AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    Georg Lukcs

    Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins

    Erster Halbband

    Auszge

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    Inhat

    Erste Halbband

    Prolegomena zur Ontoogie des geselschaftlichen Sens

    Prnzpenfragen ener heute mgich ge.ordenen Ontooge

    2

    Ee T eil: Die gegenwige Poblemlage

    Eneitung

    I Neopositvsmus und ExstentiaismusI Neopostivus2 Exkurs ber Witgensten Exstentalsmus

    4 De Phosophe der Gegenwart und das regse Bedrfnis

    l Nikoa Hartmanns Vorsto zu ener ehen Ontologe Auauprnzpen der Hartmannshen Ontoogei Zur Krtik der Hartmannshen Ontologe

    m Heges fasch und echte Ontoogie Heges Daektk mtten im Dnger der Wdersprche

    2 Heges daektische Ontooge und de Refexonsbestimmungen

    7

    7

    7

    0

    86

    25

    343

    4

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    42I

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    Prolegomena zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins1

    S. 7

    . . . Versuch, das philosophische Denken der Welt auf das Sein zu basieren,

    von vielen Seiten auf Widerstand stt. Die letzten Jahrhunderte des philosophischen

    Denkens wurden von Erkenntnistheorie, Logik und Methodologie beherrscht

    und ihre Herrschaft ist noch lange nicht berholt worden.

    . . . Kardinal Bellarmin als Vater der modernen Erkenntnistheorie

    8

    Zusammenhang und Verschiedenheit der drei groen Seinsarten (anorganische und organische

    Natur, Gesellschaft)

    9

    Um diesen Tatbestand in den primitivsten Zustnden aufzuzeigen, mu an die oft vergessene

    Trivialitt erinnert werden, da nur ein seiender Hase gejagt, nur eine seiende

    Beere eingesammelt werden kann etc. Jedes Denken, dessen Voraussetzungen und

    Folgerungen dieses letzthinnige Fundament verlieren, mu in seiner Ganzheit, in

    seinen Endergebnissen sich selbst subjektivistisch auflsen.

    15Praktisch ist es vor allem wichtig, da auch ein letzthin falscher oder zumindest

    unvollstndiger Aspekt des Seins fr die Praxis, die jeweils nur noch einebestimmte Hhe erreicht haben konnte, eine derart vllig ausreichend erscheinende

    Grundlage ergeben kann, da gesellschaftlich keinerlei reales Bedrfnis

    vorhanden ist, ber die so entstandenen theoretischen Auffassungen der Wirklichkeit

    hinauszugehen, ihre Grundlage prinzipiell zu kritisieren; es gengt,

    nochmals an die so lange wissenschaftliche Vorherrschaft der Ptolemischen

    Astronomie zu erinnern, die, trotz bereits vorhandener heliozentrischer Theorien,viele Jahrhunderte hindurch unerschtterlich blieb. Das hngt natrlich, wie

    bereits angedeutet, auch damit zusammen, da der Geozentrismus wichtige

    Bedrfnisse der damaligen (religisen) Ideologie befriedigte.

    16

    Die vollstndig nie erkennbare Totalitt der jeweiligen Seinsbestimmungen macht sowohl ein

    langes ungestrtes Funktionieren unvollstndiger, nur Teilwahrheiten enthaltenderTheorien wie ihre berwindung gesellschaftlich mglich und notwendig.

    17

    Schon diese allgemein bekannte Konstellation zeigt, wie lebenswichtig die

    Ideologie fr das Funktionieren einer jeden Gesellschaft ist. Die stndige und

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    richtige Durchfhrung der Arbeit lt ununterbrochen, tglich, ja stndlich

    Konflikte entstehen, wobei das Wie ihrer Entscheidung sehr oft, direkt oder

    indirekt, Lebensfragen fr die jweilige Gesellschaft beinhalten kann. Die Ideologie

    mu deshalb letzten Endes diese Einzelentscheidungen in einen gesamten

    Lebenszusammenhang der Menschen einordnen und bestrebt sein,

    18

    Im Vollzug der Hherentwicklung der

    Arbeitsprozesse bildet die Gesellschaft Erkenntnisweisen aus, deren Wesen im

    Grunde so beschaffen ist, da mit ihrer Hilfe das wirklich Seiende wahrheitsgemer,

    exakter etc. (vor allem als praktisch beherrschbarer) erkannt werden kann als

    ohne sie, die aber im Laufe der Entwicklung doch zur Entfernung davon beitragenknnen und es oft auch tun.

    Gerade diese Art von

    Seinsflschungen durch Exzesse der mathematischen Vernunft sind heute nicht

    mehr wirksam, ebensowenig wie die jahrhundertlange, rein mathematisch zuweilen

    hochwertige Mathematisierung astrologischer Zusammenhnge. An diese

    lohnt es sich nur deshalb methodologisch zu erinnern, um ganz deutlich zu

    machen, da vollendetste, innerlich fehlerlose, immanent hochwertige mathematische

    Behandlungen eines seinsmig nicht vorhandenen Zusammenhangs diesenunter keinen Umstnden in einen wirklich seienden verwandeln knnen.

    19

    Es wird dabei blo die Kleinigkeit vergessen, da zwar im homogenen Medium

    der rein mathematischen Wissenschaften Extrapolationen fast schrankenlos vollzogen

    werden knnen, da jedoch, sobald vom Sein die Rede ist, vor jederExtrapolation die Frage aufgeworfen werden mu, ob der jeweils zu behandelnde

    Proze in seiner konkreten Prozehaftigkeit seinsmig so beschaffen sei, da dieExtrapolation gerade seine wirklichen Tendenzen zum Ausdruck zu bringen geeignet

    ist.

    Diese ontologische Grenze der Anwendbarkeit der Mathematik auf

    reale Seinsvorgnge . . .

    (Selbstverstndlich darf eine ontologische Kritik sich nicht

    auf Wesen und Anwendbarkeit der Mathematik beschrnken. Alle hheren

    Weisen in der Aufdeckung der Weltzusammenhnge [Erkenntnistheorie, Logik,Methodologie] mten einer solchen Kritik standhalten, bevor ihre Ergebnisse als

    seinsmig richtige anerkannt werden knnten.)

    28

    desanthropomorphisierenden Methoden

    Bei dieser Frage gilt es, sich darauf zu besinnen, da die Desanthropomorphisierung

    eine der allerwichtigsten, der unentbehrlichsten Mittel fr die Erkenntnis des

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    Seins, wie es wirklich, wie es an sich ist, war, ist und bleiben wird. Alles, was mit

    der unmittelbaren Beziehung des jeweiligen Gegenstands der Erkenntnis zum

    wahrnehmenden wirklichen Menschen untrennbar verbunden scheint, was aber

    nicht nur dessen echte, objektive Eigenschaften, sondern zugleich blo die

    Eigenart der menschlichen Aufnahmeorgane (das unmittelbare Denken miteinbegriffen)

    bestimmt, mu in diesem Proze der Desanthropomorphisierung alsErscheinung (oder eventuell sogar als bloer Schein) in den Hintergrund treten,

    um seine Stelle den wirklich an sich seienden Momenten zu berlassen, um den

    Menschen dazu zu befhigen, die Welt so aufzunehmen, wie sie an sich,

    unabhngig von ihm ist. Eine solche von der Arbeit ausgehende Bewltigung der

    Wirklichkeit durch die menschliche Praxis wre nie real zustande gekommen ohne

    dieses Abstrahieren des Menschen von seiner eigenen Unmittelbarkeit.

    ist gerade das Desanthropomorphisieren

    ein entscheidend wichtiges Moment fr das Menschwerden des

    Menschen, fr das Zurckweichen der Naturschranken in seinem sich als Einzelner

    wie als Gattung reproduzierenden Gesellschaftsproze

    31

    kann gesagt werden, da

    eine bestimmte Kompromibereitschaft, von den konomischen und politischenUmstnden erzwungen, auch auf der Gegenseite bis zu einem gewissen Grade,

    gerade bei den relativ fortschrittlichen Elementen vorhanden war; man denke an

    die Stellungnahme des Kardinals Bellarmin in der Galileiaffre, ja schon frher an

    die Ideologie der doppelten Wahrheit im Nominalismus.

    Whrend etwa Galileiselbst seine wissenschaftliche Methode, deren Ergebnisse noch in einer, man

    knnte sagen, naiv ontologischen Weise zum Ausdruck brachte, rckt balddarauf, schon bei Descartes, die kritische Erkenntnistheorie in den Mittelpunkt

    der philosophischen Methode und behlt ihre Vorherrschaft in einer immer

    verstrkteren, immer entschiedeneren Weise bis in unsere Tage hinein.

    32

    . . . Versuch, den letzten Konsequenzen

    einer folgerichtig wissenschaftlichen Weltbetrachtung mit Hilfe einer Abartder doppelten Wahrheit auszuweichen.

    32-33

    . . . konnte der fr die Wissenschaft des Brgertums notwendige Kompromi nur durch eine

    vernichtende Kritik der ontologischen Relevanz der Naturwissenschaften, bei Beibehaltung

    ihres Geltendbleibens innerhalb der konomischen Praxis und aller Gebiete, die

    mit dieser unmittelbar oder vermittelt zusammenhngen, zustande gebracht werden.

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    Wenn nun dieser sich stndig vergrernde

    soziale Spielraum fr wissenschaftliche Forschung den Einflu der ontologisch

    agnostizistischen Tendenzen in der Erkenntnistheorie kaum berhrt, so weist diese

    Tatsache darauf hin, da das ideologische Bedrfnis, das sie im brgerlichen

    Denken ins Leben rief, auch noch andere Grundlagen haben mute.

    . . . Tendenzen zu einer

    rein weltimmanenten, mehr oder weniger bewut aufs materielle Sein orientierten

    Ontologie. Ihre Anfnge sind schon bei Bacon sichtbar und die Philosophie von

    Hobbes ist bereits eine echt materialistische, rein innerweltliche Ontologie sans

    phrase. Die konsequente Durchfhrung einer solchen Denkweise, die damit sehr

    oft, ja vorerst zumeist, alle wichtigen Gegenstze der kapitalistischen Gesellschaftans Tageslicht der ffentlichkeit zu bringen bestrebt ist, widerspricht den

    Interessen der fhrenden Kreise des Kapitalismus, die bei realer Durchsetzung

    ihrer Produktionsmethoden, bei Kompromissen mit den alten herrschenden

    Klassen auch ihre soziale Respektabilitt zu bewahren bestrebt gewesen sind.

    34

    Diese ideologische

    Verhaltensweise mute sich nur noch steigern, als der Marxismus auch auf dem

    Gebiet der Weltanschauungen als Gegner auftrat. Eine einfache Widerlegungseiner Feststellungen von Tatsachen reichte dazu nicht aus, es mute erkenntnistheoretisch

    die wissenschaftliche Unhaltbarkeit der Methode nachgewiesen werden,

    Die Einzelwissenschaften

    konnten nach wie vor alle ihre konomischen, sozialen etc. Verpflichtungen

    restlos erfllen, die Frage nach der Wirklichkeit wurde aber bereits alsnaive, unwissenschaftliche Frage abgelehnt.

    Ein Versuch, das Denken der Welt wirklich wieder auf das Sein

    zurckzufhren, kann heute nur auf dem Weg der Wiedererweckung der

    Ontologie des Marxismus erfolgen.

    Es mu eingesehen werden, da die

    Erkenntnistheorie philosophisch unfhig ist, die ontologischen Probleme in der

    Wissenschaft wirklich zu verstehen.

    39

    Gattungsmigkeit ist eine elementar objektive Grundeigenschaft eines jeden

    Seienden.

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    Prolegomena zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins2

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    hat Marx nie aufgehrt, in der Entwicklung

    der Gattungsmigkeit das ontologisch ausschlaggebende Kriterium fr

    den Proze der Menschheitsentwicklung zu erblicken

    41

    Die stumme (nicht bewut gewordene, keinen bewuten Ausdruck suchende undfindende, jedoch in den realen Seinsprozessen real zum Ausdruck kommende)

    Gattungsmigkeit erscheint mithin als generell ontologisch grundlegende Kategorie

    des organischen Naturseins.

    42

    Erst auf hherer Stufe, wo derReproduktionsproze des Organismus seine selbstndige Bewegtheit in seiner

    Umwelt voraussetzt, entstehen die biologischen Umarbeitungen der physikochemischen

    Prozesse der Umwelt (Lichtstrahlen werden z. B. als Farben, Luftschwingungen

    als Tne etc. biologisch umgewandelt).

    44

    Jedenfalls setzt, eine vom Standpunkt der Gattungsmigkeit uerst wichtige

    Entwicklungstendenz ein: die allmhliche Verwandlung der Einzelheit in Individualitt.

    Einzelheit ist nmlich, ebenso wie Allgemeinheit, eine der Grundkategorien

    eines jeden Seins: es gibt kein Seiendes, das nicht zugleich als Exemplar seinerGattung (allgemein) und als einzelne Gegenstndlichkeit (einzelnes) existieren

    wrde.

    Die wirkliche Entwicklung der immer gesellschaftlich, nie

    blo naturhaft fundierten Individualitt aus der blo naturhaften Einzelheit ist ein

    hchst komplizierter Proze, . . .

    45lt erst

    jene Seinsgrundlagen entstehen, aus welchen die ursprngliche, noch vielfach

    blo naturhafte Einzelheit des Menschen allmhlich den Charakter der (gesellschaftlichen,nur in Gesellschaftlichkeit mglichen) Individualitt erhalten kann.

    dazu fhren kann, den

    Problemkomplex der nicht mehr stummen Gattungsmigkeit in ihrer eigentlichen

    Seinsweise ins Leben zu rufen, indem fr den Menschen in seiner Praxis nicht

    blo die konkreten Gegenstnde, auf deren Existenz und Bearbeitung derStoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur beruht, zu Objekten werden, denen er

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    nunmehr als Subjekt der gesellschaftlichen Praxis gegenbersteht, sondern durch

    die daraus entspringenden Formen der Gesellschaftlichkeit selbst, letzten Endes,

    wie Marx hervorhob, die eigene Gattungsmigkeit als Ensemble der gesellschaftlichen

    Verhltnisse entstehen zu lassen.

    49whrend die Einzelorganismen in der organischen Natur unmittelbar

    Exemplare ihrer jeweiligen Gattungen sind, die gesellschaftlich gewordene

    menschliche Gattung sich zu kleineren, unmittelbar in sich geschlossen scheinenden

    Einheiten differenziert,

    Die nicht mehr stumme Gattungsmigkeit desMenschen verankert also ihr Selbstbewutsein nicht direkt in der wirklichen,

    totalen Gattung der Menschheit, die als Gesellschaft ins Sein treten wrde,

    sondern in diesen ihren unmittelbar ersten partiellen Erscheinungsformen. Die

    Trennung geht bewutseinsmig so weit, da die Mitglieder dieser ersten,

    partiellen, freilich auch als partial nicht mehr stummen Formen der Gattungsmigkeit,

    die der anderen hnlichen Gruppen praktisch gar nicht als Mitmenschen,

    als Angehrige derselben Gattung behandeln (Kannibalismus etc.). So scheint sich

    die nicht mehr stumme menschliche Gattungsmigkeit in der unmittelbaren

    Praxis ganz in selbstndige Teile zu zerstckeln.

    49-50

    Dieser Pluralismus zeigt jedoch in der menschlichen Gattungsgeschichte eine

    merkwrdige Dialektik: einerseits ist in den subjektiven Seinstendenzen der

    Menschen ein sehr starkes Beharrensvermgen dieser ursprnglichen Gegeben

    heitsweise ihres sozialen Daseins enthalten (man kann solche Tendenzen nochheute etwa in der Bretagne oder in Wales wahrnehmen), andererseits erscheint die

    ununterbrochene Aufhebung dieser anfnglichen Differenzierung, das Entstehenimmer grerer Integrationseinheiten aus Verschmelzung dieser partiellen Vereinigungen

    als ein wichtiges Moment der Menschheitsgeschichte. Sie hat sich bis

    jetzt vor allem dort, wo die immer reiner gesellschaftlichen Prinzipien die blo

    naturhaften strker als sonst zurckdrngten bis zur Entstehung und Konsolidierung

    von Nationen entfaltet.

    50

    ber die konkreten Seinsformen der darber hinausfhrendennoch umfassenderen Integrationsweisen kann als ber eine Zukunftstendenz

    heute noch kaum etwas wirklich Konkretes ausgesagt werden. Einerseits mssen

    wir eine stndig zunehmende konomische Integration wahrnehmen, die ohne

    Frage objektiv in die Richtung eines einheitlichen konomischen Seins der ganzen

    Menschengattung drngt. Auch die Nation htte sich nie als eine umfassendere

    Einheitsform durchsetzen knnen ohne die Grundlage einer derartigen konomischen

    Integrationstendenz, die stark genug war, die lokalen Partikularitten der

    anfnglichen Gesellschaftsformen zu berwinden, sie in eine wirtschaftliche Einheit

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    zu verschmelzen. Andererseits sehen wir, wie stark sich die in den Nationen

    integrierten Einheitstendenzen (und, wie wir sehen konnten, auch solche von

    vornationalem oder primitivnationalem Charakter) sich gegen alle neuen Formen

    der Vereinigung auf konomisch hheren Stufenwehren;

    Die bisherige Geschichte derMenschheit zeigt, da bis jetzt letzten Endes die hheren Integrationsformen die

    siegreichen wurden, ohne freilich uns darber mit Sicherheit belehren zu knnen, in

    welchen konkreten Weisen sie diese weiteren, die Gattungsmigkeit qualitativ

    modifizierenden Umgestaltungen vollziehen knnen.

    53Je entwickelter in gesellschaftlicher Hinsicht eine Gesellschaft ist,

    desto vielfltigere Detailentscheidungen verlangt sie von jedem ihrer Mitglieder,

    und zwar auf smtlichen Gebieten des Lebens, wobei auch sachlich einander nahe

    Gebiete oft in den Reaktionsforderungen groe Unterschiede zeigen knnen; man

    denke an Handel und Brse, an Verhalten der Kinder zu Hause und in der Schule

    usw. usw.

    Diese ans Unendliche zu grenzen scheinende Vielfalt in den Alternativentscheidungen,

    zu denen das einzelne Gesellschaftsmitglied durch die innere Differenzierung

    der Gesamtgesellschaft stndig veranlat oder auch gentigt wird, ist die sozialeGrundlage dessen, was wir generell als Ausbildung des Menschen zur Individualitt

    zu bezeichnen pflegen.

    54

    Diese groe Vielfltigkeit der Reaktionen oft auf dieselben von der gesellschaftlichen

    Bewegung gestellten neuen Aufgaben (die eben erwhnten Initiativrollenmitinbegriffen) bedeutet jedoch keineswegs, da der herrschende Impuls dieser

    Entwicklung von individuellen Initiativen letzthin hervorgebracht worden wre.Im Gegenteil. Die Geschichte zeigt, da sowohl die zunehmende Differenzierung

    der gesellschaftlich zu lsenden Probleme, wie ihre Art, ihr Inhalt, ihre Form etc.

    letzten Endes stets von der Entwicklung der Gesamtgesellschaft auf die Tagesordnung

    gesetzt werden.

    Keinerlei blo seiende Konstellation von Gegenstnden,

    Prozessen etc. enthlt in diesem ihrem unmittelbaren Gegebensein eine zu

    beantwortende Frage. Diese erscheint als das Produkt eines denkenden undsetzenden Subjekts, das die jeweils vorhandene, alte oder neue Konstellation,

    Tendenz etc. gedanklich als eine Frage deutet, um sie denn vorerst ebenfalls

    gedanklich als Antwort zu formulieren; erst auf dieser Stufe des Bewutgewordenseins

    kann die Antwort geeignet sein, als Grundlage praktischer teleologischer

    Setzungen zu figurieren.

    55

    Je primitiver eine Gesellschaft ist, je

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    weniger ihr noch die Tendenz innewohnt, die Naturschranken radikal zurckzudrngen,

    desto seltener stellt sie vielfache Anforderungen an ihre Mitglieder, die

    diese nur auf dem Wege von Frage und Antwort erfllen knnen.

    55-56

    Der Grund des Wandels isteben die aktive Anpassung an die Umwelt, aus welcher ein bestimmter Grad von

    bewuter Ttigkeit nicht mehr ausschaltbar ist. Damit hrt aber die biologische

    Anpassung an eine sich total oder partial vernderte oder sich verndernde

    Umwelt auf, als alleiniger Regulator fr die Reproduktion solcher Lebewesen zu

    funktionieren. Sie mu von einer gesellschaftlich-aktiven Anpassungsweise abge

    lst werden, worin die neue Art der seiend-praktischen Beziehung von Gattungund Gattungsexemplar sich in neuer Weise zu uern vermag.

    Die Erscheinungsweise, das Organ dieser gesellschaftlich gewordenen neuen

    Form der Reproduktion der Menschen ist eben ihre Seinsweise als Individualitten.

    57

    hchst fehlerhaft, die allgemein bliche Praxis zu befolgen,

    wonach man die Kategorie der Individualitt fr die sogenannten groen Mnner,

    oder allenfalls fr die Intelligenz aufsparen wrde. Nein. Das gesellschaftliche

    Phnomen, das uns hier beschftigt, ist viel breiter.

    Die Individualitt als ein

    gesellschaftlich bestimmtes, eigenes System des Reagierens auf die Alternativen,

    die das Leben (das Alltagsleben) stellt, charakterisiert heute schon so gut wie alle

    Menschen der Gesellschaft und ist objektiv seinsmig ein Produkt der Jahrtausende

    whrenden Entwicklung der Gesellschaft zu einer tendenziell allseitigenGesellschaftlichkeit, natrlich auch im Reproduktionsproze der einzelnen Gattungsexemplare.

    62

    Es ist also ontologisch unmglich, eine Individualitt ohne diesen Ursprung und

    ohne einen solchen Ausgang sich auch nur vorzustellen, geschweige denn in ihrem

    isoliert gedachten Sein, in ihrer von hier aus gesehen angeblichen Eigenbewegung

    das vereinheitlichende, das die Individualitt real leitende Prinzip zu

    erblicken. Diese theoretisch schroffe Negation weitverbreiteter tiefeingewurzelter

    Vorurteile verliert nichts von ihrer Schrfe, wenn erluternd hinzugefgt

    werden mu, da damit die unmittelbar primre Wirksamkeit der subjektivenBewegungsfaktoren keineswegs geleugnet, im Gegenteil vollauf besttigt werden

    soll. Denn ohne Anerkennung dieser Seinshaftigkeit in der Lebensunmittelbarkeit

    der Individuen, konnten sie keine Individualitten werden, sondern blo mechanische

    Produkte der gesellschaftlichen Entwicklung.

    64

    Vor allem ist schon bis jetzt deutlich geworden, da die Individualitt des

    Menschen unter keinen Umstnden eine ursprngliche, angeborene Eigenschaft

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    des Menschen sein kann, sondern das Ergebnis eines langwierigen Prozesses der

    Vergesellschaftung des gesellschaftlichen Lebens der Menschen, ein Moment

    seiner gesellschaftlichen Entwicklung ist, das man sowohl in seiner Seinshaftigkeit,

    wie in seinen perspektivischen Mglichkeiten nur aus der Geschichte seinem

    wahren Wesen nach begreiflich zu machen imstande ist. Die gesellschaftlichgeschichtlich

    determinierte Genesis der menschlichen Individualitt mu schondeshalb energisch in den Mittelpunkt solcher Analysen gerckt werden, weil

    Gesellschaftswissenschaft wie Philosophie der brgerlichen Gesellschaft gleicherweise

    dazu neigen, in der Individualitt eine alles begrndende, keiner Ableitung

    bedrftige Zentralkategorie des menschlichen Seins zu erblicken.

    DieOntologien der jngsten Vergangenheit, die aus dem Kampf gegen die universelle

    Manipulation, also gegen Positivismus und Neopositivismus entstanden sind

    (Jaspers, Heidegger, Sartres Anfnge) zeigen deutlich die Tendenz, ganz spezifische,

    zeitbedingte Zge der gegenwrtigen sozialen Entwicklung des Menschen

    zu ontologisch zeitlos grundlegenden Kategorien im Verhltnis des Menschen zur

    Welt zu erheben. Daraus knnen vorbergehende Faszinationen entstehen

    (und sind auch ebenso entstanden, wie in vielfach hnlich eingestellten Literaturrichtungen

    derselben Zeit), aber kein methodologisch gangbarer Weg zur

    ontologischen Erklrung ihrer spezifischen gesellschaftlich-geschichtlichen Genesis,ihrer sich daraus entwickelnden Perspektiven und Sackgassen.

    67

    Da der Mensch nie

    in menschenleeren Situationen handeln kann, ja jede seiner Taten, auch die

    eigenwilligsten, da jeder Verwirklichungsversuch seiner persnlichsten Gedankenoder Gefhle von Menschengemeinschaften ausgehen und irgendwie in diese

    mnden, mu mit Marx gesagt werden: Der Mensch ist im wrtlichsten Sinnnicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich

    vereinzeln kann."

    75

    whrend die Tiere stets in ihrem gesamten Sein und unmittelbar Exemplare je einer

    Gattung sind, ist die menschliche Gattung von Anfang an auf Stmme zerstckelt.

    Die Herdentiere sind als Herdentiere ebenso unmittelbare Gattungsexemplare

    wie die nicht in Herden vereinten. Der Stamm bildet aber einen nicht stummenKomplex des wirksamen Gattungsbewutseins in den Menschen aus, worin fr

    lange Zeiten ein ganzes oder partielles Leugnen der nicht Stammesangehrigen

    mitenthalten ist (Kannibalismus). Mit der allgemeinen Integration der Menschheit

    in Nationen etc. werden diese nicht mehr stummen Gattungsobjektivationen

    immer grer, ohne das Ausschlieen der auerhalb Stehenden aus der Menschengattung

    ganz aufzuheben (Hellenen und Barbaren, Weie und Farbige

    etc.). Und selbst wenn der Integrationsproze der konomie bis zum Weltmarkt

    fortgeschritten ist, bleibt als unmittelbar praktisch wirksam die Gattungsmigkeit

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    der Nation, ja der Nationalitten etc. weiter bestehen.

    77

    Eben weil, wie wir oft gezeigt haben,

    die die konomie praktisch fundierenden Kausalreihen nichts Teleologisches in

    ihren unmittelbaren, seinsmigen Auswirkungen enthalten, wre es ontologischfalsch, vereinfachend (vulgarisierend) zu sagen: diese konomische Entwicklung

    produziert die Individualitt als Lebensform der Menschen, die Individualitt sei

    also einfach ihr direktes Produkt. Schon rein kausal betrachtet stimmt das nicht.

    78

    zu einer objektiven unausweichlichenSeinsform erhoben: an die Stelle der frheren, hchst konkret, wirkenden

    Vermittlung ist eine an sich leere Zuflligkeit getreten. In dieser Konfrontation

    wird der Einzelmensch einer solchen Gesellschaft dazu veranlat, diesen objektiven

    Tatbestand vom Standpunkt des Was tun ? innerhalb seiner eigenen

    Lebensfhrung in eine Frage zu verwandeln, die er seinen Lebensbedrfnissen,

    Lebensinteressen und Lebensfhigkeiten entsprechend, ja bis zu gewissem Grade,

    bei Strafe des Untergangs, praktisch und oft auch theoretisch zu beantworten hat.

    79Engels, der nach dem Tode von Marx mit unermdlicher Energie die Vulgarisierungstendenzen

    bekmpft, gert selbst gelegentlich in eine leicht Miverstndnisse

    hervorrufende Lage. In einem Brief an Starkenburg streift er dasselbe Problem,

    das wir eben in seiner Marxschen Fassung kennengelernt haben. Er lst auch die

    hier entstehenden Probleme in der Hauptlinie hnlich wie Marx. Doch wenn er im

    Endresultat (Herrschaft Napoleons i., Entstehung des historischen Materialismus)zu Folgerung gelangt, da der Mann sich jedesmal gefunden, sobald er

    ntig war, da fr die Marxsche Lehre die Zeit bereits reif war und sie ebenentdeckt werden mute, biegt er von der Linie Marxens, von der vorsichtig

    behandelten Tendenzartigkeit des historischen Ablaufs auf diesem Niveau ab und

    proklamiert ontologisch vereinfachend eine dem gesellschaftlichen Sein, mit

    Ausnahme der konomie im strengsten Sinne, fremde, weil berspannte Notwendigkeit.

    79-80

    Noch schroffer

    gilt das fr den Marxismus selbst. Da die Grundfragen seiner Methode objektivauf der Tagesordnung der geistigen Entwicklung standen, ist sicher richtig. Aber

    in anderem Zusammenhang bezweifelt der einzige reale Kandidat fr den

    historischen Ersatz von Marx, nmlich Engels selbst, ob er persnlich die

    Fhigkeiten gehabt htte, das Lebenswerk von Marx ohne ihn zu vollbringen.

    Hier machen tatschlich die Menschen ihre Geschichte selbst; auch wenn wir die

    reale Macht der nicht von ihnen selbst gewhlten Umstnde einkalkulieren, kann

    hier keine hnlich geartete notwendige wechselseitige Kompensation der Zuflligkeiten

    stattfinden, wie auf dem Gebiet der im strengen Sinne genommenen

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    konomie selbst."

    80

    Wenn jedoch in ihrem Wechselverhltnis die Kategorienverhltnisse

    (vor allem Notwendigkeit, Zuflligkeit, Freiheit) nicht in ihrer

    simultanen unzerreibaren Verbundenheit und qualitativer Verschiedenheit begriffenwerden, so wird die Freiheit entweder zu einem der Normalentwicklung

    transzendenten Wunder (Idealismus) oder zu einem zwangslufigen Produkt

    der Entwicklung (mechanischer Materialismus). In beiden Fllen verschwindet

    jene reale, abwechslungsreiche, ungleichmige etc. prozehafte Wechselbeziehung

    von Gleichartigkeit und Verschiedenheit, von Gebundenheit und relativ

    selbstttigem Wachstum zwischen beiden, in deren Dialektik gerade der historischeCharakter der menschlichen Gattungsmigkeit ihrem Wesen angemessen

    zum Ausdruck gelangt.

    85

    da die

    berwindung jedes utopischen Strebens stets im Mittelpunkt der Marxschen

    Denkarbeit stand. Es ist nur eine Seite dieser Tendenz, da er unermdlich

    bestrebt ist, jedes Phnomen aus seiner konkreten Historizitt zu begreifen, da

    er Verfehlungen in diesem Komplex oft hhnisch kritisiert.

    Daraus erwchst die Richtschnur der echten Praxis, dieses Herauswachsen

    durch richtige Einsicht in das wirklich Seiende rechtzeitig wahrzunehmen

    und wirkungsvoll zu frdern.

    Prolegomena zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins3

    87Es handelt sich kurzgefat darum, was bedeutende Gelehrte wie Planck oder

    B. Russell schon lange methodologisch klar gesehen haben, da die berwltigende

    Mehrzahl der von uns erfabaren Phnomene in Wirklichkeit letzten Endes,

    seinsmig irreversible Prozesse sind. Schon unter der Herrschaft der lteren

    Methodik der Wissenschaften (man pflegt sie zumeist mit Newtons Name zu

    bezeichnen) haben diese Tatsachen sich immer strker Geltung verschafft. Wieimmer z. B. die Astronomie Notwendigkeit und Gesetzmigkeit des Weltalls

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

    14/77

    und darin die unseres Sonnensystems in der Vergangenheit aufgefat haben mag,

    haben sich in bezug auf die Erde Geologie und Palontologie als selbstndige

    Wissenschaften entwickelt und haben gezeigt, da das Sein unseres Planeten,

    sowie das Leben, das seine Existenz hervorgebracht hat, dem Wesen nach

    irreversible Prozesse sind.

    88

    Schon die oberflchlichste Betrachtung zeigt, wie schwer es dem Menschen fllt,

    sich selbst als gewordenen, als Subjekt und zugleich Objekt eines irreversiblen

    Prozesses aufzufassen. Der ontologisch primre Grund dafr liegt wahrscheinlich

    darin, da in der Unmittelbarkeit des Alltagslebens seine Selbstreproduktion als

    Gesellschaftswesen an entscheidenden Punkten von der biologischen verdecktwird.

    89

    Es handelt sich darum, da dem Menschen die

    uere Welt der Gegenstndlichkeiten unmittelbar und in der Unmittelbarkeit

    unaufhebbar in Dingformen gegeben ist. Das ergibt nicht nur fr das Natursein

    eine selbstverstndliche, unerschtterlich scheinende fixe Daseinsform. Ob es

    sich um einen Berg oder einen Stein, um ein Haus oder um ein Mbelstck-etc.

    handelt, scheint die Dinghaftigkeit, die Urform der Gegenstndlichkeit berhauptzu sein, die als solche unaufhebbar zu sein scheint. (Erst die in unseren

    Tagen sich entwickelnden Physik der festen Krper wirft ihre Genesis als

    wissenschaftliches Problem auf.) Diese Dinge knnen sowohl Produkte der

    Natur wie Ergebnisse der Arbeit sein, und bei der berragenden Bedeutung, die

    die Arbeit (die Herstellung oder Verwandlung von Dingen) im Menschwerden

    des Menschen spielt, ist der Analogieschlu sehr naheliegend: die Dinge in derNatur seien gleichfalls Produkte einer schpfenden Arbeitsttigkeit, allerdings die

    von hheren (menschenhnlichen) Wesen

    91

    Im Paradies des sich entfaltenden Christentums

    gewinnt die Dinghaftigkeit ihre nicht nur verklrteste, sondern auch sachlich

    folgerichtigste Erscheinungsweise: eine gefhlsmig untergebaute eleatische

    Permanenz des vollkommenen Seins jeder mglichen Wandlung gegenber.

    95Die Wirklichkeit als eigenstndige, sich selbst im Mastab der Unendlichkeit

    gleichmig reproduzierende Seinsweise ist ein gewaltiger Fortschritt dem Mittelalter

    gegenber. Schon die einheitliche Eigengesetzlichkeit des Universums zeigt

    dies ganz klar als Bruch mit der Erde als seinem Mittelpunkt, also als Schauplatz

    der entscheidenden kosmischen Ereignisse der Theologie (Jngstes Gericht,

    Paradies und Hlle, ja schon frher die Unterscheidung der superlunaren Welt

    von der sublunaren etc.). Das bedeutet die wissenschaftliche Proklamation eines

    einheitlichen und einheitlich eigengesetzlichen Weltalls, in welchem die Erde, mit

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    allen menschlichen und vor allem mit den religis-geschichtsphilosophisch postulierten

    Ereignissen nur ein verschwindend kleines Pnktchen vorstellen kann.

    Unendlichkeit von Raum und Zeit konnten nur nach einer solchen Gesamtkonzeption

    in ihrer wahren Beschaffenheit begriffen und zum Erkennen auch

    endlicher Phnomene angewendet werden.

    95-96

    Erst der groe Aufschwung der

    mathematischen Einsichten, der sich mit dieser neuen Naturkonzeption gleichzeitig

    und in Wechselwirkung entfalten, hat Wissenschaft und Philosophie instandgesetzt, diesem neuen Weltbild einen ihm auch nur annhernd angemessenen

    Ausdruck zu verleihen. Zugleich entsteht damit im Denken der Welt eine

    qualitativ hher geartete, wirklichkeitsgemere Form des desanthropomorphisierenden

    Denkens als je frher. Im mathematischen Ausdruck der Phnomene

    der Wirklichkeit schien das Mittel gefunden zu sein, diese rein gedanklich wie

    ihrem Sein entsprechend so zu erfassen, da die anthropomorphisierend-analogi

    sierenden Fehlerquellen ihrer Erkenntnis verschwinden oder zumindest minimiert

    werden knnen. Man pflegt dabei nur hufig zu vergessen, da die

    anthropomorphisierenden Tendenzen auch in der gedanklichen Bewltigung derentgtterten Wirklichkeit so stark sind, da sie von Erfahrungen der Praxis und

    von ideologischen Bedrfnissen untersttzt auch in die Methode der mathematischen

    Bewltigung der Wirklichkeit eindringen knnen.

    97-98

    Es ist schon kein Zufall, da viele angesehene Gelehrtedes xix. Jahrhunderts das reale Sein des Atoms zu bezweifeln begnnen.

    Damit mu jedoch selbstredend sein verdinglichender Einflu auf die Gesamtheitder Naturbilder keineswegs zu wirken aufhren. Indem jedoch die ganze

    Natur ohne wesentliche theoretische Neuerung im methodologischen Gesamtaufbau

    nicht mehr als materiell gegebenes Sein aufgefat wurde, sondern

    als primr gedankliches Produkt der jeweiligen wissenschaftlichen Arbeitsmethodologien

    erschien, konnte nunmehr keine Allgemeinanschauung als die Einzelforschung

    fhrend beeinflussende Philosophie, als bestimmungengebend

    verallgemeinerndes Denken der Gesamtheit wirken. Die reine Wissenschaftlichkeit

    in den Einzelforschungen verlor immer mehr ihren frher stark wirkendenKontakt mit der Philosophie. Die in der Forschung herrschend gewordenen

    Positivismus und Neopositivismus bauten ihre philosophisch generalisierenden

    Zge immer mehr ab, um als rein praktische, blo effektive Zusammenfassungen

    der Einzelforschungen, als eine ihnen vllig untergeordnete Methodologie

    zu funktionieren.

    Diese entschiedene Trennung von Philosophie und Einzelwissenschaft ergab fr

    letztere einen fast unbegrenzten, scheinbar nur durch Postulate der Exaktheit

    beschrnkten Spielraum. Diese Freiheit ist jedoch die bloe Kehrseite ihrer

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    immer weitergehenden Einbeziehung in den Dienst der materiellen Produktion

    und ihrer marktrationalen Organisierung. Diese Lage ergibt eine eigenartige,

    eigenartig verschlungene Einheit von vlliger methodologischer Freiheit in den

    unmittelbar zu erforschenden Einzelfragen und von einer weitgehend strengen

    Gebundenheit an ihre marktmig in Betracht gezogene Effektivitt. Es ist noch

    nicht jetzt an der Zeit, smtliche Folgen dieser gegenwrtigen gesellschaftlichenKonstellation in der Entwicklung der Einzelwissenschaften, in ihrer Wechselbeziehung

    zur Philosophie nher zu betrachten;

    99

    Planck betont immer wieder die Notwendigkeit der

    Annahme einer realen Welt, welche ein selbstndiges, vom Menschen unabhngigesDasein fhrt, und bezeichnet in diesem Zusammenhang z. B. die

    Konstante als einen neuen geheimnisvollen Boten aus der realen Welt. 41 In

    dieser Hinsicht, in der der Objektivitt des Seins, will er also keinerlei neue

    Kategorien fr die Objektivitt der Natur anerkennen.

    100

    Ebenso

    evident ist, da das als Wahrscheinlichkeit sich durchsetzende Ergebnis der

    Tendenzen innerhalb eines solchen Prozesses jene Tendenzartigkeit in ihrerGesamtheit aufdeckt, wodurch eben diese irreversible Prozehaftigkeit sichvon den

    einfach-homogenen Kausalreihen ontologisch unterscheidet.

    106

    Das, was viele Jahrtausende hindurch die gedanklich unerschtterbare Grundlage

    des Seins der Natur und darum auch des richtigen Denkens schien, mu im Lichteeiner solchen Umwlzung in der Erkenntnis als ein spezifischer Zustand der

    Materie, unter den spezifischen Entwicklungsbedingungen unseres Sonnensystemsund in ihm unseres Planeten erscheinen. Erst solche Erkenntnisse haben es

    mglich gemacht, auch die anorganische Natur als wesentlich irreversiblen Proze

    aufzufassen, der sich jedoch konkret in Form von prozessierenden, einander in

    ihren Prozessen mehr oder weniger beeinflussenden Komplexen verwirklicht. Erst

    indem auch in der anorganischen Natur die unaufhebbare Koexistenz von der

    Seinsprioritt konkreter Komplexe und der sie konstit iier enden irreversiblen

    Prozesse als Erkenntnisgrundlage des Seins sich durchgesetzt hat, entsteht die

    Berechtigung, von einer einheitlichen Ontologie eines jeden Seins zu sprechen.

    107

    Was in einer dinghaften Statik unerklrbar schien, erhlt im letzten

    Endes, bei allen Einzelunterschieden und Einzelgegenstzen, einheitlichen Geschichtsproze

    die einzig mgliche Vereinheitlichung: die Genesis einer jeden

    Seinsweise aus dem groen irreversiblen Proze der Weltgeschichte, der Welt als

    Geschichte, um diese Einheit der Verschiedenheiten ontologisch zu formulieren.

    Die Entwicklung des menschlichen Wissens ist so dahin gelangt, den groartigen

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    Jugendgedanken von Marx, von der Geschichte als Grundprinzip eines jeden

    Seins, im Woher? seiner Genesis, im Was und Wie seines gegenwrtigen

    Seins, in den Tendenzen seiner Weiterentwicklung, also in seinen Perspektiven

    gedanklich zu erfassen.

    112-113Dieser Exkurs mute gemacht werden, um zu zeigen, da die heutige Aufgabe der

    Marxisten nur sein kann: die echte Methode, die echte Ontologie von Marx wieder

    zum Leben zu erwecken, vor allem um mit ihrer Hilfe nicht nur eine historisch

    getreue Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung seit Marx' Tod, die heute

    noch so gut wie vllig fehlt, wissenschaftlich mglich zu machen, sondern auch

    um das gesamte Sein, im Sinne von Marx, als in seinen Grundlagen historischen(irreversiblen) Proze zu begreifen und darzustellen. Das ist der einzige theoretisch

    gangbare Weg, den Proze des Menschwerdens des Menschen, das Werden

    des Menschengeschlechts ohne jede Transzendenz, ohne jede Utopie gedanklich

    darzustellen. Nur so kann diese Theorie jenes stets irdisch-immanent bleibende

    praktische Pathos wiedererhalten, das sie bei Marx selbst hatte und das spter

    teilweise vom Leninschen Zwischenspiel abgesehen theoretisch wie praktisch

    weitgehendst verloren ging. Unsere Betrachtungen hatten schon bis jetzt diese

    Zielsetzung gehabt. Jedoch erst die Erkenntnis, die Anerkennung dessen, da die

    dinghafte Auffassung des Seins von der ontologischen Prioritt des Seins derKomplexe, die einfache kausale Erklrung der dynamischen Prozesse von der

    Erkenntnis ihrer tendenzartigen Irreversibilitt abgelst zu werden begann,

    versetzt uns in die Lage, die Kategorienprobleme des Seins, vor allem natrlich des

    gesellschaftlichen in echt marxistischer Weise zu erkennen und darzustellen. Das

    setzt naturgem erstens eine eingehende Kritik jeder heute einflureichen

    brgerlichen Ideologie voraus, die im Kapitalismus mit den neopositivistischenTendenzen einer sogenannten Entideologisierung unserer Erkenntnisse ber

    die Welt ihren Gipfelpunkt erreicht hat, um das gegenwrtige System derkonomisch-sozial manipulierten Ordnung als letzte Vollendung des menschlich

    Mglichen darzustellen und so zu einer Konzeption des Endes der Geschichte

    zu gelangen, die sich heute faktisch bereits im Anfangsstadium der Selbstauflsung

    befindet.

    127

    ein Sein ohne reale Bestimmungen ist niemals seiend, ist ein bloes

    Denkgebilde.

    Die damit engst verbundene weitere, von uns ebenfalls oft angefhrte Feststellung

    von Marx ist, da die Kategorien Daseinsformen, Existenzbestimmungen sind.

    Hier ist wieder der radikale Gegensatz zu jeder idealistischen Erkenntnistheorie

    sichtbar, die meint, die Kategorien seien Produkte unseres Denkens ber die

    Beschaffenheit des Seins, vor allem gerade ihre konkreten Bestimmungen.

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    185-186

    Zugleich

    haben alle diese sich so entwickelnden Ausdrucksweisen der nicht mehr

    stummen menschlichen Gattungsmigkeit eine gleichfalls unaufhebbare Tendenz

    auf letzhinnige Einheitlichkeit, zu spontan aus dem gesellschaftlichen Sein

    entstandenen Entsprechungen, die eine generelle Verstndlichkeit dieser Sprachen untereinander seinsmig nicht nur allgemein ermglichen, die aber auch,

    wo die gesellschaftlich-geschichtlichen Umstnde dies erfordern und hervorbringen,

    in der gesellschaftlichen Praxis ihre wechselseitige Beeinflussung bis zur

    Verschmelzung zustande bringen knnen.

    Wenn nun von dieser Sprache der entstehenden menschlichen Gattungsmigkeit

    etwas konkretisierend, obwohl recht allgemein gesprochen werden soll, souert sie sich vor allem im Proze und in den Ergebnissen der Arbeit selbst.

    Selbstverstndlich zeigen sich berall die Einmaligkeitszge der jeweilig konkreten

    Genesis, es ist jedoch auffllig, wie frh bereits der Tauschverkehr der

    Arbeitsprodukte (Werkzeuge mitinbegriffen) begonnen hat. Wenn wir nun diese

    Tatsache im Lichte des hier behandelten Problemkreises betrachten, so ergibt es

    sich rein seinsmig, da ein Tauschverkehr unmglich wre, wenn die Arbeitsprodukte

    nicht eine fr unter sich verschiedene Gesellschaftsgruppen gleicherweise

    verwirklichbare praktische Brauchbarkeit besen, wenn sie also letzten

    Endes nicht eine in dieser Hinsicht gemeinsame Sprache besitzen wrden. Dieschon frh einsetzende Verallgemeinerung im Gebrauch neuer Errungenschaften

    (man denke an die weitverbreitete, gemeinsame Existenz von Stein, Bronze, Eisen

    als Rohmaterial der Arbeit, an die Verbreitung des Geldes als Instrument eines

    generell gewordenen Tauschsystems, an die relativ geringe Zahl der Materien, die

    als Geld figurierten etc.), die zweifellos vorhandenen groen Unterschiede

    verschiedener Gruppen, Gebiete etc. in ihrer konomischen Entwicklung knnendiese Tendenzen zu einer gemeinsamen Sprache in den letzten Grundlagen der

    konomie nicht vllig aufheben. Natrlich drfen dabei die Unterschiede, jaGegenstze der einzelnen konkreten Verwirklichungen nie vergessen werden, die

    Grundtatsache jedoch, da im Stofwechsel der Gesellschaft mit der Natur die

    jeweils mglichen optimalen Mglichkeiten eine Tendenz, sich auf die Dauer

    durchzusetzen, haben, ergibt sich aus dem auf teleologische Setzungen fundierten

    Wesen der Arbeit. Und aus dieser Tendenz ergibt sich, da in der konomischen

    Entwicklung (Arbeitsteilung etc. mitinbegriffen) sich in diesem Sinn, bei allen

    Unterschieden, je Gegenstzen, eine solche gemeinsame Sprache der nicht mehr

    stummen Gattungsmigkeit sich als Tendenz durchgesetzt hat.

    186-187

    Diese ontologische Grundtendenz uert sich, wenn mglich, noch deutlicher in

    der Sprache im eigentlichen Sinn. Da ihre Entstehung mit den primitivsten

    Erfordernissen von Arbeit und Arbeitsteilung eng zusammenhngt, ist allgemein

    bekannt. Freilich simultan mit der ebenso evidenten Tatsache der unermelich

    scheinenden Vielfltigkeit der Sprachen selbst und ihrer qualitativen Differenzen

    untereinander vom Wortinhalt bis zur grammatikalischen Struktur. Dabei darf

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    jedoch ein praktisch bereits allgemein bewhrtes Moment nicht vernachlssigt

    werden: alle diese Differenzen besitzen eine in der Praxis erprobte Einheitlichkeit;

    sie sind ausnahmslos transportabel, d. h. bersetzbar. Der quantitativen und

    qualitativen, ueren wie inneren Vielheit der Sprachen steht das Moment ihrer

    bersetzbarkeit ergnzend gegenber. bersetzbarkeit setzt jedoch innerhalb

    der vielfachen Verschiedenheiten wesentliche Momente eines letzthin gemeinsamenGehalts voraus. Im Mittelpunkt dieser Momente steht, da alle Wrter

    daraufhin gesetzt wurden, um die Gattungsmigkeit der Gegenstnde zum

    Ausdruck zu bringen; nur die Nuancen des Satzbaus, der Wrterkombination etc.

    vermgen diese allgemeine Gattungsmigkeit, die allen Sprachen gemeinsam ist,

    gegebenenfalls zur Besonderheit beziehungsweise zur Einzelheit weiterzufhren.

    Diese fundamentale Allgemeinheit, die eben darum auch eine Basis fr unmittelbargroe Verschiedenheiten ist, drckt sich in allen Sprachen auch darin aus, da

    ihr innerer Aufbau stets eine bestimmte generelle Typik des auf der Arbeit

    beruhenden, aus der Arbeit heraus sich differenzierenden Menschenlebens zum

    Ausdruck bringt: das Subjekt und seine Aktionen, deren raumzeitliche Differenzierung,

    die Beziehung von Subjekt und Objekt, des Subjekts zu anderen

    Subjekten etc. bilden, wenn wir die Sprache als wichtigen Faktor des gesellschaftlichen

    Seins betrachten, die Grundlagen einer jeden Sprachstruktur. Da diese

    Strukturen in den verschiedenen Sprachen verschiedene konkrete Ausdruckswei-

    sen erhalten, ist ein wichtiges Moment ihrer jeweiligen spezifischen Beschaffenheit,ihrer Geschichte, ndert aber an diesen Feststellungen nichts. (Da z. B.

    bestimmte Relationen in der einen Sprache als Prpositionen, in der anderen als

    Suffixe gestaltet werden, mag vom Standpunkt der Sprachwissenschaft noch so

    wichtig sein, bleibt aber fr die hier festgestellte Gemeinsamkeit irrelevant.) So

    entstehen die untereinander stark, qualitativ verschiedenen Sprachen, deren

    Verschiedenheit in der Menschheitsentwicklung eine bedeutsame Rolle gespielthat und noch spielt, deren Verschiedenheit diese Menschheitsentwicklung mglicherweise

    nie aufheben wird, die jedoch vom hier entscheidenden Gesichtspunktder universellen Entwicklung der Gattung betrachtet als Momente in der objektiven

    Einheit dieses irreversiblen Prozesses figurieren. Da auch die gegenwrtige

    Vielheit der Sprachen bereits das Ergebnis eines langwierigen Integrationsprozesses

    ist, der Lokalsprachen, Dialekte etc. allmhlich zu nationalen Sprachen

    synthetisiert hat, verstrkt noch die Realitt des von uns aufgezeigten Prozesses.

    Die Sprache, als unentbehrliches Medium der nur gesellschaftlich mglichen

    Kommunikation, des Zusammenwirkens und Zusammenlebens schon im Alltag

    des gesellschaftlichen Seins, ist gerade in dieser letzthinnigen Einheitlichkeit einZeichen der gleichfalls letzthinnigen Einheitlichkeit des neuen, nicht mehr

    stummen Gattungsprozesses selbst.

    188-189

    Und selbst auf den Gebieten, die sehr stark von der geschichtlichen Zuflligkeit,

    von individuellen Impulsen beherrscht erscheinen, auf denen der institutionellen

    und persnlichen Richtlinien der menschlichen Aktivitten, zeigt sich zwar

    unmittelbar eine fast unbersehbar scheinende Vielfltigkeit ihrer Formen und

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    Inhalte. Werden aber diese im Zusammenhang mit den konkreten Seinsproblemen

    jener Gesellschaften, jener konomisch-historischen Zusammenhnge, in

    denen sie konkret wirksam werden aus der Nhe betrachtet, so zeigt sich die auf

    anderen Gebieten bereits aufgezeigte letzthinnige Konvergenz auch hier. Ob man

    Staatsformen, Klassengliederungen, moralische Gebote oder Verbote, Tugenden

    oder Laster usw. nimmt, berall kommen allgemein typische Wesenszge zumVorschein, die in dem hier gebrauchten Sinne des Wortes als bersetzbar

    bezeichnet werden knnen. Sehr oft ist diese bersetzbarkeit so offenkundig,

    da gerade auf diesem scheinbar so subjektbedingten Gebiet jahrtausendelang

    whrende Dauerwirkungen von als vorbildlich empfundenen Verhaltensweisen

    entstehen. (Man denke an Sokrates, an Jesus von Nazareth etc.) Gerade hier sind

    die Grnde dieser bersetzbarkeit am durchschaubarsten. Denn ob diehandelnden Menschen dessen bewut werden oder nicht, ist in jedem menschlichen

    Verhalten eine Richtung auf die Gattungsmigkeit enthalten. (Diese kann

    natrlich in bezug auf die jeweils vorherrschende auch eine negative sein.)

    189

    Wenn wir bis jetzt diese generelle und permanente Tendenz in der Entwicklung

    der Gattungsmigkeit des Menschen sichtbar gemacht haben, mssen wir ein

    weitverbreitetes Vorurteil von vornherein ausschalten: das einer einheitlichen und

    direkten, gradlinigen Fortschrittlichkeit. Wir haben zwar berall auf die gesellschaftlich-geschichtliche Differenziertheit, auf die jeweils seiende historische

    Einmaligkeit all dieser uerungen immer wieder hingewiesen, diese Einschrnkung

    knnte jedoch als nicht hinreichend begrndet abgewiesen werden, wenn

    wir nicht auch hier auf die seinsmigen Grundlagen dieses Phnomens zurckgreifen

    wrden. Es handelt sich um den ausschlielich kausalen Ablauf eines jeden

    historischen Geschehens, das in seiner Ganzheit nichts Teleologisches kennt. Dasgesellschaftliche Sein unterscheidet sich zwar qualitativ von beiden ihm vorangegangenen

    naturhaften Seinsweisen dadurch, da in ihm jeder von den Menschenselbst ausgehende Impuls eine teleologische Setzung zur Seinsgrundlage hat. Das

    ist natrlich ein unausschaltbares Moment zum Verstehen des gesellschaftlichen

    Seins als eigene Seinsweise. Es kann aber nicht richtig verstanden werden, wenn

    nicht zugleich in Betracht gezogen wird, da die teleologische Setzung zwar

    imstande ist, durch praktisches Setzen von Ziel und Mittel die durch sie in Gang

    gesetzten kausalen Prozesse weitgehend zu modifizieren, niemals jedoch seinen

    kausalen Charakter seinsmig zu verndern. Es gibt eben nur kausale Prozesse,

    teleologische gibt es einfach nicht.

    193-194

    Die Entwicklung der nicht mehr stummen Gattungsmigkeit spaltet nmlich den

    eigenen Entwicklungsproze: ihre objektive Seite kann sich nur durch eine

    Vergewaltigung der subjektiven verwirklichen; die Steigerung der Arbeit ber die

    bloe Reproduktionsmglichkeit (Mehrarbeit im weitesten Sinne des Wortes)

    entwickelt auf gesellschaftlichem Niveau die Notwendigkeit, die Frchte dieser

    Mehrarbeit (und deshalb auch die sozialen Bedingungen ihrer Herstellung) den

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    eigentlichen Produzenten zu entreien, sie deshalb zu einer Arbeitsweise zu

    zwingen, in der diese zum Besitz einer nichtarbeitenden Minderheit werden.

    Damit ist fr die ganze folgende Vorgeschichte der Menschengattung die Bezie

    hung des Einzelmenschen zur Gattung in einen Zustand der unaufhebbaren

    Widersprchlichkeit geraten, in welchem eine unmittelbare, eine allgemeine und

    direkte Beziehung des Einzelmenschen zur Gattung (deshalb auch zur eigenenGattungsmigkeit) unmglich geworden ist. Der Einzelmensch ist durch die so

    entstandene gesellschaftliche Lage gezwungen, wenn er zu den Aneignern der

    Mehrarbeit gehrt, diese objektiv hchst widerspruchsvolle Gattungsmigkeit

    als eine selbstverstndliche zu bejahen, oder, wenn er zu den Enteigneten gehrt,

    sie auf Grund dieser Widersprchlichkeit als Gattungsmigkeit zu verwerfen.

    194

    Es ist lange Zeit Sitte gewesen (und spukt als Vorurteil zuweilen auch heute), die

    Entfremdung ausschlielich bei den negativ Privilegierten wahrzunehmen und

    anzuerkennen. Das ist nicht die Meinung von Marx, fr den die Gattungsmigkeit

    stets ein zentraler Gesichtspunkt in der Beurteilung und Bewertung eines

    jeden gesellschaftlichen Phnomens gewesen ist. In der Frhschrift Die Heilige

    Familie heit es: Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen

    dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fhlt sich in

    dieser Selbstentfremdung wohl und besttigt, wei die Entfremdung als ihreeigene Macht, und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die

    zweite fhlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht

    und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.'" Es ist dabei wichtig, da

    Marx in beiden Fllen die Entfremdung als Verzerrungsweise der menschlichen

    Existenz betrachtet. Und wenn er auch einen deutlichen Unterschied zwischen

    Schein einer menschlichen Existenz und unmenschlicher Existenz macht,so ist es klar, da dadurch die gemeinsame soziale Wurzel der beiden an sich und in

    ihren ideologischen wie praktischen Folgen diametral entgegengesetzten, zutiefstwiderspruchsvollen Phnomenen nicht geleugnet, sondern sogar energisch in den

    Vordergrund geschoben wurde.

    197

    erzwungenen Ungleichheit der Gesellschaftsglieder ihre

    Grundlage darin hat, da der Sklave bereits mehr zu produzieren imstande ist, als

    zu seiner eigenen Reproduktion ntig ist, da deshalb sein Besitzer ber diese

    Mehrarbeit zur eigenen, persnlichen Bedrfnisbefriedigung zu verfgen gesellschaftlichinstand gesetzt wird. Damit ist die Entfremdung ins Leben getreten.

    Beim Sklaven instrumentum vocale bei den Rmern in einer ohne weiteres

    evidenten Weise; beim Sklavenhalter, indem die notwendigen Erfordernisse

    des gesellschaftlichen Seins auch in ihm selbst die echten Beziehungen zur

    eigenen Gattungsmigkeit zerstren.

    198

    Indem die

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    Entwicklung der Arbeitsproduktivitt eine Mehrarbeit und ihren Gebrauch durch

    andere, an ihrem Hervorbringen nicht beteiligte Menschen verwirklicht, werden

    die unmittelbaren Lebensinteressen in allen Gesellschaften antagonistisch-widersprchlich

    und darum nur vermittelst Gewaltanwendung regulierbar. Die Notwendigkeit

    des gesellschaftlichen Handelns erreicht damit ihre erste, bis heute

    noch immer wirksame Form: sie ist vom Standpunkt des einzelnen Gesellschaftsgliedsgesehen eine, wie Marx sagt, Handlungsweise bei Strafe des

    Untergangs. Wenn man darin eine Grundtatsache des gesellschaftlichen Seins

    erblickt, wenn man also die Gewalt als unentbehrliches Moment in jeder

    einigermaen entwickelten Gesellschaft als unabnderlichen Tatbestand anerkennt,

    so ist es wichtig, auch dieses Problem als Seinsmoment der Gesellschaftlichkeit

    zu betrachten und es durch keinerlei Eintragung idealistisch wertenderStellungnahmen dazu in positiver oder negativer Richtung zu entstellen.

    198-199

    Es ist naheliegend und weitverbreitet, gegen die Gewalt allgemein Stellung zu

    nehmen, vergessend, da kein Schritt seit unserem Austritt aus der biologischen

    Sphre des Tierseins, keine Vergesellschaftung, keine Integration der Menschengattung

    etc. etc. ohne Gewalt mglich gewesen wre. Aber andererseits darf man

    in der Gewalt, selbst in ihren brutalsten Formen, kein einfaches Erbstck aus dem

    vormenschlichen Zustand erblicken, das etwa in abstrakt moralischer Weisemenschlich berwunden werden knnte. Man mu stets dessen bewut sein,

    da wie wir frher in anderen Zusammenhngen angedeutet haben keine

    Praxisform des gesellschaftlichen Seins, also kein Moment seiner Selbstreproduktion

    (sei es konomie oder berbau, wie Staat, Recht etc.) ohne Gewalt entstehen

    und der menschlichen Reproduktion dienen knnte. Die Sprache der Gattung, die

    ihre Stummheit historisch ablst, kann die verschiedensten Formen von Gewalt,Zwang etc. unmglich entbehren. Die Geschichte der Gattung zeigt, da die

    vormenschliche Stummheit, die unaufhebbar spontan, rein biologisch funktionierendevormenschliche Seinsbeschaffenheit nur in dieser gewaltbeladenen, antagonistischen

    Bewutheitsbewegungsweise sich zu artikulieren imstande war und noch

    ist. Das Heraustreten aus der Stummheit, mit dem das Bewutsein erst aufhrt blo

    ein biologisches Epiphnomen zu sein, ist ebenfalls ein kausaler Proze, der in seiner

    Irreversibilitt zwar eine generelle Richtung, aber kein Ziel und deshalb keinerlei

    Planmigkeit, Zielgerichtetheit besitzen kann. Wie sich seine kausale Spontaneitt

    auf einem vllig neuen Seinsniveau ontogenetisch und phylogenetisch auf

    die neuen Beziehungen von Einzelexemplar und Gattung auswirkt, bestimmteben die wirkenden Krfte in der Selbstentwicklung des Menschengeschlechts.

    199

    In der Realitt der Praxis

    identifiziert sich fr jeden Einzelmenschen jene Gesellschaft, in der er gerade lebt,

    unmittelbar mit der Gattung selbst. Die Mitmenschen, die in anderen Gesellschaften

    leben, gehren fr seine Praxis gar nicht oder in hchst problematischer Weise

    berhaupt derselben Gattung an. (Barbarenbegriff der Griechen etc.) Erst die reale

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    Integration der ursprnglich kleinen Stmme zu Nationen etc. dehnt den Umkreis

    dessen aus, was der Einzelmensch als zur Menschengattung gehrig in seiner

    gesellschaftlichen Praxis anzuerkennen gezwungen ist. Diese von der konomie

    diktierte Integration hat im Weltmarkt in abstrakt praktischer Weise bereits zur

    Einheit der Menschengattung gefhrt, wobei freilich festzustellen ist, da diese

    Anerkennung insbesondere im Gebiet der realen gesellschaftlichen Aktivitten noch in gattungsmig uerst prblematischen Weisen in Erscheinung tritt.

    203

    Dabei mu, im Sinne des bisher ausgefhrten,

    betont werden, da es sich im Phnomen der Entfremdung vor allem um

    etwas Seinshaftes handelt. In primrer Weise gehrt sie dem gesellschaftlichenSein selbst an, sowohl in ihrer objektiven Beschaffenheit, wie in ihren Auswirkungen

    auf die einzelnen Gattungsexemplare. Da sie sich sehr oft in ideologischen

    Formen uert, ndert an diesem ihrem Grundcharakter nichts, ist doch die

    Ideologie im gesellschaftlichen Sein die generelle Form fr das Bewutmachen

    und das Ausfechten der konomisch-sozial entstandenen Konflikte.

    205

    Wir haben bereits in anderen Zusammenhngen darauf hingewiesen, da in den

    Entfremdungen auf primitiver Stufe diese sich weitgehend in jenen Vorstellungskomplexenzu uern pflegt, da die Menschen die Produkte ihrer eigenen

    Ttigkeit alsbald als Geschenke transzendenter Mchte aufgefat haben (Prometheus

    und das Feuer). Das liegt jeder vorwiegend religisen Entfremdung

    Feuerbach hat vor allem diese kritisiert zugrunde.

    Die eigene Existenz als solche, das eigene Schicksal etc. erhlt so eine durch diese

    Transzendenz entfremdete Seinsweise. Die Selbstbewegung des Menschen durchselbstdurchgefhrte Alternativentscheidungen wird zum Schein degradiert, indem

    diese blo in jenen Fllen als effektiv wirksam anerkannt werden, wenn sieihrem letzten Wesen nach nichts weiter sind, als gehorsame Durchfhrungen

    transzendenter Gebote oder Verbote. Insofern haben Feuerbach (und vor ihm die

    Aufklrung) ganz recht, wenn sie in jedem transzendenten Setzen menschlicher

    Aktivitten eine grundlegende Erscheinungsweise der Entfremdung berhaupt

    erblicken.

    212

    Da die Arbeit und alles, was daraus alsmenschliches Bewutsein, als gesellschaftliche Aktivitt entsteht (gerade im

    Interesse ihrer erfolgreichen Aktivitt), eine mglichst adquate Erkenntnis der

    Naturgegenstndlichkeit erfordert, ist eine grundlegende Tatsache des gesellschaftlichen

    Seins. Aber alle, oft wesentliche Vernderungen, die durch eine

    solche gesellschaftliche Aktivitt an der Natur selbst vollzogen werden, knnen

    an der ontologischen Grundtatsache, an der seinshaften Unabhngigkeit der

    Naturgegenstndlichkeiten und Naturvorgnge von ihrem Gedachtsein nichts

    ndern. Jedes Denken, das kategorielle Beziehungen, die erst im gesellschaftlichen

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    Sein als Selbstbestimmungen berhaupt entstehen knnen, in die Natur projiziert,

    begeht, im ontologischen Sinne, eine Verflschung des Seins, produziert einen

    Mythos (der seine geistige Heimat gleichfalls nur im gesellschaftlichen Sein

    haben kann), keine objektive Erkenntnis der Natur. Dasselbe bezieht sich,

    mutatis mutandis, auch auf das gesellschaftliche Sein als Sein.

    213

    Unsere bisherigen Darlegungen

    haben bereits gezeigt, da es sich dabei sachlich in erster Reihe um die

    berwindung des hartnckigsten Scheins in unserer Welt handelt, um die der

    Dinghaftigkeit der Gegenstnde als bestimmende Urform ihrer Gegenstndlichkeit.

    In seiner konkreten wissenschaftlichen Praxis hat Marx diesen Vorstellungskomplexber das Sein immer bekmpft, er hat immer wieder gezeigt, wie

    vieles, was wir gewohnt sind, als dinghaft aufzufassen, sich richtig erfat, als

    Proze erweist. In unserer Naturerkenntnis kam diese Betrachtungsweise zum

    endgltigen Durchbruch, als Planck und die Fortfhrer seiner Lehre die theoretische

    Hochburg der Dinghaftigkeit, das Atom in unbezweifelbarer Weise als

    Proze zu begreifen imstande waren. Im Lichte dieser Wendung zeigte sich, wenn

    auch noch lange nicht allgemein anerkannt, da die berwltigende Mehrzahl

    dessen, was in der Naturerkenntnis wissenschaftlich erfat wird, nicht mehr einen

    Dingcharakter der Gegenstnde zur Grundlage hat, welcher durch polar andersgesetzte Krfte in Bewegung gesetzt wurde, da es vielmehr berall dort, wo

    wir die Natur bereits gedanklich angemessen zu erfassen anfangen, das Grundphnomen:

    irreversible Prozesse von prozessierenden Komplexen sind. Vom

    Inneren des Atoms reicht diese Gegenstndlichkeits- und zugleich Bewegungsform

    bis an die Astronomie hinauf: Komplexe, deren Bestandteile zumeist

    gleichfalls Komplexe sind, bilden in Wahrheit jene Gegenstndlichkeit, die Marxseinerzeit meinte. Und was sind dann irreversible Prozesse anderes als Geschichtsablufe,

    ganz abgesehen davon, ob ihre Irreversibilitt von einem Bewutseinerfat und unter Umstnden sogar partiell beeinflut wird; allerdings

    ohne damit die allgemeine Irreversibilitt aufheben zu knnen. In diesem Sinne

    kann man sagen, da die letzten Etappen der Ausdehnung und Vertiefung der

    Weltkenntnis die Feststellung des jungen Marxes von der kosmischen Universalitt

    der Geschichtlichkeit (gleich: Irreversibilitt der Prozesse) besttigt haben.

    213-214

    Diese nunmehr gerechtfertigte Universalitt der Marxschen Weltkonzeptionbringt eine hchst wichtige Akzentverschiebung im Verhltnis von Gesellschaft

    und Natur mit sich. Vielfach noch in der Engelsschen Darstellung und noch mehr

    in denen, die auf sie folgten, schien es sich vor allem darum zu handeln, da es vor

    allem eine einheitliche dialektische Methode gbe, die auf Natur und Gesellschaft

    mit gleicher Berechtigung angewendet werden knnte. Nach der echten Konzeption

    von Marx handelt es sich dagegen um einen letzthin, aber nur letzthin

    einheitlichen historischen Proze, der sich schon in der anorganischen Natur als

    irreversibler Proze des Wandels zeigt, von greren Komplexen (wie Sonnensysteme

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    und noch viel grere Einheiten) ber die historische Entwicklung der

    einzelnen Planeten bis hinunter zu abn prozessierenden Atomen und deren

    Bestandteilen, wobei weder nach oben noch nach unten feststellbare Grenzen

    vorhanden sind. Infolge jener gnstigen Zuflle, die auf der Erde das organische

    Leben mglich gemacht haben, entstand eine neue Form des Seins, dessen

    Anfangsbedingungenwir bereits zu ahnen anfangen, dessen Geschichte seit Darwin

    immer nher bekannt wurde. Eine Reihe anders gearteter Zuflle hat das

    Herauswachsen des gesellschaftlichen Seins aus der organischen Natur ermglicht.

    Wenn wir also, mit Marx, die Geschichte unserer eigenen gesellschaftlichen

    Seinsweise als irreversiblen Proze zu verstehen bestrebt sind, erscheint alles, was

    man Dialektik in derNatur zu nennen pflegt, als dessen Vorgeschichte. Dabei soll diegedoppelte Betonung der Zuflligkeit imbergangvon einer Seinsform indieandere

    vor allem darauf hinweisen, da in diesem historischen Entwicklungsproze, in

    diesen bergngen ebenso wenig von teleologischen Krften die Rede sein kann,

    wie innerhalb der einzelnen irreversiblen Prozesse je einer bestimmten Seinsform.

    Vorgeschichte bedeutet also blo soviel (dieses blo umfat allerdings eine

    grenzenlose Vielfalt von realen Bestimmungen), da sich eine kompliziertere

    Seinsform nur aus einer einfacheren, nur auf ihr als Grundlage fuend entwickeln

    kann.

    228-229

    Die neue Konzeption der Geschichtlichkeit als oberste

    dynamisch zentrale ontologische Kategorie eines jeden Seins und darum auch,

    sogar vor allem des gesellschaftlichen Seins, ist heute noch weit entfernt davon,

    selbst die Seinsanschauungen der sich zum Marxismus Bekennenden gedanklichzu beherrschen.

    231-237

    Das Citoyenideal der groen Revolutionen,

    vor allem der franzsischen, die sich weitgehend von den religisen und naturbehafteten

    Bestandteilen sozial gereinigt haben, ist freilich in einem seinsmig

    realen Sinn nur im revolutionren bergang, in den revolutionren Zerstrungsbestrebungen

    gegenber dem Feudalismus, weniger im gesellschaftlichen Sein der

    kapitalistischen Gesellschaft selbst fundiert. Marx, der in seinen historischen

    Schriften ber die revolutionren Krisen von 1848 diese Lage mit allen ihren;Folgen eingehend analysiert, sagt ber den groen Citoyenaufschwung der

    groen Revolution ab 1789: Aber unheroisch, wie die brgerliche Gesellschaft

    ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des

    Brgerkriegs und der Vlkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen. Daher der

    Rckgriff auf die Ideologien des seinsmig davon radikal verschiedenen antiken

    Citoyentums. Die revolutionren Ideologien fanden darin die Ideale und die

    Kunstformen, die Selbsttuschungen, deren sie bedurften, um den brgerlich

    beschrnkten Inhalt ihrer Kmpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    auf der Hhe der groen geschichtlichen Tragdie zu halten.' 25

    Marx hat bereits in den vierziger Jahren klar gesehen, da es sich hier um etwas

    grundlegend Neues handelt, wodurch die kapitalistische Gesellschaft fr die reale

    232 Neustellung der Probleme des menschlichen Gattungslebens wirksam wird. In

    der Judenfrage heit es: Der vollendete politische Staat ist seinem Wesen nachdas Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben.

    Wir haben frher in anderen Zusammenhngen die Entwicklung geschildert, in

    der die Menschen infolge des Aufhrens der stummen Gattungsmigkeit (als

    gesellschaftliche Kmpfe um das Artikuliertwerden der neuen Sprache) sich

    annherten. Der hier von Marx aufgezeigte Gegensatz ist eine neue, wichtige

    Etappe dieses Weges. Die dabei entstehenden Widersprche bringen diesenGegensatz, der bis zur schroffen Spaltung der Verhaltensweisen des Menschen zu

    seiner gesellschaftlichen Umwelt fhrt, aktiv und real ans Tageslicht. Marx sagt:

    Alle Voraussetzungen dieses egoistischen Lebens bleiben auerhalb der

    Staatssphre in der brgerlichen Gesellschaft bestehen, aber als Eigenschaften

    der brgerlichen Gesellschaft. Wo der politische Staat seine wahre

    Ausbildung erreicht hat, fhrt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewutsein,

    sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches

    und ein irdisches Leben, das Leben in politischen G emeinw esen, worin

    er sich als Gemeinwesen gilt, das Leben,in der brgerlichen Gesellschaft,worin er als P r i vatm ens c h ttig ist, die anderen Menschen als Mittel

    betrachtet, sich selbst zu Mittel herabwrdigt und zum Spielball fremder Mchte

    wird. Der politische Staat verhlt sich ebenso spiritualistisch zur brgerlichen

    Gesellschaft wie der Himmel zur Erde. 1' Die Anspielung auf die Analogie mit

    der Religion ist ideologienkritisch berechtigt. Die Rolle, die Jesus von Nazareth

    im entfalteten Feudalismus spielt, ist der von Robespierre und St. Juste in 1848 inmancher Hinsicht verwandt, obwohl die reiner entwickelte Gesellschaftlichkeit

    im Kapitalismus zugleich so bedeutsame Kontraste geschaffen hat, da diesegeeignet sind, die hnlichkeiten zu verdecken. Die revolutionren Gesetzgeber

    der groen Wende am Ende des 18. Jahrhunderts haben deshalb im Widerspruch

    zu ihren allgemein theoretischen Idealen, aber im Einklang mit dem gesellschaftlichen

    Sein des Kapitalismus seinsmig folgerichtig gehandelt, wenn sie in ihren

    Konstitutionen den idealistischen Vertreter der Gattungsmigkeit, den Citoyen,

    dem den Materialismus dieser Gesellschaft reprsentierenden Bourgeois untergeordnet

    haben. Diese Bewertung des Seinsgewichts hat auch spter die gesamte

    kapitalistische Entwicklung beherrscht. Je energischer sich die Produktion entwickelte,desto mehr wurde der Citoyen und sein Idealismus zum dirigierten

    Bestandteil der universell-materiellen Herrschaft des Kapitals. Natrlich ging das

    nicht ohne Fraktionskmpfe vor sich. Der Wettstreit von Liberalismus (Anerken-

    233 -nung und Durchsetzung dieser materiellen Suprematie) und Demokratie (Versuch

    der Anknpfung an die Traditionen der groen Revolutionen) mute aber der

    konomischen Entwicklung des kapitalistischen Seins entsprechend mit dem Sieg

    des ersteren, mit der Verwandlung aller einst antifeudal intentionierten Reformen

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    (allgemeines Wahlrecht, Pressefreiheit etc.) in Instrumente der unbeschrnkten

    Herrschaft des Kapitals enden. Diese Beschaffenheit des Kapitalismus mute eine

    universelle Entfremdung des Menschen mit sich fhren. Wir haben bei Behandlung

    dieser Frage hervorgehoben, da auch die Entfremdung eine universelle werden

    mute, nur mit entgegengesetzten Gefhlsbetonungen, je nach Klassenlage.

    Wie seinerzeit ebenfalls hervorgehoben wurde, gewinnt auch die Entfremdungimmer reiner gesellschaftliche Zge. Da sie in der Kapitalistenklasse, je reiner

    sich ihre konomie entfaltet hat, eine ununterbrochene Steigerung erfahren mu,

    versteht sich von selbst; je energischer sich die auf smtliche Momente der

    Lebensfhrung ausdehnende Herrschaft des materialistischen Bourgeois ber den

    Citoyenidealismus durchsetzt, desto mehr. Aber auch auf der Gegenseite mute

    der Kampf gegen die Entfremdung wesentliche nderungen durchmachen. Auchderen Inhalte und Formen sind von der konomischen Entwicklung des Kapitalismus

    bedingt. Marx hat diesen historischen Proze genau verfolgt. Er hat gezeigt,

    wie aus den grausamen Weisen der ursprnglichen Akkumulation die kapitalistische

    Ordnung der konomie erstand. Er schliet seine genaue historische

    Darstellung mit der ironischen Charakteristik des daraus entwachsenden Normalzustandes:

    Fr den gewhlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den

    >Naturgesetzen der Produktion< berlassen bleiben. 127 Diese normale Entwicklung

    enthielt aber in den Formen der Ausbeutung und dadurch vermittelt in der

    allgemeinen menschlichen Entfremdung genug Elemente, um auf der Seite derAusgebeuteten mehr oder weniger bewute revolutionre Gegenkrfte auszulsen,

    die sich eben in den Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts, wie allgemein

    bekannt, auch gezeigt haben. Schon bei dem jungen Marx ist es klar ersichtlich,

    wie die lange Arbeitszeit, der unmenschlich niedrige Arbeitslohn Lagen schaffen,

    aus denen nur die radikale Revolution einen Ausweg zu zeigen vermag. Ihre

    grndliche Fundiertheit im unmittelbar konomisch bestimmten Sein zeigtdeshalb die Richtung fr die Bewegung auf: wie aus dem Kampf um ein materiell

    einigermaen menschenwrdiges Leben die totale Umwlzung der gesamtenGesellschaft organisch herauswachsen kann. Zweifellos war dies die materielle

    wie ideologische Grundlage, die die revolutionre Arbeiterbewegung in der Mitte

    und zweiten Hlfte des vorigen Jahrhunderts ideologisch bestimmte.

    234 Marx selbst jedoch hat noch eine wesentliche nderung im konomischen,

    seinshaft entscheidenden Aufbau und Bewegungsrichtung der kapitalistischen

    konomie festzustellen vermocht. Wir meinen den bergang der ausschlaggebenden

    Ausbeutungsform vom absoluten Mehrwert, dessen Genesis in derAnalyse des Abschlusses der ursprnglichen Akkumulation dargelegt wurde, zu

    der mit der Vermittlung des relativen Mehrwerts. Sein Wesen wird von Marx

    zugleich konzentriert und das Wesen betonend so beschrieben: da im Gegensatz

    zum absoluten Mehrwert nicht die Arbeitszeit verlngert werden mu, damit es

    zur Erhhung des Mehrwerts komme, sondern die zur Selbstreproduktion des

    Arbeiters notwendige Arbeit mu verkrzt werden, durch Methoden, vermittels

    deren das quivalent des Arbeitslohns in weniger Zeit produziert wird. Statt also

    die Arbeitszeit zu erhhen, werden die technischen Prozesse der Arbeit und die

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    gesellschaftlichen Gruppierungen durch und durch revolutioniert. Das bringt eine

    neue Periode der kapitalistischen Produktion hervor: An die Stelle der formellen

    tritt die reale Subsumtion der Arbeit unter das Kapital.

    Da damit natrlich

    den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend die Gesellschaftlichkeit der

    gesellschaftlichen Reproduktion der Menschen gesteigert wird, ist evident. Eswird zugleich klar, da die Unmittelbarkeit des revolutionren Reagierens auf die

    kapitalistische Ausbeutung dadurch gleichfalls eine Abschwchung erfhrt. Dieser

    Wandel als Wirkung der Kategoriennderung im Proze der Ausbeutung

    spiegelt sich auch in den verschiedenen revisionistischen Bewegungen, denen

    entsprechend die revolutionre Umwlzung der Gesellschaft keinen organischen

    Bestandteil des Marxismus bildet, sondern eine fremde (nach Bernstein: bloblanquistische, d. h. citoyenhafte) Zutat. Die Versuche der Widerlegung des

    Revisionismus bei Bewahrung der alten konomischen Begrndungen endeten in

    einen Eklektizismus, der dem Walten der Revolution im Marxismus einen

    idealistisch-utopischen, beliebig manipulierbaren, darum praktisch ohnmchtigen

    Citoyen -Charakter verlieh.

    Die bedeutende theoretische Tat Lenins ist die Auflehnung gegen dieses, am

    gesellschaftlichen Sein des Proletariats, seiner Ausbeutung und Entfremdung

    achtlos vorbeigehende falsche Dilemma. Sie enthlt aber noch nicht eine neue,

    vertiefte Analyse der nderung der konomischen Seinslage selbst. Wenn Lenindiese spter in der konomie des Imperialismus zu finden meinte, so wies er,

    ebenso wie gleichzeitig Rosa Luxemburg, mit groem Recht auf eine der

    wichtigsten Erscheinungsweisen der konomisch genderten Lage; beide erreichen

    jedoch in ihrer kritischen Analyse die konomischen Fundamentalkatego-

    235 rien nicht. Rosa Luxemburg kontrastiert die spontan-revolutionre Praxis desProletariats mit seinem opportunistischen Dirigiertsein bei einem normal funktionierenden

    Kapitalismus und landet damit bei der Konzeption eines spontanautomatischen,notwendigen Inerscheinungtreten des subjektiven Faktors in

    objektiv revolutionren, aber zumindest auch auf revolutionre Mglichkeiten

    intendierenden Lagen. Diesem gegenber ist die Analyse Lenins kritischer. Am

    Vorabend der Oktoberrevolution, gegen Sinowjew polemisierend, zeigt er, da

    auch spontan-vehemente Auflehnungen des subjektiven Faktors gegen das bestehende

    kapitalistische System einen Alternativcharakter haben mssen, also spontan

    sogar ins direkt Reaktionre umschlagen knnen.' Diese berechtigte Kritik

    ist bei ihm mit einer richtigen, tiefgreifenden Analyse der allgemeinen Handlungsmglichkeitender Menschen im Kapitalismus verknpft, mit der Erkenntnis, da

    die blo spontane Auflehnung der (partikular bleibenden) Menschen, auch wenn

    sie Massen erfat, den Rahmen des Kapitalismus keineswegs notwendig-spontan

    sprengt. Wenn er in Was tun ? die von ihm tradeunionistisch genannte

    Spontaneitt mit dem individuellen Terror der Sozialrevolutionre auf eine Stufe

    stellt, ' ist seine Ideologienkritik weitgehend auch fr gegenwrtige Aktionen

    einer reinen Spontanitt gltig. Der Ausweg aus diesem Steckenbleiben in der

    bloen Spontanitt, die die normale Handlungsweise der partikularen Menschen

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    charakterisiert, sucht Lenin, ebenfalls mit Recht, in ihrer ideologischen berwindung,

    die darauf basiert ist, da die berwindung der Partikularitt mit allen ihren

    aktionsmigen und theoretischen Folgen nur ein Bewutsein sein kann, das an

    den Menschen von auen herangefhrt wird, ein politisches Klassenbewutsein.

    Er beschreibt das so Entstehende folgendermaen: Das politische Klassenbewutsein

    kann dem Arbeiter nur von auen beigebracht werden, d. h. auerhalbdes konomischen Kampfes, auerhalb der Sphre der Beziehungen zwischen

    Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen

    geschpft werden kann, ist das Gebiet der Beziehungen aller Klassen und

    Schichten zu dem Staate und der Regierung, das Gebiet der Wechselbeziehungen

    zwischen smtlichen Klassen. 13' Damit ist ein hchst wichtiger Schritt zur

    berwindung der falschen Verwissenschaftlichung des Marxismus dieser Zeitgetan. Fr Marx selbst war die konomie immer die materielle Grundlage fr die

    entscheidenden (kategoriellen) Formen des menschlichen Lebens, fr ihre historische

    Entwicklung, deren allgemeinster Ausdruck sich als die jeweilige Entfaltung

    236 der nicht mehr stummen Gattungsmigkeit real konkretisiert. Indem seine

    Nachfolger aus dieser universellen Basis des menschlichen Seins eine davon

    isolierte Einzelwissenschaft gemacht haben, konnten sie in ihren partiellen

    Zusammenhngen nur Beziehungen auf die Aktivitten der blo partikularen

    Menschen entdecken, so da selbst deren totalste Synthese nicht ber diesePartikularitt hinauszuweisen vermochte. Indem nur in einer auf dieser

    Grundlage konsequenten Weise jede nicht strikt konomische uerung des

    Menschenlebens dieser knstlich isolierten konomie als davon mechanisch

    abhngiger (oder idealistisch verselbstndigter) berbau gegenberstand, mute

    die konomie selbst jede innere Gebundenheit an die menschliche Gattungsmigkeit

    und ihre geschichtliche Bewegungsweise verlieren, einerlei, ob die einzelwissenschaftliche Beziehung von Basis und berbau idealistisch geltend oder

    mechanisch-materialistisch gesetzmig formuliert wurde. Lenins Lehre vomnicht mehr spontanen, von auen herangebrachten Klassenbewutsein des

    Proletariats ist also der einzige groe theoretische Vorsto zu einer Erneuerung

    des Marxismus, zur Herstellung ihrer echten, auf das Sein begrndeten Totalitt

    und weltgeschichtlichen Bewegtheit.

    Die einzige wichtige damals nicht sichtbar gewordene und darum falsch

    kritisierte Schwche dieser grozgigen, Marx wirklich der Gegenwart revolutionr

    entgegenbringenden Konzeption Lenins ist, da sie sich zu ausschlielich,

    zu unbedingt auf die Umwlzung der Ideologie konzentriert und diese darumnicht konkret genug an die Vernderung des umzuwlzenden Objekts, der

    kapitalistischen konomie orientiert. Es darf freilich dabei auch nicht verschwiegen

    werden, da Marx selbst aus der von uns zuletzt angefhrten, von ihm selbst

    als grundlegend betrachteten nderung der kapitalistischen konomie infolge

    der Tendenz zur Vorherrschaft des relativen Mehrwerts in der Ausbeutung der

    Arbeiter nie ausgesprochene Konsequenzen fr die revolutionre Bewegung

    gezogen hat.' Auch bei Lenin fehlt selbst eine Anspielung darauf, ob seine so

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    237 wichtige Unterscheidung zwischen tradeunionistischem und politischem

    Klassenbewutsein

    von einer nderung im gesellschaftlichen Sein des Kapitalismus

    hervorgerufen und auf diese speziell bezogen oder fr jedes Stadium der Entwicklung

    in gleicher Weise gltig wre. Es bleibt so bei einer bedeutsamen

    ideologischen Gegenberstellung zweier Verhaltungsarten. Das hat allerdings inder spteren Entwicklung verhngnisvolle Konsequenzen gehabt. Die ideologische

    Allgemeinheit schien nmlich fr Stalin und seine Anhnger die Mglichkeit

    zu bieten, ihre eigene politische Ideologie, die in allen einigermaen wichtigen

    Fragen der strikte Gegensatz der Leninschen gewesen ist, als deren angemessene

    Fortfhrung darzustellen. Dadurch wurde sie zum Instrument eines sozialistischbrokratisch

    manipulierten Citoyentums, worin die von Marx gefundene undvon Lenin konkretisierte berwindung des brgerlichen Dualismus sozialistisch

    formell vereinigt und gerade dadurch fr die Praxis der Gegenwart kompromittiert

    wurde. Soll sie erneuert werden, mu das von Lenin Versumte nachgeholt

    werden: das Aufzeigen jener konomischen Grundlagen, ihrer Entwicklungstendenzen,

    die es gestatten, hier und gerade hier endlich die berwindung der

    Bourgeois-Citoyen-Dualitt und darin vor allem die Herrschaft des rein partikularen

    Menschentums ber die auf eine neue, nicht mehr notwendig entfremdete

    Gattungsmigkeit orientierte zu verwirklichen.

    Es kann nicht oft genug wiederholt werden: das setzt eine weitgehende, wissenschaftlichgenaue Kenntnis der konomie jener Formationen voraus, in denen

    diese Tendenzen verwirklicht werden knnen und sollen. Die bisherigen Darlegungen

    jedoch haben uns, so wenigstens hofft es der Verfasser, in die Lage

    versetzt, etwas genauer ins Auge zu fassen, was dabei unter Wissenschaftlichkeit

    verstanden werden soll. Wenn wir auch in dieser Frage auf die Methode von Marx

    zurckgreifen, so zeigt sich dabei sogleich als eine ihrer bahnbrechendstenErgebnisse, da sie die bis dahin oft errichtete chinesische Wand zwischen

    Wissenschaft und Philosophie niedergerissen hat. Das bedeutete natrlich niemalsden Versuch, die Eigenart der beiden letzthin zusammengehrigen und doch in

    Zielsetzung und Methoden unmittelbar so verschiedenen, ja zuweilen sich bis zur

    Gegenstzlichkeit zuspitzenden Gebiete mechanisch zu homogenisieren. Es

    bedeutet im Gegenteil die Einsicht, da beide, in ihrer Verschiedenheit einander

    letzthin ergnzende theoretisch-praktischen Aktivitten des Menschengeschlechts

    werden mssen, um ihre echten Erkenntnisfunktionen in echter Weise

    erfllen zu knnen.

    238-239

    In den Einzelwissenschaften geht freilich im allgemeinen das

    Gefhl fr das wirkliche Sein, fr die echte Bewegtheit des jeweils untersuchten

    Gebiets verloren. uerliche, formelle Strukturformen wachsen zum Ersatz der

    wirklichen Daseinsweisen empor, und die gleichfalls unter solchem Einflu

    stehende, jedoch in entscheidenden Fragen von den Manipulationsinteressen des

    Kapitalismus geleitete Philosophie entfernt sich immer mehr von Anerkennung

  • 8/3/2019 AUSZUEGE Aus - Lukacs - Zur Ontologie Des Gesellschaftlichen Seins -- Erster Halbband

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    und Analyse des wirklichen Seins. Kant hat noch ein wenn auch unerkennbares

    An-sich-Sein anerkannt; im Neukantianismus und noch mehr im Positivismus

    und Neopositivismus ist das Hauptbestreben: das Sein berhaupt aus der

    Erkenntnissphre zu eliminieren. Diese Objektivitt ohne Seinsgrundlage von

    Wissenschaft und Philosophie ist gerade dazu geschaffen, um die menschlichen

    Aktivitten zu entideologisieren, d. h. zu bloen Objekten einer Manipulation(vermittels der universellen Allmacht der Informationen) zu verwandeln.

    247

    Will der Mensch der Steinzeit ein Beil herstellen, so

    mu er sich die Funktionen, die mglichen Formen etc. des Beils, bestimmteHandgriffe des Schleifens, etc. bewutmachen. Das ist ja gerade der Sprung aus

    der biologisch determinierten Seinssphre in die der Gesellschaftlichkeit. Daraus

    folgt jedoch bei weitem nicht, da die dabei fr eine solche Praxis unerlliche

    Bewutheit fr den Menschen dieser Entwicklungsstufe als solche ebenfalls

    bewut werden mte. Die konkreten Arbeitserfahrungen, die ja ebenfalls einen

    praktisch bewuten Charakter haben mssen, um funktionieren, um eventuell

    praktisch erweitert werden zu knnen, besitzen diese Bewutheit blo in bezug

    auf den konkreten Proze der Praxis selbst, nicht in bezug auf die Genesis und

    Beschaffenheit jenes Bewutseins, dessen konkret-praktische Erscheinungsweisensie de facto sind.

    249

    Da die Menschen der anfnglichen Entwicklungsstufen

    (und auch noch lange danach) auerstande waren, ihr eigenes

    gesellschaftliches Sein in seiner Genesis, in seiner Historizitt sich auch nurvorzustellen, d. h. da sie auerstande waren, die eigene Praxis und das daraus

    entstehende Bewutsein zur Grundlage ihres eigenen Weltbildes zu machen,mute die erste wichtige Form der menschlichen Entfremdung entstehen: die

    Menschen bertrugen Genesis, Wesen, Funktionen ihres eigenen Seins auf transzendente

    Mchte, deren Beschaffenheit sie, anfangs sehr simpel, spter gedanklich

    immer raffinierter aus Analogieschlssen ihres eigenen Daseins aufbauten. Aus der

    teleologischen Arbeit der Menschen entstand die Entfremdungsweise der von

    transzendenten Mchten geschaffenen Welt und in ihr des von ihnen geschaffenen

    Menschen selbst.'"

    250

    knnte man sagen: die Erkenntnistheorie lst die Theologie

    ab, d. h. statt den kategoriellen Aufbau der Wirklichkeit auf die schpferische

    Teleologie eines transzendenten, vollkommenen Wesens (oder auf mehrere,

    relativ vollkommenere) zurckzufhren, wird der im zunehmenden Mae als

    ungeschaffen, als unvernderlich-ewig vorgestellten Welt ein gleichfalls ohne

    Genesis vorgestelltes Denken gegenbergestellt.

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