines Namens. Seine Experimentierfreude schien dieser Kampf sogar noch zu beflügeln. Virtuos, aber auch hemmungslos unverschämt begann Prince jeden erdenklichen Stil zu vari-ieren und mit anderen zu verschmelzen. Rock, R‘n‘B, Soul, Jazz und immer wieder Funk, jede erdenkliche Kombination wurde unter seiner Ägide zu purer Energie. Produktiv wie kaum ein zweiter Popmusiker beschritt er nun auch im Ver-trieb neue Wege. Sein Album »Crystal Ball« erschien 1998 exklusiv als Web-Download. Darauf folgende Alben veröf-fentlichte er über Independent-Label, wobei die registrier-ten User seiner Plattform NPG Music Club.com diese bereits vier Wochen vor dem Erscheinen downloaden konnten. Zum Aufreger wurde das Erscheinen seines Albums »Planet Earth«. Trotz eines Vertriebsvertrages mit Sony lag der Sil-berling am 15. Juli 2007 in der The Mail On Sunday gratis bei. Weitere Erscheinungen anderer Alben, beispielsweise im Rolling Stone Magazin, kommentierte der Exzentriker mit den Worten: »Ich muss nichts mehr aufnehmen, um Essen kaufen zu können oder um Steuern zahlen zu können. Ich habe mich sehr auf diesen Tag gefreut. Freiheit ist eine inter-essante Sache. Man muss sehr hart arbeiten, um frei zu sein.«

Am 21. April 2016 fand diese Freiheit mit dem Tod von Prince Rogers Nelson ein jähes Ende. Nun weinen die Tauben wirklich.

When Doves CryE I N N A C H R U F : H e n n i n g H a f f

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Vorschau

s t r a s s e n fe g e r N r. 1 0

»Was soll das Ganze hier?«erscheint am 16. Mai 2016

LOMAN LÄUFT

STOLPERSTEINE

SINN DES LEBENS?

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strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2016 AUS DER REDAKTION | 31

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ImpressumH E R AU S G E B E R mob – obdachlose machen mobil e.V.Storkower Str. 139d, 10407 BerlinTelefon: 030 - 467 946 11 | Fax.: 030 - 467 946 13

V O R S I TZ E N D E Olga Perwuchin, Mara Fischer, Edgar Schulze

R E DA K T I O N Nadin Schley (V.i.S.d.P.)

R E DA K T I O N E L L E M I TA R B E I TAstrid, Carl S. Bad, André Berg, Detlef Flister, Henning Heff , Jutt a Herms, Christian Klumpp, Benjamin Laufer (Hinz & Kunzt), Nina Lörken, Jan Markowsky, Annabel Trautwein (Hinz & Kunzt)

T I T E L B I L D Benjamin Schmitt , a supporter of the foodsharing movement searches food in a dumpster behind a supermarket in Berlin, January 31, 2013(Foto: REUTERS/Fabrizio Bensch)

K A R I K AT U R Andreas Prüstel

D E S I G N V O R L A G E Thekla Priebst

S ATZ U N D L AYO U T Ins Kromminga

S C H R I F T E N Karmina Sans (mit freundlicher Genehmigung von typetogether), Life

B E L I C H T U N G & D RU C K Union Druckerei Berlin

R E DA K T I O N S S C H LU SS 27. April 2016

R E DA K T I O N Storkower Str. 139d, 10407 BerlinTelefon: 030 - 419 345 91 | [email protected]

A B O - KO O R D I N AT I O N & A N Z E I G E Nmob – obdachlose machen mobil e.V.Telefon: 030 - 419 345 91

AdressenT R E F F P U N K T K A F F E E B A N K ROT TStorkower Str. 139d, 10407 BerlinTelefon: 030 - 447 366 41 Öff nungszeiten: Mo bis So 8.00 – 19.30 UhrZeitungsverkauf: bis 19.30 Uhr

N OT Ü B E R N A C H T U N G Adresse: Storkower Straße 139c, 10407 BerlinTelefon: 030 9120 67 24, Fax: 030 9120 67 31Einlass: Ab 18 Uhr

T RÖ D E L P O I N T B E I M O B E .V.Storkower Str. 139d, 10407 BerlinMontag bis Freitag 8.00 – 18.00 UhrTelefon: 030 - 246 279 [email protected]

W W W. ST R A S S E N F EG E R .O RG

Namentlich genannte Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Es war nicht möglich, bei al-len Bildern die Urheber festzustellen. Betroff ene melden sich bitt e bei uns. Für unverlangt eingesandte Fotos, Manuskripte oder Illustrationen übernehmen wir keine Haft ung.Der strassenfeger ist off en für weitere Partner. Interessierte Projekte melden sich bitt e bei den Herausgebern.

Vo r l e t z t e S e i t e

Sozialwarenkaufhaus »Trödelpoint« von mob e.V.

Das Sozialwarenkaufhaus »Trödelpoint« in der Storkower Straße 139D lädt ein: Auf etlichen Quadratmetern kann hier stöbern, wer nach günstigen gebrauchten Gebrauchsgegenständen sucht. Einkaufen darf, wer seine Bedürftigkeit durch den Berlinpass oder sonstigen Nachweis des Sozialhilfebezugs nachweisen kann, aber auch Studenten und Rentner können sich hier günstig einrichten. Hartz IV-Bezieher haben die Möglichkeit, wenn sie über keinerlei Wohnungs-einrichtung verfügen, einen Antrag auf Erstausstattung für die Wohnung beim zuständigen Jobcenter zu stellen.

Vom Jobcenter gibt es eine Kostenübernahme und mit der kann man sich im »Trödelpoint« was Schickes und Praktisches aussuchen.

Wer etwas abzugeben hat, das noch funktioniert, darf es zu den Öffnungszeiten vorbeibringen oder mit unserem Team einen Abholtermin vereinbaren.

Öffnungszeiten: Montag bis Freitag jeweils von 8 bis 18 UhrTelefon: 030 - 24 62 79 35, Fax: 030 - 24 62 79 36E-Mail: [email protected]

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Ein Dach über dem Kopf

Die Spendenkampagne »Ein Dach über dem Kopf« wurde von mob – obdachlose machen mobil e.V. und der sozialen Straßenzeitung strassenfeger gestartet, um obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen wirksam helfen zu können. Damit mob e. V. und strassenfeger diese Menschen wirksam und nachhaltig unterstützen kann, brauchen wir dringend Ihre Hilfe!

Ich unterstütze die Spendenkampagne »Ein Dach über dem Kopf« einmalig mit EUR

Ich unterstütze die Kampagne »Ein Dach über dem Kopf« regelmäßig mit monatlich EUR

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Ich werde Mitglied im Freundeskreis mob e. V./strassenfeger und unterstütze die sozialen Projekte des Vereins monatlich mit 50 EUR

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SEPA-Lastschrift mandatHiermit ermächtige ich den mob e. V., Zahlungen von meinem Konto per Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die vom o.g. Verein von meinem Konto gezogene Lastschrift einzulösen. Hinweis: Ich kann innerhalb von acht Wochen – beginnend mit dem Belastungsdatum – die Erstatt ung des eingezogenen Betrages verlangen. Dabei gelten die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen. Wir versichern, dass Ihre Daten nur für interne Zwecke bei mob e.V. verwendet werden. Vielen Dank für Ihre Spende!

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Waldi verkauft den strassenfeger und braucht auch Ihre Hilfe!