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Aus Freude am Lesen

Aus Freude am Lesen - bücher.devon den Fassaden. Auf dem Leopoldring kauft ein Zopfmäd-chen Eis. Sein Scheitel ist gerade wie eine Durchgangsstraße. Nur wenige Flügelschläge entfernt

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Sebastian ist Physikprofessor an der Universität Jena undbeschäftigt sich seit Jahren mit Paralleluniversen. Akribischversucht er, deren Existenz wissenschaftlich zu beweisen.Sein Studienfreund Oskar, Professor für theoretische Physikam CERN in Genf, belächelt Sebastians festen Glauben anParalleluniversen und die Viele-Welten-Theorie. Um sichder Beweisführung in Ruhe widmen zu können, bringtSebastian seinen Sohn Nick ins Ferienlager, während seineFrau Maike in den Urlaub in die Berge fährt. An einer Rast-stätte verschwindet Nick spurlos aus dem Auto und fürSebastian beginnt ein Alptraum. Zunehmend entgleitet ihmdie Kontrolle. Was passiert wirklich? Wird ihm seine eigeneTheorie zum Verhängnis? Und wer ist dieser mysteriöseSchilf, der unvermittelt in Sebastians Leben tritt?

Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, lebt in Berlin. Ihr RomanAdler und Engel (2001) wurde zu einem Welterfolg und istmittlerweile in 31 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde fürihr Werk vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem DeutschenBücherpreis (2002), dem Rauriser Literaturpreis (2002), demHölderlin-Förderpreis (2003) und dem Carl-Amery-Preis(2009). Weitere Informationen unter: www.juli-zeh.de.

Juli Zeh bei btbAdler und Engel. Roman (72926)Die Stille ist ein Geräusch (73104)Spieltrieb. Roman (73369)Kleines Konversationslexikon für Haushunde (73517)Alles auf dem Rasen. Kein Roman (73623)Corpus Delicti. Ein Prozess (74066)

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Juli Zeh

SchilfRoman

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Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100Das für dieses Buch verwendetefsc®-zertifizierte Papier Pamo Houseliefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

1. AuflageSonderausgabe März 2012,btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Copyright © 2007 by Schöffling & Co. VerlagsbuchhandlungGmbH, Frankfurt am MainUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © X Verleih AG, Artwork: Angela FranchiniDruck und Einband: CPI – Clausen & Bosse, LeckMM . Herstellung: BBPrinted in Germanyisbn 978-3-442-74463-3

www.btb-verlag.de

Besuchen Sie unseren Literatur-Blog www.transatlantik.de!

Wenige Menschen beherrschen die Kunst,sich vor den richtigen Dingen zu fürchten.

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Inhalt

Prolog7

Erstes Kapitel in sieben Teilen.Sebastian schneidet Kurven. Maike kocht.

Oskar kommt zu Besuch. Die Physik gehört den Liebenden.9

Zweites Kapitel in sieben Teilen,in dem die erste Hälfte des Verbrechens geschieht.

Der Mensch ist überall von Tieren umgeben.57

Drittes Kapitel in sieben Teilen.Höchste Zeit für den Mord.

Erst läuft alles nach Plan und dann doch nicht.Es ist nicht ungefährlich,

einen Menschen beim Warten zu zeigen.85

Viertes Kapitel in sieben Teilen.Rita Skura hat eine Katze.

Der Mensch ist ein Loch im Nichts.Mit Verspätung kommt der Kommissar ins Spiel.

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Fünftes Kapitel, in dem der Kommissar den Fall löst,ohne dass die Geschichte deshalb zu Ende wäre.

185

Sechstes Kapitel in sieben Teilen.Der Kommissar hockt im Farn.

Ein Zeuge, auf den es nicht ankommt,hat seinen zweiten Auftritt. Manch einer fährt nach Genf.

243

Siebtes Kapitel, in dem der Täter gestellt wird.Am Ende entscheidet der innere Richter.

Ein Vogel steigt auf.323

Epilog383

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Prolog

Wir haben nicht alles gehört, dafür das meiste gesehen, dennimmer war einer von uns dabei.

Ein Kommissar, der tödliches Kopfweh hat, eine physika-lische Theorie liebt und nicht an den Zufall glaubt, löst seinenletzten Fall. Ein Kind wird entführt und weiß nichts davon.Ein Arzt tut, was er nicht soll. Ein Mann stirbt, zwei Phy-siker streiten, ein Polizeiobermeister ist verliebt. Am Endescheint alles anders, als der Kommissar gedacht hat – unddoch genau so. Die Ideen des Menschen sind die Partitur, seinLeben ist eine schräge Musik.

So ist es, denken wir, in etwa gewesen.

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Erstes Kapitel in sieben Teilen. Sebastian schneidetKurven. Maike kocht. Oskar kommt zu Besuch.

Die Physik gehört den Liebenden.

1

Im Anflug aus Südwesten, aus einer Höhe von fünfhundertMetern betrachtet, gleicht Freiburg einem ausgefransten,

hellen Fleck in den Falten des Schwarzwalds. Es liegt da, alswäre es eines Tages vom Himmel gefallen und den angren-zenden Bergen bis vor die Füße gespritzt. Belchen, Schauins-land und Feldberg sitzen im Kreis und überschauen eineStadt, die nach Zeitrechnung der Berge vor etwa sechs Minu-ten entstanden ist und trotzdem so tut, als hätte sie schon im-mer da unten am Fluss mit dem komischen Namen gelegen.»Dreisam«. Wie Einsamkeit zu dritt.

Ein gleichgültiges Achselzucken des Schauinslands würdeHunderte von Radsportlern, Seilbahnfahrern und Schmet-terlingssuchern das Leben kosten; ein gelangweiltes Sich-Abwenden des Feldbergs wäre das Ende des ganzen Land-kreises. Weil die Berge mit düsteren Mienen auf das Treibenin Freiburgs Straßen blicken, bemüht man sich dort um Un-terhaltungswert. Täglich senden Wald und Berge eine großeMenge Vögel in die Stadt, mit dem Auftrag, über die neuestenEreignisse zu berichten.

Wo die Gassen schmal werden und die Schatten dichter zu-sammenrücken, sind Ockergelb und Schmutzigrosa die Far-ben des fortlebenden Mittelalters. Unzählige Gauben sitzenauf den steilen Dächern und böten ideale Landeplätze, wenndie Hausbesitzer sie nicht mit aufwärts zeigenden Nägeln be-

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stückt hätten. Eine vorbeiziehende Wolke fegt die Helligkeitvon den Fassaden. Auf dem Leopoldring kauft ein Zopfmäd-chen Eis. Sein Scheitel ist gerade wie eine Durchgangsstraße.

Nur wenige Flügelschläge entfernt liegt die Sophie-de-la-Roche-Straße, die so grün ist, dass sie sich eine eigene Klima-zone leisten kann. Immer geht ein leichter Wind, den dieKronen der Kastanien zum Rascheln brauchen. Die Bäumehaben den Stadtarchitekten, der sie pflanzte, um ein Jahrhun-dert überlebt und sind größer geworden, als er es geplanthatte. Während sie oben langfingrig die Balkone betasten,wölben ihre Wurzeln unten das Pflaster und graben sichdurch die Begrenzungsmauern des Gewerbebachs, der direktan den Fundamenten fließt. Bonnie und Clyde, die eine mitbraunem, der andere mit grünem Kopf, paddeln schnatterndgegen die Strömung, wenden an der immergleichen Stelleund lassen sich flussabwärts treiben. Auf ihrem Fließbandüberholen sie jeden Passanten, äugen zum Gehweg hinaufund betteln um Brot.

Die Sophie-de-la-Roche-Straße strahlt ein solches Wohl-behagen aus, dass ein unbeteiligter Beobachter auf die Ideekommen könnte, das Einverstandensein mit der Welt sei hierBedingung für die Anmeldung eines Hauptwohnsitzes. Weilder Gewerbebach die Mauern feucht macht, stehen die Türender Gebäude sperrangelweit offen, dass es aussieht, als ragtendie Fußgängerstege wie Zungen aus aufgesperrten Mäulern.Ohne Zweifel ist Nummer sieben das schönste Haus in derReihe, weiß gestrichen und mit bescheidenem Stuck. Kaska-dengleich fließen die Blüten eines Blauregens an der Fassadeherunter. Eine altmodische Laterne döst ihrem nächtlichenEinsatz entgegen; in ihrer Efeustola lärmen die Spatzen. Ineiner guten Stunde wird ein Taxi um die Ecke biegen und ne-

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ben ihr halten. Der Fahrgast auf der Rückbank wird seineSonnenbrille anheben, um Kleingeld in die Hand des Fahrerszu zählen. Er wird aussteigen, den Kopf in den Nacken legenund zu den Fenstern im zweiten Stock emporschauen. Schonjetzt trippeln dort oben zwei Tauben über einen Sims, ver-beugen sich voreinander und spähen beim gelegentlichenAuffliegen in die Wohnung hinein. An jedem ersten Freitag-abend im Monat können Sebastian, Maike und Liam sichersein, von den fliegenden Beobachtern nicht aus den Augengelassen zu werden.

Hinter einem der Fenster sitzt Sebastian am Boden seinesArbeitszimmers, mit geneigtem Kopf und angewinkeltenBeinen. Er ist umgeben von Papierschnipseln und Scheren,als wäre er beim Basteln von Weihnachtssternen. Neben ihmkauert Liam, ebenso blond und hellhäutig wie sein Vater undauch der Haltung nach ein Miniatur-Sebastian. Er betrachteteinen Bogen roter Pappe, auf den der Laserdrucker eine ge-zackte Kurve gezeichnet hat, einem Alpenpanorama ähnlich.Als Sebastian die Schere ansetzt, hebt Liam einen warnendenFinger.

»Vorsicht! Du zitterst!«»Weil ich mich bemühe, nicht zu zittern, du Schlaumeier«,

sagt Sebastian und bereut seinen Tonfall, als Liam großeAugen macht.

Sebastian ist nervös wie an jedem ersten Freitagabend imMonat, und genau wie immer schiebt er es darauf, einenschlechten Tag gehabt zu haben. An ersten Freitagen im Mo-nat kann ihm jede Kleinigkeit die Laune verderben. Heutewar es eine Begegnung am Ufer der Dreisam, wo er sich inder Mittagspause von seinen Vorlesungen erholt. Dort traf er

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auf eine Menschengruppe, die, etwas entfernt vom Weg undzunächst ohne erkennbaren Grund, einen flachen Sandhau-fen umstand. Aus dem Sand ragte ein jämmerlicher Setzling,der nur von einer Stützvorrichtung aus Holzstangen undGummibändern aufrecht gehalten wurde. Drei Gärtnerlehnten sich auf ihre Schaufeln. Ein schlaksiger Mensch imdunklen Anzug, dem ein kleines Mädchen am Bein haftete,betrat den Sandhügel und sprach festliche Worte. Baum desJahres. Schwarzer Apfel. Liebe zur Heimat, zur Natur, zurSchöpfung. Ältliche Damen schwiegen im Halbkreis. Dannder Spatenstich, ein affektiertes Schippchen Sand, dazu Was-ser, vom kleinen Mädchen aus einer Blechkanne gegossen.Man applaudierte. Gegen seinen Willen musste Sebastian anOskar denken und daran, was er zu einer solchen Szene be-merkt hätte: Sieh nur, eine Herde Sohlengänger bei der Anbe-tung ihrer eigenen Hilflosigkeit! – Und Sebastian hätte ge-lacht und verschwiegen, dass er sich dem Baum des Jahrestatsächlich erschreckend ähnlich fühlte. Ein Setzling in einerübergroßen Stützvorrichtung.

»Weißt du, was ein Baum des Jahres ist?«, fragt er seinenSohn, der den Kopf schüttelt und die Schere anstarrt, die sichin der Hand des Vaters nicht weiterbewegen will. »Der Baumdes Jahres ist ein Unsinn«, fügt er hinzu. »Der größte denk-bare Mist.«

»Heute kommt Oskar, oder?«»Klar.« Sebastian beginnt mit dem Schneiden. »Warum?«»Wenn Oskar kommt, redest du immer komisches Zeug.

Und«, Liam deutet auf die Bastelpappe, »du bringst Arbeitmit nach Hause.«

»Ich dachte, es gefällt dir, Kurven zu wiegen?«, fragt Se-bastian empört.

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Mit seinen zehn Jahren ist Liam bereits klug genug, umdarauf nicht zu antworten. Natürlich liebt er es, seinem Vaterbei einem physikalischen Experiment zu helfen. Er weiß,dass die gezackte Linie das Ergebnis einer radiometrischenMessung beschreibt, auch wenn er nicht erklären könnte,was »radiometrisch« bedeutet. Das Integral unter der Kurvelässt sich berechnen, indem man die Fläche ausschneidet undihren Inhalt durch Wiegen der Pappe bestimmt. Aber Liamweiß auch, dass im Institut Computer stehen, die diesen Vor-gang ohne Bastelarbeit bewältigen können. Die Sache hättesicher Zeit bis Montag gehabt. Es dient also vor allem LiamsVergnügen und damit Sebastians Seelenruhe, sich an die-sem späten Freitagnachmittag damit abzugeben. Obwohl dasSchneidebrett und die scharfen Messer, die sie eigentlich fürdie winzigen Zacken und Scharten bräuchten, bei Maike inder Küche sind.

Wenn Maike für Oskar kocht, gehört das Arbeitsgerät ihrallein. Jedes Mal, wenn sie schon morgens erzählt, welchesneue Gericht sie diesmal probieren wird, fragt sich Sebastian,warum ihr diese Treffen so wichtig sind. Liams kultische Ver-ehrung für den Großphysiker aus Genf müsste aus ihrerSicht eher gegen die Besuche sprechen. Außerdem begegnetOskar ihr selten anders als mit scharfer Ironie. Trotz alledemwar es Maike, die vor zehn Jahren die Tradition der gemein-samen Essen erfunden hat, und sie ist es, die bis heute daraufbesteht. Sebastian vermutet, dass sie, bewusst oder unbe-wusst, versucht, etwas in geordnete Bahnen zu lenken. Et-was, das sich vor ihren Augen abspielen soll, anstatt sichunkontrolliert in verborgenen Bezirken zu entwickeln. Dar-über, was dieses Etwas sein könnte, haben sie nie gespro-chen. Im Stillen bewundert Sebastian seine Frau für ihre ru-

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hige Hartnäckigkeit. Er kommt doch am Freitag?, pflegt siezu fragen, und Sebastian pflegt darauf zu nicken. Mehr nicht.

Im Mittelteil wird die Kurve einfacher, am Ende wiederkompliziert. Liam stützt die Pappe mit beiden Händen undjubelt, als die Schere die letzte Klippe überwunden hat undder gezackte Rest zu Boden fällt. Behutsam fasst er das Meis-terwerk an den Rändern und läuft voraus, um nachzusehen,ob die Küchenwaage frei ist.

In einem weißen Kleid, das aussieht, als wollte Maike heuteAbend ein zweites Mal geheiratet werden, steht sie vor derAnrichte und schneidet widerspenstigen Salat. Ihre Füßesind nackt. Gedankenlos kratzt sie mit dem rechten Zeheinen Mückenstich an der linken Wade. Das Fenster stehtoffen. Von draußen weht Sommerluft herein, erfüllt vomGeruch nach heißem Asphalt, nach fließendem Wasser undeinem Wind, der hoch am Himmel mit Schwalben jongliert.Im satten Licht gehört Maike mehr denn je zu der Sorte Frau,die ein Mann aufs Pferd ziehen will, um mit ihr in den Son-nenuntergang zu reiten. Sie ist apart auf eine Weise, die einenzweiten Blick verträgt. Ihre Haut ist noch heller als Sebas-tians und ihr Mund ganz leicht schief, so dass sie beim Lachenein wenig nachdenklich aussieht. Der Erfolg der kleinen Ga-lerie für Moderne Kunst, die sie in der Innenstadt betreibt,verdankt sich nicht zuletzt ihrer Erscheinung; den Künstlernist sie Managerin und manchmal Modell. Maikes Sinn fürÄsthetik neigt zum Religiösen. Sie leidet in lieblos eingerich-teten Räumen und kann kein Glas auf den Tisch stellen, ohnees zuvor prüfend im Lichteinfall zu wenden.

Als Sebastian von hinten an sie herantritt, streckt sie diefeuchten Hände von sich. Ihre Achselhöhlen sind rasiert.

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Sanft steigen seine Finger die Treppe aus Wirbeln hinauf,vom Steiß bis zum Nacken.

»Ist dir kalt?«, fragt sie. »Du zitterst ja.«»Gibt es noch etwas außer meinem vegetativen Nerven-

system«, ruft Sebastian absichtlich laut, »für das ihr euch in-teressiert?«

»Ja«, sagt Maike. »Rotwein.«Sebastian küsst sie auf den Hinterkopf. Beide wissen, dass

Oskar den Artikel im spiegel gelesen haben muss. Maikebesitzt nicht genug Ehrgeiz, um den wissenschaftlichenDauerstreit der beiden Männer inhaltlich verstehen zu wol-len. Aber sie kennt die Abläufe. Oskars Stimme ist bedroh-lich leise, wenn er angreift. Sebastian zwinkert häufiger alssonst und lässt die Arme hängen, während er sich verteidigt.

»Ich habe einen Brunello gekauft«, sagt sie. »Den wird ermögen.«

Als Sebastian nach der Karaffe greift, huscht ein roterLichtpunkt über Maikes Brust, als zielte ein betrunkenerScharfschütze durchs offene Fenster. Frucht, Eiche, Erde.Sebastian widersteht der Versuchung, sich ein Glas einzu-schenken, und dreht sich nach Liam um, der wartend vor derKüchenwaage steht. Wange an Wange lesen sie die Digital-anzeige ab.

»Ausgezeichnet, kleiner Professor.« Sebastian drückt sei-nen Sohn an sich. »Was gibt es zu bemerken?«

»Die Natur entspricht unseren Berechnungen«, sagt Liam,nach seiner Mutter schielend. Ihr Messer hackt auf demHolzbrett einen trockenen Takt. Sie mag es nicht, wenn ermit auswendig gelernten Sätzen angibt.

Bevor Sebastian seine Kurve zurück ins Arbeitszimmerträgt, bleibt er einen Moment auf der Türschwelle stehen.

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Maike wird sagen wollen, dass sie ihm nachher den Rückenfreihält. Sie mag diesen Ausdruck. Er klingt nach einemKampf namens Alltag, aus dem sie Abend für Abend als Sie-gerin hervorgeht. Dabei ist Maike eigentlich kein kämpfe-rischer Typ. Bevor sie Sebastian kennenlernte, war sie eineausgemachte Schwärmerin. Wenn sie bei Nacht durch dieStraßen spazierte, träumte sie sich in jede erleuchtete Woh-nung hinein. In Gedanken begann sie, fremde Topfpflanzenzu gießen, fremde Abendbrottische zu decken und fremdenKindern über den Kopf zu streicheln. Jeder Mann war einmöglicher Liebhaber, an dessen Seite sie in der Phantasieein wildes oder bürgerliches, künstlerisches oder politischesLeben führen konnte – je nach Augenfarbe und Statur desGegenübers. Maikes vagabundierende Einbildungskraft be-wohnte Menschen und Orte im Vorübergehen. Bis sie Sebas-tian traf. In dem Augenblick, da sie ihm auf der FreiburgerKaiser-Joseph-Straße in die Arme lief (auf dem Münster-platz!, würde Sebastian sagen, denn es gibt von ihrem erstenTreffen zwei Versionen, eine für ihn und eine für sie), wech-selte die Wirklichkeit ihren Aggregatzustand von gasförmigzu fest. Es war Liebe auf den ersten Blick und damit ein Ver-bot von Alternativen, eine Reduktion der unendlichenMenge an Möglichkeiten auf ein Jetzt und Hier. SebastiansErscheinen in Maikes Leben bedeutete, wie er es ausdrückenwürde, einen Kollaps der quantenmechanischen Wellenfunk-tion. Seitdem gibt es für Maike einen Rücken, den sie freihal-ten kann. Sie tut es bei jeder Gelegenheit und gern.

»Ihr könnt nachher in aller Ruhe sprechen«, sagt sie undwischt sich mit dem Unterarm eine Strähne aus der Stirn.»Ich werde dir . . .«

»Ich weiß«, sagt Sebastian. »Danke.«

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Beim Lachen lässt sie einen Kaugummi zwischen den Ba-ckenzähnen sehen und ist trotzdem unwiderstehlich mitihren Kinderaugen und dem hellen Haar.

»Wann kommt Oskar denn?«, nörgelt Liam.Während die Eltern sich anblicken, verteilt er seine Unge-

duld in Ornamenten aus Zwiebelstücken und Knoblauch-zehen über den Küchentisch. Ungezogenheiten, die Kreativi-tät verraten, lässt Maike ihm durchgehen.

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2

Es ist doch eigenartig, denkt Oskar, dass alle Menschenaus den identischen Bestandteilen zusammengesetzt

sind. Dass jene Nebenniere, die ihm einen leichten Adrena-linrausch durch die Adern schickt, auch im vegetativen Ner-vensystem der zierlichen Asiatin zu finden ist, die, mit demGesicht von Yoko Ono maskiert, Kaffee und belegte Bröt-chen an die Fahrgäste verteilt. Dass ihre Nägel, Haare, Zähneaus demselben Material sind wie die Nägel, Haare, Zähnesämtlicher Mitreisender. Dass ihre Finger beim Ausschenkendes Kaffees von den gleichen Sehnen bewegt werden wieseine, die im Portemonnaie nach Kleingeld suchen. Dassselbst die Handfläche, in die er, jede Berührung vermeidend,ein paar Münzen fallen lässt, ein ähnliches Muster aufweistwie seine eigene.

Beim Überreichen des Bechers sieht ihn die Asiatin zulange an. Der Zug fährt über eine Weiche; fast wäre ihm derKaffee auf die Hose geschwappt. Oskar nimmt den Becherentgegen und schaut zu Boden, um dem strahlenden Lächelnauszuweichen, das ihm die Asiatin zum Abschied schenkenwird. Wenn es nur die Ähnlichkeit der Handflächen wäre, dieihn mit ihr verbindet. Wenn sie wenigstens nur Kohlenstoff,Wasserstoff und Sauerstoff miteinander teilen würden. Aberdie Gemeinsamkeiten gehen tiefer, bis hinab zu den Proto-nen, Neutronen und Elektronen, aus denen er und die Asia-tin aufgebaut sind und aus denen auch der Tisch besteht, aufden er seine Ellenbogen stützt, sowie der Kaffeebecher, der

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ihm die Finger wärmt. Dieser Umstand macht Oskar zueinem beliebigen Ausschnitt der Materie, aus der die Welt ge-formt ist, alles enthaltend, was existiert, weil man aus ihrnicht entkommen kann. Er weiß, dass die Grenzen seinerPerson im großen Teilchenwirbel verschwimmen. Er kannspüren, wie er sich buchstäblich unter andere Menschenmischt. In fast allen Fällen ist ihm dieses Gefühl unange-nehm. Es gibt eine Ausnahme. Zu der ist er gerade unterwegs.

Wenn Sebastian versuchen wollte, seinen Freund Oskar zubeschreiben, würde er sagen, dass Oskar aussieht wie jemand,der alle Fragen beantworten kann. Ob der Stringtheorie einesTages die Vereinigung der physikalischen Grundkräfte gelin-gen wird. Ob man ein Frackhemd zum Smoking tragen kann.Wie spät es ist, und zwar in Dubai. Egal, ob er zuhört oderselbst spricht, seine Granitaugen ruhen bewegungslos auf demGegenüber. Oskar ist einer, in dessen Adern Quecksilberfließt. Einer, unter dessen Füßen sich stets ein Feldherren-hügel befindet. Einer, für den es keine albernen Kosenamengibt. In seiner Gegenwart setzen sich Frauen auf ihre Hände,um nicht versehentlich nach ihm zu greifen. Als er zwanzigwar, wurde er auf dreißig geschätzt. Seit er die dreißig über-schritten hat, nennt man ihn alterslos. Er ist hochgewachsenund schlank, mit glatter Stirn und schmalen Augenbrauen,die sich ständig zu fragenden Bögen heben wollen. Auf denleicht eingesunkenen Wangen liegt trotz sorgfältiger Rasurein dunkler Bartschatten. Auch wenn er, wie heute, zurschwarzen Hose einen schlichten Pullover trägt, wirkt seineKleidung ausgesucht. An seinem Körper wagt der Stoff nuran den richtigen Stellen Falten zu werfen. Meist drückt seineHaltung eine Mischung von äußerer Gelassenheit und inne-

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rer Anspannung aus, die andere Menschen dazu veranlasst,ihm frech ins Gesicht zu sehen. Hinter seinem Rücken su-chen sie tuschelnd nach seinem Namen, weil sie ihn für einenSchauspieler halten. Tatsächlich ist Oskar in bestimmtenKreisen berühmt, allerdings nicht für Schauspielerei, sondernfür seine Theorien zum Wesen der Zeit.

Draußen gleitet der Sommer als grünblaues Band vorbei.Eine Bundesstraße folgt den Gleisen. Wie festgeklebt bleibendie Autos hinter dem Zug zurück; Licht liegt in flachen Seenauf dem Asphalt. Gerade hat Oskar eine Sonnenbrille her-vorgeholt, als ein junger Mann fragt, ob er sich zu ihm setzendürfe. Oskar wendet sich ab und verbirgt die Augen hinterden dunklen Gläsern. Der junge Mann geht weiter. Auf demKlapptisch steht der Kaffee in einer braunen Pfütze.

Was Oskar das Leben oft unerträglich macht, ist sein Emp-finden für Stil. Viele Menschen können ihre Artgenossennicht leiden, aber wenige sind in der Lage, das so genau zu be-gründen wie er. Dass sie alle bloß aus Protonen, Neutronenund Elektronen gemacht sind, könnte er noch verzeihen.Nicht verzeihen kann er ihre Unfähigkeit, diese traurigeTatsache mit Fassung zu tragen. Wenn er an seine Kindheitdenkt, sieht er sich, vierzehnjährig, von einer Gruppe lachen-der Mädchen und Jungen umringt, die mit ausgestrecktenFingern auf seine Füße zeigen. Er hatte damals, ohne Zustim-mung der Eltern, sein Fahrrad verkauft, um dafür sein erstesPaar rahmengenähter Schuhe zu erwerben; vorsichtshalbergleich drei Nummern zu groß. Seine Verachtung für taktlosesGelächter ist ihm bis heute geblieben. Er verabscheut Wich-tigtuerei, das Auftrumpfen und die Schadenfreude der Dum-men. Aus seiner Sicht ist keine Gewalttat so grausam wie einVerbrechen gegen den guten Stil. Sollte er jemals (was durch-

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aus nicht geplant ist) einen Mord verüben, dann vermutlichwegen einer aufdringlichen Bemerkung seines Opfers.

Der Spott seiner Schulkameraden endete abrupt, als er mitsechzehn eine Körpergröße von 1,90 Meter erreicht hatte.Stattdessen begann man, um seine Aufmerksamkeit zu buh-len. Auf dem Schulhof wurde lauter gesprochen, wenn er inder Nähe stand. Hatte sich ein Mädchen im Unterricht ge-meldet, dann schaute es beim Sprechen zu ihm hinüber, alswollte es sich vergewissern, ob er auch zuhöre. Selbst derMathematiklehrer, ein ungepflegter Mensch, dessen Nacken-haar auf den Hemdkragen stieß, gewöhnte sich an, in OskarsRichtung »Das stimmt doch?« zu fragen, wenn er den kreide-brechenden Punkt hinter eine Zahlenreihe setzte. Dennochwar Oskar nach dem Abitur der Einzige seiner Klasse, dernoch keine Erfahrungen mit angewandter Nächstenliebe ge-sammelt hatte. Er betrachtete das als Sieg. Er war überzeugt,dass es auf der ganzen Welt keinen Menschen gebe, dessenAnwesenheit er länger als zehn Minuten ertragen könnte.

Die Größe dieses Irrtums machte ihn schwindeln, als er ander Universität auf Sebastian traf. Dass sie einander schon amEröffnungstag des neuen Semesters bemerkten, war ihrerKörperhöhe geschuldet. Über die Köpfe der anderen Studen-ten hinweg begegneten sich ihre Blicke, und es ergab sich fastautomatisch, dass sie im Hörsaal nebeneinander Platz nah-men. Die peinliche Ansprache des Dekans erduldeten sieschweigend. Danach begannen sie auf dem Gang eine lockereUnterhaltung, und als zehn Minuten vergangen waren, hatteSebastian noch nichts Einfältiges gesagt und kein einzigesMal töricht gelacht. Oskar ertrug nicht nur seine Gegenwart,sondern verspürte sogar Lust, das Gespräch fortzusetzen. Siegingen in die Cafeteria und redeten bis zum Abend. Von die-

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sem Moment an suchte Oskar die Nähe seines neuen Be-kannten, und Sebastian ließ es geschehen. Ihre Freundschaftbrauchte keine Anlaufzeit; nichts musste sich entwickeln.Sie ging einfach an wie eine Lampe, wenn man den richtigenSchalter drückt.

Jeder Versuch, die folgenden Monate zu schildern, läuftGefahr, sich im Großartigen zu verlieren. Seit sich Oskar fürein Studium an der Universität Freiburg entschieden hatte,zeigte er sich der Öffentlichkeit nur noch in einem Cutawaymit langschößiger Jacke, gestreiften Hosen und silbernerHalsbinde. Es dauerte nicht lang, bis Sebastian in ähnlichemDandykostüm zu den Vorlesungen erschien. Jeden Morgengingen sie in der Grünanlage vor dem Physikalischen Institutwie an Schnüren gezogen aufeinander zu, vorbei an Stu-denten sämtlicher Semester, die nur auf der Welt waren, umihnen im Weg zu stehen, und begrüßten sich mit Handschlag.Sie kauften von jedem Lehrbuch nur ein Exemplar, weil sie esmochten, die Köpfe über einer aufgeschlagenen Seite zusam-menzustecken. In den Hörsälen blieben die Plätze nebenihnen leer. Man fand ihren Aufzug seltsam und lachte dochnicht darüber, nicht einmal, wenn sie an den Nachmittagenuntergehakt am Ufer der Dreisam spazieren gingen und allepaar Schritte stehen blieben, weil Wichtiges nur im Stehen ge-sagt werden kann. In ihrer altmodischen Garderobe glichensie einer vergilbten Postkarte, als wären sie sorgfältig, abernicht nahtlos in die Gegenwart geschnitten. Das Brausen derDreisam fraß an ihrer Unterhaltung; aufgeregt winkten dieBäume im Wind. Nie war die Spätsommersonne schöner alsin dem Augenblick, da einer von ihnen auf sie zeigte und et-was über solare Neutrinoprobleme sagte.

Abends trafen sie sich in der Bibliothek. Oskar flanierte an

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den Regalen entlang und kehrte von Zeit zu Zeit mit einemBuch an den gemeinsamen Tisch zurück. Seit Oskar sich an-gewöhnt hatte, einen Arm um den Freund zu legen, währender ihn auf eine interessante Stelle aufmerksam machte, sam-melten sich auf den Bänken hinter den Glasscheiben desLesesaals Germanistikstudentinnen. Wenn Oskar und Sebas-tian auf Partys jeder für sich durch die Menge glitten, mochtees vorkommen, dass Sebastian eins der Mädchen mit schwe-rer Zunge küsste. Hob er den Kopf, konnte er sicher sein,quer durch den Raum Oskars lächelndem Blick zu begegnen.Am Ende des Abends wurde das Mädchen zum Ausganggeführt und wie ein Kleidungsstück bei einem beliebigenKommilitonen abgegeben. Im Anschluss daran geleitetenOskar und Sebastian einander bis zur Gabelung ihrer Heim-wege durch die Nacht. Dort blieben sie stehen; das Lichteiner Laterne umgab sie wie ein Zelt, das keiner von ihnenverlassen mochte. Es ließ sich schwer entscheiden, welcherMoment für den Abschied geeignet sein sollte – dieser, oderdoch erst der nächste? Während vorbeifahrende Autos ihrengemeinsamen Schatten um die eigene Achse drehten, schwo-ren sie stumm, dass sich zwischen ihnen niemals etwas än-dern dürfe. Die Zukunft gab es nur als einen ebenmäßigen,sich langsam entrollenden Teppich des Zusammenseins.Beim ersten Piepsen der Vögel drehten sie sich um, und jederverschwand in seiner Hälfte des anbrechenden Morgens.

Am ersten Freitag im Monat erlaubt sich Oskar für einpaar Sekunden die Vorstellung, der ice bringe ihn zu einemjener Abschiede unter den Freiburger Laternen zurück. Zueinem hitzigen Disput an der Dreisam, oder wenigstens zueinem gemeinsam aufgeschlagenen Lehrbuch. Dann schmeckter das eigene Lächeln auf den Lippen, nur um gleich darauf in

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Juli Zeh

SchilfRoman (Buch zum Film)

Taschenbuch, Broschur, 384 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-74463-3

btb

Erscheinungstermin: Februar 2012

Ein liebender Kommissar, ein tödliches Missverständnis und die verflixte Beschaffenheit der Welt Sebastian kann mit seinem Leben mehr als zufrieden sein. Vielleicht hat er ein wenig zu viel vonseinem physikalischen Talent zugunsten seiner Familie aufgegeben. Sein alter Freund Oskar,auch er ein Genie der theoretischen Physik, erinnert ihn zuweilen daran. Als Sebastian seinenSohn in ein Ferienlager fahren will, findet er sich unversehens in einem Alptraum wieder. DerSohn wird entführt, und er bekommt ihn erst wieder, wenn er einen Mord begeht …