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Klaus Sander Ernst Haeckel (1834 - 1919) ist jedem Biolo- gen bekannt - sei es wegen seiner grundlegen- den, auch begrifflich nachwirkenden Darstel- lung der Biologie in der GenerellenMorpholo- gie (1866), sei es wegen seiner vehementen weltanschaulichen Fehden oder seiner un- glaublich weit verbreiteten und einfluflreichen popularwissenschaftlichen Schriften. Wer aber war Haeckels Altersgenosse August Weis- mann? Die Antwort auf diese Frage mag man- cher schuldig bleiben, sie ist aber unter Ken- nern kaum umstritten: Weismann war der be- deutendste theoretische Biologe des ausgehen- den 19. Jahrhunderts - nach Ansicht von Ernst Mayr sogar "one of the great biologists of all time" [I]. Er begrundete den Neodarwi- nismus, die erste, wissenschaftlich augeror- dentlich fruchtbare Abwandlung von Darwins Evolutionstheorie. Im Gegensatz zu Haeckel, doch auch hierin Darwin vergleichbar, scheute Weismann laute weltanschauliche Auseinan- dersetzungen urn seine Theorien; seine einzige offentliche Kontroverse focht er mit dem eng- lischen Philosophen Herbert Spencer aus. So blieb sein Einflui3 auf den Kreis der wissen- schaftlich Interessierten beschrankt. Dort je- doch wirkte sein Denken, zumal auflerhalb des deutschen Sprachraums, starker in die Zu- kunft als die Schriften Haeckels. Georg Uschmann, der langjahrige Sachwalter von Haeckels Erbe in Jena, fuhrte dies kurzlich [2] auf folgende Grunde zuruck: Haeckels biolo- gisches Weltbild, vorgezeichnet in der Generel- Len Morphologie von 1866, war seit seinem vier- ten Lebensjahrzehnt im wesentlichen abge- schlossen - Weismann hingegen nahm bis ins Greisenalter stetig neue Anregungen auf und nutzte sie zur Weiterentwicklung seiner Theo- rien. Mehr als einmal anderte er unter dem EinfluQ neuer Daten und Erkenntnisse seine Ansichten so grundlich, wie dies nur derjenige ohne Gesichtsverlust vermag, dessen sachliche Redlichkeit auger Zweifel steht. Es kennzeich- net Weismanns Schritthalten mit der Entwick- lung der Biologie, dafl die fruhen Photogra- phien im Mitarbeiterkreis ihn neben den je- weils modernsten Mikrotomen zeigen (s. Ab- bildung l), wahrend Haeckel zu jener Zeit ex cathedra den Nutzen mikroskopischer Schnitt- praparate bestritt und sich in der Pose des waffenbehangenen Tropenreisenden ablichten liel3. August Weismann wurde am 17. Januar 1834 in Frankfurt am Main als Sohn eines Philolo- gen und Gymnasialprofessors geboren. Von seiner Mutter erbte er zeichnerische Fahigkei- ten und musikalisches Talent, sein Klavierleh- rer hingegen weckte in ihm die Leidenschaft August Weismann (1834- 1914) Naturforscher und Theoretiker der allgemeinen Biologie des Schmetterlingsammlers. Nachdem der Broterwerb gemaQ dem Wunsch des Vaters durch ein abgeschlossenes Medizinstudium si- chergestellt schien, folgte Weismann seiner na- turwissenschaftlichen Neigung zunachst mit der Dissertation De acidi hippurici in corpore humani generatione (1857), die unter Friedrich Woehlers EinfluB entstand und in erweiterter Fassung einen wissenschaftlichen Preis errang. Auch Weismanns zweite Veroffentlichung, Untersuchungen uber den Salzgehalt der Ostsee (1 858), brachte ihm einen wissenschaftlichen Preis ein. Dennoch wandte er sich von der Chemie ab, da ihre ,,apothekerhaften" An- spruche ihm nicht behagten. Nach kurzer Tatigkeit als praktischer Arzt wurde er Leib- arzt beim osterreichischen Erzherzog Ste- phan, der auf Schlol3 Schaumburg an der Lahn im Exil lebte. Zuvor absolvierte Weismann je- doch einen zoologischen ,,Intensivkurs" bei dem beriihmten GieQener Zoologen Rudolf Leuckart. Ihm verdankte er auch das For- schungsthema Die Entwicklung der Dipteren, dem er seine reichlichen MuQestunden auf Schlol3 Schaumburg widmete. Mit den Ergeb- nissen habilitierte er sich 1863 an der Univer- sitat Freiburg im Breisgau. Diese Universitat blieb Weismanns akademische Heimat, bis er nach fast 5Ojahriger Lehrtatigkeit 1912 um die Emeritierung nachsuchte. In seiner Antritts- vorlesung Uber die Berechtigung der Darwin- schen Theorie behandelte er zum ersten Male jenes Grundproblem, dem fortan sein For- schen, vor allem aber sein ganzes Denken galt. Weismanns fruhe Hinwendung zu theoreti- scher Arbeit wurde durch wiederholte Augen- leiden gefordert, die ihn jeweils jahrelang am Gebrauch des Mikroskops und zeitweilig so- gar am Lesen hinderten. Seine aufopfernde Frau und spater eine seiner Tochter lasen ihm in diesen schweren Zeiten stundenlang aus wissenschaftlichen Veroffentlichungen vor, und tuchtige Mitarbeiter fuhrten fur ihn mi- kroskopische Untersuchungen aus; zwischen- durch kehrte Weismann allerdings auch selbst und mit nachhaltigem Erfolg ans Mikroskop zuruck, und seine wichtigsten Theorien wur- den wesentlich von eigener praktischer Arbeit beeinflufit [3, 41. Ehe wir Weismanns theoretisches Werk wurdigen, wollen wir einen Blick auf seine beschreibenden und experimentellen Unter- suchungen werfen. Die Arbeiten aus der Schaumburger Zeit uber die Insektenentwick- lung hatten wenig EinfluB auf seine spateren Theorien, waren aber in ihrer Qualitat und ge- danklichen Durcharbeitung richtungsweisend fur die nachfolgende Forschung; z. B. stam- Btologte t>i uirserer Zeit / 14 Jahrg 1984 / Nr 6 0 Verlag Chemie GmbH, 0-6940 Weinheim, 1984 04j-20iX/84/0612-0189 $ 02 iO/o men die Begriffe ,,Polzellen" und ,,Imaginal- scheiben", heute fast jedem Entwicklungsbio- logen vertraut, aus jenen Veroffentlichungen von 1863/64. Etwa zwei Jahrzehnte spater kehrte Weismann noch einmal zur Insekten- entwicklung zuruck und vollzog dabei eine der eingangs erwahnten Kehrtwendungen [5]. Bezeichnete er 1864 das Erscheinen der Zell- kerne im Blastoderm noch als Musterbeispiel fur freie ,,Neubildung" von Zellkernen (eine zu jener Zeit schon antiquierte Vorstellung aus der Fruhzeit der Zelltheorie), so ist er 1882 so sehr von der Kernteilung als einzig moglichem Vermehrungsmodus uberzeugt, dafl er sie auch dort sieht, wo sich in Wirklichkeit nur Vakuo- len im Dotter aufteilen. Beide Irrtumer sind verzeihlich, wenn man wie Weismann aus- schlieBlich auf Beobachtungen an lebenden Eiern angewiesen ist. Dal3 gerade Weismann noch so spat eine de nowo-Kernbildung propa- gierte, entbehrt nicht der Ironie und beleuch- tet zugleich das AusmaQ seiner nachfolgenden Kehrtwendung - fuQt doch sein ganzes spate- res Denken auf der Kontinuitat der Kernsub- stanz durch alle Zellgenerationen hindurch. Im Ansatz noch ausgesprochen naturkundlich und ebenfalls wenig von Theorie geleitet sind Weismanns fruhe limnologische Untersu- chungen. Er hat sie in einer Schrift Uber das Thiedeben im Bodensee (1876) zusammenge- faBt. Sie beruhte auf einem fur Laien gedach- ten Vortrag, 1876 ,,vor einem zum groken Theil aus Damen bestehenden Publikum frei gehalten", trug ihm jedoch ob ihrer Qualitaten den Ruf eines Begrunders der Limnologie ein [6]. Weismann beschreibt darin u. a. seine grundlegende Entdeckung, daQ das Bodensee- plankton tageszeitliche Vertikalwanderungen ausfuhrt - die Oberflachenschicht enthalt am Tage fast keine Plankter, nachts hingegen quirlt sie davon. Die nachste Serie beschrei- bender Untersuchungen galt der sexuellen Fortpflanzung mariner Nesseltiere (Hydro- zoen). Diese Studien hatten bereits einen evo- lutionstheoretischen Hintergrund und fuhr- ten zur Keimbahntheorie (Abbildung 2). Schliefllich seien noch Weismanns jahrzehnte- lange beschreibende und experimentelle Un- tersuchungen an Schmetterlingen erwahnt, die von einfachen Beobachtungen ausgingen, aber bald der Klarung evolutionsbiologischer Grundfragen galten. So war er z. B. der erste, der die Schutzwirkung bestimmter Farbmu- ster sowie die Ursachen fur das Auftreten jah- reszeitlich verschiedener Farbvarianten der gleichen Schmetterlingsart (Saisondimor- phismus) experimentell zu klaren versuchte. Dal3 Weismanns praktische Arbeiten Anklang fanden, geht nicht nur aus ihrem erkennbaren I89

August Weismann (1834–1914). Naturforscher und Theoretiker der allgemeinen Biologie

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Klaus Sander

Ernst Haeckel (1834 - 1919) ist jedem Biolo- gen bekannt - sei es wegen seiner grundlegen- den, auch begrifflich nachwirkenden Darstel- lung der Biologie in der Generellen Morpholo- gie (1866), sei es wegen seiner vehementen weltanschaulichen Fehden oder seiner un- glaublich weit verbreiteten und einfluflreichen popularwissenschaftlichen Schriften. Wer aber war Haeckels Altersgenosse August Weis- mann? Die Antwort auf diese Frage mag man- cher schuldig bleiben, sie ist aber unter Ken- nern kaum umstritten: Weismann war der be- deutendste theoretische Biologe des ausgehen- den 19. Jahrhunderts - nach Ansicht von Ernst Mayr sogar "one of the great biologists of all time" [I]. Er begrundete den Neodarwi- nismus, die erste, wissenschaftlich augeror- dentlich fruchtbare Abwandlung von Darwins Evolutionstheorie. Im Gegensatz zu Haeckel, doch auch hierin Darwin vergleichbar, scheute Weismann laute weltanschauliche Auseinan- dersetzungen urn seine Theorien; seine einzige offentliche Kontroverse focht er mit dem eng- lischen Philosophen Herbert Spencer aus. So blieb sein Einflui3 auf den Kreis der wissen- schaftlich Interessierten beschrankt. Dort je- doch wirkte sein Denken, zumal auflerhalb des deutschen Sprachraums, starker in die Zu- kunft als die Schriften Haeckels. Georg Uschmann, der langjahrige Sachwalter von Haeckels Erbe in Jena, fuhrte dies kurzlich [2] auf folgende Grunde zuruck: Haeckels biolo- gisches Weltbild, vorgezeichnet in der Generel- Len Morphologie von 1866, war seit seinem vier- ten Lebensjahrzehnt im wesentlichen abge- schlossen - Weismann hingegen nahm bis ins Greisenalter stetig neue Anregungen auf und nutzte sie zur Weiterentwicklung seiner Theo- rien. Mehr als einmal anderte er unter dem EinfluQ neuer Daten und Erkenntnisse seine Ansichten so grundlich, wie dies nur derjenige ohne Gesichtsverlust vermag, dessen sachliche Redlichkeit auger Zweifel steht. Es kennzeich- net Weismanns Schritthalten mit der Entwick- lung der Biologie, dafl die fruhen Photogra- phien im Mitarbeiterkreis ihn neben den je- weils modernsten Mikrotomen zeigen (s. Ab- bildung l), wahrend Haeckel zu jener Zeit ex cathedra den Nutzen mikroskopischer Schnitt- praparate bestritt und sich in der Pose des waffenbehangenen Tropenreisenden ablichten liel3.

August Weismann wurde am 17. Januar 1834 in Frankfurt am Main als Sohn eines Philolo- gen und Gymnasialprofessors geboren. Von seiner Mutter erbte er zeichnerische Fahigkei- ten und musikalisches Talent, sein Klavierleh- rer hingegen weckte in ihm die Leidenschaft

August Weismann (1834- 1914) Naturforscher und Theoretiker der allgemeinen Biologie

des Schmetterlingsammlers. Nachdem der Broterwerb gemaQ dem Wunsch des Vaters durch ein abgeschlossenes Medizinstudium si- chergestellt schien, folgte Weismann seiner na- turwissenschaftlichen Neigung zunachst mit der Dissertation De acidi hippurici in corpore humani generatione (1 857), die unter Friedrich Woehlers EinfluB entstand und in erweiterter Fassung einen wissenschaftlichen Preis errang. Auch Weismanns zweite Veroffentlichung, Untersuchungen uber den Salzgehalt der Ostsee (1 858), brachte ihm einen wissenschaftlichen Preis ein. Dennoch wandte er sich von der Chemie ab, da ihre ,,apothekerhaften" An- spruche ihm nicht behagten. Nach kurzer Tatigkeit als praktischer Arzt wurde er Leib- arzt beim osterreichischen Erzherzog Ste- phan, der auf Schlol3 Schaumburg an der Lahn im Exil lebte. Zuvor absolvierte Weismann je- doch einen zoologischen ,,Intensivkurs" bei dem beriihmten GieQener Zoologen Rudolf Leuckart. Ihm verdankte er auch das For- schungsthema Die Entwicklung der Dipteren, dem er seine reichlichen MuQestunden auf Schlol3 Schaumburg widmete. Mit den Ergeb- nissen habilitierte er sich 1863 an der Univer- sitat Freiburg im Breisgau. Diese Universitat blieb Weismanns akademische Heimat, bis er nach fast 5Ojahriger Lehrtatigkeit 1912 um die Emeritierung nachsuchte. In seiner Antritts- vorlesung Uber die Berechtigung der Darwin- schen Theorie behandelte er zum ersten Male jenes Grundproblem, dem fortan sein For- schen, vor allem aber sein ganzes Denken galt. Weismanns fruhe Hinwendung zu theoreti- scher Arbeit wurde durch wiederholte Augen- leiden gefordert, die ihn jeweils jahrelang am Gebrauch des Mikroskops und zeitweilig so- gar am Lesen hinderten. Seine aufopfernde Frau und spater eine seiner Tochter lasen ihm in diesen schweren Zeiten stundenlang aus wissenschaftlichen Veroffentlichungen vor, und tuchtige Mitarbeiter fuhrten fur ihn mi- kroskopische Untersuchungen aus; zwischen- durch kehrte Weismann allerdings auch selbst und mit nachhaltigem Erfolg ans Mikroskop zuruck, und seine wichtigsten Theorien wur- den wesentlich von eigener praktischer Arbeit beeinflufit [3, 41.

Ehe wir Weismanns theoretisches Werk wurdigen, wollen wir einen Blick auf seine beschreibenden und experimentellen Unter- suchungen werfen. Die Arbeiten aus der Schaumburger Zeit uber die Insektenentwick- lung hatten wenig EinfluB auf seine spateren Theorien, waren aber in ihrer Qualitat und ge- danklichen Durcharbeitung richtungsweisend fur die nachfolgende Forschung; z. B. stam-

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0 Verlag Chemie GmbH, 0-6940 Weinheim, 1984 04j-20iX/84/0612-0189 $ 02 i O / o

men die Begriffe ,,Polzellen" und ,,Imaginal- scheiben", heute fast jedem Entwicklungsbio- logen vertraut, aus jenen Veroffentlichungen von 1863/64. Etwa zwei Jahrzehnte spater kehrte Weismann noch einmal zur Insekten- entwicklung zuruck und vollzog dabei eine der eingangs erwahnten Kehrtwendungen [5] . Bezeichnete er 1864 das Erscheinen der Zell- kerne im Blastoderm noch als Musterbeispiel fur freie ,,Neubildung" von Zellkernen (eine zu jener Zeit schon antiquierte Vorstellung aus der Fruhzeit der Zelltheorie), so ist er 1882 so sehr von der Kernteilung als einzig moglichem Vermehrungsmodus uberzeugt, dafl er sie auch dort sieht, wo sich in Wirklichkeit nur Vakuo- len im Dotter aufteilen. Beide Irrtumer sind verzeihlich, wenn man wie Weismann aus- schlieBlich auf Beobachtungen an lebenden Eiern angewiesen ist. Dal3 gerade Weismann noch so spat eine de nowo-Kernbildung propa- gierte, entbehrt nicht der Ironie und beleuch- tet zugleich das AusmaQ seiner nachfolgenden Kehrtwendung - fuQt doch sein ganzes spate- res Denken auf der Kontinuitat der Kernsub- stanz durch alle Zellgenerationen hindurch. Im Ansatz noch ausgesprochen naturkundlich und ebenfalls wenig von Theorie geleitet sind Weismanns fruhe limnologische Untersu- chungen. Er hat sie in einer Schrift Uber das Thiedeben im Bodensee (1 876) zusammenge- faBt. Sie beruhte auf einem fur Laien gedach- ten Vortrag, 1876 ,,vor einem zum groken Theil aus Damen bestehenden Publikum frei gehalten", trug ihm jedoch ob ihrer Qualitaten den Ruf eines Begrunders der Limnologie ein [6]. Weismann beschreibt darin u. a. seine grundlegende Entdeckung, daQ das Bodensee- plankton tageszeitliche Vertikalwanderungen ausfuhrt - die Oberflachenschicht enthalt am Tage fast keine Plankter, nachts hingegen quirlt sie davon. Die nachste Serie beschrei- bender Untersuchungen galt der sexuellen Fortpflanzung mariner Nesseltiere (Hydro- zoen). Diese Studien hatten bereits einen evo- lutionstheoretischen Hintergrund und fuhr- ten zur Keimbahntheorie (Abbildung 2). Schliefllich seien noch Weismanns jahrzehnte- lange beschreibende und experimentelle Un- tersuchungen an Schmetterlingen erwahnt, die von einfachen Beobachtungen ausgingen, aber bald der Klarung evolutionsbiologischer Grundfragen galten. So war er z. B. der erste, der die Schutzwirkung bestimmter Farbmu- ster sowie die Ursachen fur das Auftreten jah- reszeitlich verschiedener Farbvarianten der gleichen Schmetterlingsart (Saisondimor- phismus) experimentell zu klaren versuchte. Dal3 Weismanns praktische Arbeiten Anklang fanden, geht nicht nur aus ihrem erkennbaren

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EinfIuR auf zeitgenossische und nachfolgende Autoren hervor, sondern auch aus dem Um- stand, daiS er seine Originalarbeiten uber verschiedene Themenkreise (z. B. Insekten- entwicklung, Biologie der Wasserflohe) nachtraglich auch in Buchform zusammenge- faRt herausgeben konnte. Ohne entspre- chende Nachfrage hatte sich dazu wohl auch damals kein Verleger bereit gefunden.

Weismanns groRe theoretische Schriften wur-

den 1875/76 durch die Studien zur Deszcn- denztheorie eingeleitet; das Geleitwort zur englischen Ausgabe (1 882) schrieb Charles Darwin - es waren seine letzten zu Lebzeiten gedruckten Zeilen. Sodann folgten Weis- manns beriihmte Erorterungen Uber die Dauer des Lebens (1881) und Uber Leben und Ed (1 884); die darin dargelegte Auffassung, dafS auch die Lebensdauer der Organismen ein Se- lektionsergebnis sei, gehorte zu seinen um- strittensten SchluRfolgerungen - fur den heu-

Abb. 1. August Weisniann (links) im Kreise seiner Mitarbeiter. Originalaufnahme aus d e m Jahre 1886 im Besitz von H. Risler, Mainz; aus [ 131.

tigen Evolutionsbiologen ist sie selbstver- standlich. Auf eine Rektoratsrede Uber die Vererbung (1883) und den Aufsatz Zur Ge- schichte der Vererbungstheorien (1 886) folge 1892 Das Keimplasma. Eine Theorie dcr Vcrer- bung. Die zentrale Stellung dieses vielumstrit- tenen Werkes in Weismanns Sclbstverstandnis belegt seine zurn 70. Geburtstag gestiftete Marmorbuste im Freiburger Zoologischen In- stitut: ihre Hande ruhen auf einem Buch, das in grogen Lettern das Wort ,,Keimplasma"

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tragt. Noch umfang- und zahlreicher sind die spateren Schriften xu Evolutionsfragen: z. B. im Jahre 1 SSh iiber Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung fiir die Selektionstheorie und Zw Frage ricr Vrrerbung erworbener Eigenschafien, 1889 Uber die Hypothese einer Vererbung von Verletzungen, 1 89 I Amphimixis oder: dic Ver- rnischung dcr Individueri, I 896 Ubcr Germinal- selektion, eine QucBIIr bestimmt gerichteter Vn- riation und schlicl3lich als kronender Schlufi- stein die Vortrdge d e r Deszendenztheorie ( 3 Auflagen 1901 - I9 13).

Weismanns evolutionstheoretisclie Aussagen verfechten noch konscquenter als diejenigen Darwins die ,,Allmacht dcr Naturziichtung" (so der Titel einer Schrift von 1893). Als Ursa- che fur die individuellen Unterschiedc, an de- nen die Selektion angreift, hatte Darwin namlich nosh ein ,,lamarckistisches" Prinzip zxgelassen: die Vererbung erworbener, d. h. den Individucn durch unterschiedliche Au- tknfaktoren aufgepragter Eigenschaften.

Weismann folgte Darwin zunichst in dieser Auffassung, vollzog dann aber 1882/S3 eine radikale Wcndc, die Ernst Mayr [XI kiirzlich klar herausgearbeitet hat. Das Resultat war cine grundlegcnde Modifikation der Darwin- schen Evolutionsvorstellungen, der ,,Neodar- winismus" - Darwinismus ohne Vererbung erworbener Eigenschaften [7].

Wie kam \Veismann zu diesem Sinneswandel? Soweit erkennbar durch Beobachtungen an

Hydrozoenstockchen (Abbildung 2), durch Verarbeitung der neuesten cytologischen Er- kenntnisse, und durch seine Uberlegungen zur Lebensdauer der Organismen (s. 0.). Letztere uberzeugten ihn von der ,,potentiellen Un- sterblichkeit der Einzeller", deren individuelle Existcnz nicht notwendigerweise im Tode, sondern in der Fortpflanzung (Zellteilung) er- lischt. Die Hydrozoenentwicklung lehrte Weismann, dai3 der einzige potentiell unsterb- liche Zelltyp der Vielzeller, namlich ihre Keimzellen, aus der sogenanten ,,Keimbahn" hervorgeht, einer gesonderten Zellfolge, die nicht am Aufbau des Korpers (des ,,Soma") teilnimmt. Die neuen cytologischen Befunde der Jahre um 1880, insbesondere uber den Ablauf der mitotischen Kernteilung, uber- zeugten Weismann und andere bedeutende Kiologen sofort davon, dafi die Kernschleifcn (Chromosomen) des Zellkerns die Trager der Vererbuiigserscheinungen seien. Da somit die Keimzellen ihre Erbanlagen nur aus den Kern- reilungen der Keimbahn erhalten kiinnen, die Kcimbahn ihrerseits aber von Anfang an cyto- logisch von den Korperzellen getrennt ist, vermogcn auf den Korper einwirkende Au- Genfaktoren keinen spezifischen Einflufi auf die Erbanlagen der Keimzellen auszuuben. Diese Kette von Schluilfolgerungen war es, die Lamarcks ,,Vererbung erworbener Eigen- schaften" ausschlofi und damit den Schritt zum Neodarwinismus ausloste. Sie war Weis- nianns bedeutendste, wenn auch weltanschau- lich am nieisten umkampfte wissenschaftliche Leistung.

Abb. 2. Weismanns Keimbahnhypothese stutzte sich entscheidend auf seine Beobach- tungen an Hydrozoen-Stockchen. (2a): Schema des Haupthydranthen oder Spit- zenpolyps eines Eudendrium-Stockchens. Aus der Knospe Shy wird sich ein Blastostyl bilden, ein mit reduzierten Medusen besetz- ter Gonadentrager. Die Eier entstehen nicht in den Gonaden, sondern aus intersti- tiellen Zellen in einer Keimzone des Haupt- stiels; von dort wandern sie in das Blastostyl. In der Keimzone sieht man Urkeimzellen und Eizellen, deren Kern zum Keimblas- chen vergroaert ist. Schematische Darstel- lung von Weismann 1883 [14]. (2b): nach der Natur gezeichnetes Eudendrium-Stockchen mit Angabe der Keimzone und der Korper- schichten, in denen die Eizellen durch die Stiele der jungeren Seitenzweige zu den (noch nicht gebildeten) Blastostylen wan- dern. Aus [14]. (2c): Lupenaufnahme eines mikroskopischen Praparats, das als Vorlage fur den Holzschnitt aus dem Jahre 1883 (2b) gedient hat; es zeigt bei starkerer VergroRe- rung deutlich die von Weismann als Keim- bahnzellen angesprochenen Zellen. Das Praparat fand sich im Zoologischen Institut Freiburg, die Obereinstimmung bemerkte E. Buhler [15].

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Mit der Ablehnung der Vererbung erworbener Eigenschaften stand Weismann vor der Not- wendigkeit, andere Ursachen fur die indivi- duclle Variation (das notwendige Substrat der Selektion) ZLI finden. Wie Ernst Mayr [S] kiirzlich uberzeugend darlegte, war dieser Zwang der Anlafl zu Weismanns Vererbungs- theorien, die wir hier nur mit den Stichwor- tern Amphimixis und Keimplasmatheorie charakterisiercn wollen. Als Quelle der Varia- tion fuhrte Weismann die ,,Amphimixis" ein - die Vereinigung, nicht aber Verschmelzung der elterlichen Erbanlagen, die er sich als dis- lirete, in der Meiose wieder voneinander trennbare Molekulkomplexe vorstellt; damit verlieh er der Befruchtung jene evolutionsbio- logische Funktion, der sie ihre Existenz ver- dankt. Aus der gleichen Zusammenschau her- aus war Weismann der erste, der die wesentli- chen Zuge der Meiose und ihre Bedeutung fur Vererbung und Evolution verstand (1585); die Begriffe ,,Reciuktionsteilung" und ,,Aquati- onsteilung" prigte er schon vor der vollen Klarung des Sachverhalts und beschleunigte dessen Untersuchung dadurch entscheidend. Das 1891 veroffentlichte Meioseschema (Ab- bildung 3) ist in rnehrfacher Hinsicht bemer- kenswert: es nimmt die ,,offiziell" erst 1902/03 begrundete Chromosomentheorie der Vererbung vorweg, es illustriert Weis- nianns Forderung, dai3 vaterliches und mutterliches Erbgut nicht verschmelzen son- dern nebeneinander bestehen bleiben (damit hat er der Wiederentdeckung von Mendels Werk den Weg gebahnt), und es postuliert die

Abb. 3. Verhalten eines Chromosomenpaa- res in der Meiose, aus dem Weismann die li- neare Anordnung der ,,Idea ableitet; bei die- sen handelt es sich nicht um einzelne Erban- lagen, sondern um jeweils komplette Satze solcher Anlagen (Genome), die als ,,Ahnen- plasmen" auf das betreffende Individuum gekommen sind. ,,Idant" ist Weismanns Name fur das Chromosom, Ascaris univalens der Pferdespulwurm jener Rase, die haploid nur ein einziges Chromosom pro Zelle be- sitzt und daher bei der Aufklarung der Meiose eine wesentliche Rolle spielte. Ukz Urkeimzelle, Mkz Mutterkeimzelle (Game- tozyt I. Ordnung), Tkz Tochterkeimzelle (Gametozyt 11. Ordnung), Kz Keimzelle (Garnet). Aus [16].

Abb. 4. August Weismann iiber die Berech- tigung wissenschaftlicher Hypothesen. SchluRabsatze aus [9].

lineare Anordnung von Erbanlagen (bei denen es sich allerdings nicht um einzelne Erbfakto- ren handelt, sondern - in heutiger Terminolo- gie - um ganze Genome). Die in ihrer endgul- tigen Fassung 1892 veroffentlichte Keirnplus- rnatheorie hingegen war ein wenig glucklicher Wurf. Als der erste Versuch, Vererbung und ontogenetische Entwicklung auf strikt mole- kularer Grundlage zu erklaren, wirkt sie bis heute nach; aber sie mui3te notwendig schei- tern, und dies nicht nur wegen der unzulangli- chen molekularen Vorstellungen jener Zeit - sie stand vielmehr von Anfang an im Wider- spruch zu bereits bekannten Tatsachen z. B. aus dem Bereich der Regeneration. Es bedurfte eines so stark auf das Grundsatzliche ausge- richteten Geistes, wie er Weismann zu eigen war, um diese Theorie trotzdem auszuarbei- ten.

Weismann begrundete seine Hartnackigkeit mit dem heuristischen Wert von Hypothesen, der heute wissenschaftstheoretisch anerkannt ist, damals jedoch der Rechtfertigung bedurfte (Abbildung 4).

Den heuristischen Wert von Weismanns Hy- pothesen wurdigte 1923 der spatere Nobel- preistrager Hans Spemann - dessen Experi- mente der Keimplasmatheorie endgultig den Todesstoi3 versetzt hatten. ,,Es ist gerade 40 Jahre her, seit zum letzten Ma1 ein Fachge- nosse von mir als Rektor von dieser Stelle sprach. Manche der Alteren von Ihnen werden sich noch des Vortrags erinnern, in welchem

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mein beruhmter Vorganger August Weismann zum ersten Ma1 seine Gedanken iiber die Ver- erbung entwickelte. Es lagen darin die Keime zu den theoretischen Anschauungen, welche jahrzehntelang, bekampft und verteidigt, ei- nen guten Teil der zoologischen Forschung be- herrschten und noch heute, widerlegt und bestatigt, lebendig unter uns fortwirken. Ich selbst erinnere mich mit Vergniigen der Stun- den, wo ich wahrend eines Winters erzwunge- ner Mufle im Hochgebirge mich in die Gedan- ken von Weismanns ,,Keimplasma" vertiefte und, angeregt von ihnen, den Plan zu meinen eigenen ersten Experimenten fake" [lo].

Weismanns Ruf als akademischer Lehrer zog Studenten aus aller Herren Lander an. Viele von ihnen gewann er als Doktoranden, darun- ter Chiyomatsu Ishikawa, den Begrunder der Fischereibiologie in Japan, Valentin Haecker, Wegbereiter der Entwicklungsgenetik, und Alfred Kiihn, dessen Lehrbiicher noch heute lebendig sind. Kuhn, Weismanns letzter Assi- stent, schildert die personliche Ausstrahlung Weismanns mit den folgenden Worten: ,,Nie sind mir der Ernst und die Wiirde der Wissen- schaft so unmittelbar lebendig geworden, wie durch Weismanns Personlichkeit in der Vorle- sung. Ruhig betrat seine hohe, aufrechte Ge- stalt, meist in einen bequemen grauen Anzug gekleidet, den Horsaal und setzte sich mit ei- ner leichten Verneigung an den Tisch. Er er- hob sich nur, um an die Wandtafel zu zeich- nen. Auch im hochsten Alter entwarf er fur den grogen Horsaal berechnete ausgezeich- nete bunte Schemabilder tierischer Organisa- tionen. Sein vortreffliches Gedachtnis und an- geborene Gestaltungskraft liei3en ihn ganz frei sprechen, ohne jedes Pathos, aber sehr ein- drucksvoll. Jeder fuhlte das Selbstdurchdachte und vielfach auch Selbstgefundene im Vortrag eines grogen Forschers. Manche Auslander kamen nur um der Vorlesung uber Deszen- denztheorie willen, bevor sie gedruckt vorlag, nach Freiburg. Dem Fache Fernstehende hor- ten sie um des allgemein bedeutsamen Themas und um des Vortragenden willen. Auch Medi- zinstudenten, welche Zoologie nur pflicht- gemai3 belegten, wurden von Weismanns Vor- lesung gefesselt, kamen regelmagig und wur- den zu lebhaften Diskussionen iiber das Gehorte angeregt" Ell].

Fast alle theoretischen Werke Weismanns wur- den ins Englische iibersetzt, einige auch in an- dere Sprachen. Zahlreiche in- und auslandi- sche Institutionen bedachten ihn rnit Ehrun- gen, von denen die Darwin-Wallace-Medaille (1909) wohl als die hochste gelten darf. Mitten

in den Emotionen des ersten Weltkriegs verof- fentlichte die Londoner Royal Society einen riihmenden und ehrenden Nachruf auf Weis- mann - vielleicht das beste zeitgenossische Zeugnis fur seinen Rang als Wissenschaftler und als untadelige Personlichkeit. Dafi sein redlicher Intellekt und sein internationaler Ruhm ihm eine herausragende Stellung an der kleinen Freiburger Universitat verliehen, sei nur zum Ausklang angemerkt - desgleichen, dafl er dies im Umgang mit seinem vorgesetz- ten Minister durchaus zu nutzen wui3te

[121.

Literatur

[l] Mayr, E. (1982) The Growth of Biological Thought. Harvard University Press (deutsch: Die Entwicklung der biologischen Gedanken- welt, Springer Berlin - Heidelberg 1984).

[2] Uschmann, G. (1985) Ernst Haeckel und August Weismann, Freiburger Universitats- blatter (im Druck).

[3] Risler, H (1985) August Weismanns Leben und Wirken nach Dokumenten aus seinem Nachlai3. Freiburger Universitatsblatter (im Druck).

[4] Gaupp, E. (1917) August Weismann: Sein Leben und sein Werk. Gustav Fischer, Jena.

[5] Sander, K. (1985) August Weismanns Un- tersuchungen zur Insektenentwicklung. Frei- burger Universitatsblatter (im Druck).

[6] Schwoerbel, J. (1985) Weismann und die Erforschung des limnischen Zooplanktons. Freiburger Universitatsblatter (im Druck).

[7] Romanes, G. J. (1893) An Examination of Weismannism. Longmans and Green, Lon- don. Nach [l] erschien der Ausdruck ,,Neo- darwinismus" erst spater im Druck: Romanes, G. J. (1896) Life and Letters. Longman and Green. London.

[8] Mayr, E. (1985) Weismann and Evolution, Freiburger Universitatsblatter (im Druck).

[9] Weismann, A. (1886) Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung fur die Selektions- theorie. Gustav Fischer, Jena.

[lo] Spemann, H. (1923) Zur Theorie der tie- rischen Entwicklung (Rektoratsrede). Speyer & Kerner, Freiburg.

[ l l ] Kiihn, A. (1957) August Weismann 1834 - 1914. In: ,,Freiburger Professoren des 19. und 20. Jahrhunderts" (Hrsg. J. Vincke) E. Albert, Freiburg i. Br. pp. 191 - 199.

[12] Risler, H. (1968) August Weismann 1834-1914. Ber. Naturf. Ges. Freiburg i. Br. 58, 77-93.

[13] Sander, K., Scherer, M., Mahlke, G., Kremp, F. (1982) Das Thoma-Mikrotom und seine Benutzer. Biologie in unserer Zeit, 12, 108 - 112.

[14] Weismann, A. (1883) Die Entstehung der Sexualzellen bei den Hydromedusen. Gustav Fischer, Jena.

[15] Buhler, E. (1984) Zur Biologiegeschichte in Freiburg. Staatsexamensarbeit, Fakultat fur Biologie, Freiburg i. Br.

[ 161 Weismann, A. (1 891) Amphimixis oder die Vermischung der Individuen. Fischer, Jena.

Danksagung

Meinen Mitarbeiterinnen G. Mahlke, L. Sauer und M. Scherer mochte ich fur wichtige Hin- weise und technische Hilfe danken.

Anschrift:

Prof. Dr. K. Sander, Institut fur Biologie I, Universitat Freiburg i. Br., Albertstr. 21a, D-7800 Freiburg.

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