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Gunther Seitz Ahh. 1. Die .,Affenge~chichte" 7ur Ver.in- \chaulichung dcr Kc.kule\chen O\cillation+ theorie a u ~ F. W. Findisc Pamphlet .,Re- richte der durctigen Clieniischen Grewll- schaft". Unerhorter Jahrgnng Nr. 2s. Aromatizitat und ihre Bedeutung fur das Pharmakon Durch ein didaktisch besonders anschauli- ches Gleichnis ist es F. W. Findig vor etwa 100 Jahren auf humoristische Weise gelun- gen, auch dem Uneinsichtigsten Kekules Benzolformel und die Oscillationstheorie nahezubringen und klarzumachen [l]. In einem Pamphlet ,,Zur Constitution des Ben- zols" stellt besagter Autor (unter einem Pseu- donym) namlich fest, wie perfekt doch die Analogie zwischen Kohlenstoffatomen und Vertretern der Affenspezies macacus cyno- cephalus ist. Konnte man veranlassen, dai3 sich 6 Affen gemai3 Abbildung 1 a die Hande reichen, so wurden sie einen 6-Ring bilden in vollkommener Obereinstimmung mit der Kekulischen Cyclohexatrienstruktur. Zudem ist aber auch bekannt, dai3 Affen ihren Schwanz als Greifwerkzeug benutzen konnen. Es besteht also fur die 6 Affen eine weitere Moglichkeit zur Formation ekes 6-Ringes, namlich im Sinne von Abbildung 1 b, die einer zweiten Form des Kekuleschen Sechsecks entspricht. Findig beschliei3t sein zoologisch-chemisches Gleichnis - hier nur dem Sinne nach wiedergegeben - mit den Worten: ,,Je nach der Lage nun, in der sich ein Benzol- ring jeweilig befindet, wird er die eine oder die andere dieser beiden Formen annehmen und dementsprechend eine stetig wechselnde Constitution besitzen." Obwohl dieses Denkmodell inzwischen durch bessere ersetzt ist, wird Benzol auch heute noch, mehr als 100 Jahre nach KekulCs Formulierung, durch die Kekulischen Grenz- strukturen beschrieben; jedoch lassen sich die Bindungsverhaltnisse im Benzol besser zum Ausdruck bringen, wenn man die sechs voll- standig delokalisierten Jc-Elektronen durch einen Kreis im Sechsring symbolisiert. Benzol gilt als Prototyp der Aromaten und erweist sich in der Summe seiner Eigenschaf- ten als einmalig. Dies macht verstandlich, dai3 das Phanomen Benzol und der Begriff Aromatizitat viele Chemiker immer wieder fasziniert haben [2]. Was macht das Benzol und andere Aromaten fur den Pharmazeuten interessant? Sicherlich doch die Antwort auf die Frage: Sind Benzol und seine Derivate und der damit eng verknupfte Begriff vom aromatischen Charakter fur das Pharmakon relevant? Macht man sich die geringe Muhe und schaut nach, ob es Arzneimittel mit ,,Aromatizitat" gibt, so stellt man uberrascht fest, dag in nahezu allen Wirkstoffgruppen Aromaten geradezu vorherrschen. Fast be- reitet es Schwierigkeiten, Arzneistoffe ohne aromatische Ringsysteme ausfindig zu ma- chen. Abbildung 3 kann das verdeutlichen. Hier ist je ein typischer, seit langerer Zeit in der Therapie bewahrter Vertreter aus willkurlich ausgewahlten Wirkstoffgruppen unseres Arzneischatzes dargestellt; alle tragen zwei aromatische Ringsysteme als markante Kenn- zeichen. Doch wie essentiell sind aromatische Bausteine fur Pharmaka? Lidocain, ein sehr gut wirksames Lokalanaesthetikum, verliert signifikant an Aktivitat, wenn man den aro- matischen Benzolring hydriert. Dabei lassen sich, wie Abbildung 4 demonstriert, drei isomere Cyclohexanderivate isolieren, von denen zwei lokalanaesthetisch nicht mehr wirksam sind; lediglich das Produkt mit axialer Aminfunktion und cis/cis-Konfigu- ration (unten links im Formelbild) erreicht noch etwas mehr als die halbe Aktivitat des aromatischen Eduktes.'" Umgekehrt ist es aber auch moglich, durch Hydrierung eine pharmakologisch harmlose, aromatische Verbindung in eine augerst toxi- sche Substanz umzuwandeln (Abbildung 5). Dies bewies Ladenburg schon im Jahre 1886, als es ihm im Zuge der ersten Alkaloid- synthese gelang, aus 2-Propenyl-pyridin racemisches Coniin darzustellen; (f )-Coniin ist ja bekanntlich der todliche Wirkstoff des '"H. Oelschlager, H. T. Oei, H. Linde und N. Barock, Arch. Pharm. (Weinheim) 308, 603 (1975). Pharrnazie in unserer Zeit / fi. Jahrg. 1976 / Nr. 6 177

Aromatizität und ihre Bedeutung für das Pharmakon

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Gunther Seitz

Ahh. 1 . Die .,Affenge~chichte" 7ur Ver.in- \chaulichung dcr Kc.kule\chen O\cillation+ theorie a u ~ F. W. Findisc Pamphlet .,Re- richte der durctigen Clieniischen Grewll- schaft". Unerhorter Jahrgnng Nr. 2s.

Aromatizitat und ihre Bedeutung fur das Pharmakon

Durch ein didaktisch besonders anschauli- ches Gleichnis ist es F. W. Findig vor etwa 100 Jahren auf humoristische Weise gelun- gen, auch dem Uneinsichtigsten Kekules Benzolformel und die Oscillationstheorie nahezubringen und klarzumachen [l]. In einem Pamphlet ,,Zur Constitution des Ben- zols" stellt besagter Autor (unter einem Pseu- donym) namlich fest, wie perfekt doch die Analogie zwischen Kohlenstoffatomen und Vertretern der Affenspezies macacus cyno- cephalus ist. Konnte man veranlassen, dai3 sich 6 Affen gemai3 Abbildung 1 a die Hande reichen, so wurden sie einen 6-Ring bilden in vollkommener Obereinstimmung mit der Kekulischen Cyclohexatrienstruktur.

Zudem ist aber auch bekannt, dai3 Affen ihren Schwanz als Greifwerkzeug benutzen konnen. Es besteht also fur die 6 Affen eine weitere Moglichkeit zur Formation ekes 6-Ringes, namlich im Sinne von Abbildung 1 b, die einer zweiten Form des Kekuleschen Sechsecks entspricht. Findig beschliei3t sein zoologisch-chemisches Gleichnis - hier nur dem Sinne nach wiedergegeben - mit den Worten:

,,Je nach der Lage nun, in der sich ein Benzol- ring jeweilig befindet, wird er die eine oder die andere dieser beiden Formen annehmen und dementsprechend eine stetig wechselnde Constitution besitzen."

Obwohl dieses Denkmodell inzwischen durch bessere ersetzt ist, wird Benzol auch heute noch, mehr als 100 Jahre nach KekulCs Formulierung, durch die Kekulischen Grenz- strukturen beschrieben; jedoch lassen sich die

Bindungsverhaltnisse im Benzol besser zum Ausdruck bringen, wenn man die sechs voll- standig delokalisierten Jc-Elektronen durch einen Kreis im Sechsring symbolisiert.

Benzol gilt als Prototyp der Aromaten und erweist sich in der Summe seiner Eigenschaf- ten als einmalig. Dies macht verstandlich, dai3 das Phanomen Benzol und der Begriff Aromatizitat viele Chemiker immer wieder fasziniert haben [2]. Was macht das Benzol und andere Aromaten fur den Pharmazeuten interessant? Sicherlich doch die Antwort auf die Frage: Sind Benzol und seine Derivate und der damit eng verknupfte Begriff vom aromatischen Charakter fur das Pharmakon relevant? Macht man sich die geringe Muhe und schaut nach, ob es Arzneimittel mit ,,Aromatizitat" gibt, so stellt man uberrascht fest, dag in nahezu allen Wirkstoffgruppen Aromaten geradezu vorherrschen. Fast be- reitet es Schwierigkeiten, Arzneistoffe ohne aromatische Ringsysteme ausfindig zu ma- chen.

Abbildung 3 kann das verdeutlichen. Hier ist je ein typischer, seit langerer Zeit in der Therapie bewahrter Vertreter aus willkurlich ausgewahlten Wirkstoffgruppen unseres Arzneischatzes dargestellt; alle tragen zwei aromatische Ringsysteme als markante Kenn- zeichen. Doch wie essentiell sind aromatische Bausteine fur Pharmaka? Lidocain, ein sehr gut wirksames Lokalanaesthetikum, verliert signifikant an Aktivitat, wenn man den aro- matischen Benzolring hydriert. Dabei lassen sich, wie Abbildung 4 demonstriert, drei isomere Cyclohexanderivate isolieren, von denen zwei lokalanaesthetisch nicht mehr wirksam sind; lediglich das Produkt mit axialer Aminfunktion und cis/cis-Konfigu- ration (unten links im Formelbild) erreicht noch etwas mehr als die halbe Aktivitat des aromatischen Eduktes.'"

Umgekehrt ist es aber auch moglich, durch Hydrierung eine pharmakologisch harmlose, aromatische Verbindung in eine augerst toxi- sche Substanz umzuwandeln (Abbildung 5). Dies bewies Ladenburg schon im Jahre 1886, als es ihm im Zuge der ersten Alkaloid- synthese gelang, aus 2-Propenyl-pyridin racemisches Coniin darzustellen; (f )-Coniin ist j a bekanntlich der todliche Wirkstoff des

'"H. Oelschlager, H. T. Oei, H . Linde und N. Barock, Arch. Pharm. (Weinheim) 308, 603 (1975).

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Schierlingbechers, der 399 v. Chr. in Athen zur Hinrichtung von Sokrates diente und so traurige Beruhmtheit erlangte.

In einem anderen Beispiel bestimmt der aromatische Ring die Wirkungsdauer eines Pharmakons. So stellt Cyclobarbital (Phano- dorm@) bekanntlich ein Barbiturat mit kurzer Wirkungsdauer dar. Ersetzt man aber das Cyclohexenylsystem durch den aromatischen Benzolring, dann erhalt man im Phenobarbi- tal (Luminal@) ein typisches Durchschlaf- mittel mit verlangerter Wirkung. Den Ein- flui3 eines aromatischen Ringes auf das Wir- kungsspektrum sowie auf die mittlere Tages- dosis ersieht man aus der Gegenuberstellung der beiden Amphetamine Pervitin und Even- tin. Fur das im Sechsring hydrierte Pharma- kon sind die peripheren adrenergischen Ef- fekte weniger ausgepragt, die mittlere Tages- dosis ist beim aromatischen Pervitin 10-20 ma1 geringer als beim Eventin mit einem Cyclohexanring anstelle des Phenylrestes (Abbildung 6).

Besonders evident wird die Bedeutung aro- matischer Ringsysteme fur das Pharmakon

Abb. 3 . Vertreter willkiirlich ausgewahlter Wirkstoffgruppen mit aromatischen Ring- systemen.

Abb. 4. Lidocain und seine nichtaromati- schen Hydrierungsprodukte, von denen lediglich das Isomer (links unten) mit axialer Aminfunktion und aequatorialen Methylgruppen noch geringe Wirksamkeit aufweist.

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im Vergleich weiblicher und mannlicher Keimdrusenhormone. Die Konstitution des Hormons Testosteron, das fur die Entwick- lung mannlicher Geschlechtsmerkmale ver- antwortlich ist, gleicht in allen Details dem genuinen ostrogenen weiblichen Sexual- hormon Oestradiol (Abbildung 6). Der ein- zige Unterschied liegt darin, dai3 Ring A im weiblichen Hormon aromatisch ist. Auf molekularer Ebene besitzt eine schone Frau offensichtlich mehr ,,Aromatizitat" als ein noch so attraktiver Mann.

Diese wenigen Beispiele zeigen rein phano- menologisch, dai3 aromatische Bausteine fur die Wirksamkeit eines Pharmakons von ent- scheidender Bedeutung sein konnen. Es er- scheint deswegen sinnvoll, neuere Modell- vorstellungen uber ,,Aromatizitat" kennen- zulernen, um beurteilen zu konnen, welche Bedeutung aromatische Molekule oder Mo- lekulteile besitzen fur die verschiedenen Pha- sen der Arzneimittelwirkung, namlich die pharmazeutische, pharmakokinetische und pharmakodynamische Phase.

wohnlichen Stabilitat, seinem regenerativen Verhalten bei Substitutionsreaktionen, seiner diatropen Eigenschaft und seiner hohen Re- sonanzenergie enveist sich als einzigartiges Molekul und wird zu Recht als ,,Aromat par excellence" bezeichnet [2].

Diese Vollkommenheit des Benzolmolekuls wird besonders deutlich im Vergleich mit

seinem nachstniederen und nachsthoheren Homologen, mit Cyclobutadien und Cyclo- octatetraen. Alle drei genannten Kohlen- wasserstoffe zahlt man heute zur Gruppe der Annulene, einer homologen Reihe mono- cyclischer konjugierter Polyene der allgemei- nen Zusammensetzung (C2HJn. Das Cyclo- butadien ware als [4]-Annulen, Benzol als [6]-Annulen und Cyclooctatetraen als [8]-

Abh. i. Beispiel fur eine ,,Giftung" durch Umwnndlung eines Aromaten in das hy- driertc nichtnromatische Annlogon, (Ln- denhurg-Synthese von (?)-Coniin).

Benzol mit seiner hexagonal planaren Struk- tur, seinem speziellen x-Elektronensystem, seiner gegenuber vielen Reagenzien unge-

Abh. 6. Ckgenuberstellung aromatischer (link?) und nichtaromatischer Pharmakn (recht5), Erlauterung siehe Text.

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Annulen zu benennen; zur Charakterisierung stellt man die Zahl der Ringglieder in eckigen Klammern voran.

Fur alle drei Spezies lassen sich wie beim Benzol je zwei Grenzstrukturen formulieren (s. Abbildung 7), so daf3 man geneigt ist, fur alle eine zumindest in der Tendenz gleich- artige Mesomeristabilisierung anzuneh- men.

Weit gefehlt! Cyclobutadien ist derart in- stabil, da13 es bis heute trotz unzahliger Syn- theseversuche noch nicht als Substanz isoliert werden konnte; es gelang lediglich durch Anwendung der Matrix-Isolier-Technik bei sehr tiefen Temperaturen, unsubstituiertes monomeres Cyclobutadien spektroskopisch zu charakterisieren. Auch Cyclooctatetraen verhalt sich anders als erwartet. Es wurde schon 1912 von Willstatter dargestellt, rea- giert aber keineswegs wie ein Aromat, son- dern gleicht in seinen chemischen Eigen- schaften einem Polyolefin.

Das Ratsel um diese erstaunlichen Unter- schiede in den Annulenen wurde gelost, als um 1930 E. Huckel die aus der Molekul- Orbital-Theorie resultierenden Erkenntnisse in der nach ihm benannten Regel zusammen- fake:

Er unterteilt monocyclische, vollstandig kon- jugierte Polyolefine in zwei Gruppen. Die- jenigen mit (4n + 2)n-Elektronen sind stabi- lisiert und energiearmer, verglichen mit ent- sprechenden hypothetischen Molekiilen, de- ren Doppelbindungen isoliert sind (s. Abhil- dung 8 oben); man nennt sie heute Huckel- Systeme. Im Gegensatz dazu stehen cyclisch konjugierte Polyolefine rnit 4n n-Elektronen, die destabilisiert und dementsprechend ener- giereicher sind als entsprechende hypothe- tische Spezies mit lokalisiertem Doppelbin- dungssystem; sie werden als Anti-Huckel- Systeme bezeichnet. Benzol ware demnach gegenuber einem hypothetischen Cyclohexa- trien mit isolierten Doppelbindungen ein stabilisiertes (4n + 2)n-Huckelsystem (n = l), Cyclobutadien hingegen ein destabilisiertes 4n-anti-Huckelsystem (n= 1) . Die GroBe der Stabilisierung, bekannt als Resonanz- oder Mesomerieenergie, hangt naturlich von der Wahl des Bezugspunktes ab. Hier bringt die Theorie von Dewar entscheidende Fort- schritte, in der nicht mehr hypothetische, sondern existenzfahige Molekule, offenket- tige konjugierte Polyene als Referenzverbin- dungen fungieren.

Er unterscheidet zwischen aromatischen, nichtaromatischen und anti-aromatischen Verbindungen, weil aromatischer Charakter offenbar eng verknupft ist mit der Anderung der n-Elektronenenergie beim Obergang von einem offenkettigen, konjugierten Polyen zu dem entsprechenden cyclischen System. 1st nun das cyclisch konjugierte System stabiler als die offenkettig konjugierte Referenzver- bindung, so bezeichnet man es als aroma- tisch. Ergibt sich kein Energieunterschied, so ist das cyclische System nichtaromatisch, ist es instabiler, bezeichnet man das cyclische Molekul als antiaromatisch. Referenzsub- stanz fur Benzol ware das offenkettige nicht- aromatische Hexatrien (s. Abbildung 8 unten), das sich nach Experiment und Rech- nung tatsachlich als um 20 kcal mol-I ener- giereicher erweist als das an beiden Enden verkniipfte Trien, namlich das aromatische Benzol mit seinem cyclisch konjugierten Sy- stem. Im krassen Gegensatz d a m und in Ober- einstimmung rnit dem Experiment besitzt das cyclisch konjugierte Cyclobutadien- system ein hoheres Energieniveau im Ver- gleich zur offenkettigen Referenzverbindung.

Cyclobutadien ist demnach typisch antiaro- matisch, Benzol ein aromatisches Molekul. Fur den Antiaromaten Cyclobutadien ergibt sich nach Dewar eine positive, das aromati- sche Benzol besitzt eine negative Dewar- Resonanz-Energie (DRE).

Wie ist nun die Obereinstimmung zwischen Theorie und Experiment bei dem dritten hier erwahnten Annulen, dem Cyclooctatetraen? Dieses cyclische 8n-System zeigt Eigenschaf- ten, wie man sie fur ein Polyolefin erwartet, es verhalt sich also nicht antiaromatisch. wie

die Theorie voraussagt. Ursache ist die Mo- lekulgeometrie. Das Kohlenstoffgeriist des Cyclooctatetraens ist nicht planar, so da8 eine wichtige Voraussetzung fur die Elektro- nendelokalisation unerfullt bleibt. Dement- sprechend ergibt sich kaum eine Energie- differenz zwischen cyclischem Annulen und offenkettigem Polyen, so dafi man das nicht- ebene Cyclooctatetraen als nichtaromatische Verbindung abtun kann. Verallgemeinernd 1a8t sich feststellen, dafi der Energieinhalt bei planaren Systemen mit cyclischer Elektronen- delokalisierung von der Zahl und von der Orbitalwechselwirkung der beteiligten Elek- tronen abhangt. Tragt man namlich die Zahl der n-Elektronen derartiger Systeme gegen die berechneten Dewar-Resonanz-Energien (DRE) auf, so beobachtet man, wie in Ab- bildung 9 dargestellt ist, das Phanomen des alternierenden Energieinhalts fur formal ver- wandte Systeme, die Annulene. Die Begriffe aromatisch, antiaromatisch und nichtaroma- tisch geben somit eine vernunftige qualitative Beschreibung fur ein wichtiges ordnendes Prinzip in der Chemie cyclisch konjugierter Systeme mit praktischem und theoretischem Nutzen.

Aus den vergleichsweise zu anderen Kohlen- wasserstoffen hervorragenden Eigenschaften von Benzol und seinen iso-sc-elektronischen Heteroaromaten wird verstandlich, warum gerade diese Molekule in Arzneistoffen weit verbreitet sind. Der Weg eines synthetischen Arzneistoffes beginnt rnit seiner Darstellung. Hier erweist sich die vorzugliche chemische Variationsfahigkeit aromatischer Systeme als besonders vorteilhaft. Je nach Art der Sub- stituenten am aromatischen Kern gelingen elektrophile, nucleophile und sogar radika-

Abb. 7. Grenzstrukturen des [4]-, [6]- und IS]-Annulens.

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lische Substitutionsreaktionen, die alle unter Regenerierung des aromatischen Systems ver- laufen. Auf diese Weise lassen sich beliebige Substituenten einfiihren, mit denen die Wir- kungsweise eines Pharmakons - sei es durch sterische oder elektronische Effekte, durch lipophile oder hydrophile Gruppen - je nach Wunsch beeinflufit werden kann. Das ist fur die Synthese zeitgemafler Arzneistoffe von

mittels ergibt sich heutzutage gleichberechtigt mit der Frage ,,Was macht das Pharmakon mit dem Organismus?" auch das Problem ,,Was macht der Organismus mit dem Arz- neimittel?"

Fur Pharmaka mit aromatischem Ringsystem und fur aromatische Kohlenwasserstoffe ist letztere Frage besonders relevant, seit man

hoher Wichtigkeit, von denen man aus- reichende Stabilitat fur alle Phasen der Herstellung und Wirkung verlangt, gute bio- logische Verfiigbarkeit, ein weitgehend spezi- fisches Wirkungsspektrum, groae Umwelt- freundlichkeit und auch einen tragbaren Preis. Toxische, allergene, mutagene oder teratogene Nebenwirkungen konnen durch Substituentenvariation von vornherein ausge- schaltet, zumindest aber eingeschrankt wer- den. Insgesamt ergibt sich fur aromatische Arzneistoffe in allen drei Phasen, der phar- mazeutischen, der pharmakokinetischen und der pharmakodynamischen, offensichtlich ein recht gunstiges Bild, so dafi der hohe Anteil aromatischer Pharmaka am Arznei- schatz keineswegs ein Zufall, sondern durch- aus begrundet ist. Im Zuge von Pharmako- kinetik und Pharmakodynamik eines Arznei-

we$ dafl auch die Biotransformation einen Januskopf besitzt. Auf der einen Seite werden korperfremde Stoffe ,,entgiftet", d. h. es werden fettlosliche Xenobiotika in besser wasserlosliche und damit harnfahige Substan- zen umgewandelt. Dabei kommt es nicht selten vor, dafi im Zuge dieser Biotransfor- mation aus einem Arzneimittel sogar ein therapeutisch wertvollerer Stoff entsteht, in

___

Abb. 8. Oben: Unterscheidung Hiickcl- system/Anti-Hiickelsystem (schematisch). Unten: Unterscheidung Aromat/Antinro- mat/Nichtaromat (schematisch) DRI-.: Dewar-Resonanz-Energie.

.4bb. 9. Abhangigkeit der herechnetcri Dewar-Resonanz-Energien DRE der 4 n nulene von der Zahl n der Ringglieder (dic berechneten DRE gelten fur plnnare Ring- s ys te me).

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Abbildung 10 an zwei aromatischen Phar- maka demonstriert.

Auf der anderen Seite konnen aber auch kurzlebige, hochreaktive Biotransformations- zwischenstufen auftreten mit hepatotoxischer, cytotoxischer, mutagener oder gar cancero- gener Wirkung. Das eigentliche Ziel der Bio- transformation, den Organismus zu ,,entgif- ten", wird damit gerade ins Gegenteil ver- kehrt. Anstatt Anhaufungen fettloslicher Fremdstoffe im Organismus zu verhindern, werden intermediar Stoffe gebildet, die in der Lage sind, mit lebenswichtigen Biopoly- meren in fataler Weise zu reagieren. Wie kommt es zu derartigen toxischen Neben- wirkungen aromatischer Spezies?

Zum Verstandnis dieser Phanomene ist es sinnvoll, den Weg eines toxogenen Aroma- ten im Organismus einmal im Detail zu ver- folgen. Die Umwandlung lipophiler in hydrophile, besser ausscheidungsfahige Stoffe erfolgt durch ,,enzymatische H y - droxylierung". Hierzu dient molekularer Sauerstoff als Reagens, der auf energetisch aufwendigem Weg derart aktiviert wird, dai3 er selbst so reaktionstrage Verbindungen wie aromatische Kohlenwasserstoffe rasch angreift. Als Katalysatoren dienen dem O r - ganismus unspezifische membranstandige ,,mischfunktionelle Oxygenasen", besser ,,Monooxygenasen" genannt:), die Cyto- chrom-P-450-abhangig sind und zur Sauer- stoffaktivierung zwei Reduktionsaquivalente benotigen [ 3 ] .

Fremdstoffe vorwiegend biotransformiert - in der zweischichtigen, aus Phospholipid- molekulen aufgebauten Membran des endo- plasmatischen Retikulums wie in einer Matrix fixiert. Der membrangebundene Enzymkom- plex besteht, wie Abbildung 11 schematisch darstellt, aus dem zentralen Enzym Reduk- tase, das rosettenformig von 6 Molekulen Cytochrom P-450 umgeben ist. Die in der Aufsicht (Abbildung 11) sichtbare rigide

"Der Ausdruck ,,mischfunktionell" sol1 der Tatsache Rechnung tragen, dai3 Sauerstoff als oxidierendes und oxygenierendes Agens fungiert, wahrend die Bezeichnung ,,Mono- oxygenase" darauf hinweist, dai3 vom Sauer- stoffmolekul nur ein Atom auf das Substrat iibertragen wird.

Lipidstruktur bildet dabei einen Hof um die Proteinmolekule, der moglicherweise verant- wortlich ist fur die unspezifische hydrophobe Bindung einer Vielzahl von lipophilen Phar- maka [4]. Einzelne, detaillierte Schritte des Reaktionsablaufs der Oxygenierung eines Aromaten - noch nicht in allen Stufen abge- sichert - zeigt Abbildung 12. Wie bei jeder enzymatischen Katalyse steht am Anfang die Bildung eines Enzym-Substrat-Komplexes. Das Hamoprotein P-450 bindet dabei das lipophile Pharmakon einmal durch Dipol- wechselwirkungen, vor allem aber durch apolare Bindungen an das hydrophobe, das aktive Zentrum umgebende Milieu. Die Bin- dungsstelle des Substrates, in unserem Bei- spiel ein aromatisches Pharmakon, mug dabei in unmittelbarer Nahe der Sauerstoffbin- dungsstelle liegen, also des Eisen-Ions, das

Abb. 10. Beispiele der Entstehung thera- peutisch wertvollerer Arzneistoffe durch Biotransformation a n aromatischen Mole- kiilteilen.

Nach Modellvorstellungen ist das Mono- oxygenasesystem der Leber - hier werden

Abb. 11. a) Modellvorstellungen uber die Fixierung des Monooxygenasesystems im endoplasmatischen Retikulum der Zelle, b) in der Aufsicht (nach [4]).

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als funften Liganden sehr wahrscheinlich das Schwefelatom eines Cystein-Moiekuis be- nutzt. Im Zuge einer Reduktase-katalysier- ten Reaktion wird ein Eiektron auf den Enzym-Substrat-Komplex transferiert, das Eisen-Ion nimmt die Oxidationszahl + 2 an. Dies ist die Voraussetzung zur Addition von molekularem Sauerstoff an die 6 . Koordi- nationsstelle, der nachste Schritt in der Reaktionsfolge. Mit der Obertragung eines weiteren Elektrons wird der Sauerstoff in eine aktive Spezies ubergefiihrt; moglicher- weise handelt es sich dabei um den im Reaktionsschema dargesteilten oxenoiden Kompiex, der in der Lage sein soll, ein Sauerstoffatom mit Elektronensextett im Zuge einer elektrophilen Reaktion auf das Substrat zu transferieren. Dies soll umso leichter geiingen, je elektronenreicher das

Substrat ist. Aus sc-Bindungen entstehen da- bei Oxirane, auch Epoxide genannt, o-Bin- dungen reagieren via Einschiebungsreaktion, so dai3 z.B. aus einer 3C-H-Bindung eine SC-0-H-Funktion gebildet wird. Derartige Reaktionsweisen sind von den iso-elektro- nischen, stark elektrophilen Carbenen oder Nitrenen her lange bekannt, so daiS ,,Oxen" als eigentlich oxidierendes Agens der Bio- transformation durchaus plausibel scheint. Durch ,,Oxen"-Transfer entsteht jetzt aus unserem aromatischen Substrat ein substitu- iertes Benzoloxid, daneben bildet sich unter Aufnahme von zwei Protonen ein Molekiil Wasser; beide werden als Reaktionsprodukte der voilzogenen Biotransformation aus der Bindung zum Enzymkomplex entlassen, wo- mit der Katalysekreislauf erneut beginnen kann .

Man erkennt, dafl im Gegensatz zum biolo- gischen Analogon Oxy-Hamoglobin das Sauerstoffmolekiil vom Cytochrom P-450 nicht ais Ganzes wieder abgegeben wird, sondern dai3 ein Atom auf das Substrat ubcrtragen, das anderc zu Wasser reduziert wird. Stochiometrisch iafit sich die Bilanz der enzymkatalysierten Oxidation des aro- matischen Pharmakons wie folgt formulie- ren :

Primare Biotransformationsprodukte aroma- tischer Kohlenwasserstoffe sind also Benzol-

Abb. 12. Reaktionsablauf deroxygenierung eines Aromaten durch das Cytochrom P- 450-abhangige Monooxygenase-Enzymsy- stem. (Erlauterung s. Text).

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oxide - etwas ungewohnliche Molekule -, uber deren faszinierende Eigenschaften und Reaktivitat wir durch die bahnbrechenden Arbeiten von E Vogel heute gut informiert sind [ 51.

Benzoloxid selbst steht, wie Abbildung 13 illustriert, mit Oxepin in einem Valenztauto- merie-Gleichgewicht, an dem die beiden Komponenten annahernd gleich beteiligt sind. Die Einstellung des Gleichgewichts er- folgt sehr schnell, so dai3 man es mit einem System fluktuierender Bindungen zu tun hat. Mit geeigneten Keagenzien lassen sich beide Spczies aus dem Gleichgewicht abfangen, wie Umsetzungen mit Maleinsaureanhydrid auf der einen Seite [5] und mit dem elektro- nenarmen Dien Tetrazin andererseits [6] beweisen. Durch Kernresonanzmessungen bei sehr tiefen Temperaturen liei3en sich die individuellcn Spcktren beider Gleichge- wichtskomponenten ebenfalls erhalten.

In chemischen Reaktionen des valenztauto- meren Oxepin 2 Benzoloxidsystems be- herrscht erwartungsgemai3 das spannungs- reichere Benzoloxid das Reaktionsgeschehen, zumal daa energetisch giinstige aromatische 6x-System in diesem bicyclischen Valenz- tautomer schon vorprogrammiert ist. Des- wegen uberrascht es nicht, wenn im Bio- transformationsmuster aromatischer Phar- maka, hier am Beispiel der gut untersuchten Metabolisierung von Brombenzol demon- striert, ausschliefilich Verbindungen erschei- nen, in denen das aromatische System des Eduktes Brombenzol regeneriert ist (siehe Abbildung 14). Nur in Ausnahmefallen ist es gelungen, auch einen Metaboliten mit Oxepinstruktur ZLI isolieren.

Eine typische Reaktion von Benzoloxiden ist deren spontane Isomerisierung zu ent- sprechenden Phenolen. Sie verlauft soschnell, da17 es in den meisten Fallen nicht gelingt, in Metabolisierungsexperimenten in vivo oder in vitro Benzoloxide als solche nachzu- weisen oder gar zu isolieren.

Fur Benzoloxid selbst betragt die Halbwerts- zeit bei p H = 7 weniger als zwei Minuten. Wahrend der lsomerisierung mug der Sub- stituent, dcssen Platz im Verlauf der Bio- transformation von der OH-Gruppe einge- nommen wird, seine Position unter 1,2-Wan- derung wechseln. Dieses als NIH-Verschie- bung'" bekannte Phanomen wurde entdeckt bei dcr in Abbildung 15 dargestellten enzyme- katalysierten Umwandlung von in para-

Stellung mit p t h m markiertem Phenyl- alanin zu Tyrosin. Dabei fand man das Traceratom zu 95 Prozent in meta-Position des Tyrosins wieder und nicht, wie erwartet, im Reaktionswasser. Demzufolge konnte es sich bei der ,,aromatischen Hydroxylierung" nicht um eine einfache Substitutionsreaktion handeln. Vielmehr muate eine reaktive Zwischenstufe angenommen werden, ein Benzoloxid, fur das derartige Umlagerungen bereits bekannt waren. Den Mechanismus der NIH-Verschiebung, fur den nach neue- ren Untersuchungen zwei unabhangige Re- aktionswege existieren, ein spontaner und ein saurekatalysierter Zerfall, zeigt Abbil- dung 16.

Dabei erleidet das nach ,,Oxentransfer" ge- bildete Arenoxid Ringoffnung - bei physio- logischem pH spontan, in saurem Milieu saurekatalysiert - und bildet im Zuge einer 1,2-Hydridverschiebung (fur X = H ) ein substituiertes 2,4-Cyclohexadienon, das schnell zum entsprechenden Phenol tauto- merisiert.

In geringem Ausmai3 kann das Phenol aber auch in einer untergeordneten Reaktion direkt durch die Eliminierung von Xo bzw. H X aus den ringoffenen ionischen Produkten gebildet werden. Die Art und Weise dieses Reaktionsablaufs la13t sich verallgemeinern, so dafi man sagen kann, Arenoxide sind obligatorische Primarprodukte der Mono-

'b,,NIH-shift" von National Institute of Health, in dem B. Witkop et al. diese 1,2- Hydridverschiebung entdeckten.

oxygenase-katalysierten Biotransformation aromatischer Pharmaka und Xenobiotika. Die Umwandlung in Phenole geschieht unter 1,2-Wanderung desjenigen Substituenten, dessen Position von der neu eingefiihrten Hydroxylgruppe eingenommen wird. Die Umlagerung, als NIH-Verschiebung in die Literatur eingegangen, stellt heute einen wichtigen Beweis dar fur das intermediare Auftreten von Arenoxiden als primaren Metaboliten aromatischer Pharmaka. Neben dieser spontanen Umlagerung in Phenole sorgen weitere Reaktionsablaufe fur eine geringe steady-state-Konzentration von toxi- schen Benzoloxiden im biologischen Milieu.

Fur die schnelle Beseitigung vieler Arenoxide spielt die durch das Enzym Epoxidhydrase katalysierte Hydratisierung eine dominie- rende Rolle (siehe Abbildung 14). Neuere Untersuchungen machen zudem wahrschein- lich, dai3 das Monooxygenase-Enzymsystem eng mit dem Epoxidhydrase-Enzym in der Membran assoziiert ist, so dai3 eine rasche Entgiftung der Oxide durch Wasseranlage- rung ermoglicht wird. Die primar gebildeten trans-Dihydrodiole werden anschliei3end im Verlauf einer Dehydrogenase-katalysierten Reaktion zu entsprechenden Catecholderiva- ten rearomatisiert. Die Empfindlichkeit der Benzoloxide gegeniiber anderen Wucleophi- len als Wasser zeigt sich in der Reaktion rnit der SH-Funktion des Glutathions, dessen Konzentration in der Leber etwa 6-milli- molar ist. Auch dieser Entgiftungsprozea ist enzymkatalysiert durch Glutathion-S-epo- xid-transferase, verlauft daneben verstand- licherweise aber auch spontan im Sinne einer SN2-Reaktion. Fur das hier diskutierte Brom-

Abb. 13.Vnlenz,tautomeriezwischen Oxepin und Benzoloxid; Abfangreaktionen fur beide Valenztautomere durch Cycloaddi- tionsreaktionen mit geeigneten Reaktions- partnern.

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benzol entsteht dementsprechend zunachst das in Abbildung 14 formulierte trans-Addi- tionsprodukt, das nach Abspaltung von Glu- taminsaure und Glycin und anschlief3ender Acetylierung und Rearomatisierung in den im Formelschema dargestellten und im Urin nachweisbaren Metaboliten umgewandelt wird. Diese auch spontan verlaufende Reak- tion der hochreaktiven Benzoloxide 1a13t er- warten, da13 nicht nur Glutathion, sondern auch andere Molekule mit SH-Funktionen glatt mit den primaren Biotransformations- produkten aromatischer Spezies reagieren konnen. Dies wird evident bei der Biotrans- formation der toxogenen Halogenbenzole, deren Lebertoxizitat schon lange Zeit be- kannt ist, fur die man aber bisher keine plausible Erklarung wui3te. Heute liegt klar auf der Hand, dai3 intermediar generierte

Abb. 14. Biotransformationsmuster von Brombenzol nach Oxidation in das ent- sprechende Benzoloxid $ Oxepin.

Abb. 15. Nachweis der NIH-Verschiebung im Verlauf der Biotransformation tritium- markierten Phenylalanins zu Tyrosin.

Abb. 16. Mechanismus der spontanen und saurekatalysierten Urnwandlung eines Ben- zoloxids in das entsprechende Phenol.

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Halobenzoloxide mit SH-Funktionen der Zelle reagieren. Die hochreaktiven Epoxide werden zunachst durch Konjugation mit Glutathion entgiftet. Wird ein bestimmter Schwellenwert uberschritten, d. h. ist das Potential an Glutathion erschopft, werden SH-Gruppen lebensnotwendiger Proteine der Leberzelle attackiert unter Bildung kova- lenter Bindungen zwischen Aromat und Pro- tein. Damit werden wichtige Lebensfunktio- nen der Zelle blockiert, Gewebsnekrosen sind die Folgeerscheinungen. Zum Beweis applizierte man Ratten radioaktiv markiertes Brombenzol und kam zu dem Ergebnis, dafi im nekrotisierten Lebergewebe kovalent ge- bundene Radioaktivitat nachweisbar war. Behandelte man die Tiere zuvor mit Pheno- barbital, das bekanntlich mikrosomale Mo- nooxygenasc induzicrt, so konnten nach Brombenzolgaben beide Effekte, das Auf- trcten von Gewebsnekrosen und die Anwe- senheit kovalent gebundcner Brombenzol- molekule, verstarkt beobachtet werden. Auf dcr anderen Seite traten bei Tieren, die man mit SKF 525 (Abbildung 17) behandelt hatte - cincm Pharmakon, das hemmend wirkt auf das oxidierende Enzymsystem -, die genann- ten toxischen Effekte in deutlich geringerem Umfang auf. Die Makromolekule, an die radioaktives Brombenzol kovalent gebunden war, konnten als Proteine identifiziert wer- den. Dies Beispiel verdeutlicht, dafi die Bio- transformation eines Pharmakons nicht im- mer zu ciner Entgiftung fuhrt, sondern oft auch zu einer Toxifikation mit sich anschlie- Ilenden schweren toxischen Effekten. Die wirklichen Entgiftungsprodukte werden in der Rcgcl im Urin ausgeschieden und sind verhaltnismaflig leicht nachweisbar. Reaktive, toxische Zwischenstufen aber werden haufig kovalent an Gewebe- und Zellbestandteile gebunden und damit im Organismus festge- halten, so dafi ihr Nachweis besonders er- schwert ist, wenn sic zudem noch in sehr geringer Konzentration gebildet werden.

Dies trifft ganz besonders auch fur polycycli- sche aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) zu, die man nach radioaktiver Markierung sowohl bei in vitro- als auch in vivo-Experi- menten in geringen Mengen kovalent an Zell- bestandtcilc gebunden nachweisen konnte. Dieser Befund warc sicherlich nicht sehr schwerwiegend, wenn er nicht mit cytotoxi- scher oder gar mutagener und cancerogener Wirkung einherginge. Als besonders toxisch in dieser Hinsicht gelten PAK rnit vier bis sechs kondensicrten Benzolringen wie Benz- [alanthracen, Benzo[a]pyren (BaP), 7.12-Di-

methylbenz[a]anthracen oder auch das hete- rocyclische Dibenz(c,g)carbazol (siehe Ab- bildung 18). Derartige Xenobiotika entstehen uberall dort, wo Verbrennungsprozesse ab- laufen, namlich bei der Energie- und Warme- erzeugung durch Kohle, ErdoI oder Holz, bei der Abfallbeseitigung durch Verbrennung, beim Tabak- und Marihuanarauchen u.a.m. Somit stellen sie Umweltgifte dar, die auf der Welt, in der Atmosphare, im Erdreich und in allen Gewassern ubiquitar sind. Die Umweltbelastung mit PAK betragt heutzu- tage, auf Benzo[a]pyren umgerechnet, etwa 1000 Jahrestonnen. Besonders tuckisch ist, dai3 schon geringste Mengen dieser Stoffe ausrcichen, um Haut- oder Lungentumoren hervorzurufen, ein Phanomen, das fur der- artig rcaktionstrage und chemisch inerte Aromaten zunachst widerspruchlich er- scheint, wenn man nicht wufite, da8 sie photochemisch oder durch enzymkataly- sierte Reaktionen in hochreaktive Spezies umgewandelt werden konnen. Nach Mole- kul-Orbital-Theorie-Berechnungen korrel- lierte man die carcinogene Aktivitat von PAK zunachst mit der Anwesenheit einer soge- nannten K-Region, die wegen ihrer hohen Elektronendichte ein besonders reaktives Zentrum darstellt, und einer L-Region von geringerer Reaktivitat. Beide Regionen sind in der Formel des cancerogenen Benz[a]an- thracens kenntlich gemacht (Abbildung 18).

Diesc Theorie wurde insofern bestatigt, als man spater feststellte, dai3 im Zuge der oxida- tiven Biotransformation von PAK Arenoxide als Primarprodukte gebildet werden [7], unter denen die K-Region-epoxide hohe car- cinogene Wirkung besitzen. Arenoxide wer- den im Zuge der fur Brombenzol schon ken- nengelernten Biotransformationsfolgereak- tionen ebenfalls in eine Vielzahl von Meta- boliten und Konjugationsprodukten umge- wandelt.

Lange Zeit unbekannt war, welche reaktive Spezies das eigentlich carcinogene Agens dar- stellt. Die Annahme, da8 Arenoxide nicht nur cytotoxische Effekte hervorrufen, son- dern auch fur die mutagene und carcinogene Wirkung verantwortlich sind, schien zu- nachst attraktiv. Untersuchungen an ver- schiedenen Zellkulturen mit dem 4,5-Epoxy- BaP, einem K-Region-Epoxid, bestatigten diese Annahme. Doch gleichzeitig unternom- mene Versuche mit anderen BaP-Metaboli- ten lief3en erkennen, dai3 weitaus reaktivere Spezies als das 4.5-Epoxid existieren mufiten rnit einer hoheren Affinitat zu zellularen

Rezeptoren. Zudem zeigten in vitro-Experi- mente, da8 Arenoxide zwar nucleophil genug sind, rnit SH-Funktionen von Proteinen zu reagieren, nicht aber mit den um Zehnerpo- tenzen geringer nucleophilen Zentren der DNS- oder RNS-Basen. Das ,,ultimate car- cinogen" m u h e demnach moglicherweise im Biotransformationsmuster der carcinogenen PAK aufzuspuren sein, dessen chemische Vielfalt am Beispiel des Benzo[a]pyrens in Abbildung 19 illustriert ist.

Unter den insgesamt acht nachweisbaren Metaboliten erkennt man verschiedene trans- Diole und Phenole, deren Bildung aus vier primaren Arenoxiden, namlich dem 2.3-, 4.5-, 7.8- und 9.10-Epoxid verstandlich ist; daneben treten aber auch Chinone als Reak- tionsprodukte auf; man kann jedoch nicht mit Sicherheit sagcn, ob sie im Zuge der oxi- dativen Biotransformation entstanden sind oder durch Oxidation mit Luftsauerstoff ge- bildete Artefakte darstellen. Die Frage nach moglichen reaktiven Zwischenstufen oder sogenannten Praecarcinogenen unter den BaP-Metaboliten ruckte nun zwangslaufig in den Mittelpunkt des Interesses. Zunachst untersucht man, welche Spezies uberhaupt in der Lage ist, rnit Nucleinsauren kovalente Bindungen einzugehen. Dam Lei3 man Tri- tium-markierte BaP-Metaboliten in vitro rnit DNS-Molekulen reagieren, interessanter- weise einmal mit und einmal ohne das oxidie- rende mikrosomale System. Herausragendes Ergebnis war, dai3 in Anwesenheit von Mo- nooxygenase nicht etwa ein Arenoxid, son- dern das 7.8-Diol die hochste Bindungsak- tivitat zur DNS aufwies. Da das 7.8-Diol nur in Anwesenheit des Monooxygenase- systems rnit DNS reagierte, lag die Schlufi- folgerung nahe, daf3 es erst nach erneuter Epoxidation an der olefinischen Doppelbin- dung in das eigentliche Carcinogen umge- wandelt wird. Damit war eine attraktive Hypothese fur den Mechanismus der Carci- nogenese durch BaP gegeben: Das trans-7.8- Diol fungiert als Praecarcinogen und besitzt ausreichende Lebensdauer in der Zelle. Mit seinem planaren aromatischen Molekulteil erfullt es alle Voraussetzungen fur eine Inter- kalation in die DNS-Doppelhelix, wo es durch Charge-transfer-komplexbindung fest- gehalten wird. Das nicht ebene trans-Diol- Segment ragt aus der Helix hervor und kann im Zuge einer zweiten Epoxidation in das ,,ultimate carcinogen" umgewandelt werden. Die raumliche Nahe der DNS-Basen und der h6.x Carbeniumionencharakter machen verstandlich, warum das Carcinogen kova-

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Abb. 17. Phcnobnrbital als Enzyminduktor, SKF 525 A als Hemmsubstanz fur das Monooxigenase-S ystem.

Abb. 18. Polycyclische arornatische Kohlen- wasserstoffe rnit stark cancerogener Wir- kung.

Abb. 19. Biotransformationsmuster von Benzo[a]pyren, erhalten durch Keaktion von radioaktiv markiertem Benzo/a]pyren mit Kattenlebermikrosomen.

Abb. 20. a) Anchimerer Effekt bei der Keak- tion von Tripdiolid mit zelluliiren Nucleo- philen. b) Modellvorstellung fur das ,,ulti- mate Carcinogen", das durch zweifache Biotrnnsformntion von Benzo[a]pq ren ent- cteht.

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lent an DNS gebunden werden kann. Diese Hypothese wirft naturlich sofort einige Fra- gen auf: Die wichtigsten durften sein, warum ein aus dem trans-Diol gebildetes Epoxid so hohen Carbeniumcharakter besitzt und warum dieses Carbeniumion mit der wenig nucleophilen DNS reagieren kann, wenn in der Zelle sehr vie1 starker nucleophile SH- Funktionen in relativ hoher Konzentration vorhanden sind.

Zur Beantwortung bedarf es keiner gro13en Oberlegung, denn unter chemischen Carci- nogenen und Tumorinhibitorcn findet man sehr haufig verkappte Carbeniumionen, die erst auf Grund von Nachbargruppeneffekten ihre Reaktivitat erhalten". Dem ,,ultimate carcinogen" von BaP strukturell besonders ahnlich ist das anti-leukamisch wirksame Tripdiolid (Abbildung 20a).

Ein Sechsring mit einer Epoxid- und einer Hydroxylfunktion auf der gleichen Ringseite und in sterisch gunstiger Nachbarschaft ist die strukturelle Voraussetzung fur diese anchimere Beschleunigung nucleophiler Ringoffnungsreaktionen an der Epoxidfunk- tion. Eine ahnliche Molekulanordnung mit noch gunstigeren sterischen und elektroni- schen Gegebenheiten fur eine nucleophile Reaktion finden wir fur das Biotransforma- tionsprodukt des 7.8-Diols vor (Abbildung 2Ob). Das Formelbild veranschaulicht, dai3 beide Hydroxylgruppen quasi axial angeord- net sind. Die OH-Funktion in 4-Position nimmt damit eine ideale Stellung ein fur eine intramolekulare Wasserstoffbindung mit dem Epoxidsauerstoff. Die Folge ist, datl die normalerweise saurekatalysierte Ringoffnung von Epoxiden hier im neutralen biologischen Milieu stattfinden kann, bedingt durch Nach- bargruppeneffekte. Dadurch entsteht das sehr gut stabilisierte Zwitterion mit delokalisier- ter negativer und positiver Ladung [8]. Der Carbeniumionencharakter des Zwitterions (siehe Abbildung 20b) lafit nucleophile Reak- tionen nach einem SNl-Mechanismus erwar- ten; dies bedeutet, dafl das hochreaktive Carbeniumion wenig selektiv mit den sich anbietenden Reaktionspartnern reagieren wird, unabhangig von deren Nucleophilie. Damit wird plausibel, weshalb das als ,,ulti- mate carcinogen" angesehene Zwitterion mit der schwacher nucleophilen DNS reagieren kann trotz Anwesenheit von Biopolymeren

'tVgl. A. Gescher, Alkylierende Tumorinhi- bitoren, Pharm. in unserer Zeit 5, 41 (1976).

rnit starker nuclcophilen SH-Funktionen. Hinzu kommt, dai3 der weitgehend planare BaP-Metabolit schon vor seiner Umwand- lung in das DNS-alkylierende Agens durch nicht-kovalente Bindung an seinen Reak- tionspartner D N S fixiert und somit seine Chance stark erhoht ist, mit diesem schwa- cheren Nucleophil zu reagieren.

Diese Argumente fur das Zwitterion als ,,ultimate carcinogen" erscheinen plausibel, seine kovalente Bindung an ein DNS-Mole- kul durfte jedoch noch kein hinreichendes Kriterium sein fur eine Carcinogenese. Be- denkt man jedoch, dafl die Alkylierung einer DNS-Base rnit einem relativ groflflachigen und somit sterisch anspruchsvollen Molekul erfolgt, dann wird evident, dai3 eine tief- greifende Konformationsanderung der DNS- Doppelhelix hervorgerufen wird. Die damit verbundene Storung der DNS-Periodizitat fuhrt dann zu Mutationen bei der Zellteilung, einem ersten Schritt in der Cancerogenese. Anhand einiger interessanter Aspekte konnte gezeigt werden, da13 in vielen Wirkstoffgrup- pen ,,Aromatizitat" geradezu dominiert und da13 aromatische Ringsysteme fur viele Phar- maka essentielle Bestandteile darstellen. Die sturmische Entwicklung der chemischen Wissenschaften gestattet heutzutage auch erste Einblicke in Wirkungsmechanismen von Pharmaka und Xenobiotika auf molekularer Ebene, so dai3 man neben den vorzuglichen Eigenschaften aromatischer Arzneistoffe hin- sichtlich der Variationsmoglichkeiten in der Synthese und der guten Manipulierbarkeit wahrend der Arzneizubereitung auch Schat- tenseiten kennenlernen konnte. Die im Zuge der Biotransformation vieler aromatischer Substrate obligatorisch auftretenden Benzol- oxide sind hochreaktive Spezies. Sie konnen in manchen Fallen kovalente Bindungen rnit lebensnotwendigen Biopolymeren eingehen und damit Anlai3 zu kurz- oder langfristiger Toxizitat geben; im Falle der polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoffe erweisen sie sich als Ursache der krebserregenden Wirkung.

Diese detaillierten Kenntnisse uber Wirk- mechanismen von Aromaten belegen zudem, wie enorm wichtig die an den Universitaten zur Zeit noch mogliche Grundlagenfor- schung ist. Wie stande es um unser Wissen, wenn es nicht auch an unseren Hochschulen forschende Wissenschaftler gabe, die sich von ,,Laborspielereien" faszinieren lassen, wie beispielsweise der Beschaftigung rnit dem Problem Aromatizitat, rnit Oxepinen

und der Valenzisomerisierung, mit Nachbar- gruppeneffekten und der Reaktivitat von Carbeniumionen ?

Literatur

[I] Richard Anschutz, August KekulC, Verlag Chemie GmbH, Berlin W 10 (1929).

[2] G . Maier, Chemie in unserer Zeit 9, 131 (1975) und dort zitiertes Schrifttum.

[3] V. Ullrich, Angew. Chem. 84,689 (1972).

[4] A. Stier, Umschau 75,429 (1975)

[5] E. Vogel und H . Gunther, Angew. Chem. 79,429 (1967).

[6] G. Seitz und Th. Kampchen, Chemiker Ztg. 99, 503 (1975).

[7] D. M. Jerina und J. W. Daly, Science 185, 573 (1974) und dort zitiertes Schrifttum.

[8] P. B. Hulbert, Nature 256, 146 (1975).

Prof. Dr. Gunther Seitz, geboren 1936 in Hamburg. Studium der Pharmazie und Che- mie in Marburg/Lahn. Promotion 1965 bei Prof. Dr. Dr . h. c. H . Bohme, Habilitation 1968 fur das Fachgebiet Pharmazeutische Chemie. Seit 1972 0. Prof. und Direktor des Chemischen Instituts der Tierarztlichen Hochschule in Hannover. Arbeitsgebiete: Nichtbenzoide Aromaten, 0 x 0 - und Thi- oxokohlenstoffe, heterocyclische Arznei- mittelsynthese.

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