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Arzneimittelversorgung bei psychischen Erkrankungen Gerd Glaeske Im Mittelpunkt der Anwendung von Arzneimitteln bei psychischen Er- krankungen stehen Psychopharmaka, die sich in fu ¨nf Gruppen unterteilen lassen: Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquilizer, vor allem vom Benzo- diazepin-Typ, Psychostimulanzien und pflanzliche Psychopharmaka, zu denen vor allem Pra ¨parate mit Johan- niskrautextrakt geho ¨ ren. In den letzten 20 Jahren haben sich die Verordnungs- anteile der Psychopharmaka zu Lasten der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) deutlich vera ¨ndert (siehe Tabelle 1) die dort gewa ¨hlte Dimen- sion DDD-Werte (Defined Daily Dose / definierte Tagesdosierungen) stehen fu ¨r Jahresverbrauchswerte von Arz- neimittelwirkstoffen, die eine Um- rechnung daru ¨ber zulassen, wie viele Menschen ein Jahr lang mit solchen Mitteln behandelt werden ko ¨ nnen. Mit diesen Daten ist aber nicht die reale Versorgung abzubilden, weil es unbe- kannt ist, u ¨ber welche Zeitra ¨ume ein- zelne Patienten die Mittel bekommen haben. Zwei Entwicklungen sind unu ¨berseh- bar: Zum einen ist die Menge der ver- ordneten Psychopharmaka deutlich angewachsen – von 1,2 Mrd. ta ¨glichen Dosierungseinheiten (DDD (Defined Daily Dose) auf 1,8 Mrd. DDD Diese Menge an Psychopharmaka reichte im Jahre 1992 fu ¨ r etwa 3,3 Mio. Personen aus, im Jahre 2012 bereits fu ¨ r 5,1 Mio. (+ 59%). Auch qualitative Unterschie- de sind auffa ¨llig: Hervorzuheben sind die Steigerungen bei den Antidepres- siva – 1992 waren es 279 Mio. DDD, im Jahre 2012 bereits 1.308 Mio. DDD (+ 369%). War die Menge also 1992 ausreichend fu ¨r 765 Tsd. Perso- nen, reichte sie 2012 schon fu ¨r 3,58 Mio.. Der relative Anteil der Neuro- leptika ist dagegen leicht gesunken, der absolute Anteil dagegen gleich geblieben (312 Mio. im Jahre 1992, 315 Mio. im Jahre 2012, ausreichend fu ¨r 863 Tsd. Personen wa ¨hrend eines Jahres. Eine drastische Vera ¨nderung ist bei den Tranquilizern zu erkennen (typischerweise bei Angst- und Pani- kattacken eingesetzt), die Mengen sanken von 438 Mio. DDD im Jahre 1992 auf 111 DDD im Jahre 2012 (ausreichend fu ¨r 1,2 Mio. resp. 304 Tsd. Personen wa ¨hrend eines Jahres). Deutlich sanken auch die Verord- nungsanteile der antidepressiv wir- kenden pflanzlichen Psychopharma- ka, die vor allem Johanniskrautextrakt enthalten und ohne Rezept in der Apotheke zu kaufen sind. Die Vera ¨n- derung hier geht ohne Frage auf die am 1.1.2004 eingefu ¨hrte Regelung zu- ru ¨ ck, dass nicht rezeptpflichtige Mittel nicht mehr zu Lasten der GKV ver- ordnungsfa ¨hig sind. Verordnungsfa ¨- hig sind diese Mittel nur noch, wenn sie auch bei schweren Depressionen eine Zulassung haben. Eine auffa ¨llige Steigerung zeigt dage- gen der Verordnungsanteil von Psy- chostimulanzien, relativ und absolut. Dabei geht es vor allem um Arznei- mittel wie Ritalin, in den letzten Jahren aber auch um Concerta, Equasym, Medikinet oder Generika mit Methylphenidat. Im Jahre 1992 waren 0,4 Mio. DDD verordnet wor- den (ausreichend fu ¨r 1.100 Kinder und Jugendliche. Im Jahre 2012 wur- den 58 Mio. DDD verordnet, ausrei- chend fu ¨r die ja ¨hrliche Behandlung von 159 Tsd. Kindern und Jugend- lichen. Diese Mittel werden vor al- lem bei der Indikation Aufmerksam- keitsdefizit-Hyperaktivita ¨tssto ¨rung (ADHS) eingesetzt, die Diskussion u ¨ber die ansteigenden Verordnungs- mengen bei Experten und in der Offentlichkeit ist unu ¨berho ¨rbar (Simon, 2011). In der Zwischenzeit sind diese Mittel, die bislang nur fu ¨r Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 18 Jahren zugelassen waren, auch fu ¨r Erwachsene mit ADHS zu- gelassen. Es wird vermutet, dass 25 – 60% der jungen ADHS-Patienten diese Symptome auch im Erwachse- nenalter beibehalten (De Zwaan et al., 2012), der Anteil der Verord- nungen wird daher wahrscheinlich weiter ansteigen. Die deutlichsten Vera ¨nderungen sind aber im Bereich der Antidepressiva zu Tabelle 1: Verordnungsanteile aller zu Lasten der GKV verordneten Psychopharmaka in den Jahren 1992 (1.212 Mio. DDD) und 2012 (1.827 Mio. DDD) in %. Arzneimittelgruppe 1992 2012 Antidepressiva 23,0% 71,6% Neuroleptika 25,7% 17,2% Tranquilizer 36,1% 6,1% Psychostimulanzien 0,25% 3,4% Pflanzliche Psychopharmaka, besonders Mittel mit Johanniskrautextrakt zu Behandlung von Depressionen 14,6% 1,8% Quelle: Schwabe und Paffrath (1997, 2013) DDD = Defined Daily Dose (definierte ta ¨gliche Dosierung). Public Health Forum 22 Heft 82 (2014) http://journals.elsevier.de/pubhef 41.e1

Arzneimittelversorgung bei psychischen Erkrankungen

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Page 1: Arzneimittelversorgung bei psychischen Erkrankungen

Arzneimittelversorgung bei psychischen Erkrankungen

Gerd Glaeske

Im Mittelpunkt der Anwendung von

Arzneimitteln bei psychischen Er-

krankungen stehen Psychopharmaka,

die sich in funf Gruppen unterteilen

lassen: Antidepressiva, Neuroleptika,

Tranquilizer, vor allem vom Benzo-

diazepin-Typ, Psychostimulanzien

und pflanzliche Psychopharmaka, zu

denen vor allem Praparate mit Johan-

niskrautextrakt gehoren. In den letzten

20 Jahren haben sich die Verordnungs-

anteile der Psychopharmaka zu Lasten

der Gesetzlichen Krankenkassen

(GKV) deutlich verandert (siehe

Tabelle 1) die dort gewahlte Dimen-

sion DDD-Werte (Defined Daily Dose

/ definierte Tagesdosierungen) stehen

fur Jahresverbrauchswerte von Arz-

neimittelwirkstoffen, die eine Um-

rechnung daruber zulassen, wie viele

Menschen ein Jahr lang mit solchen

Mitteln behandelt werden konnen.Mit

diesen Daten ist aber nicht die reale

Versorgung abzubilden, weil es unbe-

kannt ist, uber welche Zeitraume ein-

zelne Patienten die Mittel bekommen

haben.

Zwei Entwicklungen sind unuberseh-

bar: Zum einen ist die Menge der ver-

ordneten Psychopharmaka deutlich

angewachsen – von 1,2Mrd. taglichen

Dosierungseinheiten (DDD (Defined

Daily Dose) auf 1,8 Mrd. DDD Diese

Menge an Psychopharmaka reichte im

Jahre 1992 fur etwa 3,3Mio. Personen

aus, im Jahre 2012 bereits fur 5,1 Mio.

(+ 59%). Auch qualitative Unterschie-

de sind auffallig: Hervorzuheben sind

die Steigerungen bei den Antidepres-

siva – 1992 waren es 279 Mio. DDD,

im Jahre 2012 bereits 1.308 Mio.

DDD (+ 369%). War die Menge also

1992 ausreichend fur 765 Tsd. Perso-

nen, reichte sie 2012 schon fur 3,58

Mio.. Der relative Anteil der Neuro-

leptika ist dagegen leicht gesunken,

der absolute Anteil dagegen gleich

geblieben (312 Mio. im Jahre 1992,

315 Mio. im Jahre 2012, ausreichend

fur 863 Tsd. Personen wahrend eines

Jahres. Eine drastische Veranderung

ist bei den Tranquilizern zu erkennen

(typischerweise bei Angst- und Pani-

kattacken eingesetzt), die Mengen

sanken von 438 Mio. DDD im Jahre

1992 auf 111 DDD im Jahre 2012

(ausreichend fur 1,2 Mio. resp. 304

Tsd. Personen wahrend eines Jahres).

Deutlich sanken auch die Verord-

nungsanteile der antidepressiv wir-

kenden pflanzlichen Psychopharma-

ka, die vor allem Johanniskrautextrakt

enthalten und ohne Rezept in der

Apotheke zu kaufen sind. Die Veran-

derung hier geht ohne Frage auf die

am 1.1.2004 eingefuhrte Regelung zu-

ruck, dass nicht rezeptpflichtigeMittel

nicht mehr zu Lasten der GKV ver-

ordnungsfahig sind. Verordnungsfa-

hig sind diese Mittel nur noch, wenn

sie auch bei schweren Depressionen

eine Zulassung haben.

Eine auffallige Steigerung zeigt dage-

gen der Verordnungsanteil von Psy-

chostimulanzien, relativ und absolut.

Dabei geht es vor allem um Arznei-

mittel wie Ritalin, in den letzten

Jahren aber auch um Concerta,

Equasym, Medikinet oder Generika

mit Methylphenidat. Im Jahre 1992

waren 0,4 Mio. DDD verordnet wor-

den (ausreichend fur 1.100 Kinder

und Jugendliche. Im Jahre 2012 wur-

den 58 Mio. DDD verordnet, ausrei-

chend fur die jahrliche Behandlung

von 159 Tsd. Kindern und Jugend-

lichen. Diese Mittel werden vor al-

lem bei der Indikation Aufmerksam-

keitsdefizit-Hyperaktivitatsstorung

(ADHS) eingesetzt, die Diskussion

uber die ansteigenden Verordnungs-

mengen bei Experten und in der€Offentlichkeit ist unuberhorbar

(Simon, 2011). In der Zwischenzeit

sind diese Mittel, die bislang nur fur

Kinder und Jugendliche im Alter von

6 bis 18 Jahren zugelassen waren,

auch fur Erwachsene mit ADHS zu-

gelassen. Es wird vermutet, dass 25 –

60% der jungen ADHS-Patienten

diese Symptome auch im Erwachse-

nenalter beibehalten (De Zwaan

et al., 2012), der Anteil der Verord-

nungen wird daher wahrscheinlich

weiter ansteigen.

Die deutlichsten Veranderungen sind

aber im Bereich der Antidepressiva zu

Tabelle 1: Verordnungsanteile aller zu Lasten der GKV verordneten Psychopharmaka inden Jahren 1992 (1.212 Mio. DDD) und 2012 (1.827 Mio. DDD) in %.

Arzneimittelgruppe 1992 2012

Antidepressiva 23,0% 71,6%Neuroleptika 25,7% 17,2%Tranquilizer 36,1% 6,1%Psychostimulanzien 0,25% 3,4%Pflanzliche Psychopharmaka,

besonders Mittel mit Johanniskrautextrakt zuBehandlung von Depressionen

14,6% 1,8%

Quelle: Schwabe und Paffrath (1997, 2013) DDD = Defined Daily Dose (definiertetagliche Dosierung).

Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)http://journals.elsevier.de/pubhef

41.e1

Page 2: Arzneimittelversorgung bei psychischen Erkrankungen

erkennen. Dies hat ohne Frage mit der

seit Mitte der 80er Jahre verfugbaren

neuen Gruppe der Selektiven-Seroto-

nin-Ruckaufnahme-Inhibitoren (SSRI,

auch als Serotoninwiederaufnahme-

hemmer bekannt) zu tun, deren fruhes

bekanntes Mittel das Prozac in den

USA war. In der Zwischenzeit macht

diese Arzneimittelgruppe mit den

Wirkstoffen Citalopram, Fluoxetin,

Paroxetin oder Sertralin den Hauptan-

teil der verordneten Antidepressiva im

Rahmen der GKVaus, er liegt mit 585

Mio. DDD deutlich vor dem der ,,klas-

sischen‘‘ trizyklischen (und starker als

die SSRI sedierenden) Antidepressiva

mit 288 Mio. DDD, deren Wirkstoffe

wie z.B. Amitryptilin, Doxepin oder

Trimipramin die Depressionsbehand-

lung uber viele Jahrzehnte dominiert

haben. Hinzugekommen sind auch neu-

ere Antidepressiva vom Typ der Sero-

tonin-Noradrenalin-Ruckaufnahme-In-

hibitoren (SNRI) mit den Wirkstoffen

Venlafaxin oder Duloxetin, auf die im-

merhin bereits 201 Mio. DDD im Jahre

2012 entfielen.

Grundsatzlich hat sich in den letzten

Jahren eine Bewertungsveranderung

der Antidepressiva ergeben: Ihre

Wirksamkeit wird als ,,begrenzt‘‘ dar-

gestellt, fur mild ausgepragte Depres-

sionen werden diese Mittel nicht mehr

als erste Wahl fur eine Therapie emp-

fohlen, weil der Unterschied gegen-

uber Placebo nur bei etwa 20% liegt.

(Kirsch et al., 2008). Insofern deutet

der starke Anstieg der Antidepressiva

moglicherweise darauf hin, dass diese

Mittel auch in anderen Indikationen

eingesetzt werden – genannt werden

in diesem Zusammenhang Angst- und

Zwangsstorungen oder Essstorungen.

Ein Hinweis fur diesen Zusammen-

hang konnte auch sein, dass bei Aus-

wertungen von Kassendaten nur bei

etwa der Halfte der Verordnungen

uberhaupt Depressionsdiagnosen co-

diert wurden (Glaeske et al., 2008).

In der Studie zur Gesundheit Erwach-

sener in Deutschland (DEGS) wurden

2012 auch die psychischen Storungen

vonMannern und Frauen im Alter von

18 – 79 Jahren erfasst (DEGS, 2012).

Danach leiden 11,4% der Frauen und

5,0% der Manner an einer unipolaren

und 3,1% der Frauen und 2,8% der

Manner an einer bipolaren Storung.

Bei all diesen Storungen kommen

Antidepressiva zum Einsatz, bei den

bipolaren Storungen vor allem SSRI

und Lithium. Die Verordnungsmen-

gen von Lithium betragen ubrigens

nur 21,2 Mio. DDD – gerade einmal

ausreichend rund 60.000 Patienten.

Eine Unterversorgung mit dieser evi-

denzbasierten Lithium-Therapie ist

daher nicht auszuschließen.

Der korrespondierende Autor erklart, dasskein Interessenkonflikt vorliegt.

http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2013.12.008

Prof. Dr. Gerd GlaeskeUniversitat BremenZentrum fur SozialpolitikArbeitsbereichArzneimittelversorgungsforschungMary-Somerville-Str. 528359 [email protected]

Literaturverzeichnis

DEGS, Herausgeber. Studie zur Gesundheit Er-

wachsener in Deutschland. Berlin: Robert

Koch-Institut, 2012.

De Zwaan M, Gruss B, Muller A, Graap H,

Martin A, Glaesmer H, et al. The estimated

prevalence and correlates of adult ADHS

in a German community sample. Eur

Arch Psychiatry Clin NHeurosci 2012;262:

79–86.

GlaeskeG, SchicktanzC, JanhsenK, Herausgeber.

GEK-Arzneimittel-Report 2008. St. Augustin:

Asgard, 2008.

Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB,

Scoboria A, Moore TJ, Johnson BT. Initial

severity and antidepressant benefits: a meta

analysis of data submitted to the Food and

Drug Administration. PloS Med 2008;5:e45.

Schwabe U, Paffrath D, Herausgeber. Arzneiver-

ordnungs-Report 1997. Stuttgart, Jena:

Springer, 1997.

Schwabe U, Paffrath D, Herausgeber. Arzneiver-

ordnungs-Report 2013. Berlin, Heidelberg:

Springer, 2013.

Simon N. Normal ist unnormal. Kritiker befurch-

ten, dass in der Diagnostik-Bibel DSMKrank-

heiten geschaffen werden, die keine sind.

Tagesspiegel 2011.

Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)http://journals.elsevier.de/pubhef

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Page 3: Arzneimittelversorgung bei psychischen Erkrankungen

Einleitung

Die Arzneimittelversorgung mit Psychopharmaka hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verandert. Der großte

Anteil entfiel noch 1992 auf Tranquilizer vom Benzodiazepin-Typ, im Jahre 2012 sind die Antidepressiva zur meist

verordneten Gruppe der Psychopharmaka geworden, vor allem wegen des starken Verordnungsanstiegs von Serotonin-

wiederaufnahmehemmern (SSRI). Die Evidenz fur die Behandlung milder Depressionen gegenuber Placebo ist fraglich,

bei der Behandlung von bipolaren Storungen werden vor allem SSRI und Lithium eingesetzt.

Abstract

The use of psychotropic drugs has substantially changed during the last two decades. Whereas 1992 the largest amount

dispensed with was benzodiazepine-tranquilizing drugs the antidepressants became the most prescribed drug group in

2012, especially due to the increase of selective-serotonine-reuptake-inhibitors (SSRI). The evidence for the treatment of

mild depressions compared to placebo is poor. In the treatment of bipolar disorders mainly used are SSRI and lithium.

Schlusselworter:

Psychopharmaka = psychotropic drugs, Verbrauch = utilization, Antidepressiva = antidepressant drugs, bipolare Storungen

= bipolar disorders

Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)http://journals.elsevier.de/pubhef

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