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Aus den Tiefen der Archive. Eine Vorbemerkung Der Schriftsteller und Orgelbauer Hans Henny Jahnn verbrachte die NS-Jahre auf der dänischen Ostseeinsel Bornholm. Er war kein Emigrant im eigentlichen Sinne, und doch hatte sein Rückzug vor allem politische Gründe. So ist es nicht verwunderlich, daß er unmittelbar nach Kriegsende wiederholt den Wunsch äußerte, in sein Land zurückzukehren, das er zuletzt 1941 besucht hatte. Im August 1945 schrieb er seiner Schwägerin Sibylle Harms: "Ich möchte allerdings nach Deutschland zurück. Nachdem der Nationalsozialismus beseitigt ist, möchte ich vor niemand etwas voraus haben und ganz zur besiegten Nation gehören." Das Leben auf Bornholm, das bis April 1946 von den Sowjets kontrolliert wurde, gestaltete sich für Deutsche immer schwieriger. Jahnn litt unter den Feindseligkeiten seiner Nachbarn. Seine Arbeit als Orgelsachverständiger und Orgelbauer, die er während des Kriegs für die Kopenhagener Orgelbaufirma Frobenius immerhin noch hatte ausüben können, wurde so gut wie unmöglich. Obendrein besaß er keine finanziellen Mittel. Die dänischen Behörden hatten sein Bankkonto gesperrt und sein Vermögen beschlagnahmt. Erst im April 1946 bekam er wieder Zugriff auf sein Geld. Eine Einreisegenehmigung oder Arbeitserlaubnis von der britischen Militärregierung in seiner Heimatstadt Hamburg erhielt er aber vorerst nicht. Für die Kontrollbehörden war Jahnn nicht eindeutig als politisch Verfolgter einzustufen, da er während der deutschen Okkupation Dänemarks und auch Bornholms Kontakt zur Besatzungsmacht hatte. Schließlich waren das dänische Justizministerium, das Außenministerium und das Finanzministerium mit seinen Angelegenheiten befaßt. Seine Hamburger Freunde und Weggefährten aus dem kulturellen Leben vor 1933 setzten sich vehement für ihn ein und bemühten sich, den Briten Jahnns Bedeutung klarzumachen und seine Opposition zum Nationalsozialismus zur Geltung zu bringen. Wichtige Fürsprecher waren der Schriftsteller Heinrich Christian Meier, der als Delegierter des Komitees politischer Gefangener im Kulturrat wirkte, und der Journalist Erich Lüth. Beide hatten bereits in den zwanziger Jahren im Kartell Hamburger Künstlerverbände mit ihm zusammengearbeitet. Lüth war 1946 zum Leiter der Staatlichen Pressestelle ernannt worden. Er veröffentlichte in der Hamburger Freien Presse vom 7. August 1946 einen Brief an Jahnn. Einige Tage später erschien Meiers Artikel über den "Dichter auf der Insel". Lüth war es auch, der am 2. August an den Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft schrieb: "Noch hat Jahnn Schwierigkeiten, die Einreisegenehmigung zu bekommen. Es bedarf wohl eines an ihn ergehenden offiziellen Rufes, um diese Genehmigung über die auf Bornholm sitzenden literarisch verständnislosen englischen Militärstellen zu erwirken." Außerdem mobilisierte Jahnn weitere Personen. So setzte sich der Verleger Henry Goverts für ihn ein, indem er an den dänischen Konsul in Hamburg schrieb. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, zu dem Jahnn wegen seiner landwirtschaftlichen Experimente Kontakt aufgenommen hatte, wandte sich an die Hamburger Behörden. Selbst die vom Hamburger Senat offiziell gebilligte Einladung, im September die Gedächtnisausstellung zum ersten Todestag des Malers Heinrich Stegemann zu eröffnen, führte jedoch nicht zu einer raschen Visumserteilung. Erst im Oktober 1946 erhielt Jahnn die Papiere für einen sechswöchigen Aufenthalt in Deutschland. Entscheidenden Anteil an der Einreiseerlaubnis der britischen Militärregierung hatte der Beschluß des "Kulturrats der Hansestadt Hamburg", Jahnn zum Ehrenmitglied zu ernennen. Im Rahmen einer Sitzung am 14. November 1946 im Rathaus sollte die Urkunde überreicht werden. Der Kulturrat war im Herbst 1945 von den britischen

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Aus den Tiefen der Archive. Eine VorbemerkungDer Schriftsteller und Orgelbauer Hans Henny Jahnn verbrachte die NS-Jahre auf der dänischen Ostseeinsel Bornholm. Er war kein Emigrant im eigentlichen Sinne, und doch hatte sein Rückzug vor allem politische Gründe. So ist es nicht verwunderlich, daß er unmittelbar nach Kriegsende wiederholt den Wunsch äußerte, in sein Land zurückzukehren, das er zuletzt 1941 besucht hatte. Im August 1945 schrieb er seiner Schwägerin Sibylle Harms: "Ich möchte allerdings nach Deutschland zurück. Nachdem der Nationalsozialismus beseitigt ist, möchte ich vor niemand etwas voraus haben und ganz zur besiegten Nation gehören."Das Leben auf Bornholm, das bis April 1946 von den Sowjets kontrolliert wurde, gestaltete sich für Deutsche immer schwieriger. Jahnn litt unter den Feindseligkeiten seiner Nachbarn. Seine Arbeit als Orgelsachverständiger und Orgelbauer, die er während des Kriegs für die Kopenhagener Orgelbaufirma Frobenius immerhin noch hatte ausüben können, wurde so gut wie unmöglich. Obendrein besaß er keine finanziellen Mittel. Die dänischen Behörden hatten sein Bankkonto gesperrt und sein Vermögen beschlagnahmt. Erst im April 1946 bekam er wieder Zugriff auf sein Geld.Eine Einreisegenehmigung oder Arbeitserlaubnis von der britischen Militärregierung in seiner Heimatstadt Hamburg erhielt er aber vorerst nicht. Für die Kontrollbehörden war Jahnn nicht eindeutig als politisch Verfolgter einzustufen, da er während der deutschen Okkupation Dänemarks und auch Bornholms Kontakt zur Besatzungsmacht hatte. Schließlich waren das dänische Justizministerium, das Außenministerium und das Finanzministerium mit seinen Angelegenheiten befaßt.Seine Hamburger Freunde und Weggefährten aus dem kulturellen Leben vor 1933 setzten sich vehement für ihn ein und bemühten sich, den Briten Jahnns Bedeutung klarzumachen und seine Opposition zum Nationalsozialismus zur Geltung zu bringen. Wichtige Fürsprecher waren der Schriftsteller Heinrich Christian Meier, der als Delegierter des Komitees politischer Gefangener im Kulturrat wirkte, und der Journalist Erich Lüth. Beide hatten bereits in den zwanziger Jahren im Kartell Hamburger Künstlerverbände mit ihm zusammengearbeitet.Lüth war 1946 zum Leiter der Staatlichen Pressestelle ernannt worden. Er veröffentlichte in der Hamburger Freien Presse vom 7. August 1946 einen Brief an Jahnn. Einige Tage später erschien Meiers Artikel über den "Dichter auf der Insel". Lüth war es auch, der am 2. August an den Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft schrieb: "Noch hat Jahnn Schwierigkeiten, die Einreisegenehmigung zu bekommen. Es bedarf wohl eines an ihn ergehenden offiziellen Rufes, um diese Genehmigung über die auf Bornholm sitzenden literarisch verständnislosen englischen Militärstellen zu erwirken."Außerdem mobilisierte Jahnn weitere Personen. So setzte sich der Verleger Henry Goverts für ihn ein, indem er an den dänischen Konsul in Hamburg schrieb. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, zu dem Jahnn wegen seiner landwirtschaftlichen Experimente Kontakt aufgenommen hatte, wandte sich an die Hamburger Behörden. Selbst die vom Hamburger Senat offiziell gebilligte Einladung, im September die Gedächtnisausstellung zum ersten Todestag des Malers Heinrich Stegemann zu eröffnen, führte jedoch nicht zu einer raschen Visumserteilung. Erst im Oktober 1946 erhielt Jahnn die Papiere für einen sechswöchigen Aufenthalt in Deutschland.Entscheidenden Anteil an der Einreiseerlaubnis der britischen Militärregierung hatte der Beschluß des "Kulturrats der Hansestadt Hamburg", Jahnn zum Ehrenmitglied zu ernennen. Im Rahmen einer Sitzung am 14. November 1946 im Rathaus sollte die Urkunde überreicht werden. Der Kulturrat war im Herbst 1945 von den britischen Besatzungsbehörden initiiert worden, um den Wiederaufbau und die Entnazifizierung des kulturellen Lebens zu unterstützen. Seine Hauptaufgabe war in den ersten Monaten die Prüfung der politischen Zuverlässigkeit einzelner Personen, erst nach und nach beschäftigte er sich mit kulturpolitischen Fragen. Die Organisation war ein Dachverband für zeitweise über sechzig Verbände und Vereine. Auch der von Jahnns Freunden im Januar 1946 gegründete Bund zur Erneuerung Ugrinos, der an seine 1935 aufgelöste Glaubensgemeinde Ugrino anknüpfen sollte, gehörte dazu.Ein Bericht im "Hamburger Echo" vom 16. November 1946 ("Kulturrat ehrte in Hamburg verdiente Künstler") enthält einen Hinweis darauf, daß Jahnn bei der Ernennung eine Rede hielt, auch in seiner umfangreichen Korrespondenz dieses Jahres berichtet er von der Arbeit daran. Das Manuskript galt bisher als verschollen. Im Zuge der Herausgabe von Jahnns Briefen an seine Ehefrau stieß ich überraschend darauf.

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Die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg erwarb 2010 für den von ihr verwalteten Jahnn-Nachlaß ein umfangreiches Konvolut mit weitgehend unbekannten Familienkorrespondenzen aus Privatbesitz. Darunter die Briefe Jahnns an seine Frau Ellinor, die wohl zu den unerhörtesten der gesamten Liebesbrief-Literatur gehören. Der Verlag Hoffmann und Campe entschloß sich, eine kleine, sorgfältig kommentierte Auswahl daraus zu veröffentlichen, die 2014 unter dem Titel "Liebe ist Quatsch" von Jan Bürger und mir bearbeitet und herausgegeben wurde.Alles begann mit der Sichtung der Briefe im Handschriftenlesesaal der Bibliothek. Aufmerken ließ mich ein Satz in einem Brief vom 22. Oktober 1949: "Ich war an einem dieser Tage bei dem Buchhändler Felix Jud." Für mich war das ein besonderer Moment, denn seit einigen Jahren arbeite ich als Kunsthistorikerin und Buchhändlerin in der Hamburger Buch- und Kunsthandlung Felix Jud. Bis dahin wußte ich nicht, daß sich die beiden je begegnet waren. Da wir den Brief in unsere Auswahl aufnehmen und kommentieren wollten, stellte sich die Frage, ob ein über das Treffen hinausgehender Kontakt bestanden haben könnte.Parallel dazu sichtete ich das Firmenarchiv der Buchhandlung, um eine Publikation zu ihrer Geschichte vorzubereiten. Und hier fand ich einen weiteren Hinweis: In einem Interview zum 50. Jubiläum der Hamburger Bücherstube, das der damalige Kommunikationschef des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Alexander U. Martens, 1973 mit Felix Jud geführt hatte, berichtet dieser von seinem Wirken in der unmittelbaren Nachkriegszeit: "Ich wurde Präsident des Kulturrats, der Vereinigung aller kulturschaffenden Verbände und Institutionen, und hatte so ziemlich alle Ehrenämter, die man überhaupt haben konnte. Und dann galt es, guten Freunden wie John Jahr, Axel Springer und Ernst Rowohlt die ersten Nachkriegslizenzen zu ergattern." (Jud bleibt Jud. Ein Gespräch mit Felix Jud aus Anlaß seines Doppeljubiläums. Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, Nr. 92, 20. November 1973)Juds Funktion im Kulturrat war mir nicht bekannt gewesen, und nun fragte ich mich, ob er daran beteiligt war, Jahnn nach Hamburg zurückzuholen. Von der Entscheidung erfuhr Jahnn durch einen Brief des Geschäftsführers des Kulturrats Hermann Lobbes vom 22. August 1946: "Wenige wären berufen wie Sie, durch Rat und Tat an der Neuerweckung des deutschen Kulturlebens mitzuwirken und kaum ein Anderer derjenigen, die während der letzten 13 Jahre sich genötigt sahen, in innere oder äußere Emigration zu gehen, wäre im Hinblick auf seine innige, nie abgerissene Verbundenheit mit unserer Stadt und aus intimster Kenntnis der Besonderheit ihrer eigenständigen Entwicklung besser geeignet als Sie, den ortsbedingten Ansprüchen ihrer kulturellen Struktur bei der Neubildung des künstlerischen Lebens Rechnung zu tragen. (…) Der Kulturrat hofft, daß Sie sich dazu verstehen diesen Ruf anzunehmen, und daß Sie recht bald die Möglichkeit erhalten werden, in einer feierlichen Plenarsitzung des Kulturrats das Wort zu drängenden Problemen der deutschen Kulturpolitik zu nehmen."Am 29. Oktober 1946 antwortete Jahnn: "Seitdem ich Ihren Brief in Händen halte, sind manche grauen Spinnweben von meinem allmählich sehr einsamen Dasein in Dänemark weggewischt worden. (…) Mehrmals habe ich versucht, mein Bewegtsein, meine Dankbarkeit auszudrücken, daß man meiner in meiner Vaterstadt gedacht hat und mich in das Ehrenpräsidium des Kulturrates berufen hat. Meine Ungeschicklichkeit, meine Faulheit und die plötzliche Turbulenz meiner Tage zeitigten nur ein paar Entwürfe, deren Dummheit darin bestand, daß sie sich, aus wahrscheinlich nichtigen Ursachen, nicht vollendeten. Heute indessen, da meine Reise nach Deutschland feststeht, wo ich ein Wiedersehen mit der geliebten heiligen Stadt Hamburg (mag sie auch zerstört sein, mag ich selbst sie oft – und vielleicht sogar mit Recht – beschimpft haben) ahnend empfinde, will ich wenigstens mein Ja niederschreiben und mit ein paar Zeilen das Vertrauen, das man mir schenkt, damit entgelten, daß ich verspreche, für meine enge und weitere Heimat das Pfund, das mir als Erbteil gegeben ist, nützlich anzuwenden."Schon mehrmals seit Erhalt der Einladung hatte Jahnn die Sache in seiner Korrespondenz erwähnt. So schreibt er an seinen Freund Ludwig Voß am 12. September: "Du wirst inzwischen auch wohl erfahren haben, daß mich der Kulturrat zu seinem Ehrenpräsidenten berufen hat, und daß ich aus diesem Anlaß in Hamburg zu Fragen der deutschen Kulturpolitik sprechen werde." Und am 25. Oktober heißt es: "Möglicherweise gelingen mir auch meine Vorträge, so daß ihr Inhalt klar hervortritt. Endlich gibt es vielerlei Geschäftliches zu regeln."An Heinrich Christian Meier schreibt Jahnn am selben Tag: "Wenn auch der Inhalt von drei Vorträgen, die ich zu halten gedenke, festliegt, so habe ich sie noch nicht ausformen und in die Maschine bringen können. Freilich gibt es für diese Unterlassung auch eine sehr zu billigende Hemmung: ich möchte die Trümmer gesehen haben, einen Teil davon, um die Kraft des Unmittelbaren mitzubekommen. Einschließlich meines Orgelvortrages dürften

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vier grundverschiedene Reden herauskommen, die, wenn sie gelingen (was ich also noch nicht weiß), [man] in einem kleinen Buch zusammenfassen könnte. (Nur wenn sie es verdienen.)"Die Briefe belegen also Jahnns Arbeit an einer Rede zur offiziellen Ernennung. Die Formulierung im ersten Brief an Voß, er sei "Ehrenpräsident" geworden, zeigt, daß er noch unsicher mit dem Titel war. Einen Ehrenpräsidenten gab es nicht. Jahnn wurde, wie der Komponist Fritz Jöde, der Maler Karl Hofer, der Bildhauer Gerhard Marcks und der Intendant Erich Ziegel, ins "Ehrenpräsidium" berufen. In der Geschichte des Kulturrats ein einmaliger Vorgang, denn für Einzelpersonen war eine Mitgliedschaft nicht vorgesehen, und bis zur Auflösung des Kulturrats 1949 wurden keine weiteren Personen in dieser Form geehrt. Welche Gründe dafür ausschlaggebend waren, ist bisher nicht untersucht worden.Erst nach dem Hinweis auf die Funktion von Felix Jud im Kulturrat betrachtete ich erneut und eingehender das im Jahnn-Nachlaß befindliche und dem Briefwerk zugeordnete Konvolut "Kulturrat". Tatsächlich fand ich nun neben der Korrespondenz mit Lobbes seinen auf den 14. November 1946 datierten Mitgliedsausweis, der von Jahnn und dem Vorsitzenden unterzeichnet war. Der schwer lesbaren Unterschrift des letzteren hatte ich bei unserer Durchsicht für die 1994 erschienene Briefausgabe keine Bedeutung beigemessen. Nun allerdings, da ich das Firmenarchiv sichtete, konnte ich sie identifizieren: Es ist die von Felix Jud! Des weiteren befindet sich im Konvolut das Protokoll der "9. Vollversammlung des Kulturrates am 16. Januar 1947, 16 Uhr im Phönixsaal des Rathauses ". Das Protokoll vermerkt eine Rede des neuen Kultursenators Ludwig Hartenfels und Juds detaillierten Jahresbericht über die bisherige Tätigkeit des Kulturrats, in dem es heißt: "Hans Henny Jahnn, der 1933 aus Deutschland emigrierte Hamburger, hielt anläßlich seines Besuches in seiner alten Vaterstadt eine bemerkenswerte Ansprache vor den Mitgliedern des Kulturrates, deren Wortlaut heute vervielfältigt vor Ihnen liegt."Es mußte also ein Manuskript der Ansprache gegeben haben. In Jahnns Nachlaß fand es sich allerdings nicht. Die darin verwahrten und auf 1946 datierbaren Redeentwürfe können erst im Anschluß an seine Rundreise durch Deutschland entstanden sein, da er in ihnen auf seine Reiseerlebnisse Bezug nimmt. Ein Problem bei meinen Recherchen zum Kulturrat bestand darin, dessen Archiv überhaupt ausfindig zu machen. Eine Darstellung seiner Geschichte liegt bislang nicht vor. So folgte ich einem Hinweis in Nikolaus Tillings Untersuchung zum literarischen Leben der Nachkriegszeit auf einen Zusammenhang zwischen Kulturrat und Staatlicher Pressestelle und stieß im Hamburger Staatsarchiv auf eine Akte "Kulturrat (Entnazifizierung)" aus dem Bestand der Kulturbehörde sowie auf eine Akte "Schriftsteller und Dichter" aus dem Bestand der Staatlichen Pressestelle. In dieser findet sich ein nicht durchgängig chronologisch abgelegtes Konvolut zu Hans Henny Jahnn. Es enthält mehrere Briefe Jahnns an Lüth und den damaligen Bürgermeister Max Brauer sowie Lüths Korrespondenz mit Dritten über Jahnns Anliegen. In einem unveröffentlichten Brief vom 12. Dezember 1946 an Lüth bezieht sich Jahnn auf eine gemeinsame Unterredung am Vortag. Es folgen die drei Blätter der ersten Ansprache. Wahrscheinlich wurde das Typoskript als Anlage versendet, worauf Jahnn in seinem Brief allerdings nicht eingeht. So bleibt unklar, ob er selbst oder einer der zahlreichen Freunde, die ihn in Hamburg unterstützten, es in den Briefumschlag gesteckt hat. Desgleichen, wann, wo und von wem das Typoskript angefertigt wurde. Häufig besorgte Jahnn die maschinelle Abschrift seiner stets handgeschriebenen Texte nicht selbst, sondern betraute Familienmitglieder und Freunde damit. Auf der Fotografie, die seinen Auftritt dokumentiert, ist nicht zu erkennen, ob es sich bei den vor ihm liegenden Papieren um die Typoskriptfassung handelt. Handschriftliche Notizen sind jedenfalls nicht überliefert. Vermittelt durch Heinrich Christian Meier wohnte Jahnn während seines Aufenthalts im Hotel Winterhuder Fährhaus, dessen Inhaber Otto Friedrich Behnke ihm sein Büro zur Verfügung stellte, so daß er dort eine Schreibmaschine benutzt haben könnte. Da er Hamburg wenige Tage nach der Veranstaltung wieder verließ, um Freunde und Verwandte zu besuchen, ist allerdings auch denkbar, daß diese Fassung während der Reise entstand, denn der Brief an Lüth mit dem beigefügten Typoskript wurde erst nach Jahnns Rückkehr am 12. Dezember geschrieben.Ebenso wie die Rede ist auch die Fotografie als echtes Fundstück zu bezeichnen. Sie war bisher nicht mit dem Hamburger Kulturrat in Verbindung gebracht worden, weil sie im Deutschen Literaturarchiv Marbach auf 1948 datiert und mit dem Vermerk "PEN-Club" archiviert wurde. Im Katalog zur 1995 gezeigten Marbacher Ausstellung "Konstellationen. Literatur um 1955" wurde sie erstmals publiziert. Jan Bürger, der die Fotografie entdeckte, vermutete auf Grund des Gemäldes an der Wand hinter dem Redner, welches den großen Brand von 1842 zu zeigen scheint, daß die Versammlung im Hamburger Rathaus stattgefunden haben könnte. Tatsächlich habe ich

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bei meiner Recherche herausgefunden, daß es sich um eine Darstellung der brennenden Katharinenkirche während der Operation Gomorrha 1943 handelt.Die sitzende Person links neben Jahnn konnten wir als Felix Jud identifizieren, der niemals Mitglied im PEN-Club gewesen ist. Die Aufnahme, so die einzig mögliche Schlußfolgerung, muß während der Plenarsitzung des Kulturrats am 14. November 1946 entstanden sein, die nachweislich im Phönixsaal stattfand, der den Hamburger Feuerkatastrophen gewidmet ist. Höchstwahrscheinlich ist sie das einzige Bilddokument von Jahnns erstem Auftritt und Aufenthalt in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine kritische Kommentierung dieses bedeutsamen historischen und biographischen Dokuments muß an anderer Stelle erfolgen. Hier ging es zunächst einmal darum, vom Finderglück in den Tiefen der Archive zu berichten.

Sandra Hiemer SINN UND FORM 4/2015, S.437-447, hier S.437-441

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