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Authentische Forschergemeinschaften im elementaren naturwissenschaftlich–technischen Unterricht Eine Analyse nach aktivitätstheoretischem Paradigma Dr. phil. Charles M AX S EPTEMBER 2002

Authentische Forschergemeinschaften - dica-lab.orgdica-lab.org/files/2011/01/experimentieren_def.pdf · Angeführte englische Zitate werden in der Regel in der ... (Albert Einstein)

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A u t h e n t i s c h e F o r s c h e r g e m e i n s c h a f t e n

im elementaren naturwissenschaftlich–technischen Unterricht

Eine Analyse nach aktivitätstheoretischem Paradigma

D r . p h i l . C h a r l e s M A X

S E P T E M B E R 2 0 0 2

2

I n d e x

EINLEITENDE ÜBERLEGUNGEN ZUR GEGENWÄRTIGEN NATURWISSENSCHAFTLICHEN GRUNDBILDUNG ..............7 Aufbau naturwissenschaftlicher Kompetenz für alle .........................................................................................8 Der physikalisch–technische Unterricht in der Primarstufe ..........................................................................10 Der physikalisch–technische Unterricht an postprimaren Schulen ...............................................................11

Belegung der Studiengänge ...........................................................................................................................................15

Förderung der Mädchen im elementaren Chemie- Technik- und Physikunterricht ...................................................16

Praxisbezogene Lebensrelevanz ....................................................................................................................................18

Ist der luxemburgische Kontext naturwissenschaftsabweisend?....................................................................19 Dominanz der Sprachen ....................................................................................................................................20 Genese der Disziplinen und Gestaltung des Unterrichts ................................................................................22 Gestaltung einer Experimentierkartei für die luxemburgische Primarstufe..................................................26

Begründung für Karteiform ...........................................................................................................................................28

K A P I T E L 1 : KULTUR ALS KONTEXT FÜR ENTWICKLUNG .......................................................................29

A. Die Untrennbarkeit des individuellen und kulturellen Kontexts................................................................33 B. Emergenz und Ausformung der Entwicklung aus sozialen und kulturellen Praktiken heraus ................36

Mediationen mittels kultureller Artefakte ..............................................................................................................37

Die Soziogenese höherer mentaler Funktionen......................................................................................................41

Funktion der Sprache ...............................................................................................................................................42

Zone der nächsten Entwicklung ..............................................................................................................................48

C. Aktivität als Analyseeinheit für menschliche Entwicklung.........................................................................52 LEONTJEWs Modell menschlicher Aktivität ..................................................................................................................52

Der Ansatz der Aktivitätstheorie ...................................................................................................................................54

Aktivität als Erklärungsprinzip der Genese höherer mentaler Funktionen.................................................................61

Kontext, Situation, Aktivität, Praktiken ............................................................................................................63 Kontext und Situation.....................................................................................................................................................63

A. Kontext als Container .........................................................................................................................................66

B. Kontext als Umwelt, die unser Verhalten bestimmt .........................................................................................66

C. Kontext als dynamisches Konstrukt...................................................................................................................67

Aktivität und Praktiken ..................................................................................................................................................70

Wissen, Praktiken, Kontext ...............................................................................................................................73 Die kontextualisierte Natur des Wissens ......................................................................................................................75

Die funktionale Organisation unseres Wissens ............................................................................................................77

Verschiedene Formen des Wissen.................................................................................................................................77

explizites Wissen......................................................................................................................................................79

Implizites Wissen .....................................................................................................................................................82

Bildliches Wissen.....................................................................................................................................................86

Zusammenspiel der drei Wissenformen .................................................................................................................87

Bewusstsein als Emergenz.............................................................................................................................................89

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K A P I T E L 2 : ZUR DIALEKTIK DES INDIVIDUELLEN UND KULTURELLEN KONTEXTS...............................93 Kleine Menschen mit wunderbaren Theorien ..................................................................................................95 Befunde aus der kognitiven Entwicklungspsychologie....................................................................................97

Wissensgeleitetes Lernen im Säuglingsalter.................................................................................................................98

Angeboren oder erlernt?...............................................................................................................................................103

Unterschiede zwischen Lebewesen und unbelebten Objekten ..................................................................................112

Kausalzusammenhänge ................................................................................................................................................115

Kausales Denken im Säuglingsalter......................................................................................................................117

Kausales Denken der Vorschulkinder...................................................................................................................118

Die Bedeutung bereichsspezifischen Wissens............................................................................................................119

Zusammenfassung: Veränderung kindlicher Vorstellungen: Anreicherung oder Umstrukturierung? ...................121

Defizite im Bereich höherer mentaler Funktionen ....................................................................................... 123 Einsicht in den Prozess des Wissenserwerbs: eine wesentliche Bedingung?...........................................................123

Die naiv-realistische Epistemologie der Kinder .........................................................................................................125

Theoriefähigkeit der Kleinkinder ................................................................................................................................127

K A P I T E L 3 : MEDIATIONEN DURCH KULTURELLE MODI DER WISSENSREPRÄSENTATION.................. 131

Die Dialektik zwischen mentalen und kulturellen Repräsentationen .......................................................... 131 Das Universum der Zeichen........................................................................................................................... 135

Indexikalität ('indexicality') und ihre Bedeutung für den Wissenserwerb ................................................................141

Interdependenz von Wissen und Medien der Repräsentation ...................................................................... 145 Wissen auf dem Bildschirm: Objektivierung von Imagination .................................................................................149

Wissen online: Vernetzte Intelligenz ..........................................................................................................................154

Das Bild und seine Zeichen............................................................................................................................ 155 Mediationen im Bereich des Sachunterrichts ............................................................................................... 157

Mediationen im außerschulischen Bereich .................................................................................................................158

Mediationen mittels bereichsspezifischer Zeichen, Ikonen, Symbole und Begriffe ................................................162

A. Ikonen ................................................................................................................................................................163

B. Symbole und Konventionen .............................................................................................................................163

C. Grafiken, Diagramme, Tabellen, Visualisierungs-Instrumente......................................................................166

D. Modelle ..............................................................................................................................................................170

E. Standardisierte Zeichensysteme .......................................................................................................................171

F. Fachspezifische Termini ...................................................................................................................................172

Etymologische Abstammung bestimmter wissenschaftlicher Termini.....................................................................178

Repräsentationsmodi und spontane Konzepte der Kinder zum Strom ........................................................ 178 Zusammenfassung ........................................................................................................................................................184

K A P I T E L 4 : BEGRIFFE ALS WERKZEUGE DER GEISTIGEN TÄTIGKEIT.................................................. 185

Liegt die Bedeutung in den Dingen? ............................................................................................................. 187 Sprache und Verstehen................................................................................................................................... 191 Begriffe aus der Sicht der Kognitionspsychologie ....................................................................................... 193

Eigenschaftsbegriffe .....................................................................................................................................................195

Kritische Attribute..................................................................................................................................................195

Typische Vertreter..................................................................................................................................................197

4

Aussagekräftige Exemplare...................................................................................................................................198

Erklärungsbegriffe ........................................................................................................................................................200

Implizite Begriffsbildung ................................................................................................................................ 201 Subjektivität der Begriffsbildung ................................................................................................................................203

Externale Wissensressourcen und internale Begriffsbildung ...................................................................... 204 Charakteristika externer Repräsentationen .................................................................................................................206

Rolle der externen Repräsentationen für das konzeptuelle Lernen ...........................................................................207

Die Dynamik der Begriffsbildung.................................................................................................................. 208 Begriffsbildung als drei Dialoge..................................................................................................................................209

Kulturelle Modelle........................................................................................................................................................213

Neue Diskurse erstellen................................................................................................................................................214

Begriffserweiterung als situierte Aktivität..................................................................................................................215

K A P I T E L 5 : MENTALE MODELLE ALS WERKZEUGE GEISTIGER TÄTIGKEIT........................................ 217

Mentale Modelle als subjektive Wirklichkeitskonstruktionen...................................................................... 219 Mentale Modelle sind dynamische Konstruktionen...................................................................................... 221 Modellierungen und Denkweisen am Beispiel des elektrischen Stromes.................................................... 223 Konstruktion einer partikularisierten Repräsentation eine Situation ......................................................... 228 Zusammenspiel der Komponenten im Rahmen mentaler Modelle .............................................................. 230

K A P I T E L 6 : ANALOGIEN UND METAPHERN ALS WERKZEUGE FÜR DAS VERSTEHEN ......................... 236

Analogien ........................................................................................................................................................ 237 Der Rückgriff auf die Analogie beim Ausarbeiten von Vorgehensprozeduren........................................... 239 Metaphern ....................................................................................................................................................... 243 Erlernen wissenschaftlicher Konzepte mittels Analogien und Metaphern ................................................. 244 Bewusster Einsatz innerhalb des Unterrichts ............................................................................................... 245

Folgerungen für die Unterrichtspraxis ........................................................................................................................249

K A P I T E L 7 : LERNEN ALS ENKULTURATION IN PRAKTIKERGEMEINSCHAFTEN.................................... 251

Praktikergemeinschaften................................................................................................................................ 252 Lernen in Gemeinschaften ............................................................................................................................. 254 Authentische Aktivitäten ................................................................................................................................. 255

Authentizität statt Ersatzaktivitäten.............................................................................................................................256

Unterricht als Aktivitätssystem ...................................................................................................................................258

Unterschiede zwischen Schule und Alltagssettings ...................................................................................................261

Wissensbildung im Kontext ............................................................................................................................ 266 Wissen dekontextualisieren und rekontextualisieren .................................................................................................266

Soziale Aneignung von Wissen ............................................................................................................................269

Transaktive Diskussionen............................................................................................................................... 272 Zum funktionalen Dualismus von Texten ...................................................................................................... 274 Kinder als Verantwortliche ihres eigenen Lernprojekts .............................................................................. 275 Reflektieren im Kontext .................................................................................................................................. 277

Reflektieren in der Unterrichtspraxis ..........................................................................................................................278

Authentisches Arbeiten mit der Experimentierkartei ................................................................................... 281

5

Beschreibung der Phasen des Ablaufs und der Schüleraktivitäten ...........................................................................281

Einsatzmöglichkeiten der Kartei .................................................................................................................................283

a. vom Lehrer gelenkte Vorgehensweisen............................................................................................................283

b. von den Schülern gesteuerte Vorgehensweisen ...............................................................................................284

Auswertungsmöglichkeiten der Versuchsreihe ............................................................................................. 289 A. Artikulationsmöglichkeiten der Schüler: ...............................................................................................................289

B. vielfältige Interventionsmöglichkeiten für den Lehrer: ........................................................................................291

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN:....................................................................................................................... 294 BIBLIOGRAPHIE: .................................................................................................................................................... 297

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VORBEMERKUNG

Die vorliegende Arbeit basiert zum größten Teil auf angelsächsischer Referenzliteratur. Angeführte englische Zitate werden in der Regel in der Originalversion im laufenden Text abgedruckt. Hervorhebungen im Originaltext werden dabei übernommen und auch entsprechend gekennzeichnet. Werden polysemantische Begriffe, deren spezifische Bedeutung nicht eindeutig aus dem originalen Verwendungskontext hervorgeht, in den laufenden Text integriert bzw. auf Deutsch übersetzt, so wird der Originalausdruck zusätzlich in Klammern ('...') angeführt. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit des Textes verzichten wir auf eine sprachliche Unterscheidung zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts durch Doppelnennungen. Genauso problematisch erscheint uns die Variante mit dem großen I, zumal dies in Zusammensetzungen und in der grammatikalischen Kongruenz schwierig wird. Bei Nennungen im Sinne von Berufs- oder Schülerbezeichnungen schließt die maskuline Sprachform Frauen bzw. Mädchen mit ein.

Authentische Forschergemeinschaften 7

EINLEITENDE ÜBERLEGUNGEN ZUR GEGENWÄRTIGEN NATURWISSENSCHAFTLICHEN GRUNDBILDUNG

„Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“ (Albert Einstein)

Der Aussage "Wir brauchen ein leistungsfähiges und qualitativ hochwertiges Bildungssystem" wird wohl jeder vorbehaltlos zustimmen. Luxemburg hat sich bislang eine leistungsfähige Allgemeinbildung eher selbst zugeschrieben und dies an unscharfen, wenig validen Kriterien festgemacht, als dass ihm diese Qualität durch internationale Vergleiche bescheinigt bzw. zugesprochen wurde. Bis zur PISA-Studie im Jahre 2000 hatte sich Luxemburg jedenfalls keinem größeren internationalen Vergleich in Bildungsfragen gestellt. Die Lesekompetenzen unserer Schüler im internationalen Vergleich sorgten dabei für Ernüchterung gerade in einem Bereich, wo wir uns aufgrund des intensiven Sprachunterrichts in unseren Schulen sowie unserer multi-lingualen Situation im Vergleich zu anderen europäischen Staaten im Vorteil wähnten, ja sogar überlegen einschätzten. Das schlechte Abschneiden unser Schüler bei der PISA-Studie 2000 ist umso bedenklicher, da hier untersucht wurde, wie wirksam die heranwachsende Generation auf die Herausforderungen der heutigen Wissensgesellschaft vorbereitet wird. Schaut man sich allerdings im Vergleich zum Sprachunterricht die derzeitige naturwissenschaftliche Ausbildung im luxemburgischen Schulsystem an, dann deutet alles darauf hin, dass die Leistungsfähigkeit unsere Schüler anlässlich der beiden nächsten PISA-Studien, wenn die Basiskompetenzen im Bearbeiten mathematik- bzw. wissenschaftsspezifischer Problemstellungen gemessen werden, noch geringer eingeschätzt wird. Eine solche Ernüchterung angesichts überhöhter Selbsteinschätzung in der naturwissenschaftlichen und mathematischen Grundbildung haben verschiedene europäische Nachbarländer bereits hinter sich wie etwa Deutschland, das sich 1994 erstmals an der TIMMS-Studie beteiligte. Der naturwissenschaftliche Unterricht ist im Gefolge der schlechten Ergebnisse verstärkt ins Visier der Kritik geraten. Dabei zeigte gerade die Folgestudie TIMMS III, an der nahezu sämtliche europäische Staaten, andere führende Industrienationen und sogenannte Schwellenländer weltweit teilnahmen, dass gerade Staaten, deren naturwissenschaftlich–technische Bildung noch vor Jahren mitleidig belächelt wurde, inzwischen längst an alteingesessenen europäischen Ländern vorbeigezogen sind. Mussten z.B. die Kinder der indischen Elite früher noch an teuren amerikanischen Universitäten studieren, verfügen sie jetzt im eigenen Land über hervorragenden Lehrinstitute, die an der Entwicklung technologischen 'Knowhows' weltweit mitbeteiligt sind. Europäische Länder greifen unlängst gerne auf entsprechende hochqualifizierte Arbeitskräfte zurück, wenn es darum geht, ihren Nimbus einer hoch-technologisierten Industrienation

Authentische Forschergemeinschaften 8

zu bewahren sowie ihre Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft weiterhin aufrecht zu halten. Ein angemessenes Qualifizieren der heranwachsenden Generationen kann wegen unterlassener Reformen und rechtzeitiger Weichenstellungen innerhalb der nationalen Bildungssysteme im Hinblick auf die veränderten Erfordernisse im dritten Jahrtausend so schnell nicht erfolgen.

AUFBAU NATURWISSENSCHAFTLICHER KOMPETENZ FÜR ALLE Die generelle Bedeutung einer breiten naturwissenschaftlichen Bildung, als wesentlicher Bestandteil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung (vgl. KLAFKI, 1986), wird in Luxemburg zwar nicht angezweifelt, findet aber hierzulande kaum nennenswerte Beachtung. Bis in die 70er Jahre richtete sich das Augenmerk, ähnlich wie im Ausland, vor allem auf die Belegung naturwissenschaftlicher und technischer Studiengänge im klassischen Sekundarunterricht oder am Technologischen Institut. Die Vermittlung eines ersten naturwissenschaftlichen Grundlagenwissens basierte auf einer bestimmten Fachsystematik, die den Unterricht in den oberen Klassen der klassischen Sekundarstufe durchzog und auf die Propädeutik für ein weiterführendes Studium abzielte. Ende der 70er Jahre rückten ökonomische, soziale und vor allem ökologische Streitfragen die Naturwissenschaften als gesellschaftliche Kraft und als Wirtschaftsfaktor stärker ins Bewusstsein. Westliche Industrienationen entdeckten die naturwissenschaftliche Kompetenz (BAUMERT ET AL., 2001, S.193f.) als wesentliche Ressource, die nicht nur in einer engen Berufsdomäne unumgänglich ist, sondern auch im Alltag benötigt wird, um wirksam und verantwortlich zu handeln. Es entstanden Debatten über die Neuorientierung des naturwissenschaftlichen Unterrichts sowie die anzuvisierenden Qualifikationen, Fähigkeiten, Kompetenzen..., die in vielen Ländern zu neuen Curricula im naturwissenschaftlich–technischen Bereich führten (vgl. Übers. in ibid.) Diese veränderte Perspektive veranschaulichen BAUMERT ET AL. (2001) am Ansatz "Science for All" der American Association for the Advancement of Science (1989) aus, der auch heute noch in den englischsprachigen Ländern als Bezugsrahmen für Diskussionen über 'Scientific Literacy' sowie für die Ausarbeitung von Kompetenzanforderungen im Bereich der naturwissenschaftlichen Grundbildung dient. Er prägt zudem die aktuellen Bemühungen von Wissenschaftlern und Wissenschaftsorganisationen für ein 'Public Unterstanding of Science (and Humanities)' – ein Ansatz, der in Deutschland unter der Bezeichnung „Wissenschaft im Dialog“ läuft (vgl. BAUMERT ET AL., S.193). Bezogen auf die Schule mündet er in die Forderung, frühzeitig das Verständnis von und für Naturwissenschaften bei sämtlichen Schülern zu entwickeln. Auf dieser erweiterten Basis könnte dann auch die

Authentische Forschergemeinschaften 9

wichtige Nachwuchsförderung für den naturwissenschaftlich–technischen Bereich gewährleistet werden. Gerade die Naturwissenschaften und die mit ihnen verbundenen technischen Disziplinen haben sich zu wichtigen Eckpfeilern moderner Industrie- und 'Hightech'-Gesellschaften entwickelt. Ihnen fällt eine Schlüsselrolle für den technologischen und gesellschaftlichen Wandel sowie für die Sicherung der Lebensgrundlagen zu. Die naturwissenschaftliche Forschung und ihre Anwendungen schaffen die Grundlage für viele Innovationen, die oft weit über die eigentlichen Forschungsdomänen hinausgehen und sämtliche Lebensbereiche berühren. Der formale Aufbau von Basiskompetenzen im naturwissenschaftlich–technischen Bereich ist demnach von spezifischer und übergreifender Bedeutung. Einerseits soll die Entwicklung naturwissenschaftlich–technischer Kompetenz in Initial- und Weiterbildungen einen hoch qualifizierten Nachwuchs für die Industrie, die Forschungseinrichtungen und Universitäten, aber auch für den Fachunterricht an Schulen hervorbringen. Andererseits appellieren auch andere Arbeitsbereiche an ein naturwissenschaftliches Grundverständnis, die über diesen engen, spezifischen Anwendungsbereich hinausgehen. Erwähnen lassen sich das Ausführen spezifischer Arbeiten im Berufsalltag mittels modernster Technologie, der Anschluss an neue Entwicklungen und fortlaufende Veränderungen oder das Wahren der persönlichen Karrierechancen über ein ganzes Leben lang. Laut BAUMERT ET AL. gewinnt naturwissenschaftliche Kompetenz zunehmend an Bedeutung für die berufliche Qualifikation vieler Menschen (ibid., S.194). Die Naturwissenschaften tragen heute, stärker denn je, zur Vermehrung gesellschaftlichen Wissens bei, prägen aber auch durch ihre Vorgehensweisen den Umgang mit den ständig anwachsenden Datenbeständen. Die Genese naturwissenschaftlichen Wissens charakterisiert sich durch systematische und rationale Verfahren, mit denen Wissensbestände generiert, geprüft, verbreitet und diskutiert werden – ein Prozess, der in den letzten Jahrzehnten zunehmend schneller und vielschichtiger erfolgt. Dabei wird verstärkt auf den naturwissenschaftlichen Denkansatz zurückgegriffen, um auch in anderen Lebensbereichen Probleme zu lösen, sich Informationen zu erschließen oder Vermutungen kritisch zu prüfen. So nimmt naturwissenschaftliche Kompetenz gerade im Alltagsleben eine zunehmend wichtigere Rolle für das praktische Handeln in vielen Alltagssituationen ein. Man denke nur an die Handhabung technischer Geräte infolge der Technologisierung des Alltags, an den Gesundheitsbereich mit Ernährung, Hygiene, Krankheitsprophylaxe, an das Umweltbewusstsein oder unser Konsumverhalten...

Authentische Forschergemeinschaften 10

BAUMERT ET AL. verweisen u.a. noch auf die gesellschaftliche Dimension der naturwissenschaftlichen Kompetenz hin, die für die Beteiligung am Diskurs und an Entscheidungen über naturwissenschaftliche und technische Entwicklungen und ihre Anwendungen entscheidend ist. Dazu wird ein einschlägiges Grundwissen, ein Verständnis naturwissenschaftlicher Arbeitsweisen und das kritische Bewusstsein der Grenzen des naturwissenschaftlichen Denkens und Wissens vorausgesetzt (ibid, S.194).

DER PHYSIKALISCH–TECHNISCHE UNTERRICHT IN DER PRIMARSTUFE Im Rahmen der luxemburgische Primarstufe unterliegt die Ausbildung naturwissenschaftlich–technischer Lerninhalte dem 'éveil aux sciences'-Unterricht (Sachunterricht). Der gesamte Zeitaufwand für dieses Fach setzt sich bei 35 jährlichen Schulwochen wie folgt für die einzelnen Stufen zusammen:

Stufe Klasse Wochenstunden Total Technisch-physikalischer Bereich

Unterstufe

Mittelstufe

Oberstufe

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

4. Klasse

5. Klasse

6. Klasse

3

3

2

2

1

1

105

105

70

70

35

35

21

21

14

14

8

8

Gesamt 1 – 6 2 (im Durchschnitt) 420 Stunden 86 Stunden

Abbildung 1: Gesamtzeitaufwand für technisch–naturwissenschaftliche Lerninhalte in der luxemburgische Primarstufe

Der naturwissenschaftlich–technische Bereich macht bei 28 Wochenstunden gerade mal 1/14 der gesamten Unterrichtszeit aus. Wenn wir uns dann innerhalb dieses Bereichs dem technisch–physikalischen Teilaspekt präziser zuwenden, so stellen wir fest, dass dieser Erfahrungsbereich lediglich in den Klassen 1 – 4 angesiedelt ist, und dass lediglich 1/5 der 350 Gesamtstunden, sprich 70 Stunden, auf ihn entfallen. Das über die ersten vier Schuljahre spiralisch aufgebaute Curriculum dieses Erfahrungsbereichs sieht die in Abbildung 2 aufgelisteten Schwerpunkte und Unterrichtseinheiten vor. Zusätzlich zu den aufgeführten Themen ist der Einsatz einer Versuchs- und Experimentierkartei während circa 8 Jahresstunden pro Klasse vorgesehen. Im Bereich der Oberstufe (5. und 6. Klasse) entfällt der technische Erfahrungsbereich vollends. Physikalisch–technische Lerninhalte beschränken sich auf den Einsatz der Versuchskartei, die mit dem gleichen Zeitvolumen wie in den Klassen 1 bis 4 vorgesehen ist. Die anfallenden Stunden müssen dann

Authentische Forschergemeinschaften 11

allerdings von den verfügbaren 35 Jahresstunden des "sciences naturelles"-Unterricht abgezweigt werden. Die Gesamtstundenzahl im Bereich der Primarstufe für physikalisch–technische Lerninhalte beläuft sich demnach auf circa 86 Stunden. Klasse Schwerpunkte des Bereichs Unterrichtseinheiten Zeitaufwand

1. Schuljahr: Wie sammeln, untersuchen, probieren Woraus die Dinge sind 6 – 7 Stunden Wir betrachten Dinge unter der Lupe 4 – 7 Stunden Sammeln macht Spass Langzeitprojekt Wir stellen selbst etwas her Wir untersuchen und bauen Fahrzeuge 5 Stunden Wir erzeugen Töne 4 Stunden 2. Schuljahr Wir untersuchen Werkzeuge und Geräte Wir untersuchen Schneidewerkzeuge 4 Stunden Wir bauen technische Vorrichtungen Wir bauen einfache Hebevorrichtungen 4 Stunden 3. Schuljahr Entwicklung und Spezialisierung eines Der Hammer – ein Schlagwerkzeug 4 Stunden Werkzeugs Schreiben früher 4 Stunden 4. Schuljahr Wir untersuchen Werkzeuge und Geräte Das Fahrrad 4 Stunden

Abbildung 2: Übersicht über den technischen Erfahrungsbereich in den Klassen 1 bis 4 der luxemburgischen Grundschule.

In der Oberstufe bedingt zudem die vorgenommene Aufsplitterung des Sachunterrichts in drei getrennte Fächer, nämlich Geschichte, Geografie und "sciencs naturelles", mit ihren jeweiligen Curricula, dass die Unterrichtsthemen im Schulalltag noch stärker kompartmentalisiert werden als in den unteren Klassen der Primarschule. Das projektartige, vernetzte bzw. konstruktivistische Aufarbeiten eines Themas ist auf diese Weise meist nicht möglich. Zudem wird das Lernen bereits stärker durch disziplinärspezifische Vorgehensweisen geprägt, die sich z.B. erheblich von soziokulturellen bzw. soziokonstruktivistischen Lernansätzen abheben, wie wir sie für das Arbeiten mit der Versuchs- und Experimentierkartei erstellen wollen. Beim Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe spielen Basiskompetenzen im Bereich der Naturwissenschaften, entgegen anfänglich unternommener Bestrebungen und dem Erstellen eines provisorischen 'référentiel de compétences', keine weitere Rolle.

DER PHYSIKALISCH–TECHNISCHE UNTERRICHT AN POSTPRIMAREN SCHULEN Verfolgt man die Weiterführung der 'éveil aux sciences'–Philosophie im naturwissenschaftlichen Unterricht der postprimaren Schulen, so fällt einem sofort auf, dass Luxemburg über kein kohärentes Konzept im Bereich des naturwissenschaftlichen Unterrichts verfügt. Wie soll man sonst die Lücke erklären, die zwischen der 4. Klasse der Primarstufe und den Jahrgangsklassen der Sekundarstufe klafft. So kommen die Schüler des technischen Sekundarunterrichts zum erstenmal mit physikalisch–chemischen Lernthemen in

Authentische Forschergemeinschaften 12

der 8. Klasse, jene der weiterführenden klassischen Gymnasialstufe gar erst in der 11. Klasse (Tertia) in Kontakt. Ob Biologie, als vorerst einziges naturwissenschaftliches Fach ab der 7. Klasse des klassischen Sekundarstufe, eine Brücke zwischen den Erfahrungen und Handlungsformen der Kinder im Rahmen des Sachunterrichts und dem Chemie- und Physikunterricht schlagen kann, wagen wir zu bezweifeln. Dazu müssten alle naturwissenschaftlichen Schuldisziplinen eine gemeinsame Charta zum Lernen in den Naturwissenschaften mit Präzisierung der grundlegenden Lernformen, -methoden, -praktiken... erstellen. Davon sind wir in Luxemburg weit entfernt. Die erläuterte Diskontinuität wollen wir als „scientific gap" bezeichnen. In der Oberstufe der klassischen Sekundarstufe beträgt der Zeitaufwand für Physik und Chemie in den naturwissenschaftlichen Sektionen (B,C) ab dem Schuljahr 2002-2003: Klasse Fach Wochenstunden Total (35 Schulwochen) Total

Quarta 0 0 0

Tertia Physik

Chemie

2,5 Stunden

2,5 Stunden

87,5

87,5

Sekunda Physik

Chemie

4 Stunden

4 Stunden

140

140

Prima Physik

Chemie

4 Stunden

4 Stunden

140

140

Total Physik 367,5 Stunden

Total Chemie 367,5 Stunden

Abbildung 3: Zahl der Unterrichtsstunden in den Bereichen Physik und Chemie in der Oberstufe des klassischen Sekundarunterrichts (naturwissenschaftliche Sektionen B und C)

Die neue Studienordnung, die ab September 2002 in Kraft ist, sorgt im Vergleich zur alten Organisation dieses Zyklus für einen Zuwachs von insgesamt 17,5 Stunden.

Authentische Forschergemeinschaften 13

Im technischen Sekundarunterricht sieht die Verteilung in der Unterstufe wie folgt aus:

Klasse Fach Wochenstunden Total

7 0 0

8

(TE , PO)

Physik

Chemie

0,5

0,5

35

9

(TE, PO, PR)

Physik

Chemie

1

1

35

35

Total 105

Abbildung 4: Übersicht über die Zahl der Unterrichtsstunden in den Bereichen Physik und Chemie in der Unterstufe des technischen Sekundarunterrichts.

Im Teilbereich "enseignement technique général" der Oberstufe des technischen Sekundarunterrichts kommen dann noch hinzu:

Klasse Fach Wochenstunden Total Total

10 Physik

TP – Physik

Chemie

TP – Chemie

2

1

2

1

70

35

70

35

11 Physik

TP – Physik

Chemie

TP – Chemie

2

1

2

1

70

35

70

35

12 Physik

TP – Physik

Chemie

TP – Chemie

2

1

2

1

70

35

70

35

13 Physik

TP – Physik

Chemie

TP – Chemie

2

1

2

1

70

35

70

35

Total Physik: 420 Stunden

Total Chemie: 420 Stunden

Abbildung 5: Zahl der Unterrichtsstunden in den Bereichen Physik und Chemie in der Oberstufe des technischen Sekundarunterrichts ('enseignement technique général').

Authentische Forschergemeinschaften 14

Abbildung 6: Schülerzahlen und Erfolgsquoten in der Ausbildung der verschiedenen Technikerberufe auf der Oberstufe des technischen Sekundarunterrichts (MENFPS, 2002, S.82).

In der Ausbildung zum Techniker, Bereich Chemie, ist die Anzahl der Wochenstunden in den Sparten Chemie und Physik weitaus höher1. Allerdings ist der Schüleranteil in dieser Sparte am geringsten, die Misserfolgsquote mit 63,9 % dagegen am höchsten. Das "régime préparatoire" des technischen Sekundarunterrichts umfasst keine physikalisch–chemischen bzw. elementar technischen Lerninhalte mehr. Der Stundenplan weist lediglich naturwissenschaftlichen Unterricht aus. Inwieweit hier eventuell physikalisch–technische Lerninhalte integriert werden, entzieht sich unserer Kenntnis.

Klasse Fach Wochenstunden Total

7 mo Sciences naturelles 1 35

8 mo Sciences naturelles 2 70

9 mo Sciences naturelles 2 70

Total: 175

Abbildung 7: Zahl der naturwissenschaftlichen Unterrichtsstunden im 'régime préparatoire' des technischen Sekundarunterrichts.

Fasst man die gesamten Unterrichtsstunden für physikalisch–chemische und elementar technische Lerninhalte von der Primarstufe bis zum jeweiligen Schulabschluss, also über eine ganze Schullaufbahn, zusammen, so ergibt sich das nachfolgende Bild:

1 vgl. MEMORIAL, Amtsblatt der Großherzogtums Luxemburg, N°100, vom 29. August 2002, S.2059.

Authentische Forschergemeinschaften 15

klassisches Lyzeum

(B, C Sektionen)

Technisches Lyzeum

('enseignement général')

Régime préparatoire

Primarstufe 86 86 86

Unterstufe der jeweiligen Sekundarschule

0 105 0

Oberstufe der jeweiligen Sekundarschule

367,5 (Physik)

367,5 (Chemie)

420 (Physik)

420 (Chemie)

Total 821 1031 86

Abbildung 8: Unterrichtsstunden für physikalisch–chemische und elementar technische Lerninhalte von der Primarstufe bis zum jeweiligen Schulabschluss.

Diese Übersicht verdeutlicht u.a., in welch geringem Umfang Schüler mit naturwissenschaftlich–technischen Sachverhalten im Laufe ihrer obligatorischen Schulzeit in Kontakt kommen, die ja in der Regel mir dem unteren Zyklus der Sekundarschulen abschließt. Das Erfassen der naturwissenschaftlichen Basiskompetenzen im Rahmen der PISA III–Studie wird bekanntlich genau hier ansetzen.

Belegung der Studiengänge Betrachtet man die Schülerzahlen in den verschiedenen luxemburgischen Sekundarstufen so sieht es auf den ersten Blick nicht so aus, als ob Luxemburg, ähnlich wie andere europäische Länder, ein Adressatenproblem im Bereich der naturwissenschaftlichen Schulfächer Physik und Chemie bzw. technisch ausgerichteter Bildungszweige hätte. So wird z.B. die technische Sekundarstufe von mehr Schülern besucht (68,4 %) als die klassische (31,6%). Die Orientierung in diese Stufe erfolgt aber nur zum Teil aufgrund von Interessen an technischen Sachverhalten, sondern vorwiegend aufgrund mittelmäßiger Leistungen in Deutsch, Französisch und Mathematik.

Abbildung 9: Gesamtschülerzahlen des klassischen und technischen Lyzeums im Vergleich (MENFPS, 2002, S.41).

Authentische Forschergemeinschaften 16

Betrachtet man die Aufteilung der Schüler im bisherigen polyvalenten Zyklus der klassischen Gymnasialoberstufe (Quarta und Tertia), so sieht man, dass eine überwältigende Mehrheit der Schüler (80,3%) eine wissenschaftliche Orientierung einer literarischen vorzieht.

Abbildung 10: Aufteilung der Schüler in der Oberstufe der

klassischen Sekundarstufe

(MENFPS, 2002, S.49)

Betrachtet man aber die einzelnen Fachsektionen auf den Endklassen der klassischen Oberstufe (Sekunda und Prima), so umfassen die beiden literarischen Sektionen A1 und A2 mit zusammengefasst 32,8% der Gesamtpopulation fast genauso viele Schüler wie die beiden naturwissenschaftlich ausgelegten Sektionen B und C mit 33,8% der Schüler. Insgesamt muss man also feststellen, dass sich lediglich ein Drittel der Schüler im letzten Zyklus der klassischen Sekundarstufe mit naturwissenschaftlichen Fächern inklusive Mathematik intensiver auseinanderzusetzen gedenkt. Inwieweit Interesse bzw. intrinsische Motivation an den jeweiligen Bereichen diese Entscheidung tatsächlich beeinflusst, müsste in einer Untersuchung vorerst noch geklärt werden. Wir vermuten auf jeden Fall, dass der Anteil an extrinsisch motivierten Entscheidungen bzw. an institutions-spezifischem Kalkül seitens der Schüler einen erheblichen Einfluss auf die Wahl der Studiensektion ausübt. Abrunden ließe sich dieser Überblick noch durch zusätzliche Daten über die Zahl der Studenten, die ein akademisches Studium im Bereich der Naturwissenschaften aufnehmen bzw. abschließen. Förderung der Mädchen im elementaren Chemie- Technik- und Physikunterricht Vergleicht man die Schülerzahlen nach dem Kriterium des Geschlechts, so stellt man zudem fest, dass Naturwissenschaften immer noch mehr Schüler als Schüler ansprechen. In der klassischen Sekundarstufe dominieren die Mädchen deutlich mit 55,8% der Schüler insgesamt während in der technischen Sekundarstufe die Jungen gegenüber den Mädchen mit 52,1% leicht im Vorteil sind.

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Abbildung 11: Verteilung der Jungen und Mädchen auf die technische und klassische Sekundarschule (MENFPS, 2002, S.43)

In diesen Jahren entwickeln die Schüler altersbedingt ihre eigene Identität bzw. ihr Konzept der eigenen Fähigkeit. Es fällt ihnen sicher schwer, sich ohne bestimmte Vorannahmen einer neuen, in der Regel von Männer bestimmten Domäne zu öffnen. Zudem stellen die Art und Weise, wie die Kenntnisse dargestellt und Fachwissen in diesen Fächern gelehrt werden, zusätzliche Hindernisse für viele Schülerinnen dar. Feststellen muss man, dass es der Schule noch immer nicht gelungen ist, Mädchen in gleichem Maße wie Jungen für Physik und Chemie zu erreichen. Die Schule verfestigt eher bereits im vor- und außerschulischen Bereich angelegte Rollenklischees statt im Sinne der Chancengleichheit Mädchen stärker zu fördern. Faktum ist, dass sich die Bildungssituation von Mädchen und Frauen im Bereich Naturwissenschaften und Technik nicht wesentlich verbessert hat; – zu wenig Mädchen entscheiden sich auch heute noch für Berufe mit naturwissenschaftlichem Profil. Vor allem im Physikunterricht haben Mädchen andere Fragestellungen als Jungen. Untersuchungen (vgl. MÖLLER, 1998) belegen, dass Jungen eher auf konkrete Anwendung fixiert sind, während Mädchen stärker am Hinterfragen von Phänomenen bzw. an sozialen Auswirkungen physikalisch–technischer Gegebenheiten interessiert sind. Eine stärkere Berücksichtigung der Interessen, Zugänge und Erfahrungen von Mädchen könnte dabei den naturwissenschaftlichen Unterricht für Mädchen und Jungen grundlegend vielfältiger gestalten und verbessern. Bestimmte Ansätze fordern das Aufbrechen des koedukativen Unterrichts zugunsten zeitlich begrenzter, monoedukativer Unterrichtsphasen. In reinen Mädchengruppen, hätten die Mädchen die ungeteilte Zuwendung der selbstverständlich weiblichen Lehrkraft, Jungen würden nicht weiter die Unterrichtsaktivitäten dominieren. Naturwissenschaftlich–technischer Unterricht

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könnte besser auf die speziellen Interessen und Bedürfnisse der Mädchen zugeschnitten werden. Gleichermaßen würden in der reinen Jungengruppe die spezifischen Interessen der Jungen und deren zum Teil andere Fragestellungen verstärkt berücksichtigt. Auf diese Weise würde der Unterricht adressatenorientierter werden, da zeitweise homogenere Interessen und Leistungsgruppen vorlägen. Wir denken allerdings, dass wir versuchen müssen eine pluralistisch ausgelegte Lernkultur in unsere Schulen zu implementieren, die den Bedürfnissen aller Akteure sowie sämtlichen kulturellen Zugängen Rechnung trägt.

Praxisbezogene Lebensrelevanz Hat bereits die Primarstufe Probleme eine ganzheitliche Förderung der Schüler mittels fächerübergreifender Unterrichtsprojekte zu realisieren, die Wert auf praxisbezogene Lebensrelevanz und erzieherische Wirksamkeit legen, so scheint ein solches Vorhaben in postprimaren Ausbildungszyklen durch die strikte Fächerung der Lerninhalte fast nicht realisierbar. Darüber hinaus stützt sich der postprimare Unterricht auf Lehr–Lern-Ansätze, die sich erheblich von den didaktisch–methodischen Vorgehensweisen der Primarstufe unterscheiden. Hier dominiert noch stärker als in der Primarstufe das geschriebene über das gesprochene Wort und das Wiedergeben von kanonischen Wissensformen über das selbstverantwortete Konstruieren von Wissen. Ein zaghafter Versuch, vor einigen Jahren im Rahmen des Projekts 'Pericles', in den unteren Klassen des klassischen Lyzeums naturwissenschaftliche Lernangebote auf der Basis handlungsorientierter Versuchssituationen einzuführen, scheiterte am Dissens über die Finalität dieser Kurse (Vermittlung elementarer Grundkenntnisse vs. selbstverantwortetes Experimentieren) und an statuarischen Dissonanzen zum Stellenwert und zur Präsenz naturwissenschaftlicher Disziplinen im offiziellen Lehrplan (Biologie vs. Physik – Chemie). Im paraschulischen Bereich fehlen hierzulande Initiativen im Sinne des erwähnten Ansatzes "Wissenschaft für alle" (siehe S.8). Ansätze im Ausland wie etwa "La main à la pâte" in Frankreich, "Hands on science" in England oder 'Jugend forscht" in Deutschland, die sich zum Ziel setzen, Schüler für selbstgesteuertes Forschen zu sensibilisieren, fanden hierzulande bislang keine Nachahmer. Einzig und allein der 'Panda Club' des naturwissenschaftlichen Museums versucht Kinder in ihrer Freizeit für bestimmte naturwissenschaftliche Handlungsformen zu begeistern. Die Vereinigung junger Wissenschaftler (AJSL) und das Naturkundemuseums haben mit dem 'Concours Mini-Fuerscher' einerseits und dem 'Science Club' andererseits zwei paraschulische Aktivitäten angekündigt, die durch den Fond National de la Recherche finanziell gefördert werden. Die Gestaltung und vor allem der Impakt dieser Initiativen im naturwissenschaftlichen Bereich bleibt abzuwarten.

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Die naturwissenschaftlichen musealen Tagesangebote für Schulklassen fördern ihrerseits bislang eher eine Konsumhaltung beim Lehrpersonal, als dass sie neue Impulse für eine gewisse Dynamik bzw. eine Weiterentwicklung des Unterrichts an den Schulen liefern. Die Organisatoren dieser Angebote übernehmen, als ausgewiesen Experten, die Leitung der Aktivitäten während die Lehrenden in einer passiven Rolle verharren. Nur wenige schätzen sich später als kompetent genug ein, ähnliche Aktivitäten alleine in ihrer Klasse zu organisieren. Da diese Angebote zudem meistens auf spezifisches Material zurückgreifen, die nicht immer ohne weiteres in den Schulen vorrätig sind, wird dies noch zusätzlich als Vorwand angeführt, um entsprechende Aktivitäten verstärkt aus dem Klassensaal auszulagern. In dieser Perspektive muss man leider auch das neu angeschaffte Science-Mobil 'Leonardo' des Museums sehen, das eher als Komplettangebot statt als Ressourcenzentrum2 von den Schulen angefordert wird. Bei näherer Betrachtung der aktuellen Lage im naturwissenschaftlich–technischen Bereich wirft sich die Frage auf:

IST DER LUXEMBURGISCHE KONTEXT NATURWISSENSCHAFTSABWEISEND? Vom sozio-ökonomischen Kontext Luxemburgs aus betrachtet, gibt es in unserem Land nur kleine, eher unbedeutende berufliche Korporationen und Interessengruppen, die sich für eine stärkere wissenschaftlich–technische Ausrichtung des Bildungssystems stark machen könnten. Die Wirtschaft wurde über ein ganzes Jahrhundert lang vor allem durch die Stahlindustrie geprägt und hat sich erst seit der akuten Krise in dieser Wirtschaftsdomäne im Laufe der 70er Jahre diversifiziert. Die Neuorientierung des Industriestandortes Luxemburg hin zum tertiären Bereich, von denen bekanntlich die internationalen Finanzinstitute dank der günstigen steuerlichen Rahmenbedingungen den Großteil ausmachen, hat sicherlich den sozialen Wohlstand unseres Landes längerfristig gefestigt, zugleich aber die wirtschaftlichen Aktivität des Landes einseitig auf einen Hauptwirtschaftszweig ausgerichtet. Hier muss man sich getrost die Frage stellen: Hat man nicht im Rahmen der Neuorientierung und des abzusichernden Fortbestands der luxemburgischen Wirtschaft in den 70er Jahren versäumt, neben den Finanzinstituten ein weiteres Standbein in Form attraktiver Rahmenbedingungen für Technologieentwicklung etwa im Sinne einer europäischen "Silicon Valley" zu schaffen. Dreißig Jahre später sollen jedenfalls ausländische Investoren, die ihre Ressourcen z.B. in den Bereich der neuen Kommunikations- und Informationstechnologien stecken, helfen, eine ausgewogenere Diversifizierung unserer Wirtschaft anzustreben.

2 Darunter verstehen wir das Bereitstellen von materiellen und personellen Ressourcen, die der Kindern

vielfältige Unterstützung beim selbstveranlassten Forschen anbieten können.

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Angesichts des Nichtvorhandenseins akademischer Lehr- und Forschungsinstitute auf dem luxemburgischen Territorium waren entsprechende Weichenstellungen in den 70er Jahren sicherlich kaum zu erwarten. Luxemburgs Akademiker wurden integral im Ausland ausgebildet, universitäre Lehr- und Forschungszentren entstanden erst im Laufe des letzten Jahrzehnts. Ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung ist allerdings noch zu gering, um entsprechende Forderungen in eine Bildungsdebatte mit einzubringen. Der kleine Kreis der Studienräte im naturwissenschaftlichen Bereich, die Vereinigung der Ingenieure oder die Forscher an den verschiedenen CRP3 genügen jedenfalls nicht, sich für eine durchgehende naturwissenschaftliche Ausbildung von den Grund- bis zur Hochschule gegenüber anderen Leitprinzipien stark zu machen. Das aktuelle Stellenangebot auf dem luxemburgischen Arbeitsmarkt beeinflusst sicher auch maßgeblich die schulischen Orientierungsentscheidungen der Schüler. Viele peilen dabei einen Arbeitsplatz im Bank- oder Versicherungssektor an oder, besser noch, eine abgesicherte Laufbahn im öffentlichen Dienst, sei es im Verwaltungs- oder Lehrwesen. Der akute Lehrermangel wird z.B. auch in den nächsten Jahren viele Abiturienten in die dominierenden Schuldisziplinen dränieren und wohl auch weiterhin nur wenige stimulieren, ein naturwissenschaftlich–technisches Studium aufzunehmen mit dem Risiko, später eine weniger gut bezahlte Beschäftigung im Inland oder Ausland annehmen zu müssen.

DOMINANZ DER SPRACHEN Das luxemburgische Schulsystem wird von seinen Anfängen an durch die schwierig auszutarierende Gewichtung zweier Fremdsprachen dominiert. Diese historisch gewachsene Charakteristik aufgrund der einmaligen Sprachsituation in unserem Land (vgl. u.a. MENFPS, 2001, S.7–25) hat durch den erforderlichen Zeitaufwand für das Erlernen der drei Sprachen die Bedeutsamkeit für andere Lerninhalte in die zweite Reihe gedrängt. Diese Gewichtung wird zudem von einer kleinen, aber einflussreichen Schicht der Bevölkerung, die mehrere Sprachen virtuos beherrscht, ständig als nationale Besonderheit überbetont und als entscheidende Stärke unseres Schulsystems gepriesen. Fragen muss man sich aber, ob das Aufrechterhalten einer sprachlichen Ausrichtung, von der lediglich eine elitäre Minderheit profitieren kann, unser Schulsystem nicht derart zu belasten droht, dass dabei in einer sich rasch und ständig verändernden Gesellschaft andere wichtige Dimensionen zu kurz kommen. Die Integration der zahlreichen fremdsprachigen Schüler wird in unserem Schulsystem vor allem über verstärkten Sprachunterricht samt spezifischer

3 Abkürzung für Centre de Recherche Public.

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Fördermaßnahmen angegangen. Das gemeinsame Beschäftigen mit naturwissenschaftlich–technischen Sachverhalten unter Einbeziehung vielfältiger, subjektiv bedeutsamer kultureller Darstellungsmodi könnte dem gleichen Zweck dienen, allmählich aber eine andere Lernkultur in unseren Schulen etablieren, die der multilingualen Situation des Landes wesentlich besser gerecht würde. Im Bereich der Primarstufe lässt der für den Sprachenunterricht erforderliche zeitliche Aufwand den Naturwissenschaften, wie gesehen, nur wenig Raum übrig. Dabei tragen andere Faktoren noch zusätzlich zu einer Anspannung dieses Verhältnisses bei: – � Die umfangreichen Sprachcurricula übersteigen die zur Verfügung

stehenden Zeitressourcen, so dass angesichts der um eine Stunde gekürzten wöchentlichen Unterrichtszeit, naturwissenschaftlicher Unterricht sehr oft zu Sprachunterricht umfunktioniert wird.

– � Eine implizite und explizite Hierarchie der Unterrichtsfächer vermittelt dem Schüler ab dem Schuleintritt, dass ein erfolgreiches Vorankommen in der Schule vor allem durch die Performanzen in den Fremdsprachen und der Mathematik bestimmt wird.

– � Überkommene, aber resistente Lehr–Lern-Vorstellungen bei vielen Lehrenden, in enger Anlehnung an Erfahrungen aus dem eigenen naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe, bestimmten sehr oft die Gestaltung der Lehr–Lern-Situationen, so dass das geschriebene und gesprochene Wort den Vorzug vor selbstverantwortetem Forschen und Darstellen erhält.

– � Der erhöhte Arbeitsaufwand eines handlungsorientierten Unterrichts reduziert das Angebot auch im naturwissenschaftlich–technischen Bereich oft auf Papier–Bleisitft-Aufgaben oder schriftliche Zusammenfassungen von Lehrer–Schüler-Gesprächen.

– � Das Abtreten von drei, fünf oder sechs Unterrichtsstunden je nach Alter des Lehrenden an andere, meist nur gering qualifizierte Aushilfs-Lehrkräfte betrifft sehr oft den 'éveil aux sciences'–Unterricht. Einerseits leidet die Qualität des Unterrichts sowie ein mögliche Neuausrichtung der Lernprozesse unter der mangelnden Lehr–Lern-Kompetenz dieser Lehrkräfte. Andererseits kommt es auf diese Weise zu einer impliziten Fächerung der Lerninhalte, welche eine integrative Projektarbeit erschwert.

Die Ausrichtung unseres Bildungssystems an für die Wissensgesellschaft erforderlichen Schlüsselqualifikationen oder Basiskompetenzen wurde bisher nicht angegangen. Ein Projekt des SCRIPT zur Orientierung der Primarstufe und der Unterstufe der Sekundarschulen an gemeinsamen, übergreifenden Kompetenzen blieb bislang ohne konkrete Folgen.

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GENESE DER DISZIPLINEN UND GESTALTUNG DES UNTERRICHTS Die Kluft zwischen Lernen und Anwenden, wie es auch Begriffe wie 'deklaratives' und 'prozedurales' Wissen bzw. 'knowing what' und 'knowing how' widerspiegeln, ist sehr wohl durch die Struktur und die Praktiken der Schule in ihrer historischen Entwicklung produziert worden. Eine solche Unterscheidung bzw. unterschiedliche Gewichtung strukturiert ein Schulsystem tiefgreifend wie es z.B. die Auftrennung zwischen technischem und klassischem Lyzeum belegt. Viele didaktische Ansätze trennen immer noch zwischen Wissen und Tun und übergehen die Einflüsse der Schulkultur auf den Lerngegenstand. Die Schwierigkeiten liegen dabei in der Art und Weise, wie der schulische Lerngegenstand zum einen und die damit in Zusammenhang stehenden mentalen Tätigkeiten zum anderen konzipiert werden. Wissen wird leider immer noch als eine autonome Substanz aufgefasst, die unabhängig von Aktivität und Kontext ist, in denen sie entwickelt und verwendet wird. Dieser dekontextualisiert gedachte, aus abstrakten und formalen Begriffen bestehende 'Lernstoff' wird entwicklungsspezifischen Lern- bzw. Kognitionsprozessen in 'neutralen' Situationen untergeordnet. Der primäre Zweck von Unterricht, dem der Status eines privilegierten ‚Non-Kontextes‘ (vgl. LAVE, 1988) – einer Stätte kontextunabhängigen und auf beliebige Alltagszusammenhänge transferierbaren Lernens – eingeräumt wird, liegt im wirksamen Transportieren dieses Lernstoffs in die Köpfe nachfolgender Generationen. Wie eine Konzeption, die Wissen und Tun als getrennt auffasst, zu einer Unterrichtsmethode führt, welche die Strukturierung der kognitiven Prozesse durch die Situation negiert, verdeutlichen MILLER & GILDEA (1987) mit ihren Befunden zum Vokabellernen. Die Forscher verglichen das Lernen neuer Vokabeln im Unterricht mit dem Erwerb neuer Wörter in alltäglichen Kommunikationspraktiken wie Zuhören, Reden und Lesen. In solchen Alltagskontexten lernten Jugendliche bis zum 17. Lebensjahr recht schnell und durchaus erfolgreich im Durchschnitt circa 5000 Wörter im Jahr. Das schulische Lernen neuer Wörter mittels abstrakter Definitionen aus Wörterbüchern und dekontextualisierter exemplarischer Sätze war dagegen langsam und überstieg nicht 100 bis 200 Begriffe im Jahr. Viele dieser Wörter wurden darüber hinaus im Sprachgebrauch falsch verwendet oder waren in der Praxis gänzlich nutzlos. Das Lernen exemplarischer Sätze oder allgemeiner Definitionen aus Wörterbüchern illustriert die erwähnte Auffassung von unabhängigen Wissensfragmenten, die zudem mittels einer festgelegten didaktischen Sequenzierung vermittelt werden. Wie jede andere Methode, die Begriffe abgelöst von authentischen Situationen zu vermitteln versucht, übersieht ein solcher Lernansatz, dass die Bedeutung eines Begriffes – und damit auch sein Verständnis – durch komplexe soziale Aushandlungen im fortwährenden situierten Gebrauch entwickelt wird. Ein solcher Prozess kristallisiert nicht in einer singulären kategorialen Definition,

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sogar wenn eine entsprechende Definition durch einige exemplarische Sätze untermauert wird. Naturwissenschaftliche Schulfächer wie Physik und Chemie halten allerdings immer noch – vielleicht in Unkenntnis über die Ergebnisse der aktuellen Lehr–Lern-Forschung, vielleicht aus Angst vor der Unberechenbarkeit kritischer denkender Folgegenerationen – am altbewährten Prinzip der „didaktischen Treppe“ fest, bei dem Stufe um Stufe in einem linearen Weiterschreiten und in einer festgelegten Folge bewältigt wird. Ein solches, mechanisch und eng rational ausgelegtes Weltbild engt Phantasie und Kreativität ein und reduziert die Möglichkeit, die natürliche und technische Umwelt durch emotionale und ästhetische Erfahrungen intensiv zu erleben. Es gelingt dabei nur selten, die Einzigartigkeit und Vielfalt der natürlichen und menschlichen Schöpfungen im Unterricht aufleben zu lassen und somit Interesse und Begeisterung für naturwissenschaftlichen und technische Sachverhalte zu schaffen. Diese Vorgehensweise steht in direkter Verlängerung zur Etablierung der schulischen Disziplinen im 19. Jahrhundert, wo aus einer positivistischen Weltauffassung heraus versucht wurde, die Gesellschaft mittels unterschiedlicher Wissenssparten zu verstehen und zu organisieren. KERLAN (1998) beschreibt dies wie folgt:

"des mises en forme de savoir, formulé, organisé, transposé en vue de l'apprentissage scolaire [...] Une discipline est une façon de discipliner l'esprit" (zit. in FOURNIER, 2001, S.24).

Die progressive Strukturierung des Unterrichts durch Disziplinen entwickelte sich parallel zur progressiven Ausdifferenzierung des gesamten Bildungswesens im 19. Jahrhundert. Was mit rudimentären fachspezifischen Empfehlungen für die Primarstufe begann, entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu der bestimmenden Strukturierung der Sekundarschulen mit dem immer noch praktizierten Fächerwechsel im 60–Minuten-Takt sowie der gleichzeitigen Institutionalisierung der Lehrstühle auf der obersten, universitären Ebene des Bildungssystems. Dies alles schrieb sich in eine kulturell geprägte Scholastik ein, die sich seit dem 17. Jahrhundert durch die Unterweisung einer Klasse durch einen Lehrer und dem Primat des geschriebenen Wortes über das gesprochene auszeichnete. Aus soziologischer Sicht lassen sich die Disziplinen als soziale Konstruktionen belichten, welche sich im Laufe der Zeit zu autonomen Korporationen entwickelt haben und ihre Ansprüche und Forderungen immer wieder aufs Neue im System geltend machen. Mit aktivem Lobbying wird auch weiterhin kontinuierlich versucht, den 'erkämpften' Stellenwert in der Institution, den Zeitaufwand, die möglichen Abschlüsse – kurzum, das Ansehen der Disziplin und seiner Akteure in der Gesellschaft – zu wahren bzw. auszubauen.

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Die Festlegung der schulisch übermittelten Inhalte dieser Disziplinen qualifiziert CHERVEL (1998) als "une création de l'école pour l'école" (zit. in FOURNIER, 2001, S.24), die wenig Bezug zu den Referenzwissenschaften aufweist.

"Les contenus d'enseignement sont conçues comme des entités sui generis, propres à la classe, indépendantes dans une certaine mesure de toute réalité culturelle extérieure à l'école et jouissant d'une organisation, d'une économie intime et d'une efficacité qu'elles ne semblent devoir à rien d'autre qu'à elles-mêmes, c'est à dire, à leur propre histoire" (ibid., zit. in FOURNIER, 2001, S.24).

Man geht also fälschlicherweise davon aus, dass der Schule bestimmte Lerngegenstände durch die Dynamiken in der Gesellschaft bzw. die Kultur im Wandel regelrecht aufgedrängt werden. Genauso wie die Schulgrammatik für CHERVEL lediglich eine pädagogische Methode ist, um Orthographiekenntnisse zu übermitteln, sind auch die anderen Disziplinen nichts anderes als eine Formalisierung von spezifischem Wissen zum alleinigen Zweck der Unterrichtung. So haben philosophische Betrachtungen zur Wissenskonstruktion in den (Natur-)Wissenschaften (vgl. u.a. die Arbeiten von LATOUR, BACHELARD, BERGER & LUCKMANN, SEARLE) mit als erste aufgezeigt, dass das Wissen der Wissenschaftler kaum etwas mit dem Schulwissen gemeinsam hat. Der Didaktiker CHEVALLARD (1985) hat mit dem Begriff der "transposition didactique" aufgezeigt, dass Unterricht ein dekontextualisiertes, Schulwissen generiert, dessen lineare Bearbeitung im Rahmen des Unterrichts erst durch ein arbiträres Segmentieren erfolgen kann. Dieses additive Aneinanderreihen einzelner Komponenten hat im Laufe der Genese der Disziplinen – unzählige Reformen mit eingeschlossen – zur enzyklopädischen Überfrachtung geführt.4 Im Laufe der Zeit hat sich demzufolge eine spezifische Schulkultur etabliert, die sich durch solche didaktische Aufsplitterungen, gepaart mit Vereinfachungen, Verallgemeinerungen, Abstrahierungen, synoptischen Darstellungsmodi... auszeichnet und die im Prinzip jedes Wissen an schulinterne Zwänge anzupassen und zu vermitteln vermag. Dies steht in krassem Gegensatz zur Absicht eines modernen naturwissenschaftlichen Unterrichts, der darauf abzielt, möglichst vielen jungen Menschen naturwissenschaftliche Handlungsformen einsichtig und zugänglich zu machen. Insbesondere die verstärkte Forderung nach interdisziplinär abgestimmten Vorgehensweisen soll Denkweisen fördern, die es gestatten, Phänomene in ihrer originalen Komplexität zu untersuchen bzw. die Vielzahl unterschiedlichster Darstellungsformen aufeinander zu beziehen. Leider bevorzugt besonders die Schule, die linguistische, vor allem aber die schriftliche Konstruktion von Bedeutsamkeit auf Kosten der anderen Darstellungsmodi, mit

4 Deshalb wird in jüngster Zeit z.B. versucht, der Stofffülle durch Beschränkungen "auf das Wesentliche" Herr

zu werden. So könnte das altbewährte Prinzip der "didaktischen Treppe" wieder leichter die Curricula strukturieren und den Unterricht einheitlich gestalten. Die Komplexität der Sachverhalte aber und die damit stets verbundene Unsicherheit und Nicht-Planbarkeit bleibt auf der Strecke. Wesentlich wird dabei vor allem das, was einfach zu handhaben ist.

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denen die Menschheit über Jahrhunderte hinweg Erfahrungen gesammelt, weitergegeben und geteilt hat. So zeigte GALLAS (1994) z.B., dass Erstklässler durchaus fähig und gewillt sind, ihr Verständnis der Welt durch Tanzen, Zeichnen oder Singen auszudrücken statt durch Reden und Schreiben. Leider werden solche Modi der Sinnkonstruktion im Laufe der Schulzeit, im Vergleich zu Lesen und Schreiben, nur wenig geschätzt und abgewertet. Weshalb dies so ist und ob der Vorrang der Schrift in naturwissenschaftlichen Domänen angebracht ist, müsste schon näher untersucht werden. Die Öffnung des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf Lernsituationen außerhalb der Schule bzw. die vielfältigen Lebenswelten der Kinder ist ein weiteres wichtiges Prinzip eines modernen Unterrichts. Angesichts der heutigen Medienwelt mit ihren zahlreichen Erfahrungen aus zweiter Hand erfordert ein handlungsorientierter Unterricht eine verstärkte Realisierung von Primärerfahrungen im Umgang mit Natur und Technik. Der naturwissenschaftliche Unterricht muss deshalb so organisiert werden, dass er die Funktion der 'Werkstatt', mit ihren Werkzeugen und Praktiken, intensiver und nachhaltiger übernehmen kann als bisher. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein moderner Unterricht sich der Integration moderner Kommunikations- und Darstellungsmedien entziehen sollte. Vielmehr muss die manuelle Dimension bewusst um die materiellen und symbolischen Ressourcen in der von VYGOTSKY betonten Dialektik erweitert werden, welche die Kultur – als Rahmen für unser Denken und Handeln – zur Verfügung stellt. Die ständig anwachsende Fülle des heutigen Wissens und seine noch nie dagewesen Demokratisierung des Zugangs via IT–Medien muss unausweichlich zu einer Schwerpunktverlagerung führen, weg vom Vermitteln von Wissensinhalten hin zum Prozess des Wissenskonstruktion. Wir stoßen dabei auf ein bereits seit dem Zeitalter der Aufklärung in der erziehungswissenschaftlichen Literatur diskutiertes Überwechseln von einer materiellen zu einer formalen Bildung, d. h., weg von Ansätzen, die sich vor allem an curricularen Inhalten orientieren und hin zu Methoden und Handlungsformen in Form von Fähigkeiten und Kompetenzen. So unterstrich bereits KANT (1803) in seinem Aufsatz "Über Pädagogik":

"Der Mensch kann entweder blos dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen oder wirklich aufgeklärt werden. Man dressiert Hunde, Pferde, und man kann auch Menschen dressieren. [...] Mit dem Dressieren aber ist es noch nicht ausgerichtet, sondern es kommt vorzüglich darauf an, daß Kinder denken lernen. Das geht auf die Prinzipien hinaus, aus denen alle Handlungen entspringen" (ibid., S.450).

Gerade im Bereich der Naturphänomene und der einfachen technischen Alltagsanwendungen von physikalisch–chemischen Prinzipien haben Schüler bereits viele Fähigkeiten in außerschulischen Situationen entwickelt, die den Einstieg in naturwissenschaftliche Arbeitsmethoden und Grundqualifikationen

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erleichtern. Besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern umfasst das Lernen ein umfangreiches Methodenrepertoire, das vom Blick durch die Lupe bis zum selbst ausgeklügelten und präzise erstellten Versuchsaufbau an einer Experimentierstation reichen kann. Auch die reflexive Dimension des Lernens – das 'Lernen lernen' – kann hier an den individuellen Tätigkeiten leicht entwickelt werden. Ausgehend von ihrem natürlichen Fragebedürfnis und Neugierverhalten können Kinder durch eigenes und gemeinsames Untersuchen, Beobachten, Vergleichen, Hinterfragen... Phänomene aus ihrer unmittelbaren Erlebniswelt neu erfahren. Bei der bedeutsamen Auseinandersetzung mit entsprechenden Phänomenen stellen die Schüler weiterführende naturwissenschaftliche Überlegungen an: – � Wie entsteht ein hoher/tiefer Ton? – � Warum platzt ein Luftballon in der Sonne? – � Wieviel wiegt Luft ? – � Wieviel Zucker löst sich in Wasser auf? – � Wieso schwimmt ein Schiff aus Eisen? – � Wie funktioniert ein Kompass? ...

GESTALTUNG EINER EXPERIMENTIERKARTEI FÜR DIE LUXEMBURGISCHE PRIMARSTUFE.

Um das Interesse der Schüler für naturwissenschaftlich–technische Lerninhalten zu fördern sowie eine neue Lernkultur im Rahmen des naturwissenschaftlichen Unterrichts ab der Primarschule zu initiieren, haben die Verantwortlichen der Arbeitsgruppe 'éveil aux sciences' eine Versuch- und Experimentierreihe zu den Bereichen Luft; Wasser, Elektrizität, Magnete erarbeitet mit allen notwendigen Materialien:

Abbildung 12: Aktiv-, Hilfe- und Infokarten aus der luxemburgischen Experimentierkartei (MENFPS, in press)

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Das Material für die Hand des Schülers umfasst a. ein Kartenset zu jedem Themenbereich bestehend aus

– Aktivkarten mit den angebotenen Versuchen; – Hilfekarten mit Problemlösungen; – Infokarten mit interessanten Informationen und Erklärungen; – Spiel- und Baukarten mit interessanten, spielerischen Anwendungen.

b. einen Experimentierkasten mit fast allen Materialien für die Versuchen. Das Lehrermaterial umfasst: a) eine allgemeine Einführung in die Praxis des Experimentierens und den Einsatz der Kartei; b) ein Lehrerheft zu jedem Experimentierbereich mit Sachinformationen zum Thema, der Beschreibung der Versuchskarten sowie methodisch–didaktischen Hinweisen zum Einsatz und zur Auswertung Für das Arbeiten in der Klasse sind jeweils 6 Sets, bestehend aus Karteikarten und Materialkasten pro Bereich, vorgesehen. An diesem Material können die Kinder entweder allein z.B. an einer Experimentierstation bzw. in 2er oder 4er Gruppen arbeiten. Die Versuchsreihe strebt folgende Absichten an. Sie soll – � eine neue Lernkultur im Unterricht erstellen, die, ausgehend vom

sinngebenden Vorwissen der Kinder, ein erweitertes und langfristig wirkendes Interesse an Naturphänomenen stiftet;

– � das Erforschen vielfältiger Erscheinungsformen aus bestimmten Bereichen in einfachen Versuchssituationen zulassen sowie die Übertragung der Erkenntnisse auf alltägliche Nutzungs- und Anwendungskontexte;

– � den Kindern Gelegenheit geben, die eigenen Vorstellungen durch vielfältige Erfahrungen graduiert und sanft in Richtung wissenschaftlich korrektere Vorstellungen weiter zu entwickeln;

– � durch selbstverantwortete und kooperative Aktivitäten allmählich ein planvolles Herangehen an die Beantwortung von selbst- bzw. fremdgestellten Problemfragen entwickeln.

Die Auswahl der Themen geschah nach den Gesichtspunkten: – � Zugänglichkeit in Alltagskontexten – � Handlungsmöglichkeiten der Kinder – � Bedeutsamkeit hinsichtlich gemachter Vorerfahrungen – � Reichhaltigkeit der Erscheinungsformen Die Elemente Luft und Wasser erfahren die Kindern als Alltagsphänomene. Sie sind faszinierende Spielmaterialien und regen zum Entdecken, Forschen und Experimentieren, sowie zum vielfältigen Gestalten an. Sie sind Gegenstände erster Naturerfahrung, an denen alle Sinne beteiligt sind.

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Elektrizität und Magnete haben einen sehr starken Aufforderungscharakter zum experimentellen Handeln. Die Faszination, der sie unterliegen, ist leicht als Triebfeder für entdeckendes Lernen zu nutzen. Es bedarf dabei nur eines geringen Anstoßes um Gefühle und Bedürfnisse in Lernprozesse umzusetzen. Die beiden Naturphänomene werden heute mit technischen Einrichtungen häufig genutzt.

Begründung für Karteiform Das Auseinandersetzen mit physikalischen Phänomenen bietet eine gute Möglichkeit im Unterricht Lernsituationen zu arrangieren, bei denen der Schüler sein Lernen selbst steuern und verantworten kann. Das autonome Vorgehen der Kinder zu fördern, ist eines der wichtigsten Ziele schulischen Lernens. Die selbst veranlasste Organisieren einfacher Versuchssituationen gestattet den Kindern, Eigenverantwortlichkeit für ihre Lernprozesse zu übernehmen und Selbststeuerungs-Fähigkeiten zu entwickeln. Diese befähigen sie in schulischen und außerschulischen Situationen ihr Vorgehen selbständig zu steuern und die Aneignung der materiellen und sozialen Umwelt autonom zu organisieren. Die Karteiform ermöglicht mit ihren Problemstellungen, Anregungen, Vorschlägen, Hinweisen und Aufgaben vielfältige Unterrichts- und Einsatzformen wie Freiarbeit, Lernen an Stationen, Gestalten einer Versuchsecke oder eines Versuchstisches, Forschungsgemeinschaften, Projekte... Sie erlaubt einerseits jedem Lehrenden eine individuelle Gestaltung der Durchführung unter Berücksichtigung des persönlichen Unterrichtsstils. Andererseits gestattet sie aber auch ein schrittweises Umwandeln eines traditionellen, eher rezeptiven Unterrichtsverfahrens zu einem aktiveren, offeneren, schülerzentrierten Unterricht. In der vorliegende Arbeit soll nun ein lerntheoretischer Rahmen für authentische Versuchs- und Forschungsaktivitäten in der Primarstufe erstellt werden, wie sie u.a. der Einsatz der Kartei ermöglicht. Lernen und Entwicklung werden dabei unter einem soziokulturellen bzw. sozio-historischen Paradigma analysiert und konzeptualisiert. Neuere Befunde aus der Entwicklungspsychologie bzw. der kognitiven Psychologie werden bewusst hinzugezogen, um wesentliche Prozesse auf der mentalen Ebene präziser zu analysieren, besser zu verstehen und im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand zu modellieren. Die getätigten Analysen und Überlegungen fassen wir am Ende der Arbeit zu einem situierten Lernansatz zur Gestaltung authentischer Forschungspraktiken im Rahmen der naturwissenschaftlich–technischen Grundbildung zusammen.

Kultur als Kontext für Entwicklung 29

K A P I T E L 1

KULTUR ALS KONTEXT FÜR ENTWICKLUNG Kontextspezifische Einflüsse auf die individuelle Leistungsfähigkeit in kognitiven, sprachlichen und affektiv–emotionalen Domänen wurden lange kaum in der Lern-, Entwicklungs- und Kognitionsforschung berücksichtigt. Aus der Sicht des traditionellen differentiellen Untersuchungsansatzes basierte die kognitive Performanz eines Menschen auf universalistischen und kontextunabhängigen mentalen Fähigkeiten, die vorwiegend in 'abgeschirmten' Laborversuchen studiert wurden. Erst in den 70er Jahren leiteten interkulturelle Studien (vgl. Übers. in MINSTRY, 1997) sowie die Rezeption der Arbeiten der sowjetischen Psychologie (VYGOTSKY, 1962, 1978; LEONTJEV, 1981) einen Paradigmawechsel im Verständnis des menschlichen Kognitionssystems und dessen Genese ein: Die jeweilige Kultur beeinflusst die kognitiven Prozesse nicht länger nur im Sinne einer unabhängigen Variabel, sondern fördert, strukturiert und bedingt diese Prozesse entscheidend durch die Eigenart a) der jeweiligen Aktivitäten inklusive ihrer Zielsetzungen und Mittel sowie b) des jeweiligen soziokulturellen Kontexts, in dem sie vollzogen werden. Mentale Prozesse sind demnach in soziale, interaktionale, kulturelle, institutionelle und historische Kontexte eingebettet und der Prozess der individuellen Entwicklung kann folglich nicht von soziokulturellen Faktoren des Kontexts getrennt werden (siehe S.33f.). Dabei erfolgt die Situiertheit der mentalen Prozesse auf einer Mikro- und auf einer Makroebene. Auf der Makroebene stellt die Kultur den Rahmen bereit für menschliches Denken und Handeln und damit auch für den Wissenserwerb. Die mentalen Prozesse situieren sich in einem erweiterten sozialen, institutionellen und kulturellen Kontext und werden durch kulturelle Einflüsse im Verlauf der jeweiligen 'Enkulturation' ausgeformt. Die individuelle Entwicklung wird somit als Aneignung kulturell ausgeformter Modi des Sprechens, Denkens und Handelns konzipiert. Dies erfolgt durch das Partizipieren des einzelnen, in Gemeinschaft mit anderen, an den Alltagsaktivitäten einer bestimmten Kultur. Im Laufe seiner Sozialisation verinnerlicht der Teilnehmer dabei die in der kulturellen Gemeinschaft bevorzugt getätigten und geschätzten Praktiken wie z.B. das Äußern von Ideen mittels kultureller Darstellungsmodi, den Gebrauch der Sprache, das Erzählen von Geschichten, das Erinnern von Informationen... Die menschliche Entwicklung erwächst in dieser Konzeption aus konkreten Ausformungen der sozialen Praktiken einer Gesellschaft und bleibt eng an diese geknüpft. Auf der Mikroebene werden mentale Prozesse durch soziale Interaktionen in Partner- oder Kleingruppen beeinflusst und als kooperative oder kollaborative Lernprozesse thematisiert. Wissenserwerb und andere kognitive Prozesse

Kultur als Kontext für Entwicklung 30

werden demnach nicht länger als rein individuelle Vorgänge aufgefasst, sondern beziehen immer auch soziale Prozesse mit ein, so dass man u.a. von 'socially shared cognition' spricht (vgl. RESNICK ET AL., 1991). Der theoretische Rahmen eines soziokulturellen Entwicklungsansatz von Denk- und Wissensstrukturen, wie wir ihn hier vertreten, wurzelt in den Arbeiten von VYGOTSKY (1934/1987, 1978, 1981a, 1981b). Wir werden allerdings seine Sichtweisen in bezug auf verschiedene, offen gebliebene Fragestellungen durch weiterführende Arbeiten präzisieren, wie sie infolge der Rezeption seines Ansatzes erstellt wurden (vgl. u.a. WERTSCH, 1985, 1991a). Die Grundausrichtung orientiert sich an VYGOTSKYS genetischer Sichtweise der Ausformung geistiger Tätigkeit, die wir nur begreifen können, wenn wir ihre Quellen und die Veränderungen, die sie durchlaufen, verstehen. Dabei müssen wir versuchen, die vielfältigen Aspekte dieser Prozesse bzw. ihre domänspezifischen Ausformungen, wie sie im Rahmen der Ontogenese erfolgen, zu identifizieren. Für VYGOTSKY interagieren dabei eine natürliche und eine kulturelle, sprich soziale Entwicklungslinie, deren multiple Entwicklungskräfte die Veränderungen vorantreiben.

"The growth of the normal child into civilisation usually involves a fusion with the processes of organic maturation. Both planes of development – the natural and the cultural – coincide and mingle with one another. The two lines of change interpenetrate one another and essentially form a single line of sociobiological formation of child's personality" (1960, p.47).

VYGOTSKY selbst gab keine detaillierte Ausdifferenzierung dieser Entwicklungslinien (vgl. WERTSCH, 1985), insbesondere was die natürliche Entwicklung angeht. Seiner Meinung nach operieren die angesprochenen Stränge in den Frühphasen der Ontogenese ziemlich unabhängig voneinander, so dass wir in bezug auf die Entwicklung der Denk- und Wissensstrukturen zum physikalischen Weltwissen neuere Untersuchungen aus der Entwicklungspsychologie heranziehen müssen, um uns ein detailliertes Bild zu machen (siehe S.97ff.). Eng verbunden mit seinem genetischen Ansatz durchlaufen zwei weitere Grundthemen VYGOTSKYs Schriften: a) das Postulat, der Soziogenese individueller höherer mentaler Funktionen; b) die Mediation der menschlichen Aktivität durch materielle und symbolische Werkzeuge, sowohl auf der individuellen als auch auf der sozialen Ebene. Auf beide Punkte werden wir im Laufe der vorliegenden Arbeit näher eingehen, wobei wir die Genese des physikalischen Weltwissens der Kinder in alltäglichen und schulischen Kontexten (siehe S.95ff.) einerseits, sowie die Mediationen durch die jeweiligen kulturellen Mittel5 in diesem Bereich (siehe S.131ff.) andererseits detaillierter erläutern werden. 5 Wir werden die angeführten materiellen und symbolischen Mediationsmittel im Text des öfteren mit dem

englischen Ausdruck 'tool' bezeichnen, der u.a. nach semantisch vielschichtiger ist und nicht so eng wie der deutsche Ausdruck 'Werkzeuge' vor allem auf 'Handwerksinstrumente' verweist.

Kultur als Kontext für Entwicklung 31

Kultur-historische Entwicklungsansätze in der Tradition VYGOTSKYs konzentrieren sich verstärkt auf das Soziale gegenüber dem Individuum vor allem deshalb, weil die Gemeinschaft das kulturelle Erbe bewahrt, das eine kognitive Entwicklung erst ermöglicht. Sie postulieren einen engen Zusammenhang zwischen dem Umfeld, in dem Menschen leben und den fundamentalen Charakteristika ihrer psychischen Prozesse. Kulturen und Gesellschaften können auf sehr verschiedene Art und Weisen beschrieben werden. Das menschliche Umfeld zeichnet sich dabei vor allem dadurch aus, dass es mit Vergegenständlichungen, d.h., vergegenständlichten Leistungen und Errungenschaften früherer Generationen, durchflutet ist (siehe S.45), worauf auch philosophische, soziologische und psychologische Veröffentlichung hinweisen (vgl. Übers. in COLE & WERTSCH, n.d.). Aus kulturpsychologischer Perspektive sind jedoch zwei Ebenen besonders wichtig: a) die Aktivitätsebene, d.h., was Menschen unterschiedlichen Alters in verschiedenen Kulturen und kulturellen Gemeinschaften tun; b) die Ebene der Kommunikationswerkzeuge und/oder der Mittel, welche die höheren mentalen Funktionen mediieren (TULVISTE, 1999, S.72). So prägen z.B. moderne Kommunikations- und Informationstechnologien unsere mentalen Strategien und sozialen Verhaltensweisen durch bestimmte „Denkzwänge“, die sie regelrecht in unsere Gehirne einbrennen. Dabei beeinflussen diese gleichermaßen Form, Inhalt und die Wiedergabe von Wissenselementen (siehe S.145ff.). Beide Ebenen sind natürlich eng miteinander verzahnt, so dass eine detaillierte Analyse der spezifischen Natur, der Genese und der Arbeitsweise mentaler Prozesse beide Dimensionen umfassen muss. Der Versuch des Explizierens höherer mentaler Prozesse macht allerdings nur auf der Aktivitätsebene Sinn. Man kann nämlich die mentalen Prozesse weder beschreiben noch erklären, ohne gleichzeitig die semiotischen Systeme mit in Betracht zu ziehen, welche als Mittel oder Werkzeuge am Werk sind. Solche Erklärungsversuche erfolgen um der menschlichen Existenz willen, die in Anlehnung an LEONTJEV (1972/1981) aus Aktivitäten besteht. Aktivität stellt das Erklärungsprinzip in der kulturellen Psychologie dar (siehe S.52ff.), wenn wir Fragen beantworten wollen, wie sie u.a. TULVISTE aufwirft:

"1. Why do people in general or in particular cultures or professional groups have just these and not other modes of thought, ways of memorizing and recalling, other cognitive processes?

2. Why do these processes develop in history and in the child the way they do?

3. Why are there differences in these processes between people belonging to different cultures or cultural groups? (1999, p.73).

Kultur als Kontext für Entwicklung 32

Soziokulturelle Ansätze sehen mentale Prozesse als eine Art Handlung, die von Individuen, Dyaden oder noch größeren Gruppen unternommen werden kann.

"Mind, cognition, memory, and so forth are understood not as attributes or properties of the individual, but as functions that may be carried out intermentally or intramentally" (WERTSCH & TULVISTE, 1992, P.549).

Konzipiert man mentale Prozesse wie z.B. Erinnern als “Handlung des Erinnerns innerhalb einer bestimmten Aktivität” statt als dekontextualiserte Fähigkeit, denn versteht man leichter, wie die jeweilige Kultur ein integraler Bestandteil eines jeden Aspekts des Erinnerns ist. Eine Aktivität umfasst immer Ziele, Materialien und Prozeduren, wie die Aktivität auszuführen ist. Wir haben diese durch vorhergegangene Praxis und Interaktion mit erfahreneren und kompetenteren Menschen in unserem kulturellen Umfeld gelernt zu valorisieren und zu benutzen (MINSTRY, 1997, S.350). Nimmt man in diesem Zusammenhang auch die funktionalen Beziehungen zwischen kulturellen Aktivitäten und bestimmten Denkweisen im naturwissenschaftlichen Bereich genauer ins Visier, so kann man sich eigentlich nur wundern, wieso bestimmte Zusammenhänge nicht längst offensichtlich geworden sind. Würde z.B. die Schule den Naturwissenschaften über die ganze Schulzeit hinweg eine hohe Bedeutung beimessen, so dass alle Schüler immer wieder auf wissenschaftliche Wissens- und Denkwerkzeuge zurückgreifen müssten, so müssten doch Lehramtsstudierende nach 13 Jahren Primar- und Sekundarschule einigermaßen in der Lage sein, Konzepte und wissenschaftliche Denkweisen, zumindest in schulischen Situationen, als Werkzeuge geistiger Tätigkeit einzusetzen. Andererseits muss man sich auch fragen: Wieso sollte man wissenschaftliches Denken bei Individuen in einer Kultur erwarten, wenn diese Kultur den wissenschaftlichen Praktiken nur einen geringen Raum in informellen und formellen Aktivitäten beimisst? Wieso sollten Individuen in einer (Schul-)Kultur ohne wissenschaftliche Praktiken in der Lage sein, Konzepte zu generieren bzw. wissenschaftliche Überlegungen zu führen, wenn Wissenschaft die einzige Aktivität ist, in der dies erfolgen könnte? Aus grundlegenden, Annahmen soziokultureller Theorien hat MINSTRY (1997) einen Rahmen für 'cross-cultural'–Forschung erstellt, den wir auch auf die informellen und formellen Lernprozesse beim Aufbau des physikalischen Weltbildes beziehen wollen. Die drei Annahmen sind: (a) das Verwachsensein vom individuellen und kulturellen Kontext; (b) die Emergenz und Ausformung der menschlichen Entwicklung aus sozialen und kulturellen Praktiken heraus;

Kultur als Kontext für Entwicklung 33

(c) menschliche Aktivität als Analyseeinheit der Erforschung menschlicher Entwicklung.

A. DIE UNTRENNBARKEIT DES INDIVIDUELLEN UND KULTURELLEN KONTEXTS Individualistisch ausgelegte Ansätze der menschlichen Entwicklung sehen Kultur lediglich als eine unabhängige Variable, die Entwicklungsprozesse zwar beeinflusst, deren Parameter aber vom Prozess der individuellen Entwicklung ablösbar sind. Entsprechende Ansätze zielen darauf ab, universelle und dekontextualisierte Fertigkeiten und Fähigkeiten6 zu belegen, die eventuell für eine bestimmte Stufe der individuellen Entwicklung charakteristisch sind. Dann erst werden Veränderungen durch spezifische soziale und kulturelle Erfahrungen wie z.B. schulische Unterweisung berücksichtigt.7 Diese Tradition drückt sich demnach auch im verallgemeinerten Verständnis der verwendeten Termini aus, die wie z.B. Kognition, Erinnerung... automatisch als Dispositionen eines einzelnen Subjekts aufgefasst werden. 8 Klassische kognitive Theorie trennt den Geist ('mind') von der Welt ab. Die 'lived–in–world' wird aus dieser dichotomischen Sichtweise von Geist und Körper kaum beachtet. Lernen wird demzufolge als ein Prozess erforscht, der sich lediglich im Bewusstsein des Lernenden abspielt. Soziokulturelle Ansätze postulieren die Untrennbarkeit des individuellen und kulturellen Kontexts. Menschliches Handeln bzw. geistige Tätigkeit wie z.B. Kategorisieren, Inferieren, Erinnern... wird durch soziokulturell situierte und ausgeformte materielle und symbolische Werkzeuge ('tools') mediiert. Will man Geist und "In–der Welt–Sein" ('lived–in–world') in einem Ansatz integrieren, also die Zusammenhänge zwischen Mensch und Welt auf komplexere Art erforschen, so genügt es nicht lediglich einen kognitiven Theorieansatz mit einer Definition von 'Situation' anzureichern. Ein fruchtbarer Ansatz, um 'Aktivität in situ' zu konzeptualisieren, fasst die Zusammenhänge zwischen Mensch, Aktivität und Situation, wie sie in der sozialen Praxis gegeben sind, als theoretische Entität auf.

6 Eine allgemein akzeptierte Annahme der menschlichen informationsverarbeitenden Systems ist die Kapazität

des Kurzzeitgedächtnisses, das 7+2 Einheiten nicht zusammenhängenden Informationsmaterials umfassen kann. Bestimmte mnemotechnischer Strategien wie 'verbales Wiederholen (rehearsal)', 'clustering', 'sinnvolle Geschichten erfinden'... erlauben uns dagegen diese Beschränkungen zu erweitern. Ein entsprechender Rückgriff wird als eine dekontextualisierte Fähigkeit betrachtet (vgl. MINSTRY, 1997, S.347).

7 So wird z.B. das Vorwissen in traditionellen Auffassungen nur als Verstärker eines 'puren' Erinnerungsprozesses konzeptualisiert, der unabhängig von der Erfahrung und kulturellen Spezifitäten wie z.B. schulischer Unterweisung abläuft (vgl. MINSTRY, 1997, S.347).

8 "This assumption is so ingrained that theorists describing the social nature of mental functioning tend to use modifiers to reflect 'socially shared,' as in socially distributed cognition (Resnick et al. 1991) and collective memory (Middleton & Edwards, 1990). Wertsch and Tulviste suggest that such modifiers continue to reflect the "derivative, or nonbasic, status that mental functioning carried out on the social plane is assumed to have in contemporary paradigms (1992: 549)" (MINSTRY 1997, S.357).

Kultur als Kontext für Entwicklung 34

Verdeutlichen kann man diesen Umstand am Beispiel des Erinnerns. Soziokulturelle Ansätze konzentrieren sich dabei vorrangig auf den Akt des Erinnern, der durch die zur Verfügung stehenden Mediationsmittel mediiert wird. Beispiele solcher Mediationswerkzeuge sind z.B. Memo-Listen, Übersichtsgrafiken, Mindmaps..., aber auch mnemotechnische Strategien wie verbales Wiederholen ('rehearsal'), Cluster–Bildung, Erfinden sinnstiftender Geschichten... Die Verfügbarkeit entsprechender Strategien wird allerdings nicht als universelle, dekontextualisierte Fähigkeit aufgefasst, die ein Individuum in unterschiedlichen Situationen einsetzen kann, sondern als enge Verankerung mit dem spezifischen Kontext. Will man die kulturelle Determinierung mentaler Prozesse präziser ergründen, gilt es laut TULVISTE (1999) Korrespondenzen zwischen folgenden kulturellen Faktoren in Betracht zu ziehen: a) Aktivitäten, die in einer Kultur und/oder durch ein Individuum ausgeführt werden; b) Aufgaben, die durch diese Aktivitäten aufgeworfen werden; c) semiotische Werkzeuge oder Mediationsmittel, die Teil der Kultur sind, vom Individuum erworben werden und bei der Bewältigung der Aufgaben zur Anwendung kommen; d) Denkmodi, die funktional mit den Aktivitäten in Zusammenhang stehen und durch die semiotischen Mittel mediiert sind (ibid., S.72), Um die Persönlichkeit eines Menschen zu verstehen ist es wesentlich, die sozialen Zusammenhänge, in denen er lebt, zu verstehen. Dieser soziogenetische Ansatz der menschlichen Natur geht auf Sichtweisen von MARX und ENGELS zurück, die VYGOTSKYs Arbeiten beeinflusst haben:

"'Humans' psychological nature represents the aggregate of internalised social relations that have become functions for the individual and forms the individual's structure" (VYGOTSKY, 1981b, p.164).

Der soziale Ursprung menschlicher mentaler Prozesse spezifizierte VYGOTSKY in der "general genetic law of cultural development".

"Every function in the child's cultural development appears twice, or on two planes. First it appears on the social plane, and then on the psychological plane. First it appears between people as an interpsychological category, and then within the child as an intrapsychological category. This is equally true with regard to voluntary attention, logical memory, the formation of concepts, and the development of volition... It goes without saying that internalization transforms the process itself and changes its structure and functions. Social relations or relations among people genetically underlie all higher functions and their relationships" (1981b, p.163).

Dieses Gesetz birgt nach WERTSCH (1991b) zwei wichtige, oft nicht berücksichtigte Dimensionen. Es beschränkt sich erstens nicht nur darauf, die Beschaffenheit des intrapsychologischen Vorgehens vom Partizipieren am sozialen Leben

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abzuleiten. Es verweist darauf, dass sich der Pfad zu den genetischen Vorläufern auf der interpsychologischen Ebene zurückverfolgen lässt.

"[Higher mental functions'] composition, genetic structure, and means of action [i.e., forms of mediation] – in a word, their whole nature – is social. Even when we turn to mental [i.e., internal] processes, their nature remains quasisocial. In their private sphere, human beings retain the function of social interaction" (1981b, p.164).

Eine Veränderung interner Prozesse erfolgt nicht im Sinne einer direkten und einfachen Kopie sozial organisierter Prozesse. Zwischen den Strukturen und Prozessen der intra- und interpsychologischen Wirkungsweise besteht eine enge Verbindung, die in genetischen Übergängen verankert ist. Demzufolge führen unterschiedliche Formen intermentalen Vorgehens zu diesbezüglichen Unterschieden im intramentalen Vorgehen.

“The essence of the law is that the child in the process of development begins to apply to himself the very same forms of behavior which others applied to him prior to that. The child himself acquires social forms of behavior and transposes those on to himself. … The sign originally is always a means of social contact, a means of influence upon others, and only subsequently does it find itself in the role of a means for influencing himself” (VYGOTSKY, 1960, p.192).

Bezogen auf das "Lernen lernen" – oder das Ausbilden metakognitiven Bewusstseins – in schulischen Lehr–Lern-Situationen bedeutet dies, dass auch entsprechende Lernprozesse sozialen Ursprungs sind und zuerst auf der interpersonalen Ebene erfahren werden müssen. Eine zweite Folgerung von WERTSCH betont, dass VYGOTSKYs Gesetz höhere mentale Funktionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Denken... anders definiert als es traditionelle Auffassungen taten. Der Begriff 'mentale Funktion' kann sowohl auf die individuelle als auch auf die soziale Form der Aktivität angewendet werden. 'Mind' beschränkt sich demnach nicht auf ein menschliches Gehirn, sondern kann über die körperlichen Begrenzungen ('extended beyond the skin') hinaus konzeptualisiert werden.

Dieser Ausschnitt zeigt, dass die sozialen, interpersonellen bzw. -mentalen Prozesse die unabdingliche Vorbedingung für die Genese individueller bzw. intramentaler Prozesse sind. Beide Prozesse werden im wesentlichen durch Artefakte mediiert, wobei die basalen Mediationsmittel sowohl auf der sozialen als auch auf der individuellen Ebene zum Tragen kommen9 (siehe Sprache S.42ff.). Dabei hat VYGOTSKY (1981) bereits betont, dass das Einführen neuer Artefakte in unsere Handlungen, die Verteilung von dem was unter und jenseits der Haut abläuft, verändert. Dieser Prozess kann einige natürliche Prozesse überflüssig machen, deren Funktion vom spezifischen Werkzeug übernommen werden (siehe Zitat S.40).

9 In diesem Zusammenhang kann man VYGOTSKYs Auffassung zur Bedeutung eines Wortes zitieren, die für ihn

gleichzeitig Sprechen und Denken ist – "a unit of verbal thinking" (1987, S.47).

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Dieser Umstand verdeutlicht, dass vielfältige Übergänge zwischen den beiden Ebenen möglich sind, deren Beziehungen weitaus dynamischer gedacht werden müssen als die traditionelle Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen. Die gewohnten Grenzen, die unser Denken zudem weitgehend bestimmten, werden mit dieser Sichtweise zudem in Frage gestellt. Dabei wird auch das kognitive System eines Menschen über die Begrenzungen seines Körpers hinaus gedacht. Besonders Gregory BATESON (1972) wies auf den Aspekt der kulturell mediierten Handlung hin, die Umwandlungszyklen zwischen 'innen' und 'außen' involviert. "'there are lots of message pathways outside the skin, and these and the messages which they carry must be included as a part of the mental system whenever they are relevant" (ibid., p. 458).

Oft zitiert wird dabei sein berühmtes Denkexperiment zu den Grenzen der menschlichen Kognition:

"Suppose I am a blind man, and I use a stick. I go tap, tap, tap. Where do I start? Is my mental system bounded at the hand of the stick? Is it bounded by my skin? Does it start halfway up the stick? Does it start at the top of the stick?" (ibid., p.459).

Für BATESON ergeben solche Fragen erst einen Sinn, wenn man sich nicht nur auf den Mann und seinen Stock konzentriert, sondern auch dessen Ziele und sein Umfeld, in dem er sich befindet, mit in die Analyse einbezieht. Besonders die Theorien der verteilten Natur der menschlichen Kognition (vgl. SALOMON, 1993) führen diesen Gedanken unterschiedlich weiter. Wir betrachten sie als interessante Ansätze, um die Symbiose von individuellem und kulturellem Kontext in Zusammenhang mit der Genese von physikalischen Wissens- und Denkstrukturen in schulisch organisierten Lehr–Lern-Arrangements zu reflektieren.

B. EMERGENZ UND AUSFORMUNG DER ENTWICKLUNG AUS SOZIALEN UND KULTURELLEN PRAKTIKEN HERAUS

In den letzten Jahrzehnten hat man versucht, mittels vielfältiger Konzepte den soziokulturellen Kontext im Hinblick auf die menschlichen Entwicklungsprozesse präziser zu fassen und zu ergründen. Entwickelt wurden dabei Ansätze wie 'situated cognition' (BROWN ET AL., 1989), 'situated learning' (LAVE &WENGER, 1991), Kontext (FORMAN ET AL., 1993), Aktivität (WERTSCH, 1985; ENGESTRÖM, 1987), 'situated practice' (LAVE, 1988b), kulturelle Praktiken (MILLER & GOODNOW, 1995), um nur diese zu nennen. Auf der Basis soziokultureller und anthropologischer Theorieansätze diskutiert COLE (1995b) einige dieser Konzepte im Hinblick auf das Erstellen und Definieren einer ‘supraindividuellen soziokulturellen Entität’. Damit bezeichnet er ein kulturelles Medium, das den Einzelnen einhüllt und in dem seine

Kultur als Kontext für Entwicklung 37

Entwicklung und sein individuelles Wachstum sich vollzieht. Er definiert Kultur als

„a medium constituted of artifacts" (COLE 1995b, p.31).

Artefakte beziehen sich dabei auf materielle Objekte und Werkzeuge, die in einer bestimmten kulturellen Gemeinschaft benutzt werden. Sie wurden durch frühere Generationen ausgeformt und werden laufend den sich verändernden Anforderungen angepasst. In unserer heutigen technologisch hochentwickelten Gesellschaft mediieren z.B. physische Objekte wie Computer, Mobiltelefone, Bücher... unsere Interaktionen mit der physischen und sozialen Welt und stellen auf diese Weise Mediationsmittel ('mediational means’) dar. Daneben regulieren auch konzeptuelle Artefakte ('mediational tools') wie z.B. Sprachen; unterschiedliche numerische Systeme, welche Zahlen oder inzwischen sämtliche Informationen organisieren; Analogien und Modelle in den Naturwissenschaften; Kalender, welche die Zeit in Jahre, Monate, Wochen und Tage organisieren... unser Vorgehen und Verhalten (siehe S.131ff.). Übertragen wir diese Sichtweise z.B. auf das Erinnern von Informationen, so korrelieren kulturelles Medium und die jeweilige Eigenart der sich abspielenden Prozesse. In institutionalisierten Schulumfeldern erinnern sich Kinder mittels spezifischer Artefakte wie verbales Wiederholen ('rehearsal'), Notizennehmen, Listenanfertigen, Kategorisieren..., die in diesem Medium – also in der schulischen Lernkultur – als verbindlich und als wirksam betrachtet werden. Im Gegensatz dazu werden z.B. in naturnahen Dorfgemeinschaften andere Mediationsmittel wie etwa Lieder, Reime, überlieferte Erzählungen, Legenden... vom Umfeld als wirksame Erinnerungsmittel geschätzt und eingesetzt. Die Erforschung der Kultur im Sinne eines Mediums aus historisch entwickelten Artefakten, die organisiert sind, um menschliches Wachsen zu fördern, wird so zu einer zentralen Dimension, um den Prozess der menschlichen Entwicklung zu verstehen (COLE, 1995a). Mediationen mittels kultureller Artefakte Vergleicht man die Entwicklungstheorien in der Tradition von VYGOTSKY und PIAGET, so liegt der fundamentale Unterschied zwischen den beiden Ansätzen weniger in dem üblicherweise hervorgehobenen Primat einer individualistisch vs. einer sozial determinierten Genese der menschlichen Intelligenz, sondern im jeweiligen Beimessen der Bedeutung der Kultur für die kognitive Entwicklung des Menschen. Für VYGOTSKY spielt insbesondere die menschliche Fähigkeit, sein Handeln mittels kultureller Artefakte zu mediieren, eine zentrale Rolle im Bestimmen der Natur und Verortung des mentalen Systems – ein Prinzip, das sowohl seinen genetischen Ansatz als auch die Soziogenese der mentalen

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Funktionen durchdringt. Mediation10 charakterisiert die quantitativen und qualitativen Veränderungen in der Ontogenese und öffnet den Zugang zur Verbindung zwischen der inter- und intramentalen Ebene (WERTSCH 1985). Aus dieser Perspektive heraus bekommen soziale Quellen in seinem Ansatz ein größeres Gewicht als in PIAGETs Ansatz von der sozialen Äquilibration aller in der Kooperation zusammenspielenden Operationen (vgl. PIAGET 1970, S.114). Nach WERTSCH (1991, 1998) müssen wir demnach von einer anderen Analyseeinheit im Rahmen der Erforschung und Förderung von Entwicklungsprozessen ausgehen. Diese darf nicht länger als 'Individuum, das über bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt' aufgefasst werden, sondern als

"person-acting-with-mediational-means" (WERTSCH, 1991, p.119).

WERTSCH (1998) schlägt sie als Basiseinheit zur Beschreibung menschlicher Aktivität vor (siehe S.52ff.). Gerade an der Genese des technologischen und physikalischen Wissens lassen sich die Charakteristika der kulturellen Mediation aus kultur-historischer Sichtweise exzellent veranschaulichen, Kann man doch die Kulturgeschichte einer Zivilisation schon alleine aufgrund der technologischen Entwicklungen, welche die fortwährende Erfindung neuer materieller Werkzeuge induzierte, in weiten Teilen nachvollziehen. Besonders bei überwiegend 'manuellen' Aktivitäten wird die mediierende Funktion von materiellen Werkzeuge auf leicht verständliche Weise einsichtig, charakterisiert sich dieser Bereich doch durch die Konstruktion, den Gebrauch und die Weiterentwicklung von Werkzeugen sowie deren dialektische Beziehungen zum Menschen. Die menschliche Fähigkeit, aus zu bearbeitenden Stoffen seiner materiellen Umwelt bewusst zweckgerichtete Artefakte herzustellen, zu nutzen und permanent weiterzuentwickeln wie z.B. scharfe Arbeitskanten aus Steinabschlägen, hebt BERGSON (1912) als fundamentalen menschlichen Wesenszug hervor.

"If we could rid ourselves of all pride, if, to define our species, we kept strictly to what the historic and prehistoric periods show us to be the constant characteristic of man and of intelligence, we should not say Homo sapiens but Homo Faber. In short, intelligence, considered in what seems to be its original feature, is the faculty of manufacturing artificial objects, especially tools for making tools, and of indefinitely varying the manufacture" (ibid., p.139).

Entsprechende Artefakte (Werkzeuge, Vorrichtungen...) stellen Koordinationsversuche mit der natürlichen und sozialen Umwelt dar und fließen als Mediatoren auf der intramentalen Ebene in das menschliche Denken und Handeln ein. LURIA (1928) unterstreicht die Bedeutung der Herstellung und des

10 Erst die Mediation macht in Zusammenhang mit dem genetischen Ansatz und dem sozialen Ursprung höherer

mentaler Funktionen die Partikularität seines Ansatzes aus. (WERTSCH, 1991b).

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funktionalen Einsatzes von Werkzeugen für die Evolution des Menschen im Gegensatz zu tierischen Lebensformen.

"Man differs from animals in that he can make and use tools. [These tools] not only radically change his conditions of existence, they even react on him in that they effect a change in him and his psychic condition" (ibid., p.493).

Die strukturelle Veränderung, die durch die Mediation erfolgt, beschreibt LURIA mit folgenden Worten:

„instead of applying directly its natural function to the solution of a particular task, the child puts between that function and the task a certain auxiliary means … by the medium of which the child manages to perform the task” (ibid., p.495).

Insbesondere das vom Kinde getätigte Umgehen mit bestimmten Aufgaben, wie es LURIA hier erwähnt, muss eine zentrale Dimension bei der Gestaltung von schulischen Lehr–Lern-Situationen erhalten. Dies verweist u.a. auf Ansätze wie 'performance before competence' (CAZDEN, 1981), bei dem das Kind im sinnvollen Umgang mit bestimmten Werkzeugen seine Kompetenzen allmählich weiterentwickelt (siehe S.50). Die Basisstruktur menschlicher Kognition angesichts der Mediation durch Werkzeuge wird traditionell durch das folgende Mediationsdreieck veranschaulicht (siehe Abbildung 13).

Einwirken mittels kultureller Hilfsmittel X

S R Natürliches, phylogenetisch bedingtes Einwirken

auf der individuellen Ebene

Abbildung 13: grundlegendes Mediationsdreieck von VYGOTSKY

Das unmittelbare Einwirken mittels der in der Phylogenese ausgeformten 'natürlichen' Mittel – dargestellt durch die Basis des Dreiecks – und der Rückgriff auf kulturell ausgeformte (Hilfs-)Mittel – dargestellt durch die Spitze des Dreiecks – sind zwei Zugänge, die simultan ablaufen und bestehen bleiben. Die Mediationsfunktion der kulturellen Artefakte steigert dabei das menschliche Handlungspotential um ein Vielfaches, da die natürlich gegebenen Einwirkungsmöglichkeiten wesentlich erweitert werden.

Kultur als Kontext für Entwicklung 40

Zudem verändern Artefakte (siehe auch S.37) die beteiligten mentalen Prozesse auf fundamentale Weise, wie es VYGOSTSKY (1981) beschreibt, statt sie nur zu erleichtern:

"The inclusion of a tool in the process of behavior (a) introduces several new functions connected with the use of the given tool and with its control; (b) abolishes and makes unnecessary several natural processes, whose work is accomplished by the tool; and alters the course and individual features (the intensity, duration, sequence, etc.) of all the mental processes that enter into the composition of the instrumental act, replacing some functions with others (i.e., it re-creates and reorganizes the whole structure of behavior just as a technical tool re-creates the whole structure of labor operations) (1981, p.139f.).

Dieses Zitat verdeutlicht des weiteren, dass unsere gesamtes Denken und Handeln kulturell, historisch, institutionell situiert bzw. kontextspezifisch ausgeformt ist. Jedes Artefakt, das im Laufe der menschlichen Entwicklung in die mentalen Vorgehensweisen integriert wird, ist selbst wieder kulturell, historisch, institutionell situiert bzw. kontextspezifisch ausgeformt. COLE & WERTSCH (n.d.) kommentieren dies mit der Aussage:

"In a sense, then, there is no way not to be socioculturally situated when carrying out an action"

In Zusammenhang mit der Gestaltung schulischer Lehr–Lern-Situationen zum Aufbau physikalischer Wissens- und Denkstrukturen gilt es, die Funktion der spezifischen Artefakte gründlich zu reflektieren. Sie beschränken sich folglich nicht nur darauf, bestehende mentale Prozesse irgendwie zu erleichtern – nein, sie verändern und modellieren sie grundlegend in ihrer Beschaffenheit. Besonders in institutionalisierten Ausbildungsszenarien erfordert zudem die Entwicklung über die Zeit, dass Forstschritte dokumentiert und mit sämtlichen Akteuren reflektiert werden. In diesem Sinne verweisen wir auf COLE & ENGESTRÖM (1993), die das klassische Mediationsdreieck (siehe S.39) als eine zu statische Beschreibung der basalen strukturellen Beschränkungen der menschlichen Kognition sehen und um die dynamische Dimension der Zeit ergänzen.

„time – in the course of which the two worlds (the directly given and the culturally mediated) are constantly synthesized to provide the mental foundations of people's real-time actions in the world” (ibid., p.6).

In ihrem erweiterten Modell (siehe Abbildung 14) versuchen die beiden Autoren dem doppelten Angebot an Ressourcen gerecht zu werden. Dabei verdeutlichen sie, dass – � neue Wissensstände sich immer aus der Koordination unterschiedlicher

Informationsquellen ergeben, wobei die Bedeutung der für die Realisierung einer Handlung verfügbaren kulturellen Ressourcen zu einem bestimmten Zeitpunkt hier anschaulich verdeutlicht wird;

– � Kognition immer die Analyse und die Synthese von mindestens zwei Informationsquellen in Realzeit erfordert.

Kultur als Kontext für Entwicklung 41

Dies verdeutlicht, dass die Entwicklung menschlicher kognitiver Fähigkeiten stark durch andere Menschen geprägt wird, sowohl durch solche, die im Augenblick des Eingreifens präsent sind als auch durch solche, die vor unserer Zeit gelebt haben. Diesen Umstand hat VYGOTSKY wie gesehen (siehe S.34) als "general law of cultural development" beschrieben.

O sm = das Objekt, wie es durch das Medium (M) repräsentiert wird

Zeitpunkt n M (Artefakt) Zeitpunkt n+1

Initialer Wissensstand des Subjekts

O sm St n+1

St n O n

Neuer Wissensstand des Subjektes zum

Zeitpunkt n+1

unmittelbare Auseinandersetzung des Subjekts (S) mit dem Objekt (O) zum Zeitpunkt n

O n = das Objekt zum Zeitpunkt n

Abbildung 14: überarbeitetes Mediationsdreieck von COLE & ENGESTRÖM (1993) inklusive Zeit als Analyseeinheit

Die Soziogenese höherer mentaler Funktionen Besonders die semiotischen, d.h., auf Zeichen basierenden, Ressourcen11 nehmen eine zentrale Rolle in VYGOTSKYs soziohistorischem Erklärungsansatz der individuellen Entwicklung ein. Auch wenn er sich vor allem mit der Mediation durch Sprache – 'the master tool' (COLE, 1994) – beschäftigt hat, so umfasste sein Verständnis der Mediationsmittel auch

"various systems for counting; mnemonic techniques; algebraic symbol systems; works of art; writing; schemes, diagrams, maps, and mechanical drawings; all sorts of conventional signs, and so on" (VYGOTSKY, 1981a, p. 137).

WERTSCH (1991b) betont zwei wesentliche Eigenschaften entsprechender Zeichen, die man in Betracht ziehen muss, falls man VYGOTSKYs Auffassung von mentalen Prozessen verstehen will.

"By being included in the process of behavior, the psychological tool alters the entire flow and structure of mental function" (VYGOTSKY, 1981a, p.137).

Das Einführen eines psychologischen Werkzeugs wie etwa der Sprache in einen mentalen Prozess verändert diesen fundamental statt – wie oft angenommen – 11 Diese werden auch noch als psychologische Werkzeuge ('tools') bezeichnet.

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ihn lediglich zu erleichtern. Auch andere zeitgenössische kognitive Theorien verweisen darauf, dass ausgefeilte Formen der Mediation wie etwa detaillierte Repräsentationen die Leistungsfähigkeit eines Menschen beim Bewältigen komplexer Aufgaben steigern wie etwa durch räumliche und zeitliche Distanzeinnahme. Die zweite Charakteristik semiotischer Mediation individualisiert VYGOTSKYs Ansatz:

"By their nature [signs] are social, not organic or individual" (VYGOTSKY, 1981a, p.137).

Die soziale Natur der Zeichen spiegelt sich in zwei Art und Weisen wider: – � Sie werden in interpsychologischen Prozessen zur Kontaktaufnahme,

Kommunikation... eingesetzt. – � Sie sind Produkte der soziokulturellen Evolution und im soziokulturellen

Kontext eingebettet. Sie werden weder von jedem Einzelnen, noch in der isolierten Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Natur erfunden, noch sind sie angeboren. Menschen erwerben entsprechende Werkzeuge durch Enkulturation in eine bestimmte Kultur auf der Makroebene.

Funktion der Sprache Der Mediation durch Sprache fällt nach VYGOTSKY eine besondere Funktion zu. Die semiotische Mediation kann man laut WERTSCH (1985) durch die 'semiotischen Potenziale' verstehen, die VYGOTSKY in der Sprache sah. Die Sprache hat seiner Auffassung nach das Potenzial auf eine kontextgebundene oder dekontextualisierte Art und Weise zu funktionieren. Das kontextgebundene Potenzial zeigt sich z.B. besonders in frühen Phasen der Ontogenese, wo Sprache eng an den extralinguistischen Kontext gebunden ist. Später formt sie dann ihren eigenen Kontext aus und generiert dabei Phänomene wie etwa persönliche Abkürzungen, welche die Struktur des egozentrischen oder inneren Sprechens charakterisieren. Das Potenzial "Mediationsmittel zu dekontextualisieren" verdeutlicht VYGOTSKY anhand der Emergenz 'wissenschaftlicher' Konzepte. Linguistische Expressionen werden dabei aus dem kommunikativen Gebrauchskontext herausgehoben und zu Objekten der Analyse und Reflexion gemacht, wie es z.B. die Begriffe in Wörterbüchern widerspiegeln. Ein einzelnes Wort wird dabei als typischer Vertreter ('sign type') und nicht länger als beliebiger Ausdruck ('sign token') betrachtet. Seine Definition bleibt über die Kontexte hinweg unverändert – eine Aussage, die in dieser Absolutheit noch zu hinterfragen ist (siehe S.47). Besonders im Rahmen der Konstruktion des elementaren naturwissenschaftlich–technischen Wissens ist die Genese und der Einsatz spontaner bzw. wissenschaftlicher Begriffe von höchstem Interesse, die wir im Laufe unserer Analyse näher beleuchten werden (siehe S.187ff.).

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Die beiden semiotischen Potenziale stehen auch in Zusammenhang mit dem genetischen Ansatz und der Soziogenese höherer mentaler Funktionen. Dabei ist das kontextualisierte Potenzial eng an die Entwicklungsprozesse geknüpft, die beim Übergang vom sozialen Sprechen – dem Funktionieren auf der interpsychologischen Ebene – zum egozentrischen Sprechen auf der intrapsychologischen Ebene erfolgen. Dekontextualisierung dagegen steht in Zusammenhang mit der Genese von 'Komplexen', 'Pseudokonzepten' und echten (wissenschaftlichen) Konzepten, welche die Konzeptentwicklung beim Individuum in enger Abhängigkeit zum jeweiligen sozialen Umfeld analysieren (vgl. GEE, 1997). Die angesprochene Kontextspezifität der Artefakte und die damit verbundene Ausformung der mentalen Strukturen charakterisiert besonders in ihrer dekontextualisierten Ausformung die schulischen Mediationsprozesse zur Förderung bereichsspezifischer Wissens- und Denkstrukturen. Ähnlich wie kein Werkzeug besteht, das für alle Aktivitäten geeignet ist, dürfen auch die Mediationsmittel nicht als übergreifend, einheitlich und universell gedacht werden – eine Tatsache, die wird auch in neueren, bereichsspezifischen Ansätzen der Entwicklung wiederfinden. Um die semiotische Natur des Lernens zu verdeutlichen, besonders aber die Rolle, welche die Sprache in diesem Prozess einnimmt, kann man auf HALLIDAY (1993a) verweisen, für den:

"the distinctive characteristic of human learning is that it is a process of making meaning – a semiotic process; and the prototypical form of human semiotic is language" (1993a, p.93).

Das Erlernen der Muttersprache – das Konstruieren ihrer Lexico-Grammatik im Sinne eines Bedeutungs-Potenzials – stellt dem Kind ein mächtiges und vielseitiges Werkzeug zur Verfügung, um zusammen mit anderen Teilnehmern der Gemeinschaft an Aktivitäten teilzunehmen und über sie zu reflektieren. Das was wir folglich bezüglich der Sprache lernen, hängt im wesentlichen davon ab, wozu wir sie verwenden. Nach WELLS (1994, 1999) spielt die Sprache, in ihrer oralen als auch verbalen Form, bei zwei unterschiedlichen Praktiken eine wichtige Rolle: (a) beim Handeln, (b) beim Verstehen. Beim Handeln übernimmt die Sprache die primäre Funktion, das Handeln zu mediieren wie z.B. Ziele und Mittel auszuhandeln, andere bzw. nonverbale Verhaltensformen zu situieren sowie die interpersonalen Zusammenhänge aufeinander zu beziehen... Sie ermöglicht den Mitgliedern einer Gemeinschaft, ihre Handlungen in Zusammenhang mit dem anvisierten Objekt zu koordinieren. Beim Verstehen liegt der Schwerpunkt auf der Reflexion. Die Sprache stellt demnach ein Mittel dar, um die Personen, die beteiligten Objekte und die Handlungen sowie die Beziehungen zwischen sämtlichen Komponenten zu repräsentieren und über sie zu reflektieren (1994, S.3; 1999, S.139). HALLIDAY

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(1993a) spricht in Zusammenhang mit der Repräsentationsfunktion von einer "Theorie der menschlichen Erfahrung"

" a semiotic world of its own: a parallel universe... [which serves] as model, or metaphor, for the world of action and experience" (ibid., p 107).

Beide Formen können selbstverständlich nicht als vollkommen verschieden und getrennt gedacht werden. WELLS (1999) verweist darauf, dass beim Handeln die Sprache eine wichtiges Mittel darstellt, um Referenzen zu den anderen Komponenten der Aktivität, in der die Teilnehmer engagiert sind, zu erstellen. Beim Verstehen erfordert jede Reflexion auch das Umgehen mit Zielsetzungen und interpersonalen Beziehungen (ibid., S.139). WELLS analysiert diese beiden Funktionen der Sprache auch im Rahmen schulischer Aktivitäten, in die wir Schüler engagieren wollen und die wir als 'apprenticeship' in die verschiedenen Formen des Wissens konzipieren können. Jede Aktivität weist dabei Komponenten auf, die einerseits mehr zum Handeln und andererseits mehr zum Reflektieren tendieren, wobei jeweils unterschiedliche Anforderungen an das semantische Bedeutungspotenzial gestellt werden. Im Bereich der Naturwissenschaften kann man z.B. zwischen stärker praktisch- bzw. theoretisch-orientierten Tätigkeiten unterscheiden, bei denen die Sprache jeweils eine andere Rolle spielt. Wir haben es folglich mit anderen Diskursen zu tun, wenn einfache physikalische Versuche geplant und organisiert werden als wenn z.B. Hypothesen erstellt werden oder die Relevanz unterschiedlicher Befunde in bezug zum übergreifenden theoretischen Rahmen diskutiert wird. Dabei können beide Situationen auf den gleichen Inhalt verweisen (siehe Semiotik S.136ff.), der aber in unterschiedlichen Aktivitäten aufgearbeitet wird und demzufolge auch unterschiedliche Diskurs-Genres generiert, in denen die Aktivitäten in die Tat umgesetzt werden. Während beim praktischen Experimentieren der Diskurs lediglich eine Nebenrolle spielt, stellt beim Diskutieren der Diskurs die eigentliche Aktivität dar. Akademische Disziplinen werten beide Formen semiotischer Aktivität sowie die damit verbundenen Diskurs-Genres als wichtig. Beim Versuch den übergeordneten disziplinären Zielen gerecht zu werden, nehmen die Diskurs-Genres komplementäre und interdependente Funktionen ein, welche zusammengenommen im Großen und Ganzen das darstellen, was man gemeinhin als 'wissenschaftliches Arbeiten' betrachtet. Die Schüler müssen demzufolge im Bereich des naturwissenschaftlich–technischen Bereichs die Gelegenheit bekommen, sich mit den wesentlichen Diskurs-Genres vertraut zu machen und sie progressiv zu beherrschen, indem sie sich in eine große Bandbreite von Aktivitäten engagieren können, in denen solche Genres zum Einsatz kommen. Es ist selbstverständlich, dass dabei den Schüler angemessen Unterstützungshilfen wie Modelle, Rückmeldungen, Beratung... zur Verfügung gestellt werden müssen.

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Die semiotischen Ressourcen, auf die Schüler beim Sprechen oder Schreiben im Rahmen naturwissenschaftlicher Lehr–Lern-Situationen zurückgreifen können, werden wir näher ab S.157 vorstellen. Für eine nähere Analyse der spezifischen Unterschiede zwischen Rede und Text verweisen wir auf WELLS (1999, S.141ff.). In einem soziokulturellen Entwicklungsansatz fällt der Sprache darüber hinaus eine weitere wichtige Funktion zu: Sie stellt das Hauptinstrument dar, um Wissen und Praktiken früherer Generationen an die zukünftigen Generationen zu übermitteln. Wir haben es hier mit einer weiteren authentischen Charakteristik der Menschheit zu tun: dem Bedürfnis und der Fähigkeit, in einer Umwelt zu leben, die bereits durch die Aktivität vorhergehender Generationen gestaltet wurde. Die Kenntnisse der Umweltveränderung, der Werkzeugherstellung und des -gebrauchs werden von Generation zu Generation weitergegeben und dabei ständig erweitert sowie den spezifischen Bedürfnissen der Zeit angepasst. Die kultur-historische Perspektive von Entwicklungsverläufen sieht sämtliche kulturelle Artefakte einer Gemeinschaft – inklusive der psychologischen 'tools' – als partikulare Kreationen zu spezifischen Zeitpunkten in der Evolution dieser Kultur. Sie werden aus den Bedürfnissen des momentanen Aktivitätssystems, in dem sie benutzt werden, geboren und laufend von den an der Aktivität partizipierenden Teilnehmer weiterentwickelt. Automatisierte und unbewusste Fertigkeiten – als Voraussetzungen für zielgerichtete Handlungen (siehe S.53 LEONTJEW) – werden in Reflexionsphasen von der unteren Ebene der Operationen (erneut) hervorgeholt, überdacht, weiterentwickelt und als unabdingbare Grundelemente wieder auf die Ebene der unbewusst ablaufenden Operationen zurück automatisiert (vgl. MAX, 1999, S.381ff.). Auf diese Weise kann der Mensch, aufbauend auf den Erfahrungen der früheren Generationen, die bereits von anderen Generationen gestaltete Umwelt an die eigenen Bedürfnisse anzupassen.

"While the animal learns something in its individual life, this always remains his own property but the creations and achievements of man have a lasting existence and transmit themselves from one generation to the next. This fact is the reason of man's immense development, the fact that each generation did not always have to begin anew, but could continue its work where its predecessor left off ... Society consists not only of those living now, it also reaches in the past and in the future" (STERN, 1920/1990, p.18).

Die zur Verfügung stehenden semiotischen Ressourcen bringen es mit sich, dass dem Menschen beim Bewältigen von bestimmten Aufgaben oder Problemen erweiterte Möglichkeiten zur Verfügung stehen. So werden z.B. beim Hämmern seine natürlichen Mittel in Form von Muskeln, natürlichen Körperhebeln... im Bereich der Ober- und Unterarme durch die materielle und symbolische Ebene, die beim Rückgriff auf ein kulturelles Artefakt (Werkzeug Hammer) zusammenwirken, ausgebaut: der Begriff HAMMER, die ikonenhafte

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Repräsentation eines Hammers als Prototyp für eine ganze Kategorie von Schlagwerkzeugen; die impliziten Repräsentationen vom Hämmern. LURIA (1981) beschreibt dies folgendermaßen:

„The enormous advantage is that their world doubles. In the absence of words, human beings would have to deal only with those things which they could perceive and manipulate directly. With the help of language, they can deal with things that they have not perceived even indirectly and with things which were part of the experience of earlier generations. Thus, the world adds another dimension to the world of humans. . . . Animals have only one world, the world of objects and situations. Humans have a double world” (LURIA, 1981, p. 35).

Wie es aus diesen Anführungen hervorgeht werden höhere mentale Funktionen kulturell mediiert. Sie implizieren – wie es die Abbildung 13 bzw. Abbildung 14 verdeutlichen – nicht ein direktes Einwirken auf die Umwelt, sondern eine 'indirekte' Handlung, bei dem ein 'tool' in eine Handlung eingebaut wird, das durch frühere menschliche Praktiken ausgeformt wurde12. Auf diese Weise profitiert die aktuelle Ausführung einer Handlung von der mentalen (Vor-)Arbeit früherer Generationen, die dieses Artefakt hervorgebracht hat. Das Partizipieren an kulturellen Praktiken reduziert sich demnach nicht nur auf simple Modellierungsprozesse, sondern umschließt auch aktive Konstruktionsprozesse. Insgesamt legt VYGOTSKY eine starke Gewichtung auf den Menschen als aktiv Lernenden und geistig Tätigen im Gegensatz zum passiven Aufnehmen von Informationen.

"Activity and practice: these are the new concepts that have allowed us to consider the function of egocentric speech from a new perspective, to consider it in its completeness ... But we have seen that where the child's egocentric speech is linked to his practical activity, where it is linked to his thinking, things really do operate on his mind and influence it. By the word things, we mean reality. However, what we have in mind is not reality as it is passively reflected in perception or abstractly cognized. We mean reality as it is encountered in practice (1987, p. 78f.).

Der Aktivitätsgedanke konkretisiert sich in der Betonung von Praktiken wie Sprechen und Denken und in dem Hervorheben der Ko-Konstruktion, die sich aus der Komplementarität der Aktivitäten des Individuums einerseits und des Umfeldes andererseits, ergibt. In Bezug auf die Sprache und unter Berufung auf VYGOTSKY (1981), COLE (1985) und HALLIDAY (1975, 1993b) betont WELLS (1994) im Hinblick auf die Artikulation von soziohistorischer und individueller Entwicklung dass:

"in mastering the culture's linguistic resources and the functions they serve, through participation in interaction in the context of joint activity, the novice both transforms his or her potential for social action and also constructs for him or herself the means for performing these functions intramentally in the medium that Vygotsky called "inner speech". Thus, in the speech through

12 Bei manuellen Tätigkeiten kann man sogar ein Stück Materie wie etwa Stein, Eisen... in Erwägung ziehen, das

durch frühere Eingriffe eines Menschen bearbeitet wurde und so z.B. eine scharfe Kante zum Schneiden erhielt.

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which more and less expert participants negotiate and comment on their joint activity, the sociohistorical and the ontogenetic planes of development are brought into a productive interaction with each other, each being influenced by, and influencing, the other" (1994, p.3).

Die Bedeutung des soziokulturellen Backgrounds für die Genese höhere mentaler Funktionen im Rahmen einer durch Werkzeuge mediierten gemeinsamen Aktivität hat LEONTJEV (1981) in seiner Zusammenfassung von VYGOTSKYs 'initial insight' präzise formuliert:

"The tool mediates activity and thus connects humans not only with the world of objects but also with other people. Because of this, humans' mental processes (their 'higher psychological functions') acquire a structure necessarily tied to the sociohistorically formed means and methods transmitted to them by others in the process of cooperative labor and social interaction. But it is impossible to transmit the means and methods needed to carry out a process in any way other than an external form – in the form of an action or external speech. In other words, higher psychological processes unique to humans can be acquired only through interaction with others, that is, through interpsychological processes that only later will begin to be carried out independently by the individual" (1981, p.55f.).

Aus den angeführten Erläuterungen lässt sich folgern, dass sich die mentalen Funktionen aus der Artikulation von biologischer Entwicklung und der Aneignung des kulturellen, ideellen und materiellen Erbes entwickeln, das die Leute zu einem bestimmten Zeitpunkt untereinander sowie mit der physikalischen Welt verbindet. Überträgt man diese Sichtweisen auf den Erwerb physikalischer Denk- und Wissensstrukturen, so kann man die Organisation schulischer Lehr–Lern-Situationen, in Anlehnung an das Konzept der "Entwicklungsnischen" von HARKNESS & SUPER (1986 zit. in WERTSCH & COLE), konzipieren, welche die Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft für Novizen und Einsteiger arrangieren. Die Beschaffenheit einer solchen Nische umfasst nicht nur das kulturelle Erbe aus Sicht der Erwachsenen (die Form der erforderlichen sozialen Beziehungen mit eingeschlossen), sondern auch Vorannahmen über die Zukunft des Kindes.

"The niche is simultaneously a socio-physical location, a cultural medium, and an interpretative frame. Children in human developmental niches are both natural and cultural entities at the start of post-natal development" (COLE & WERTSCH, n. d.).

Der Aufbau allgemeiner wissenschaftlicher Begriffe, wie wir ihn auch in unserer Kultur systematisch fördern, entspricht laut WELLS (1994) nicht unbedingt der höchsten Ebene intellektueller Entwicklung, wie es vielleicht VYGOTSKYS Darstellungen zu verstehen geben könnten. So zeigen kulturspezifische Studien der kognitiven Entwicklung (vgl. Übers. in WELLS, S.5), dass Kinder nur zu dekontextualisiertem Denken, als Ergebnis ihrer intramentalen Entwicklung, tendieren, wenn ihre Kultur zwei entscheidende Merkmale aufweist:

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a. ein breit geteiltes Bedürfnis nach einer entsprechenden semiotischen Ressource, welche den Aufbau eines naturwissenschaftlich–technischen Wissens mediiert; b. einen institutionellen Rahmen, in dem die aufeinanderfolgenden Generationen in solche Denkweisen eingewiesen werden. Da beide Bedingungen in einem Land wie z.B. Luxemburg seit langem erfüllt sind, findet eine entsprechende Ausformung der intramentalen 'tools' bei den heranwachsenden Generationen in der Regel statt. Doch selbst in solchen Kulturen hängt der Anteil der Menschen, die zu einem entsprechenden Denken überhaupt in der Lage sind, von ihren Möglichkeiten ab, an Aktivitäten teilzunehmen, in denen entsprechende Denkformen zum Tragen kommen (vgl. WELLS, 1981). Wie wir es in unserer Anfangsanalyse betont haben, schätzen wir den Anteil der luxemburgischen Schülerpopulation, die entsprechende höhere mentale Funktionen entwickelt, eher als gering ein. Hinweisen muss man zudem noch auf den Umstand, dass 'wissenschaftliche Rationalität' als Denkform, auch wenn diese in westlichen Industriegesellschaften einen hohen Status genießt, alternativen Denkweisen nicht als überlegen in einem absoluten Sinne vorgehalten werden darf. Die herausragende Stellung eines entsprechenden Artefakts in einer Kultur steht in Funktion zur historischen Entwicklung, die sich innerhalb der jeweiligen Kultur abgespielt hat (WELLS, 1994, S.5). Das Prinzip der Soziogenese höherer mentaler Funktionen, wie es VYGOTSKY in der "general genetic law of cultural development" formulierte (siehe S.34), konkretisiert sich im Konstrukt der ‘Zone der nächsten Entwicklung – ZNE' – dem wohl am meisten aufgegriffenen Vermächtnis VYGOTSKYs13 im angelsächsischen Raum. Zone der nächsten Entwicklung Das spezifische Unterstützen des Kindes durch kompetentere Partner charakterisierte VYGOSTSKY (1978) als Arbeiten in der 'Zone der nächsten Entwicklung'. Dabei handeln beide in einem gemeinsamen Bereich, der über das hinausgeht, was das Kind alleine zu bewerkstelligen in der Lage ist. VYGOTSKY (1935/1978)14 definierte dieses Konzept anfangs im Rahmen des Erfassens der intellektuellen Fähigkeiten der Kinder im Hinblick auf eine dynamischere Auffassung von Intelligenz als der starre IQ-Wert (vgl. Übers. in WELLS, 1999, Kap.10). So kann man die initiale Konzeption als Unterscheidung zwischen

13 In den 70er Jahren und bis ungefähr Mitte der 80er wurden in diesem Zusammenhang vor allem die sozialen

Interaktionsprozesse erforscht, in denen Kinder kognitive Fertigkeiten erwerben (vgl. Übers. in MINSTRY, 1997, S.348f.; WERTSCH, 1991b, S.90).

14 Das Kapitel 6 aus 'Mind in Society' (1978) erschien erstmals in der posthum veröffentlichten Essay-Sammlung ‚Mental Development of children and the process of learning’ (1935).

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zwei verschiedenen Test-Performanzen des Kindes auslegen: einmal mit und einmal ohne Unterstützung.

„the distance between the actual level of development as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with more capable peers“( VYGOTSKY, 1978, p.86).

Eine zweite, für Unterricht wesentlich interessantere Auslegung des Begriffs findet man im Kapitel 6 von ‚Thinking and Speech’ in Zusammenhang mit der Emergenz wissenschaftlicher Konzepte des Kindes. Der Akzent verlagert sich hier auf die Instruktion in Zusammenhang mit der Genese höherer mentaler Funktionen, die VYGOTSKY (1934/1987) als bewusst und volitional charakterisiert. Der Fokus liegt hier auf dem Bestimmen der oberen und unteren Randbereiche einer Zone, in der Instruktion vorzugsweise ansetzen soll.

„instruction is only useful, when it moves ahead of development” (ibid., p.212).

“leading the child to carry out activities that force him to rise above himself” (ibid., p.213).

Wie nun aber diese Instruktion aussehen soll, wird von VYGOTSKY nur sehr knapp dargestellt und bedarf sicher zusätzlicher Präzisierungen im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit.

„The teacher working with a school child on a given question, explains, informs, inquires, corrects, and forces the child himself to explain. All this work on concepts, the entire process of their formation, is worked out by the child in collaboration with the adult in instruction” (ibid., p.215f.).

Dieses Zitat, das noch einmal die bereits erwähnte aktive Rolle des Kindes hervorstreicht (siehe S.46), umschließt andererseits eine Reihe summarischer Andeutungen, die es im weiteren Verlauf der Arbeit näher zu bestimmen gilt: – � Wie muss der Lehrer seine Rolle wahrnehmen, wenn er erklären,

informieren, forschen und korrigieren soll. Hier drängen sich eine Vielzahl von Fragen auf, besonders wenn er das Kind anregen will, selbst Erklärungsansätze zu formulieren.

– � An welchen Fragen dürfen oder müssen Kinder überhaupt arbeiten? – � Wie sieht die aktive Rolle des Kindes bei der Konstruktion neuer Konzepte

aus? – � Wie muss die Kollaboration mit Gleichaltrigen sowie dem Lehrenden

längerfristig gestaltet werden, damit sie Entwicklungen voran treibt. “Now [i.e. in the test situation], when the child solves a problem … [he] must make independent use of the results of the earlier collaboration” (ibid., p.215f.).

Wie es die Erläuterungen belegen, unterscheidet VYGOTSKY zwischen zwei verschiedenen Modi der Interaktion: Interaktionen zwischen Gleichaltrigen und die Erwachsenen–Kind–Interaktion, die wir im Laufe der Arbeit noch näher besprechen werden. Beide Modi schließen sich keinesfalls aus, und sind eher komplementär und interdependent als streng voneinander getrennt zu sehen. Die Grenzen zwischen den beiden Modi lassen sich nur unklar bestimmen.

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Aus den beiden spezifischen Auffassungen der ZNE lassen sich die folgenden drei Hauptideen zurückbehalten. A) Die Schrittmacherfunktion des Lernens für die kindliche Entwicklung – ein Ansatz, der PIAGETs Sequenz Entwicklung–Lernen diametral gegenübersteht. 'Leitung' bzw. 'Unterweisung' muss, um für den Lernenden optimal und für den Lehrenden zufriedenstellend zu sein, der kindlichen Entwicklung voraus sein und genau in dieser Zone angesiedelt werden, denn

"learning awakes a variety of developmental processes that are able to operate only when the child is interacting with people in his environment and in cooperation with peers (1978, p.90).

Der entscheidende Punkt besteht demnach darin, dass bereits wenig kompetente Lerner an Interaktionen teilnehmen können, die ihr augenblickliche Kompetenz im Sinne eines individuellen und selbstständigen Bewältigens übersteigen. CAZDEN (1981) hat dies als "performance before competence" beschrieben15. Dabei operieren die Novizen unter Auflagen, die zum Teil von den kompetenteren Mitgliedern festgelegt wurden. Ein entscheidender Faktor dieses Prozesses besteht darin, dass sie in der Lage sein müssen, mit semiotischen 'tools' und anderen Artefakten über das augenblickliche Verständnis hinaus umzugehen und sie mit potenziellen Handlungsformen zu verbinden. Das Ausführen mit Unterstützung oder zumindest das Partizipieren an Performanzen anderer, die über dem eigenen aktuellen Kompetenzniveau liegen, stellt demnach eine Voraussetzung für ein erfolgreiches intermentales Funktionieren dar und kann, falls nicht vorhanden, unter Umständen die positiven Effekte kollaborativen Lernens entscheidend einschränken. In diesem Zusammenhang muss man zudem erwähnen, dass Menschen nur bereit sind, sich an etwas Neues heranzutrauen sowie über das bisher Beherrschte und Vertraute hinauszugehen, wenn dies in einem unterstützenden Lernklima und absichernden Rahmen erfolgt, der Kompetenz anerkennt und so erst ermöglicht (vgl. MAX, 1999, S.207). Dabei vollziehen sich soziale Interaktion niemals auf direkte Art und Weise, also unvermittelt und transparent, sondern in einem durch kulturspezifische Artefakte angereicherten Medium, einen Punkt, den VYGOTSKY stets in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte (siehe S.42).

B) Die sozialen Rahmenbedingungen, unter denen menschliches Lernen stattfindet und bei denen, im Gegensatz zu tierischen Lernformen, besonders die Unterstützung durch Lehrende und kompetentere Gleichaltrige hervorsticht:

„human learning presupposes a specific social nature and a process by which children grow into the intellectual life of those around them“ (1978, p.88).

Diese soziale Natur des Lernprozesses, die auch als progressives Hineinwachsen in die Praktiken einer Gemeinschaft mit zunehmender

15 vgl. auch die Dimension der Herausforderung für die Entwicklung von Kompentenz in MAX (1999,

S.444/473).

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Verantwortungsübernahme beschrieben wird (vgl. LAVE & WENGER, 1991), werden wir im Laufe der Arbeit noch näher erläutern.

C) Die ZNE öffnet dem Lehrenden ein Fenster auf das Potenzial des Lernenden, auf das, was er allein meistern kann und auf das was er nur mittels gezielter Hilfestellung zu leisten im Stande ist. Auch hier öffnen sich neue Dimensionen für die Gestaltung von Unterricht sowie die Definition und Beurteilung von Leistung (vgl. auch MAX, 1999, S.228ff.). Darüber hinaus wirft das Konzept der ZNE eine Reihe von Fragen auf, die es im weiteren Verlauf der Arbeit und angesichts des hier diskutierten spezifischen Anwendungsfeldes zu analysieren gilt (vgl. auch WELLS, 1999, S.314f.): – � Kann man die ZNE auch über die kognitive Entwicklung hinaus auf andere

Entwicklungsdimensionen des Kindes beziehen? – � Haben wir es im Bereich der ZNE mit domänspezifischen (kognitiven)

Entwicklungen zu tun, wie es neuere Befunde zur Entwicklung bereichsspezifischen Wissens ausweisen oder gibt es ebenfalls übergreifende, universale Entwicklungsschritte?

– � Kann die Unterstützung – wie vom Autor angedeutet – nur in einer face–to–face Interaktion stattfinden oder kann sie auch über andere Mediatoren und Formen erfolgen?

– � Stellt die ZNE ein evolutives, aber quantifizierbares Attribut des Kindes dar? Inwieweit wechselt diese Zone bereichsspezifisch?

– � Welchen Bedingungen muss die kollaborative Organisation von Lernprozessen aufweisen, um Entwicklungsfortschritte zu erreichen?

Das Konzept der ZNE fungiert seit seiner Veröffentlichung als ein Werkzeug, als eine Art ‚thinking tool’, mit dem Forscher in unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexten versuchen, die menschliche Entwicklung zu ergründen. Von diesen alternativen Sichtweisen der ZNE wollen wir im Anschluss kurz zwei vorstellen, um zu analysieren, inwieweit neue lerntheoretische Momente in dieses Konzept einfließen. Diese sind das Konzept von HEDEGAARD (1988) sowie das Konzept von ENGETRÖM (1987). HEDEGAARD (1988) betont die kulturelle Interpretation des Konzepts, d.h., die ZNE als Distanz zwischen dem vom soziohistorischen Kontext gewichteten kulturellen Wissen, das in der Regel über formale Unterweisung vermittelt wird, und den Alltagserfahrungen der Lernenden. ENGESTRÖM (1987) dagegen konzentriert sich auf die kollektive oder soziale Interpretation. Die ZNE wird aufgefasst als Distanz zwischen den Alltagshandlungen der Lernenden und der historisch neuen Form der sozialen Aktivität, die als Lösung in Alltagshandlungen kollaborativ generiert werden kann.

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"the distance between the everyday actions of individuals and the historically new form of the societal activity that can be collectively generated as a solution to the double bind potentially embedded in ...everyday actions" (1987, p. 174).

Der Autor konzentriert sich auf den Prozess der sozialen Veränderung und erweitert die Analyse der Lernprozesse über den Kontext der schulischen Strukturierung hinaus, indem er Strukturen der Sozialwelt in die Analyse mit hineinbezieht und so explizit die gesellschaftlich mediierte Natur menschlichen Lernens verdeutlicht.

C. AKTIVITÄT ALS ANALYSEEINHEIT FÜR MENSCHLICHE ENTWICKLUNG Die aufgezeigten Prozesse im einfachen Mediationsdreieck von VYGOTSKY (siehe S.39) verdeutlichen sehr wohl die Evolution kognitiver Funktionen auf der individuellen Ebene, beziehen aber keineswegs die kollektive Natur menschlicher Aktivitäten mit ein. Kinder eignen sich, wie bereits erwähnt, ihre Wirklichkeitskonstruktionen nicht als einsame Robinsons in einer abgeschotteten Enklave an, sondern interaktiv in einem sozio-kulturellen und historisch gewachsenen Kontext. Will man sowohl das individuelle Handeln als auch den supraindividuellen Kontext (vgl. COLE, 1995b), in dem dieses eingebettet bzw. situiert ist, beleuchten, so drängt sich, wie bereits besprochen, das Problem der angemessenen Analyseeinheit in den Vordergrund. Wenn menschliches Denken und Handeln eng an die Aktivitätskontexte gebunden ist mittels derer sich die Entwicklung realisiert, so kann sich die Analyseeinheit nicht länger auf das einzelne Individuum beschränken, sondern muss das „Individuum innerhalb kulturell organisierter Formen der Aktivität“ umschließen (siehe auch S.38). Aktivitäten mediieren den Impakt makrokultureller Besonderheiten auf das Leben von Individuen und Gruppen, die man als vielschichtiges Integrationsgefüge individueller, sozialer, kultureller und soziohistorischer Ebenen auffassen muss und analysieren kann (vgl. Übers. entsprechender Ansätze in MINSTRY, 1997, S.350).

LEONTJEWs Modell menschlicher Aktivität Entsprechende Ansätze gehen auf LEONTJEWS (1978) drei-schichtiges Modell menschlicher Tätigkeit16 zurück (siehe Abbildung 15). Auf der obersten Ebene siedelt er die Tätigkeit/Aktivität an, der das Motiv des Handelns zugeordnet ist. Sie stellt den Sinn der Tätigkeit, ist aber dem Ausführenden nicht oder nur wenig bewusst und sprachlich meist auch nicht artikulierbar. Aktivitäten muss 16 Die westliche Psychologie bezeichnet den Begriff 'Tätigkeit' mit 'Handlung'.

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man als übergreifende Langzeitstrukturen auffassen, deren Objekte durch einen längeren, mehrstufigen Prozess in bestimmte Leistungen überführt werden. Auf der kurzfristigeren, mittleren Ebene ist das zielgerichtete Handeln angesiedelt, dessen Ziele und Besonderheiten dem Akteur bewusst sind. Die Handlungen basieren wiederum auf bestimmten Operationen, welche die unterste Ebene bilden. Diese werden auch noch als Routinen verstanden, die je nach Automatisierungsgrad mehr oder weniger unbewusst ablaufen. Der Akteur setzt sie als Mittel ein, um seine Handlungsziele zu erreichen. Angesichts sich schnell wandelnder Handlungsbedingungen müssen Operationen immer wieder ins Bewusstsein gerufen und an die veränderten Bedingungen angepasst werden.

HANDLUNGSEBENE FUNKTION AUSFÜHRENDER BEWUSSTHEIT

Tätigkeit / Aktivität Objekt / Motiv Gemeinschaft Nicht oder wenig bewusst

Handlung Ziel Individuum / Gruppe Bewusst

Operation Bedingungen / Mittel Routiniertes Individuum oder Maschine

Nicht bewusst , automatisiert

Abbildung 15: Hierarchische Ebenen einer Aktivität in Anlehnung an LEONTJEW (1978)

In Anlehnung an LEONTJEWs Konzeption kann man eine Aktivität als minimalen sinnvollen Kontext auffassen, um das Handeln des Individuums zu verstehen. Ein Mitglied nimmt an einer Aktivität mittels individueller Handlungen teil, die ein unmittelbares, festgelegtes Ziel haben. Diese Handlungen können nicht unabhängig vom Referenzrahmen der Aktivität verstanden werden. Laut LEONTJEW ist nämlich unserem Handeln eine sinnstiftende Tätigkeitsebene vorgelagert, welche die objektive Bedeutung und den subjektiven Sinn menschlichen Tuns liefert. Der Sinn verweist auf die Bedeutung des Handelns für das Subjekt selbst und dient den nicht bewussten Motiven der Tätigkeit. Die Annahme von lediglich drei Ebenen der Tätigkeit muss als starke Reduktion betrachtet werden. Für OERTER (1997) scheint es aber notwendig, einerseits zwischen dem Ziel und den auf das Ziel ausgerichteten Aktivitäten und andererseits den Ursachen, wieso dieses Ziel bedeutsam ist, zu unterscheiden (ibid., S.181). Das Verhältnis von Tätigkeit zur Handlung hat LEONTJEW durch die Austauschbarkeit der Handlung erläutert. Zum einen können unterschiedliche Handlungen mit ihren jeweiligen Zielen dem gleichen Motiv entsprechen. Zum anderen kann aber auch eine bestimmte Handlung mehreren Aktivitäten bzw. Motiven zugeordnet werden, so dass sie unterschiedliche Sinndimension beim Individuum generieren.

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Wenn wir das Verhalten eines Akteurs erklären wollen, so müssen wir sein Handeln als partielle Momentumsetzung (Instantiation) einer kulturellen Aktivität mit ihrem treibenden Motiv begreifen und als subjektive Realisierung mittels ausgewählter Operationen angesichts der relevanten Bedingungen der Situation (vgl. WELLS, n.d.).

Der Ansatz der Aktivitätstheorie Auf dieser Grundlage können wir auch den Erwerb eines elementaren wissenschaftlich–technischen Wissens als kulturelle Aktivität im erweiterten Rahmen einer Gemeinschaft konzipieren. Als Referenzrahmen für die Beschreibung der Tätigkeit dient uns dabei die Aktivitätstheorie von ENGESTRÖM (1987), die uns erlaubt, die individuellen und die sozialen Ebene aufeinander zu beziehen, d.h., sowohl die Evolution und Historizität wesentlicher Ideen in einer Gemeinschaft als auch die konstruktive Rolle der Menschen in Betracht zu ziehen. Dieser Ansatz steht in Verlängerung – � zur klassischen, idealistischen deutschen Philosophie des 18. und 19. Jhdts.

von KANT, FICHTE, HEGEL, welche auf die geistige Tätigkeit hingewiesen haben und auf die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt;

– � zur materialistischen Philosophie von FEUERBACH, welche auf die objektive Realität als Kontemplationsobjekt verwiesen hat;

– � zu den Arbeiten von MARX und ENGELS, die den praktisch, kritischen Aspekt der Aktivität herausgearbeitet haben, bei welcher der zentrale Punkt die Umwandlung materieller Güter ist (gegenständliche Tätigkeit);

– � zur kultur-historischen sowjetischen Psychologie von VYGOTSKY, LEONTJEV, LURIA...

Die Aktivitätstheorie17 stellt einen bereichsübergreifenden Analyserahmen dar, der es ermöglicht, menschliche Praktiken in unterschiedlichen Domänen systemisch zu analysieren (vgl. u.a. ENGESTRÖM, 1993; NARDI, 1996; ENGESTRÖM ET AL., 1999). Die Untersuchungen erfolgten vor allem in Arbeitsfeldern, in denen Individuen Materialien und Gegenstände durch Zuhilfenahme von Werkzeugen und vorwiegend materiellen Artefakten verändern. Andere Arbeiten beziehen sich auf symbolische Aktivitäten, in denen z.B. Texte als Objekte und/oder als Mediationsmittel fungieren (vgl BAZERMANN, 1994; RUSSEL, 1995). Zum Lernen und Lehren in schulischen Settings liegen dagegen kaum Arbeiten vor (vgl. ENGESTRÖM, 1994; BARAB ET AL., n.d.). Das Objekt ist hier bekanntlich das Verstehen von Ereignissen, Konzepten und Zusammenhängen in unterschiedlichen Domänen sowie das Erwerben kultureller Mediationsmittel wie bestimmte Zeichensysteme, orale und verbale Genres..., mittels derer dieses Verstehen erreicht werden soll.

17 Die Aktivitätstheorie hat sich als ein anerkannter Analyseansatz in einer internationalen pluridisziplinären

Wissensgemeinde etabliert, die sich näher mit menschlichen Aktivitäten und Handlungen befasst.

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Für WELLS (n.d) ist dies nicht weiter verwunderlich, da LEONTJEWs Ansatz vor allem auf materielle Aktivitäten und ihre Ergebnisse in Form umgewandelter materieller Objekte abzielte. Entsprechend müssen auch die Mediationsmittel gedacht werden, die zuerst nur materielle Werkzeuge umfassten, inzwischen aber auch gesprochene und geschriebene Diskurse mit einschließen. Wie bereits erwähnt, gestattet dieser systemische Ansatz, sowohl die individuelle als auch die kollektive Ebene in ihren sozio-historischen bzw. entwicklungsspezifischen Dimensionen zu erfassen und die spezifischen Artikulationen ein Stück weit zu erhellen. Dabei interessieren sich entsprechende Ansätze nicht für 'Tun als eine entkörperlichte Handlung' sondern für 'Tun, um etwas umzugestalten' mit Blickpunkt auf die kontextualisierte Aktivität des Gesamtsystems (vgl. KUUTTI, 1996). Um menschliches Handeln zu verstehen, schließt dieser Ansatz deshalb immer einen 'sinngebenden Minimalkontext' in die elementare Analyseeinheit mit ein, die als 'Aktivität' bezeichnet wird. Dieses Einschließen des Kontexts in den Untersuchungsfokus bringt es mit sich, dass der Gegenstand der Analyse stets kollektiver Natur ist, auch wenn sich unsere Aufmerksamkeit in erster Linie auf das individuelle Handeln – als Hauptschwerpunkt – konzentriert. Da eine systemische Sichtweise Entwicklungsverläufe stets als Ko-Evolutionen aller beteiligten Partner auffasst, gibt dieser Ansatz einen interessanten Rahmen ab, um individuelle und kollektive Prozesse innerhalb der Institution Schule in ihrem jeweiligen Zusammenspiel zu erfassen. Aktivitätstheorie liefert zudem einen Ansatz, um Lernen als Tätigkeit und Tätigkeit als Lernen als nicht zu trennende Dimensionen zu konzipieren (vgl. ENGESTRÖM ET AL., 1999). Bei traditionellen, dualistischen Auffassungen geht dagegen entweder Lernen der Tätigkeit bzw. sensorische, motorische oder mentale Tätigkeiten dem Lernen voraus. In Anbetracht unseres nicht-dualistischen Aktivitätsansatzes werden auch andere Gegenüberstellungen wie etwa Verstehen–Tätigkeit bzw. Individuum–Kontext trivial. Tätigkeit wird dabei nicht reduktionistisch, sondern systemisch aufgefasst, während unsere Auffassung von Kontext auf S. 63 näher expliziert wird. Um darzustellen wie eine Handlung in die komplexe organisationelle Struktur einer Aktivität eingebettet ist, hat ENGESTRÖM, das in Abbildung 16 integrierte erweiterte Dreieck eines Aktivitätssystems entworfen. Es umfasst – � einen Akteur ('subject') oder mehrere Akteure ('subgroups'), deren Tätigsein

als Fokus der Analyse gewählt wird; – � das Objekt, auf das sich die Handlungen der Akteure richten; – � die dynamischen Beziehungen zwischen den beiden, die nicht auf direkte

Weise erfolgen, sondern durch Faktoren wie Regeln, Arbeitsteilung, Werkzeuge und Gemeinschaft mediiert werden.

Kultur als Kontext für Entwicklung 56

Umwandlungsprozess

Ergebnis

‚outcome’

Abbildung 16: basic structure of an activity system (ENGESTRÖM, 1987, p.87)

Als Aktivität bezeichnet man eine Handlungsform, die auf ein Objekt hin ausgerichtet ist. Aktivitäten unterscheiden sich voneinander in bezug auf ihre jeweiligen Objekte. Das Umwandeln des Objekts in ein gemeinsames Ergebnis motiviert und treibt die Existenz und den Fortbestand der Aktivität an. Das Objekt stellt sicher die komplexeste Dimension im Rahmen des Aktivitätsansatzes dar. Man könnte es als ein Art ‚objektiviertes’ Motiv beschreiben. Das gemeinsame Objekt kann materieller Natur sein wie z.B. ein Rohstoff, wobei entsprechende Systemanalysen, wie S.54 angesprochen, leichter zu bewerkstelligen sind. Es kann aber auch abstrakter Natur sein wie z.B. ein gemeinsames Vorhaben, Plan oder gar nur ideeller Natur, in Form einer von allen geteilten, verbindenden Idee. ENGESTRÖM (1993) spricht in diesem Zusammenhang von konzeptuellem Verstehen oder Problemräumen

"at which the activity is directed and which is molded or transformed into outcomes with the help of physical and symbolic, external and internal tools" (ibid., p. 67).

Objekt und Motiv verändern sich im Laufe der Aktivität und zeigen sich nur im Prozess der Handlung. Im Rahmen der Aktivität erfolgt die reziproke Beziehung zwischen Subjekt und Objekt nicht auf direktem Wege, sondern mittels einer 'mediated action', d.h., eines dritten intermediären Terminus, eines Mediationsmittels. Dieses ‚tool’ vermittelt zwischen dem Subjekt und dem Objekt seines Handelns, so dass wir das Objekt nicht als eine isolierte, unabhängige Einheit betrachten, sondern immer im Rahmen der Möglichkeiten, die das ‚tool’ gestattet. Die Aktivitätstheorie belichtet demnach, wie Subjekte bestimmte Objekte umwandeln und wie die spezifischen Komponenten des Systems diesen Prozess auf originale Art und Weise mediieren. Verdeutlichen kann man diesen Umstand z.B. am Einsatz eines Computers im Unterricht. KUUTTI (1996) betont, dass es nicht die Mensch–Maschine-Interaktion ist, also die Subjekt–Mittel-Beziehung, die Aktivitätstheoretiker näher interessiert, sondern die Subjekt–Objekt-Interaktionen, die durch den Computer mediiert werden. Diese Perspektive erweitert demnach die Analyseeinheit vom Bewusstsein eines einzelnen Individuums, wie es die traditionelle Kognitionsforschung tut, oder von der eng gefassten Mensch–Maschine-Interaktion auf das gesamte Aktivitätssystem.

Kultur als Kontext für Entwicklung 57

Wenn wir diese Überlegungen auf den Gegenstand unseres Vorhabens übertragen, nämlich das Verstehen von Phänomenen, Zusammenhängen und Konzepten im Bereich der Naturwissenschaften und der elementaren Technik, so müssen wir aus der Sicht des Lehrenden näher analysieren, wie eine Lehr–Lern-Aktivität mit ihren materiellen und symbolischen Mitteln, ihren Regeln, ihrer Gemeinschaft und ihrer Aufteilung von Arbeitsprozessen zu konzipieren ist, dass – � sie dem intendierten Gegenstand gerecht werden kann und authentische

Forschungsaktivitäten im Prinzip ermöglicht ; – � sie eine authentische Auseinandersetzung der Schüler mit dem intendierten

Gegenstand gestattet. Dabei ist der Mediation mittels unterschiedlicher Artefakte eine erhöhte Aufmerksamkeit entgegenzubringen.

Auch die kulturellen Artefakte, in ihrer oben beschriebenen doppelten Dimension (symbolisch und materiell), dürfen nicht als statische Elemente aufgefasst werden. Sie werden im Laufe einer Aktivität entworfen und laufend verändert und dokumentieren so als (Zeit-)Zeugen einen partikularen Entwicklungsverlauf. Sie verkörpern in ihrer spezifischen Ausgestaltung die Historizität der dialektischen Beziehung zwischen S und O als angesammelter und geteilter Wissensfundus über den Ablauf der Aktivität hinaus.

“The tool is at the same time both enabling and limiting: it empowers the subject in the transformation process with the historically collected experience and skill "crystalized" to it, but it also restricts the interaction to be from the perspective of that particular tool or instrument only; other potential features of an object remain "invisible" to the subject” (KUUTTI, 1996, p.27).

Will man die systemischen Beziehungen zwischen einem Individuum und seiner Umwelt im Rahmen einer Aktivität spezifizieren, so muss man das bereits beschriebene Mediationsdreieck um die Dimension der Gemeinschaft ergänzen, in der ein gemeinsames Objekt geteilt wird. Gemeinschaft bezieht sich auf alle Individuen oder Gruppen, die das gleiche Objekt teilen und die sich von anderen Gemeinschaften bewusst abzuheben versuchen. Dabei entstehen zwei neue reziproke Beziehungen: Subjekt–Gemeinschaft und Gemeinschaft–Objekt. Beide werden ebenfalls mediiert: – � einmal durch die Erwartungen, Regeln, Konventionen, Normen,

Gesetze... und Sanktionen der Gemeinschaft, welche die gewünschten Handlungen, Prozeduren und Interaktionen unter den Teilnehmern spezifizieren und regulieren. Dabei ist nur ein Teil dieser Regeln explizit, besonders jene, die durch das offizielle Regelwerk oder durch den leitenden Verantwortlichen expressis verbis festgelegt sind. Ein anderer Teil dagegen ist impliziter Natur und wird entweder durch die übergreifende, allgemeine Kultur oder durch die spezifische Arbeitsform im Rahmen einer enger gefassten Struktur definiert.

– � zum zweiten durch die Form der Arbeitsteilung, d.h., der kontinuierlich ausgehandelten Verteilung der Aufgaben und Verantwortungen unter den Teilnehmern der Aktivität. Dabei spielen hierarchisch angelegte

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Organisationsformen, kollaborative bzw. kooperative Arbeitsformen unter den Ausführenden sowie Beziehungen zu externen Partnern eine Rolle. Aufgaben können auf einer horizontalen und vertikalen Ebene geteilt sein, d. h., horizontal unter den Mitgliedern der Gemeinschaft oder vertikal in Anbetracht des unterschiedlichen Status und der momentanen Machtverhältnisse.

In einem System existieren die einzelnen Komponenten nicht isoliert voneinander, sondern sie unterhalten reziproke Beziehungen zu allen anderen Elementen des Systems, so dass sich ein komplexes Gesamtgebilde ergibt. ENGESTRÖM (1987) beschreibt dies wie folgt:

"An activity system incorporates both the object-oriented productive aspect and the person-oriented communicative aspect of human conduct. Production and communication are inseparable (...).Actually, a human activity system always contains the subsystems of production, distribution, exchange, and consumption" (ibid., p.67).

Abbildung 17: Erweitertes Modell eines 'activity system' nach ENGESTRÖM (1987)

Aktivitäten werden als dynamische Systeme aufgefasst, d.h., sie unterliegen einem konstanten Wandel bzw. einer Evolution. Dabei erfasst die Evolution nicht nur alle Komponenten, sondern auch alle Ebenen des Systems im Sinne von LEONTJEW: – � die Ausgestaltung der grundlegenden Operationen durch die

Weiterentwicklung der handelnden Subjekte (siehe S.53), – � die Ausweitung der eingesetzten Handlungen, um den wechselnden

situativen Anforderungen zu genügen bzw. das gemeinsame Objekt angesichts sich neu bietender Möglichkeiten zu verwirklichen

– � die Veränderung des Motivs / Objekts der Aktivität durch kontinuierliches Reflektieren, durch größere interne Umwandlungen bzw. durch Anregungen angrenzender Aktivitäten.

“Activities are not static or rigid entities; they are under continuous change and development. This development is not linear or straightforward but uneven and discontinuous. This means that each activity also has a history of its own. Parts of older phases of activities often stay embedded in them as they develop, and historical analysis of the development is often needed in order to understand the current situation.” (KUUTTI, 1996, p.26)

Auch die verwendeten 'tools' wechseln und entwickeln sich im Laufe der Aktivität aufgrund sozial geteilter Erfahrungen, so dass die Ausgestaltung einzelner Handlungen fortlaufend durch das sich verändernde Umfeld bedingt

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wird. Man hat es hier demnach mit einem dialektischen Entwicklungsprozess, einer Koevolution der Individuen und der sie umgebenden Struktur zu tun (siehe auch MAX, 1999, S.234). Die Analyse einer bestimmten Alltags-, Schul- oder Berufssituation bringt zudem eine Überlagerung bzw. Verschachtelung multipler Aktivitätsebenen mit ihren jeweiligen spezifischen Objekten an den Tag, die auf komplexe Weise miteinander artikuliert bzw. verwoben sind. Sie können, je nach gewählter Perspektive, als Instanzen der gleichen Aktivität oder als eigene Aktivitätssysteme gesondert gedacht werden. So kann z.B. ein Computer als Werkzeug im Rahmen einer Aktivität wie selbstständiges Forschen in naturwissenschaftlichen Lehr–Lern-Situationen eingesetzt werden. Dabei kann das Arbeiten am PC selbst Objekt oder Resultat einer vorausgegangenen Aktivität gewesen sein oder gar als separates Aktivitätssystem gedacht werden. Ähnliches gilt auch für die Regeln, die das Zusammenarbeiten bei einer entsprechenden Aktivität prägen. Sie können als Produkt vorheriger Tätigkeiten aufgefasst werden, in denen sie erstellt wurden.

Abbildung 18: Artikulation multipler Aktivitätssysteme (BØDKER, 1996, S.151)

Diese Überlagerungen führen zu potenziellen Spannungen und Konflikten, sei es auf der kollektiven Ebene, sei es auf der Ebene des einzelnen Subjekts, das unterschiedlichen Objekten im Rahmen verschiedener Aktivitäten zu genügen versucht. Aus sozialpsychologischer Sicht kann man eine entsprechende Partizipation in unterschiedlichen Aktivitätssystemen als wichtigen Bestimmungsfaktor von Bewusstsein und Persönlichkeit auffassen. Erwähnen muss man noch, dass sich Aktivitätssysteme durch interne primäre und sekundäre Widersprüche charakterisieren, die als Spannungen zwischen den Systemkomponenten verstanden werden. (vgl. ENGESTRÖM, 1987, 1993). Primäre Unvereinbarkeiten bestehen innerhalb einer Komponente wie etwa den Regeln, während sekundäre zwischen verschiedenen Komponenten wie etwa Regeln und Gemeinschaft bestehen. Das gezielte Erfassen der Widersprüche, wie sie z.B. ENGESTRÖM (1993) für die Arzt–Patient-Beziehung mittels eines

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Doppelachsen-Diagramms (ibid., S.82) erstellt hat, erlaubt es, die Prozesse in einem System besser zu verstehen. Sobald Ungereimtheiten sich im System ausbreiten, treiben sie Störungen und Innovationen an und können so Veränderungen im System bedingen.

"In this sense, an activity system is a virtual disturbance- and innovation-producing machine" (ENGESTRÖM, n.d.).

Abbildung 19: Darstellung des Aktivitätssystems der Krankenpflege mit aufgeführten Spannungen und Konflikten (COLE & ENGESTRÖM, 1993, S.36)

COLE & ENGESTRÖM (1993) sehen in der Konzeption von Aktivitätssystemen als Basiseinheit der Analyse (siehe Abbildung 16) folgende interessante Perspektiven: – � Sie stellen in Form einer Konzeptkarte eine Übersicht über die wichtigsten

‘loci’ dar zwischen denen die menschliche Kognition verteilt ist. – � Sie beziehen andere Menschen mit ein, die simultan zu den

subjektspezifischen Elementen menschlicher Aktivitätssysteme in Betracht gezogen werden müssen.

– � Einen weiteren wichtigen Vorzug sehen die Autoren im Hinblick auf die Analyse von institutionalisierten Aktivitäten, die ziemlich robust und persistent sind (ibid., S.8).

„Once they gain the status of cultural practices, they often have radically longer half-lives than an individual goal-directed action. In fact, activity systems such as those that take place in schools and doctors' offices, for example, appear to reproduce similar actions and outcomes over and over again in a seemingly monotonous and repetitive manner that gives cultural constraints on action a seemingly overpowering quality. However, closer analysis of apparently unchanging activity systems reveals that transitions and reorganizations are constantly going on within and between activity systems as a fundamental part of the dynamics of human evolution. Consequently, activity systems are best viewed as complex formations in which equilibrium is an exception and tensions, disturbance and local innovations are the rule and the engine of change” (ibid., p.8).

Insbesondere die verdeckten, kontinuierlichen inhärenten Dynamiken in reproduktiv konzipierten, formalen Unterweisungsaktivitäten liefern uns im Sinne der erläuterten inhärenten Spannungen einen interessanten Forschungsschwerpunkt, den wir in einer Folgeuntersuchung unter einem

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aktivitätstheoretischen Paradigma präziser belichten und ausdifferenzieren können.

Aktivität als Erklärungsprinzip der Genese höherer mentaler Funktionen Wenn die Artefakte, die unser Handeln mediieren, kulturell, historisch und auch institutionell situiert und kontextspezifisch ausgeformt sind, so trifft das auch für die in diesem Zusammenhang entwickelten mentalen Strategien zu. Die jeweilige Kultur stellt den Rahmen für menschliches Denken und Handeln, das demnach immer soziokulturell situiert ist. Sie liefert die notwendigen materiellen und symbolischen Werkzeuge, mit denen der Mensch seine kognitiven Prozesse entwickelt oder seine Anpassungsschemata gestaltet. Kultur und Kognition bedingen sich gegenseitig. Für TULVISTE (1999, S.77) hat die kultur-historische Psychologie im Gegensatz zu erklärungsschwachen und vor allem beschreibenden neopiagetianischen Ansätzen (a) einige Hoffnungen in den letzen Jahrzehnten geweckt, nach kausalen Erklärungen für das Bewusstsein ('mind') an den 'richtigen Stellen' zu suchen; (b) die Idee geweckt, dass die semiotischen Mittel – deren Erwerb ein wichtiger entwicklungspsychologischer Forschungsschwerpunkt ist – nicht außer acht gelassen werden dürfen, wenn Prozesse, welche durch diese Mittel mediiert sind, im Erwachsenenbereich studiert werden.

"After all, adult activities are what cultures prepare their children for by providing them the necessary tools" (ibid., p.77).

Demzufolge darf sich auch Aktivitätstheorie nicht nur darauf beschränken, zu beschreiben, wie unterschiedliche mentale Werkzeuge in unterschiedlichen Kontexten genutzt werden. Sie muss Aktivität zu einem Erklärungsprinzip im Rahmen kulturpsychologischer Forschung entwickeln, insbesondere was den Ursprung und die Genese des Denkens anbelangt. Dies erfordert nach TULVISTE (1999) a) ein Überwechseln von der aktuellen, populären aber 'schwachen' Version von Aktivitätstheorie, die sich darauf beschränkt, Bewusstsein in einem Aktivitätskontext (vgl. ENGESTRÖM, 1987) zu studieren, zu einem 'starken' Ansatz im Sinne von LEONTJEV, der Geist, besonders dessen Ursprung und Entwicklung, durch Aktivität erklärt; b) ein Abwenden zusammen mit der kulturellen Semiotik18 vom Studium isolierter Zeichensysteme und partikularer Denk- und Erinnerungsmodi und ein Hinwenden zur Konstruktion exhaustiver, verständlicher Bilder von Kultur und Geist;

18 Für TULVISTE hat sich die Semiotik vor allem auf artistische, mythische, und religiöse Texte konzentriert, aber

wissenschaftliche Texte nur spärlich erforscht. In der Psychologie dagegen findet man mehr Studien zu wissenschaftlichem Denken und dessen Entwicklung als Studien zu artistischem bzw. religiösem Denken.

Kultur als Kontext für Entwicklung 62

c) die aktuelle Kluft zwischen Entwicklungspsychologie und allgemeiner Psychologie zu überwinden19 (ibid., S.74). Die kulturelle Psychologie sollte sich nicht damit begnügen, die Existenz verschiedener Denkmodi, die unabhängig voneinander entstehen, zu akzeptieren und lediglich zu entscheiden, welche Denkweisen überhaupt und in welcher Situation genutzt werden. Sie sollte viel eher einen starken Ansatz vertreten, bei dem die Kultur, Aktivität inklusive, verantwortlich für das Entstehen verschiedener Denkweisen zeichnet, welche funktional mit Aktivitäten in Zusammenhang stehen. Zusammen mit anderen Disziplinen sollte sie untersuchen, warum, wann und wie diese Denkweisen entstanden sind und wie sie sich im Laufe der Zeit verändert bzw. mit andern interagiert haben. Aktivität als Erklärungsprinzip darf allerdings nicht nur kognitive Prozesse umschließen, sondern auch andere soziale Ursprünge und Entwicklungen erklären wie etwa solche von Gruppenprozessen und -entwicklung (vgl. ENGESTRÖM, 1987). Bezogen auf den Bedarf an umfassenden Beschreibungen der Kulturen auf der Aktivitäts- und Semiotikebene sowie entsprechenden Beschreibungen des Geistes auf der Basis einer funktionalen Korrespondenz zwischen Geist und Aktivität bzw. der Beziehungen zwischen Geist und semiotischen Prozessen meint TULVISTE (1999):

"If higher mental processes correspond functionally to activities and make use of sign systems as tools, it is only natural to ask how many different kinds of activities and how many sign systems there are, or rather how many activities and sign systems should be differentiated for the purpose of studying mental processes" (ibid., p.76).

In Anbetracht der Vielfalt von kulturellen und mentalen Phänomenen bedarf es nach TULVISTE in Anlehnung an LINNES Systema Naturae (1735) auch eines 'Systema Culturae' und eines 'Systema Animae'. Hierbei könnten Aktivitätstheorie und Semiotik mit Taxonomien von Aktivitäten und Zeichensystemen die Grundlage einer 'Taxonomie höherer mentaler Prozesse' liefern, welche der Komplexität unseres Geistes gerecht werden könnte.

"A catalogue of activities executed in a particular cultural group or by an individual, together with a catalogue of the semiotic means (sign systems) at their disposal, would permit one to build hypotheses about the ways of thinking and remembering used by this individual or in this culture. This would bring us, in the study of culture-determined mental processes, from the realm of general ideas and fragmentary empirical studies into the realm of massive empirical research" (ibid., p.76).

19 Die Erforschung des mentalen Funktionierens zeigt nur wenig Gemeinsamkeiten mit der Erforschung der

Entwicklung des Geistes. Es genügt z.B. die bestehenden Untersuchungen über das wissenschaftliche Denken Erwachsener mit den Untersuchungen über die Entwicklung wissenschaftlicher (oder scholastischer) Begriffe bei Kindern zu vergleichen. Die kultur-historische Psychologie ist, aus mehreren Gründen heraus, auf der “entwicklungsorientierten“ Seite der Psychologie entstanden und dort verblieben, auch wenn Prozesse Erwachsener studiert werden (vgl. TULVISTE 1999, S.76f.).

Kultur als Kontext für Entwicklung 63

WELLS (n.d.) kritisiert an ENGESTRÖMs Modell die zu stark ausgeprägte unidirektionale Form der mediierten, objektorientierten Handlung, bei der ein Subjekt oder eine Gruppe von Subjekten ein Objekt in ein erkennbares Ergebnis umwandelt. Die reziproken Einflüsse, welche z.B. die Teilnehmer während eines Dialogs durch den ko-konstruierten Text aufeinander ausüben, sind seines Erachtens nach weniger gut sichtbar. Diese Repräsentation erfasst für ihn dann auch schlecht die wechselseitigen Anpassungen und Abstimmungen, die beim Arbeiten in der ZNE erfolgen (vgl. VYGOTSKY, 1987) bzw. die Veränderungen der Identitäten, welche eventuell verschiedene Teilnehmer im Laufe einer Unterredung erfahren. WELLS hält deshalb eine andere Repräsentation für angebrachter, um z.B. die Dialektik zwischen den semiotischen Handlungen dialogierender Teilnehmer zu erfassen. Der gewählte methodologische Rahmen entscheidet halt, auf welche Weise wir menschliches Handeln interpretieren und erklären.

KONTEXT, SITUATION, AKTIVITÄT, PRAKTIKEN Die angeführten Erläuterungen greifen immer wieder auf Begriffe wie 'Kontext', 'Situation', 'Aktivität' oder 'Praktiken' zurück, die wir in diesem Punkt näher zu fassen versuchen. Den Anfang machen dabei 'Kontext' und 'Situation'.

Kontext und Situation Wörterbücher wie z.B. 'The Concise Oxford Dictionary of Current English' definieren den Begriff 'Kontext' in der Regel zu allgemein:

"1. the parts of something written or spoken that immediately precede and follow a word or passage and clarify its meaning;

2. the circumstances relevant to something under consideration" (THOMSON, 1995, p.288).

LAVE (1988) weist darauf hin, dass es sehr schwierig ist, Kontext auf der Basis theoretischer Konzeptualisierungen zu analysieren, da die meisten theoretischen Traditionen Erfahrungen wie "In–der–Welt–sein" ('lived–in–world') nicht als Objekt ihre Analyse definiert haben – einen Umstand, auf den wir bereits auf S.33 hingewiesen haben.

"They tend to ignore the embodied, inescapably 'located' nature of activity in time-space, perhaps because it is inconsistent with other assumptions" (ibid., p.148).

Für (COLE, 1995b, S.109)20 stammt das Wort 'Kontext' etymologisch vom Lateinischen 'contexere' ab, das so viel heißt wie 'zusammenweben'. Zudem

20 Der Autor analysiert diese Begriffe im Hinblick auf das Erstellen einer psychologischen Analyseeinheit, die

nicht nur die individuelle, sondern auch eine supra-individuelle sozio-kulturelle Einheit umschließt, die er als

Kultur als Kontext für Entwicklung 64

steht Kontext als Prozess des 'Zusammenwebens' in engem Zusammenhang mit den Begriff 'Ereignis', wie wir es noch näher in der Folge erläutern werden. Bereits DEWEY (1938) diskutierte die Begriffe 'Situation' und 'Kontext'

"What ist designated by the word 'situation' is not a single object or event or set of objects and events. For we never experience nor form judgement about objects and event in isolation, but only in connection with a contextual whole. The latter is what we called a 'situation'" (ibid., p.66).

Im Gegensatz zu den Psychologen, die ein isoliertes Objekt oder Ereignis ins Visier ihrer Analyse nehmen, stellen wir laut DEWEY in unseren alltäglichen Erfahrungen fest, dass ein solches Objekt oder Ereignis stets ein spezieller Teil oder Aspekt einer es umgebenden Erfahrungswelt ist – einer Situation (ibid., S.67). Der Umstand, dass Kognitionsobjekte und -prozesse isoliert untersucht und konzeptualisiert werden, nährt die Illusion, dass unser Wissen über Alltagsobjekte, sei es eine Apfelsine oder ein Felsen, ein Wissen über das Objekt abgelöst von der Situation, in der man es antrifft, ist. Fassen wir kognitiv zu bewältigende Aufgaben ins Auge wie z.B. bestimmte Phänomene der physikalischen Welt, so können wir diese nicht unabhängig vom sie konstituierenden Kontext konzipieren, denn:

"tasks / objects / texts and contexts ('with-texts') arise together as a part of a single process" (COLE 1995b, p. 107).

COLE (1995b) stellt zwei verschiedene Weisen dar, wie der Kontext in den Sozialwissenschaften gedacht wird: A. "Context as That Which Surrounds": der Kontext stellt eine Art Grundbasis dar, aus der die 'Figur' des Objekts hervorgeht. Der Grund geht dem Objekt bzw. der Aufgabe voran. Er wird oft in Form konzentrischer Kreise21 dargestellt, die für unterschiedliche Kontextebenen stehen, wobei übereinander liegende Ebenen sich gegenseitig und simultan konstituieren. Das psychologische Forschungsinteresse gilt in der Regel der Einheit im Zentrum, die sich auf ein Ereignis oder eine Aktivität bezieht, in welche(s) die Individuen sich engagieren. Diese Auffassung stellt ein Werkzeug dar, um zu analysieren, wie Ereignisse auf einer Kontextebene durch Ereignisse auf angrenzenden Ebenen bedingt und geformt werden wie z.B. der Lehrer–Schüler-Austausch als Teil einer Unterrichtsstunde, als Teil einer Klasse, als Teil einer Schule, als Teil einer Gesellschaft22. Dieser Ansatz birgt allerdings die Gefahr, dass zeitliche oder kausale Prioritäten auf inadäquate Weise mit bestimmten Ebenen verbunden werden, bzw. dass ein zu stark hierarchisch ausgelegtes Denken die Zusammenhänge erklärt. Zudem erfasst dieser 'top down'–Denkansatz nur

wirkungsvolles Medium für die einzigartigen menschlichen Daseinsformen in der Welt ansieht.

21 vgl. den ökologischen Ansatz von Uri BRONFENBRENNER. 22 vgl. auch die Arbeiten zu den 'layers of context' in der Linguistik..

Kultur als Kontext für Entwicklung 65

unbefriedigend die interaktionelle Dynamik zwischen den Ebenen und reduziert Kontext auf eine Ursache oder einen Stimulus in Zusammenhang mit unilinearen Ursache–Wirkungs-Zusammenhängen (vgl. auch CHAIKLIN & LAVE 1993). B. "Context as That Which Weaves together": Kontext und Objekt bzw. Ereignis bedingen sich in diesem Ansatz gegenseitig, wobei kausale Prioritäten nicht festgelegt werden können. In Anlehnung an PEPPER (1942) verweist COLE auf das 'historische Ereignis' als Kernmetapher für eine kontextualistische Sichtweise; historisch wird dabei nicht im Sinne von 'vergangen', sondern von 'wiederbelebt'23 aufgefasst – als ein 'Akt in seinem Kontext'. Objekte und Kontext entstehen gemeinsam als Teil eines einzelnen bio-sozio-kulturellen Entwicklungsprozesses. Ereignisse werden dabei durch ihre Qualität und ihre Textur beschrieben. Statt sie in separate Dimensionen aufzubrechen, vereint das Ereignis die beiden Dimensionen zu einem Ganzen, das die Summe seiner Teile übersteigt. Die Ganzheitlichkeit ist die Qualität, während die einzelnen Komponenten die Beschaffenheit ausmachen. Auf einen ähnlichen beidseitigen Zusammenhang wie zwischen 'Strang und 'Kontext' greift auch BATESON (1972) zurück, um aufzuzeigen, wie sich unser Bewusstsein ('mind') durch unsere Aktivität konstituiert – eine Genese, die Umwandlungszyklen zwischen 'innen' uns 'außen' umschließt. In seiner Metapher vom Blinden und seinem Stock zeigt er auf, wie das Bewusstsein die Verwendung von Artefakte (siehe S.36) umschließt und wie es weder präzise auf den Kopf noch auf den Körper begrenzt werden kann. Es ist über die verknüpften Artefakte verteilt, welche menschliche Handlungen zusammenweben in Abstimmung mit und als Teil von den durchlässigen, sich verändernden Lebensereignissen. Eine Analyse des Kontexts wird demzufolge eng durch die spezifischen Artefakte bestimmt, mit Hilfe derer man mit der Welt interagiert – ein Umstand, der zudem durch die individuellen Zielsetzungen und Handlungszwänge bestimmt wird. Die Kombination von Zielen, Mediationsmitteln und Setting – andere Leute eingeschlossen sowie das, was LAVE (1988) als 'Arena' bezeichnete – stellt simultan den Kontext des Verhaltens dar und Wege, wie man Kognitionsprozesse mit diesem Kontext verbinden kann (COLE, 1995b, S.110). CHAIKLIN & LAVE (1993, p.17ff.) stellen unterschiedliche Auffassungen von Kontext oder von Kontextualisierung einer Aktivität einander gegenüber. Sie trennen dabei zwischen drei verschiedenen Grundauffassungen, die sich dann zum Teil noch weiter ausdifferenzieren lassen. In Analogie zur jeweiligen Auffassung von Kontext werden dann auch die Dekontextualisierungsprozesse konzeptualisiert (siehe S.266ff.).

23 "to re-present events, to make them in some way alive again... We may call the event an 'act', if we like, and if

we take care of our use of the term. But it is not an act conceived as alone or cut off what we mean; it is an act in and with its setting, an act in its context" (PEPPER, 1942, S.232).

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A. Kontext als Container Aus alltagssprachlicher Sicht wird 'Kontext' zumeist als einen statischen, uns umgebenden Container für soziale Interaktionen aufgefasst, in den bestimmte Objekte gestellt werden. Laut MCDERMOTT (1993) umschließt das 'Kon' den 'Text' so wie die Schüssel die Suppe oder das Glas den Wein. Der Kontext formt die Konturen seiner Inhalte, beschränkt sich aber lediglich auf Effekte an den Randbereichen des zu analysierenden Phänomens. Genau so wenig wie die Suppe die Form der Schüssel gestalten kann, kann auch die Schüssel die Beschaffenheit der Suppe verändern. In Analogie zur Beziehung Suppe–Schüssel lassen sich 'Text' und 'Kontext' analytisch voneinander trennen und unabhängig voneinander studieren, ohne dass dabei die Komplexität der Situation verletzt wird. Eine statische Auffassung des Kontexts liefert eine stabile Welt (ibid., S.282). Diese formalistisch geprägte, dualistische Auffassung von Kontext – und mit ihr die Allerweltsauffassung von Dekontextualisierung – ist ein tief verwurzelter Schlüsselbegriff in konventionellen Handlungs-, Denk-, Wissens- und Lerntheorien euro-amerikanischen Ursprungs. Demnach ist es laut LAVE (1993, S.22) nicht weiter verwunderlich, dass demzufolge der Kopf als Behälter für Wissen konzipiert wird, während allgemeines Wissen als Behältnis für partikulares, Sprache als träger Container für die Übermittlung von Bedeutung sowie Kultur als Lagerhalle für den Erwerb von Kompetenzen fungiert. Einige Schüler erhalten mehr davon ab, andere weniger.

"Accompanying this sense of context is a static theory of learning. By this account, knowledge and skill enter heads, where they wait passively for situations in which they might prove useful. Schoolderived knowledge and skill are supposed to generalize and to make children ready for a wide range of adaptive behaviors. The learner is a passive container, filled up by his efforts at school, slowly gathering up the skills purportedly essential to some jobs that eventually have to be tackled. The problem with LD [learning disability] children is that they enter school without some rudimentary skill for paying attention and processing information. They are hard to fill. ... They are what they are; learner and environment are separable, and they do not greatly alter each other" (MCDERMOTT, 1993, p.282).

B. Kontext als Umwelt, die unser Verhalten bestimmt Die behavioristische Sichtweise identifiziert Verhaltenssettings durch eine Anzahl von Komponenten wie Personen, Objekte, Raum, Zeit, Verhalten, Anführer und Verhaltensmechanismen wie Denken, Lesen, Arbeiten... Alle diese Komponenten tragen zur Ausformung von spezifischen Settings bei, wobei sie allerdings je nach Setting ganz unterschiedlich ins Gewicht fallen.

"It is common observation that the same people and objects are transformed into different patterns as they pass from one variety of setting to another... It is common observation, too, that different

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sets of people and objects exhibit the same patterns within the same variety of setting (...) obviously, whatever it is that impresses the characteristic array and flow of behavior settings upon their interior entities and events is largely independent of the persons who participate in them" (BARKER, 1963, p.28).

In seinem Bestreben, objektive Charakteristika für die Organisation von Aktivitätsarenen zu definieren, greift der behavioristische Ansatz allerdings in einer kruzialen Dimension zu kurz: Wenn ausschließlich umweltbedingte Konfigurationen unser Verhalten determinieren, dann bleibt die Beziehung zwischen handelnden Personen und den unterschiedlichen Settings als Forschungsobjekt ausgeklammert. C. Kontext als dynamisches Konstrukt Ansätze situierter Aktivität, wie sie CHAIKLIN & LAVE (1993) zusammentragen, konzeptualisieren Kontext aus zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten: – � Der zentrale theoretische Zusammenhang ist die intersubjektive Beziehung

zwischen den kooperierenden Partnern in sozialer Interaktion. Die Konstruktion der Welt erfolgt in Interaktion und führt zu der Ansicht, dass Aktivität ihr eigener Kontext ist. Dieser Ansatz leitet sich von der phänomenologischen Sozialtheorie ab.

– � Der zentrale theoretische Zusammenhang zwischen den Personen, die an soziokulturell ausgeformter Aktivität teilnehmen und der Welt, in der sie engagiert sind, ist historisch konstituiert. Dies ist die Perspektive der Aktivitätstheorie.

Ad 1): Für die phänomenologische Sichtweise erfolgt die Konstruktion der Welt durch soziale Interaktion. Aktivität stellt in dieser Auffassung ihren eigenen Kontext dar. Situationen werden konstruiert, wenn Menschen sich selbst organisieren, um sich figuralen Angelegenheiten zu widmen und ihnen Sinn zu verleihen auf der Grundbasis permanenter sozialer Interaktionen. Diese Figur–Grundbasis-Metapher hebt die Schlüsselbeziehung zwischen Kontext und Sinn hervor – beide sind durch den Bezug bestimmt bzw. bestimmen ihn.

"Context is not so much something into which someone is put, but an order of behavior of which one is part" MC DERMOTT (in LAVE, 1993, p.19).

"I like to think of it as a rope. The fibers that make up the rope are discontinuous; when you twist them together, you don't make them continuous, you make the thread continuous... The thread has no fibers in it, but, if you break up the thread, you can find the fibers again. So that, even though it may look in a thread as though each of those particles are going all through it, that isn't the case." (MC DERMOTT, 1980, p.4)

MEHAN bemerkt, dass eine soziokonstruktivistische Forschungstradition sich damit beschäftigt zu untersuchen

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"how the stable features of social institutions such as schooling, science, medicine, and the family are both generated in and revealed by the language of the institution's participants. ... People's everyday practices are examined for the way in which they exhibit – indeed, generate – the social structures of the relevant domain. ... Inferences about social structure are permissible only when the workings of the structure can be located in people's interaction" (in LAVE, 1993, p.20).

Für die Vertreter dieser Auffassung bestehen objektive soziale Strukturen lediglich in ihrer sozial–interaktionalen Konstruktion in situ. Die intersubjektive Beziehung zwischen sozial interagierenden Teilnehmern erfreut sich der Kontinuität zwischen sozial interagierenden Menschen und der Gesellschaft, die sie auf interaktive Weise konstruieren. Diese Konstruktion in der Situation gestaltet das Erfassen makrosozialer bzw. politisch–ökonomischer Strukturen als schwierig bis unmöglich. Diese werden von den Individuen weder direkt erschaffen noch ausgehandelt, tragen aber zum öffentlichen Aspekt spezifischer Kontexte bei. In Ansätzen, die Kontext in interpersonale Interaktionen einschließen bzw. in solchen, die von menschlichen Handlungen unberührt bleiben wie beim aufgezeigten Container-Ansatz, kritisiert LAVE (1988) treffend:

"One has system without experience, the other experience without system" (ibid., p.150).

Ad 2): Aus aktivitätstheoretischer Perspektive ist der zentrale theoretische Zusammenhang historisch ausgeformt zwischen Personen, die an einer soziokulturell ausgeformten Aktivität aktiv teilnehmen, und der Welt, mit der sie verbunden sind. Aus dieser Sichtweise beginnt die Analyse des Kontexts mit den historisch emergierenden Widersprüchen, die alle konkreten sozialen Institutionen und Beziehungen kennzeichnen. Dieser Ansatz konzentriert sich auf den diffuse bestimmten Charakter der Effekte objektiver sozialer Strukturen. Differenzen in der sozialen Verortung von Aktoren sind politisch–ökonomischen Strukturen inhärent und werden in spezifischen soziokulturellen Praktiken entwickelt.

"Differences of power, interests, and possibilities for action are ubiquitous. Any particular action is socially constituted, given meaning by its location in societally, historically generated systems of activity. Meaning is not created through individual intentions; it is mutually constituted in relations between activity systems and persons acting, and has a relational character. Context may be seen as the historically constituted concrete relations within and between situations" (LAVE, 1993, p.18).

ENGESTRÖM (1993) definiert Kontexte als Aktivitätssysteme (siehe S.54ff.) oder anders formuliert: die Aktivität selbst ist der Kontext bzw. was in einem Aktivitätssystem passiert, ist der Kontext. Das Subsystem Subjekt–Mediator–Objekt existiert nur in Zusammenhang mit den anderen Komponenten des Systems. Es handelt sich demnach um eine relativistische Auffassung von Kontext.

Kultur als Kontext für Entwicklung 69

NARDI (1996b) beschreibt Kontexte aus aktivitätstheoretischer Sichtweise wie folgt:

"Context is constituted through the enactment of an activity involving people and artifacts. Context is not an outer container or shell inside of which people behave in certain ways. People consciously and deliberately generate contexts (activities) in part through their own objects; hence context is not just 'out there.'

Context is both internal to people – involving specific objects and goals – and, at the same time, external to people, involving artifacts, other people, specific settings. The crucial point is that in activity theory, external and internal are fused, unified ... People transform themselves profoundly through the acquisition of functional organs24; context cannot be conceived as simply a set of external “resources“ lying about. One‘s ability – and choice – to marshall and use resources is, rather, the result of specific historical and developmental processes in which a person is changed. A context cannot be reduced to an enumeration of people and artifacts; rather the specific transformative relationship between people and artifacts, embodied in the activity theory notion of functional organ, is at the heart of any definition of context, or activity" (ibid., p.76).

DREIER (1993) verweist auf den Zusammenhang zu reproduzierenden gesellschaftlichen Strukturen.

"The situation stands in particular connections with the overall societal structure of possibilities, meanings and actions that produce and reproduce the concrete social formation" (DREIER, 1993).

Gegenüber phänomenologischen Ansätzen argumentieren die Vertreter dieses Ansatzes, dass die konkrete Vernetzung und Bedeutung einer Aktivität nicht mittels einer Analyse der unmittelbaren Situation geklärt werden kann im Sinne "der Kontext einer Handlung wird durch die Charakteristika der unmittelbaren Interaktion und / oder der teilnehmenden Persönlichkeiten erstellt". Aufgrund ihres ahistorischen Charakters unterdrückt eine entsprechende Sichtweise jeden historischen Prozess. Aktivitätstheoretische Überlegungen gehen von einer Ko-Konstruktion zwischen der Entwicklung auf der ontogenetischen Ebene und Ereignissen auf der Aktivitätsebene aus. Eine Analyse des Wandels zieht sowohl die individuelle Historizität (Ontogenese) als auch die historischen Veränderungen in den bio–sozio–kulturellen Formen, auch Aktivitäten genannt, mit ein. Die Absicht ist die Dialektik in den Veränderungen zu erfassen, d.h., wie führen Veränderungen des menschlichen Verhaltens zu Veränderungen in Aktivitätssystemen und inwieweit bewirken Veränderungen in partikularen Aktivitätssystemen Veränderungen bei den beteiligten Individuen. Rezentere phänomenologische Ansätze (vgl. u.a. SUCHMAN & TRIGG, 1993) sehen neuerdings in der Dimension der 'Mediation' eine entscheidende Gemeinsamkeit mit der Aktivitätstheorie. Diese Ansätze räumen ein, dass unmittelbare Situationen historische Artefakte, Praktiken und Routinen 24 Wir verweisen dabei auf ZINCHENKOs (1996) Analyse funktionaler Organe, die er am Beispiel der Beziehung

zwischen dem Cellisten Rostropovich und seinem Musikinstrument verdeutlicht.

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umfassen und dass historische Praktiken und Artefakte Ressourcen liefern, die bis zur nächsten Gelegenheit aufbewahrt und dann verwendet werden können. Anstatt die beiden Ansätze einander gegenüberzustellen sieht LAVE es angebrachter, die beiden Ansätze miteinander zu artikulieren und ihre spezifischen Vorteile zu subsumieren. Aktivitätstheoretische Perspektiven konzentrieren sich dabei vor allem auf die Bedeutung des teilweise gegebenen Charakters einer objektiv strukturierten Welt oder wie es die Autorin formuliert, wie Menschen in der Geschichte leben. Phänomenologische Ansätze konzentrieren sich dagegen darauf, wie Menschen in der Geschichte leben sowie auf den teilweise ko-generierten Charakter einer bedeutsamen Welt. Entscheidend ist ihrer Meinung nach weniger die Frage nach der Art und der Natur des konstitutiven Zusammenhangs zwischen handelnden Personen und den Handlungskontexten, sondern nach den Zusammenhängen, die zwischen den lokalen Praktiken bestehen, welche das gemeinsame Handeln der Menschen – innerhalb und über die Kontexte hinweg – kontextualisieren.

Aktivität und Praktiken Die Beziehung zwischen Individuum und soziokulturellem Umfeld wurde in den letzten Jahren auch vermehrt durch Begriffe wie 'Aktivität' und 'Praktiken' erfasst. Für COLE (1995b) deckt der Begriff 'kulturelle Praktiken' aufgrund seiner Polysemie einen gemeinsamen semantischen Raum mit Begriffen wie 'Situation', 'Kontext', 'Aktivität' oder 'Ereignis' ab. Die aktuellen Zusammenhänge zwischen Kognition und Praxis sind laut (COLE, 1995b) auf die drei Formen von Aristoteles rückführbar, wie Menschen etwas in Erfahrung bringen können. Er unterschied zwischen theoria – praxis – poesis (techne), wobei diese drei Formen besonders in der Schule unterschiedlich gewichtet wurden. Theoria wurde als eine übergeordnete Form des Wissens angesehen, aus der die anderen Formen sich entwickeln sollten, wobei Praxis der Techne noch übergeordnet war. Besonders durch die Arbeiten von MARX wurde Praxis nicht länger nur als Anwendungsfeld der Theorie betrachtet, sondern als aktuelles Medium aus dem sich Theorie als ein spezifischer Untersuchungsmoment herauskristallisiert. MARX (1967/1845) versuchte das aktive Individuum aus idealistischen Denkansätzen herauszulösen und die ontologische Trennung von Mensch und Werkzeug neu zu arrangieren – wobei er in diesem Ansatz die Dichotomie zwischen Idealismus und Materialismus zu überwinden gedachte. Die formulierte Interpenetration von Aktivität und Praxis, von Materialität und Idealität basiert auf dem, was BERNSTEIN (1971) wie folgt beschreibt:

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"The object or product produced is not something 'merely' external to and indifferent to the nature of the producer. It is activity in an objectified or congealed form" (ibid., p.44).

In Anlehnung an BAKHURST (1993) betont COLE (1995b), dass Aktivität demzufolge die Kraft besitzt, die materielle Welt mit einer neuen Klasse von Charakteristika auszustatten, die eine permanente Präsenz in der objektiven Realität erlangen und unabhängig von Menschen existieren. Folglich emergieren Aktivität und Praxis als Medium, Resultat und Vorbedingung für menschliches Denken. Idealität emergiert demnach im Bereich der Aktivität und der Praktiken als Teil der Dialektik der Entwicklung (ibid., S.111). Zwischen MARX und zeitgenössischen Praxisansätzen stellt sicher der amerikanische Pragmatismus eine interessante Zwischenetappe in der Konzeptualisierung der Aktivität dar. Insbesondere DEWEY sieht die Qualität menschlicher Aktivität, in Analogie zur Auffassung von MARX, in den Kontributionen früherer Generationen sowie in der Nichtidentität von Körper und Geist:

"We live from birth to death in a world of persons and things which is in large measure what it is because of what has been done and transmitted from previous human activities. When this fact is ignored, experience is treated as if it where something which goes on exclusively inside an individual's body and mind. It ought not be necessary to say that experience does not occur in a vacuum. There are sources outside an individuum that give rise to experience" (ibid., 1938, p.39).

DEWEY ging zudem näher auf die Zusammenhänge zwischen Kognition, Praxis und Partizipation in einer Gemeinschaft ein – ein Umstand, der in heutigen Entwicklungsansätzen in Zusammenhang mit kulturellen Praktiken verstärkt aufgegriffen wird (vgl. LAVE, 1988; LAVE & WENGER, 1991; WENGER, 1998).

"Knowledge is a mode of participation, valuable in the degree in which it is effective. It cannot be the idle view of an unconcerned spectator" (ibid., 1916, p.393).

Ein weiterer wichtiger Einfluss auf aktuelle Praxisansätze kommt aus der russischen kultur-historischen Psychologie, die versuchte eine Psychologie auf der Basis von MARX' Überlegungen zu begründen. Russische Psychologen verwenden nicht den Terminus 'Praxis', sondern sprechen von 'Aktivität / Tätigkeit' und in ihrer Tradition sprechen wir von Aktivitätstheorie bzw. Tätigkeitstheorie. Bringt man rezentere Ansätze aus der europäischen Sozialtheorie wie GIDDENS oder BOURDIEU in die Diskussion zu kulturellen Praktiken ein, so charakterisiert MILLER (zit. in COLE 1995b) Praktiken als:

"the everyday pivot between structure and the individual" (ibid., p.114).

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Für GIDDENS (1979) stellen Praktiken die basalen Bestandteile des sozialen Systems dar. Als Analyseeinheit erlauben sie, Dualismen wie 'individuell– sozial' zu überwinden, die lediglich einseitige Umstände der Entwicklung neu erschaffen. Die Auflösung solcher Dualismen, in Anlehnung an MARX, findet man auf der Ebene der Praktiken:

"In place of each oft these dualisms, as a single conceptual move, the theory of structuration substitutes the central notion of duality of structure. By the duality of structure, I mean the essential recursiveness of social life, as constituted in social practices: structure is both medium and outcome of the reproduction of practices, and 'exists' in the generating moments of this constitution" (ibid., p.5).

Überträgt man diese Perspektive auf den naturwissenschaftlich–technischen Unterricht, so kann man z.B. die synoptischen Diskursgenres (siehe S.175) erwähnen, welche zugleich ein Resultat von sich reproduzierenden schulischen Praktiken sind als auch das Medium für die Reproduktion dieser Praxis. Auch BOURDIEU ist bestrebt dualistische Theorien der Kognition und des Soziallebens zu überwinden. Er warnt davor Praktiken als mechanisch durch vorangehende Bedingungen determiniert zu sehen. Das Habituskonszept ist sowohl das Produkt der materiellen Existenzbedingungen als auch das Set der Prinzipien, um Praktiken zu generieren und zu strukturieren. Der Habitus, wie der Name es schon ausdrückt, stellt das nicht hinterfragte Grundlagenset der Annahmen über die Welt dar oder wie er es selbst formuliert

"history made nature" (1977, p.78).

"The habitus is the universalizing mediation which causes an individual agent's practices, without either explicit reason or signifying intent, to be none the less 'sensible' and 'reasonable'" (ibid., p.79).

Der Lokus, wo die Bestandteile des Geistes verschmelzen, sind für BOURDIEU die Praktiken. Das spezifische Interesse an Praxistheorien fasst (COLE, 1995b) in Anlehnung an LAVE (1988) mittels folgender drei Punkten zusammen: – � Die Betonung des dialektischen Charakters der grundlegenden Beziehungen,

welche menschliche Erfahrungen ausmachen. – � Der Fokus auf die 'Erfahrung–in–der–Welt', welche die Struktur und die

Dynamiken psychologischer Testprozeduren als eine universelle und angemessene Schablone verwirft.

– � Eine Verlagerung hin zu den Grenzbereichen der Kognition und der Umwelt, so dass Kognition aufgefasst wird, in Anlehnung an LAVE, als "stretched across mind, body, activity and setting" (1988, p.18) – ein Ansatz, der auch noch als 'distributed cognition' (vgl. SALOMON, 1993) konzeptualisiert wird.

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Die kulturelle Psychologie, kognitive Anthropologie, Kognitions- und AI-Forschung konvergieren in der Auffassung, dass Denken nicht unabhängig vom Kontext, in dem es entsteht, verstanden werden kann. Denken scheint demnach in der Beziehung zwischen Individuum und Umwelt zu liegen, wobei man Umwelt – in Anlehnung an ROTH (1995, S.28) – in einer umfassenden Weise konzipieren muss, die folgende Dimensionen umfassen kann: die physikalische Umwelt, die historischen und kulturellen Umgebungen sowie ebenfalls internale Aspekte wie z.B. die relevanten Überzeugungen eines Problemlösers zu einem bestimmten Moment. Denken, Erkennen und Erinnern werden demzufolge als verteilte Phänomene aufgefasst, die nicht länger nur in den Köpfen der Individuen angesiedelt sind.

WISSEN, PRAKTIKEN, KONTEXT Die Art und Weise wie gegenwärtig Lehr–Lern–Sitautionen im naturwissenschaftlich–technischen Bereich gestaltet werden, steht in engem Zusammenhang mit den Auffassungen der Lehrenden zur Natur, Genese und Verwendbarkeit des Wissens. In der alltäglichen Verwendung des Begriffs, bezeichnet Wissen so unterschiedliche 'Elemente' wie spezifische Fakten, komplexe Theorien, Handlungen, Erklärungen... Angesichts dieser Heterogenität erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass Lehrende ernsthaft Zweifeldaran hegen, wie es ihnen gelingen könnten den heranwachsenden Generationen die wesentlichen Elemente diese Wissens angesichts der knappen, zur Verfügung stehenden Zeitressourcen zu übermitteln. In mehreren Beiträgen analysiert Gordon WELLS (1998, 1999), wie Wissen sich im Laufe der Jahrmillionen menschlicher Existenz verändert hat, aber auch im Rahmen kultureller und individueller Lebensspannen.

"Our emphasis on knowledge puts the cart before the horse; what we should be concerned about is 'knowing' and coming to know" (1998).

Bis vor ungefähr zwei bis drei Jahrhunderten war 'wissen' eng an bestimmte Tätigkeiten sowie den wirksamen Gebrauch unterschiedlicher Werkzeuge gebunden. Das allmähliche Kennenlernen gehörte zum allmählichen Eintreten in die Aktivitäten einer Gemeinschaft. Das relevante Wissen wurde dabei von einer Generation zur nächsten tradiert, indem Meister mit Novizen zusammenarbeiteten. Sie zeigten und erklärten ihnen in gemeinsamen Praktiken den Umgang mit den Werkzeugen, bis diese selbst, als kompetente und anerkannte Teilnehmer der Gemeinschaft, Verantwortung für bestimmte Tätigkeiten übernehmen konnten (LAVE & WENGER, 1991).

"the emphasis was on enabling their participation not on giving them 'knowledge for show'. In keeping with this activity orientation, it was through encountering problems and making solutions to them that knowing advanced, both for the individual and for society; the only difference was in

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whether the extension of what the participants were able to do and understand was new simply for them, for the community, or for the society as a whole" (WELLS, 1998).

Nicht jede Tätigkeit war allerdings praktischer Natur und auf das Überleben ausgerichtet. Zu jeder Zeit stellten sich Mensch wohl Fragen über die sie umgebende Welt, über ihr eigenes Dasein, ihre Vergangenheit und Zukunft. Die Erzählungen, Mythen, Rituale..., die sie entwarfen, stellten eine andere Form des Wissens dar, die auf dem sinnstiftenden Potenzial der Sprache sowie anderer ästhetischer Darstellungsmodi wie Gesang, Tanz und Malerei basierten. Auch diese Form des Wissens wurde jahrtausendelang von einer Generation zur anderen durch Teilnahme an gemeinsamen Tätigkeiten tradiert, wobei sie kontinuierlich entsprechend der jeweiligen Bedingungen und Bedürfnisse weiterentwickelt wurde. Das Erfinden der Schrift stellte zwar ein leistungsfähigeres Medium für das repräsentieren und übermitteln von Informationen dar, änderte aber wenig an den traditionellen Modi des Wissens (siehe S.145ff. DE KERCKHOVE). Lesen und Schreiben wurden erst in der Renaissance zu Mitteln anhaltender intellektueller Tätigkeit. Die zwei entscheidenden Entwicklungen waren a) der Buchdruck und die Verbreitung schriftlicher Texte; b) das Bestreben zur wissenschaftlichen Objektivierung der Welt, um sie besser zu verstehen und sie für menschliche Zwecke zu nutzen. Diese Entwicklungen generierten rasch einen neuen Wissensmodus, den man als theoretisches Wissen bezeichnen kann. Das neue Wissen unterschied sich von früheren theoretischen Ansätzen in zwei Punkten. Einerseits wuchs es ständig an und basierte, besonders bei wissenschaftlichen Untersuchungen, systematisch auf empirischer Evidenz. Andererseits erhöhte die schnelle und umfassende Verbreitung den Impakt auf die Lebensweisen der Menschen. Die markanten Verbesserungen in den existentiellen Bedingungen menschlichen Daseins infolge dieser Explosion des theoretischen Wissens führten am Ende des 20. Jahrhunderts zur Tendenz, dass dieses Wissen valider als andere Modi des Erkennes sei, denen es zudem überlegen sei (vgl. WERTSCH, 1991b). Demzufolge darf es uns nicht weiter verwundern, dass in unseren Schulen, insbesondere im naturwissenschaftlichen Unterricht, vor allem das Memorisieren von Fakten und das Reproduzieren von Verallgemeinerungen und theoretischer Erklärungen aus Lehrbüchern gewichtet wird gegenüber dem Entwickeln des Verstehens entsprechender Information, die unser Handeln leiten kann. Die Fülle an Wissensinhalten, die es zu übermitteln gilt, wächst zudem im Jahrestakt auf sämtlichen Schulstufen noch erheblich an.

"And so, not surprisingly, the response is a tendency towards a model of knowledge delivery and evaluation that owes more to the assembly line (one of the short-lived manifestations of theoretical knowing as applied in industrial mass production) than to what we have come to understand about the way in which knowing is related to the activities in which human beings engage and about how

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coming to know is related to participation in those activities. Surely something has gone wrong! (WELLS, 1998).

Im Anschluss wollen wir einige Dimensionen des Wissens und Erkennens im Rahmen schulischer Praktiken belichten, welche die dominierende Form der Wissensvermittlung kritisch beleuchten und um wesentliche Aspekte erweitern: – Die kontextualisierte Natur des Wissens; – Die funktionale Organisation unseres Wissens; – Formen des Wissens und Zusammenspiel; – Bewusstsein als Emergenz. Die Frage, ab wann aus Daten Information und aus Information Wissen wird, lässt sich sicherlich kaum empirisch beantworten. Bei solchen Übergängen spielt das jeweilige Subjekt eine zentrale Rolle, so dass man statt einer starren Kategorisierung eher von einem Kontinuum zwischen den Polen Daten und Wissen ausgehen muss. REINMANN–ROTHMEIER & MANDL (2000) unterscheiden die Begriffe wie folgt:

„Daten bestehen aus einer sinnvoll kombinierten Folge von Zeichen, besitzen aber noch keine Verwendungshinweise und sind an sich bedeutungslos. Zur Information werden sie erst dann, wenn sie in einen Problemzusammenhang gestellt werden und zum Erreichen eines Ziels dienen, Wissen generiert sich aus Informationen dadurch, dass diese in einen Erfahrungskontext eingebunden werden. Sinn und Bedeutung erlangt Wissen aber erst, wenn Menschen auswählen, vergleichen, bewerten, Konsequenzen ziehen, verknüpfen, aushandeln und sich mit anderen austauschen können, d.h. »nur Menschen schaffen neues Wissen« (vgl. WILLKE 1996, S. 285)" (ibid., S.276).

REINMANN–ROTHMEIER & MANDL verweisen im angeführten Zitat auf die Rolle des Individuums und des Kontexts bei der Konstruktion von Wissen.

Die kontextualisierte Natur des Wissens Arbeiten im Rahmen der Expertiseforschung25 bzw. der ‚situated cognition‘ (LAVE, 1988; BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989) belegen, wie sehr die Ontogenese von Begriffen und Wissensstrukturen von den jeweiligen Situations- und Materialkontexten abhängig ist und wie stark die Spezifität dieser Aufbaukontexte auch bei der Aktivierung der Ressourcen eine entscheidende Rolle spielt. Man muss demnach von einem situierten bzw. kontextualisierten Prozess sprechen. Die Natur und die Dynamik des Mobilisierens unterschiedlicher kognitiver Ressourcen angesichts des Bewältigens einer komplexen Situation sind noch weitgehend unbekannt. Im Sinne der Situations- und Bereichsspezifität des 25 MANDL, GRUBER & RENKL (1993) sprechen von einer dreifachen Kontextualisierung von Expertise nach

Domäne, Situation und Kultur.

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Wissenserwerbs darf man Mobilisieren jedenfalls nicht als ein universales Können für alle Situationen und sämtliche Ressourcen betrachten. Andererseits kann das Mobilisieren der angemessenen Ressourcen in einer Situation auch nicht jedesmal eine spezifische, originale Erfindung darstellen, die nicht auf bereits bestehende Elemente zurückgreift. Sie vollzieht sie sich mittels einer Folge mentaler Operationen bei der sowohl Aktivierungs- als auch Inferenzmechanismen erfolgen. Kontextualisierung, funktionale Organisation und Bedeutung der analogen Verarbeitung sind für BASTIEN (1997) Charakteristika, welche die kognitive Psychologie dazu gebracht haben, sich verstärkt mit Aktivierungsprozessen und -mechanismen zu beschäftigen. Im Gefolge der Theorieansätze von PIAGET und der Arbeiten zur künstlichen Intelligenz wurde die kognitive Aktivität lange Zeit bevorzugt unter dem kalkulatorisch logischen Ansatz untersucht. Dieser Vergleich des menschlichen Vorgehens mit einer inferentiellen logischen Verarbeitung in der gleichen Situation führte zum Aufzeigen der Grenzen und Defizite unseres kognitiven Systems. Dabei wurde deutlich, dass wir meistens die angetroffenen Probleme nicht durch Überlegen lösen, sondern durch Appellieren an memorisierte Kenntnisse oder, wenn diese fehlen, durch Anwenden verschiedener Heurismen, die sehr oft nur delikat formalisierbar sind und selbst wieder von Vorkenntnissen abhängen. Demzufolge muss man den erworbenen expliziten und impliziten Kenntnissen und deren Aktivierung eine große Bedeutung zumessen – ein Umstand, der auch durch Analysen der Vorgehensweisen von Experten in ihrem spezifischen Bereich belegt wird. Wichtige Aufschlüsse belegen ebenfalls Untersuchungen zur Rolle von Analogien beim Problemlösen (siehe S.237ff.) und beim Erwerb neuer Kenntnisse sowie die festgestellten Effekte kontextueller Enkodierungs- und Wiedergabeindizien, welche die Überlegenheit des indizierten Zurückrufens (siehe S.140 Indexe) gegenüber dem freien Zurückrufen memorisierter Items belegen (vgl. Übers. in BASTIEN 1997). Angesichts einer Situation, die unsere Aktivität erfordert, sei es, um zu verstehen, sei es, um zu handeln, beschreibt BASTIEN (1997) folgende Prozesse: – Der erste aktivierte Prozess ist der Rückgriff auf bekannte Antworten; – bei neuen Situationen, in denen keine unmittelbar entsprechende Kenntnis

auszumachen ist, sucht unser kognitives System innerhalb der bekannten, erfolgreich gelösten Situationen nach einer ähnlichen analogen Situation, deren bekannte Lösung an die neue Situation angepasst werden könnte. In beiden Fällen ist die essentielle Aktivität ein Aktivierungsmechanismus des Wissens im Gedächtnis;

– erst wenn ein solcher Mechanismus scheitert, erfolgt eine inferentielle Aktivität, die wiederum abhängig ist von der kontextualisierten Strukturierung der erworbenen Kenntnisse (ibid., S.146)

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Angesichts der kontextualisierten Natur des Wissens muss man sich einerseits fragen, wie eng das Wissen an die jeweilige Situation gebunden bleibt und andererseits, wie Kenntnisse auf andere Situationen übertragen bzw. verallgemeinert werden. Hinsichtlich der Gestaltung der Unterrichtspraxis muss sich dabei das Interesse vor allem – auf die Natur der Lern- und Anwendungskontexte richten sowie der damit

verbundenen Aktivitäten, – auf die erforderliche Vielfalt der Erfahrungskontexte, damit eine gewisse

Verallgemeinerung erfolgen kann (siehe S.266ff.), – sowie auf die Tragweite und Abgrenzung der erarbeiteten Werkzeuge der

geistigen Tätigkeit (Konzepte, Modelle, Strategien...).

Die funktionale Organisation unseres Wissens BASTIEN (1997) belegt durch empirische Befunde aus vielen Domänen, dass die Kontextualisierung eine wesentliche Rolle in der Erinnerung des individuellen Wissens einerseits und in der Interpretation und Kategorisierung der Elemente einer zu bearbeitenden Situation andererseits spielt.

„Der Kontext ist uns demzufolge nicht als ein Modulatorelement, sondern als ein konstitutives Element der Kenntnisse vorgekommen: Er spielt eine ausschlaggebende Rolle in ihrer Strukturierung, d.h. in der Erstellung ihrer Beziehungen untereinander. Eine solche Strukturierung, die man als funktional bezeichnen kann, basiert in der Tat auf einer Organisation, welche durch die Ziele der Handlung bestimmt wird; letztere bilden, genauer gesagt, eine wesentliche Komponente des Kontexts“ (ibid., S.144, vom Verfasser übersetzt).

Analysen des Wissens und Vorgehens von Experten belegen, dass es vor allem die Ziele ihrer spezifischen Aktivität sind, welche ihre Kenntnisse kategorisieren und anschließend aktivieren (vgl. u. a. RICHARD, 1995). Die funktionale Organisation kontextualisierter Kenntnisse schätzt BASTIEN als eine allgemeine Eigenschaft des menschlichen kognitiven Systems ein. Sie scheint aus den Prozessen hervorzugehen, die seine Konstruktion leiten.

Verschiedene Formen des Wissen Angesichts der Vielfalt an unterschiedlichen Klassifikationen von Wissensformen wollen wir im Rahmen der Aneignung von Wissen über elementare Prinzipien der physikalischen Objektwelt sowie aus der gewählten soziokulturellen Perspektive eine Einteilung vornehmen, die sich eng an die spezifische Art und Weise anlehnt, wie wir Objekte, Bewegungen, Personen, Zeichen... – kurzum die Welt um uns herum – erfahren. Wir unterscheiden dabei in Anlehnung an PÖPPEL (2000) zwischen drei Formen des Wissens, nämlich zwischen explizitem Wissen, implizitem oder Handlungswissen und bildlichem oder Anschauungswissen.

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Diese Einteilung berücksichtigt die spezifischen, im Laufe der Evolution entstanden Verarbeitungsprinzipien unserer Sinnessysteme und unseres Gehirns, welche die Grundfunktionen unseres Erleben scheinbar mühelos und für uns selbstverständlich regulieren. Bei den angesprochenen Wissensformen handelt es sich um "derart stabile Koordinaten unserer Erfahrung und unseres Handelns" (PÖPPEL, 2000, S.22), dass erst eine getrennte Analyse ihr selbstverständliches wirksames Zusammenspiel verdeutlicht. In der Psychologie galt die Unterscheidung zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen lange als die wohl einflussreichste Gegenüberstellung verschiedener Wissensarten. Deklaratives Wissen wird oft mit dem Synonym Sachwissen oder 'knowing what' umschrieben. Es ist allgemein beschreibend und unabhängig von einer bestimmten Anwendung. Prozedurales Wissen steht für Handlungswissen oder 'knowing how'. Prozedurales Wissen umfasst Hinweise über die Prozeduren und Anwendungsbedingungen dieser Prozeduren, ist präskriptiv und spezifisch im Gebrauch. Es enthält vor allem Wissen darüber, wann und warum man auf einzelne Wissensteile zugreifen und diese anwenden kann. Es ist von deklarativem Wissen ableitbar (vgl. ANDERSON, 1983), womit Menschen in der Regel aber Schwierigkeiten haben. Umgedreht bereitet ihnen auch das Ableiten deklarativer Kenntnisse von erlernten Prozeduren größere Schwierigkeiten (vgl. u.a. WEIL-BARAIS, 1996, S.438). Die Gegenüberstellung von deklarativem und prozeduralem Wissen spiegelt allerdings den alten Antagonismus zwischen Wissen und Können wider. Eine solche Unterscheidung qualifiziert MENDELSOHN (1995) als eine kognitivistische Auffassung der ersten Generation26. Wissen und Können werden als Repräsentationen des gleichen Wissens unter verschiedenen Zuständen aufgefasst und unterscheiden sich nicht durch ihre Natur, da sie beide durch Produktionsregeln formalisierbar bleiben27. Konzentriert man sich allerdings auf die Analyse von Praktiken, so ist die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen wesentlich aufschlussreicher. Wissen gilt als explizit, wenn es mittels kultureller Repräsentationsmodi artikulierbar ist, im weitesten Sinne vom Verstand abhängig ist und als sequenziell charakterisiert werden kann. Implizites Wissen dagegen lässt sich nicht direkt artikulieren, weil es in hohem Masse durch 26 MENDELSOHN (1995) zeigt in einer Übersicht von der klassischen über die strukturalistische, die

kognitivistische der 1. und 2. Generation bis hin zur kontextualistischen Auffassung dass die Gegenüberstellung von Wissen und Können seit dem Anfang des Jahrhunderts auf unterschiedlichen Paradigmen basierte. Von einer Konzeption, in der die beiden Wissensformen mehr oder weniger unabhängig oder in Wettbewerb zueinander aufgefasst wurden, erfolgte die Evolution zu einer viel stärker integrierten Konzeption ihrer Rolle und ihrer reziproken Funktionen, die eine Beteiligung des Subjekts an einem kontextualisierten Ensemble von Praktiken voraussetzt. (vgl. deutsche Zusammenfassung in MAX, 1999, S.365).

27 Kontextualisierte Lernansätze (‚situated learning‘) unterscheiden nicht länger explizit zwischen Wissen und Können. Hier lernt das Subjekt durch Partizipation an kontextualisierten Praktiken, welche vielfältige Wissens- und Könnensformen umfassen, die eng an den Kontext gebunden sind, der ihnen Sinn verleiht (ibid., S.28f.).

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Erfahrungen oder Intuitionen geprägt ist und mit "Gleichzeitigkeit" charakterisiert wird. Die angesprochene Gegenüberstellung geht auf POLANYI (1985/1966) zurück, der zwischen 'focal knowledge' – Wissen über ein Objekt oder Phänomen, das gerade im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht – und 'tacit knowledge' – Wissen als Werkzeug für den Umgang mit dem im Fokus stehenden Wissen – unterscheidet28. explizites Wissen Explizites Wissen ist Information mit ausdrücklich festgelegter Bedeutung. Es handelt sich dabei um bewusst verfügbare Kenntnisse, über die man Bescheid weiß und über die man Auskunft geben kann. Sie sind demnach sprachlich oder körperlich mitteilbar (symbolisiert) und unter vielfältigen Formen repräsentiert. Dies erlaubt einem, sie sich erneut zu beschaffen, wenn man sie vergessen hat. So katalogisiert z.B. eine Gemeinschaft ihren Wissensfundus in Enzyklopädien und Lehrbüchern, um ihn an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Der Inhalt wird dabei von dem bestimmt, was andere vor uns gedacht haben und in schriftlicher und grafischer Form festgehalten haben. Die Tradierung dieses Wissens erfolgt im Rahmen einer intersubjektiven Verständigung, die sich in unserer Kultur zum größten Teil in einem formalen Rahmen, nämlich in der Institution Schule, abspielt. Das Explizieren von Wissen entspringt der Tradition des rationalistischen Denkens im Gefolge von René DESCARTES' 'Discours de la méthode' (Von der Methode). Dieses Bestreben, das die Geschichte der Neuzeit dominiert, hat zu umfangreichen Veröffentlichungen in den Wissenschaften, insbesondere in den Naturwissenschaften geführt. Die so veröffentlichten Erkenntnisse kann man als kulturelle Repräsentationen expliziten Wissens begreifen Eine weitere Charakteristik expliziten Wissens ist das Bestreben Kenntnisse aus dem situativen, ich–bezogenen Kontext herauszulösen und ihnen einen allgemeinen Status zu geben. Das Subjekt muss demnach in der Lage sein, wesentliche Elemente ohne Referenz auf typische Eigenarten der Aneignungssituationen zu begreifen. Allgemein formulierte und vermittelte Aussagen wie naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten, mathematische Theoreme oder fachspezifische Termini garantieren allerdings keineswegs, dass sie für den Lernenden den Status einer allgemeinen Kenntnis besitzen bzw. jemals erlangen werden. Gelingt es dem Lernenden nämlich nicht, sie mit bestehenden Vorkenntnissen adäquat zu verknüpfen, so besteht die große Gefahr, dass sie in den spezifischen 28 Die Merkmale implizit und explizit, lassen sich darüber hinaus nicht nur auf das einzelne Subjekt sondern

auch auf soziale Systeme wie Organisationen anwenden Dies führt dann zur zusätzlichen Unterscheidung zwischen objektiviertem (expliziten) Wissen und kollektivem (impliziten) Wissen innerhalb der Organisation.

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Vermittlungssituationen verankert bleiben bzw. dass sie undifferenziert als punktuelle Informationen verwendet werden. Sie bleiben so anekdotisch und isoliert und werden nach einer Zeit kaum noch mobilisiert. Aussagen wie "Der Magnet zieht Eisen, Schrauben, Metalle und Nägel an" zeugen von solchen Lernprozessen. Diese Problematik trifft vor allem auf das in der Schule so stark gewichtete Faktenwissen (siehe S.172ff.) zu, das erlaubt über Eigenschaften und Zusammenhänge der animierten und nicht animierten Objekte unseres Umfeldes zu informieren und zwar hinsichtlich des vergangenen, aktuellen oder zukunftsorientierten Aspekts wie z.B. Wasser kocht bei 100° und friert bei 0°, Luft enthält 20% Sauerstoff... Im Sinne verallgemeinerter Informationen bzw. dekontextualisierter Unterrichtsbegriffe (siehe S.256, Klassenraumaufgaben), werden sie als leicht erlernbar eingeschätzt, insbesondere aufgrund ihrer präzisen fachspezifischen Bedeutung (siehe S.274, LOTMAN) und ihrer synoptischen, ökonomischen Darstellungsweise. In diesem Zusammenhang muss man betonen, dass das Bestreben nach einer systemischen Betrachtungsweise der Zusammenhänge und Vernetzungen unseren Kindern zusätzlich durch eine gesellschaftliche praktizierte ‘Unkultur des Details’ erschwert wird. Der 'Besitz'29 expliziten Wissens, insbesondere aber umfangreichen Detail- und Faktenwissens in multiplen Wissensbereichen, wird in unserer Kultur mit Vorliebe und sehr oft ausschließlich als Bildung qualifiziert. Dies erfolgt sowohl in der Öffentlichkeit wie z.B. in TV- und Radioshows als auch in schulischen Institutionen, wo es als Indiz einer wissenschaftlichen Grund- oder Allgemeinbildung gewertet wird. Entsprechendes Wissen wird demzufolge als das 'eigentliche Wissen' angesehen und genießt eine besonderen Status in unserer Gesellschaft– eine Auffassung, die wir so nicht teilen (vgl. auch MAX, 1999). Diese hohe soziale Anerkennung bzw. den gesellschaftlichen Status von Faktenwissen basiert darüber hinaus auch noch auf Überzeugungen, welche die Eltern, Großeltern, relevante Drittpersonen... aus ihrer eigenen Schulzeit kennen. In den angesprochenen Mediationsprozessen im Alltag kommen Kinder öfters mit solchen Annahmen und Ausformungen in Berührung (siehe S.158ff.). Detailinformationen und übergreifende Begriffe ergänzen sich, denn übergreifende Konzepte basieren auf Detailinformationen, die man als Konstruktionsmaterial bzw. als Unterbau allgemeinerer Ideen betrachten kann. Darüber hinaus belegen z.B. die Arbeiten von VOSNIADOU (siehe S.112), dass Kinder neu anfallende Informationen auf ganz eigenwillige Weise mit ihrem bestehenden Erklärungsrahmen für bestimmte Phänomenbereiche in einen für

29 In einer ‚naiv-psychologischen’ Auffassung von Wissenserwerb spricht man oft von Kenntnissen, die man

sich aneignet und die man dann besitzt. Wissen wird so mit einem Kulturgut gleichgesetzt, das sich transportieren und lagern lässt. Dies steht im Gegensatz zu einer konstruktivistischen Sichtweise des Wissenserwerbs.

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sie bedeutsamen Zusammenhang setzen. Diese stehen oft in scharfem Kontrast zu 'objektivierten' Auffassungen einer wissenschaftlichen Gemeinschaft. Der Versuch, menschliches Wissen ausschließlich als explizites Wissen zu begreifen, ist nicht nur für die Gestaltung schulischer Lehr-Lern-Situationen unangemessen, sondern führt auch die Wissenschaften manchmal in die Irre30 (siehe auch S.87ff). Der Hirnforscher PÖPPEL (2000) bezeichnet explizites Wissen auch als »linkshemisphärisches« Wissen. Durch neuronale Störungen in der linken Gehirnhälfte, wie sie beispielsweise in der Folge eines Schlaganfalls auftreten, kann die Fähigkeit zu sprechen verloren gehen, so dass es dann so wirkt, als habe der Patient sein explizites Wissen verloren. Ein solcher Sprachverlust kann allerdings auch bedeuten, dass die Ankoppelung des expliziten Wissens an die sprachliche Repräsentationsmodi unterbrochen ist. Diese Annahmen kann man auch mit der Problematik der Redeskription von Repräsentationen im Rahmen des Wissenserwerbs in Beziehung setzen (siehe S.134), bei dem bestehende Repräsentationen in ein anderes Format überführt werden müssen und z.B. bei Kleinkindern U-förmige Entwicklungsverläufe generieren. Valorisiert man individuelle Wissenskonstruktionen der Schüler als legitime, temporäre und ernstzunehmende Erklärungsansätze analog zum offiziell geteilten, bereichsspezifischen Wissenskanon, wie es z.B. im Rahmen der ‚Conceptual Change‘–Ansätze erfolgt, ergeben sich gute Möglichkeiten, diese Konstruktionen auf progressive Weise zu stärker objektivierten und zu sozial geteilten Vorstellungen weiterzuentwickeln. Entsprechende Forschungsbelege liefern uns u.a. Diskursanalysen (SÄLJÖ, 1999), die den Blick auf emergente Prozesse im Zusammenspiel sozialer und persönlicher Partikularitäten in der jeweiligen Situation richten. Zum expliziten Wissen muss man auch das metakognitive Wissen (vgl. Übers. in OPWIS 1998; MAX 1999) zählen – ein Wissen, – das Annahmen und Überzeugungen bezüglich des eigenen Denkens und

Handelns wie z.B. der individuellen Lernvoraussetzungen, der Einstellungen und Motivationen umfasst;

– das Annahmen und Überzeugungen über das Denken und Handeln anderer sowie hinsichtlich kognitiver Sachverhalte im allgemeinen umfasst;

– das die grundlegenden kognitiven Steuerungs- und Regulationsvorgänge des eigenen Denkens und Handelns umfasst, d.h.

30 PÖPPEL (2000) verweist auf die 'Künstliche-Intelligenz'–Forschung, die von der Vorstellung ausgeht, explizites

Wissen stehe für die Gesamtheit menschlichen Wissens, und lasse sich präzise mittels formaler Mittel erfassen und mathematisch beschreiben. Das Unterfangen, menschliches Wissen und menschlichen Geist in Algorithmen abzubilden, ist seiner Meinung nach zum Scheitern verurteilt. Die Komplexität unseres Gehirns ist viel zu groß, als dass einzelne neuronale Zustande, die für bestimmte subjektive Zustände stehen, berechenbar wären.

Kultur als Kontext für Entwicklung 82

"jene Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen, die vorhanden, notwendig oder hilfreich sind, um beim Lernen oder Denken (implizite wie explizite) Strategieentscheidungen zu treffen und deren handlungsmäßige Realisierung zu initiieren, zu organisieren und zu kontrollieren" (WEINERT, 1994, S.193).

Ein Explizitmachen der handlungsbegleitenden Prozesse erfordert einen Zugriff auf Zustände und Abläufe eigener geistiger Aktivitäten und damit eine Art von Protokoll des eigenen Denkens und Handelns. Hierzu muss das Subjekt sich Möglichkeiten geben, einen anderen Betrachtungswinkel einzunehmen, d.h. von seinen unmittelbaren gedanklichen Überlegungen zurücktreten und versuchen aus einer gewissen Distanz, das eigene Handeln zu überschauen. Die Einnahme einer über- oder ausgelagerten Betrachtungsebene alleine reicht nicht aus, denn das Subjekt muss auch in der Lage sein, ein entsprechendes Protokoll der eigenen kognitiven Aktivitäten in geeigneter Weise nutzen zu können. Dies wiederum erfordert Mechanismen der flexiblen Nutzung und erfahrungsbasier-ten Modifikation von Wissensbeständen, beispielsweise die analoge Verwen-dung bewährter Verfahrensweisen zur Lösung neuer Problemstellungen (vgl. OPWIS, 1998, S.373f.). Diese Qualifizierung des Menschen als „reflexives Subjekt“ (vgl. GROEBEN & SCHEELE, 1977), hebt REUSSER (1998) in einer kritischen Analyse des gegenwärtig immer noch unscharf und multidimensional gebliebenen Konzepts der Metakognition hervor. Die Fähigkeit, über das eigene geistige Funktionieren nachzudenken sowie das eigene Denken und Lernen intentional zu steuern ist ein Umstand, der auch bei der Gestaltung von Lehr-Lern-Situationen im Bereich elementarer Versuchssituationen eine zentrale Stellung einnimmt. Die bewusste Reflexion der Strukturiertheit und der inneren Logik der intramentalen Organisation führt in diesem ‚persönlichen‘ subjektspezifischen Bereich zu so bedeutenden interindividuellen Unterschieden, dass die Differenzierung zwischen dem allgemeinen und spezifischen Ausformungsgrad dieses Wissens sich als noch schwieriger erweist als bei der Genese bereichsspezifischer Denk- und Wissensstrukturen. Metawissen stellt demnach eine Artikulierung stabiler Persönlichkeitszüge und der Berücksichtigung situations- und bereichsspezifischer Kontextanforderungen dar. Es wird jedesmal in der Situation und parallel zur Handlungskompetenz konstruiert bzw. evaluiert und stellt, wie es WEINERT (1994) erwähnt, ein hierarchisches System unterschiedlicher Fähigkeiten dar, deren Gültigkeit für Klassen von Situationen bzw. Problemen festgelegt werden muss. Insgesamt muss man demnach von einer verstärkten kontextualisierten Konstruktion dieses Wissens ausgehen. Implizites Wissen

Kultur als Kontext für Entwicklung 83

Das implizite, nicht-sprachliche Wissen bezieht sich auf das, was wir können, ohne aber diese Performanzen mittels sprachlicher Entsprechungen erläutern zu können. Besonders im Alltag bewältigen wir die meisten der anfallenden Aufgaben vor allem durch Rückgriff auf implizites bzw. intuitives Wissen. Entscheidungen erfolgen meistens intuitiv, 'aus dem Bauch heraus' und sind emotional gefärbt oder begründet, auch wenn uns diese emotionale Tönung kaum bewusst ist. PÖPPEL (2000) illustriert den Unterschied zwischen explizitem und implizitem Wissen an einem klassischen Zitat von Augustinus. In den Be-kenntnissen schreibt AUGUSTINUS:

„Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht“ (zit. in ibid., p.23f.).

Wissen wird hier in den zwei angesprochenen Bedeutungen verwendet, nämlich zuerst als implizites und dann als explizites Wissen. Sprachliche Aussagen umfassen zudem immer mehr Informationen als jene, die tatsächlich klar ausgesprochen werden. Die Verwendung einer Sprache setzt eine Menge an Hintergrundwissen voraus, das nicht explizit beim Sprechakt erwähnt wird und dennoch den Teilnehmern sozialer Praktikergemeinschaften klar bewusst ist. Die impliziten Annahmen und Überzeugungen, welche nicht alle explizit gemacht werden können sowie das Primat der Praxis bedingen, wie es WINOGRAD & FLORES (1987) betonen, dass ein Großteil unseres Wissens nicht in Form mentaler Repräsentationen existiert. So kommt z.B. meine Kompetenz, mit einem Hammer umzugehen, von meiner Vertrautheit mit der Aktivität des Hämmerns, nicht aber von den Repräsentationen eines Hammers. Dieses Wissen im Akt wird durch aktives Teilnehmen an den Aktivitäten einer Praktikergemeinschaft erworben (vgl. auch LAVE & WENGER 1991; WENGER 1998). Im Gegensatz zu sprachlich oder körperlich repräsentier- und mitteilbaren Wissensbeständen ist unser alltägliches Gewohnheitswissen in Rituale und Abläufe, die nicht mehr hinterfragt werden, eingebettet. Gleiches gilt auch für den Bereich des biographisch einmaligen Wissens, das den einzelnen im Laufe seiner Sozialisation zwar geprägt haben mag, über das er allerdings nicht verfügen können muss, da es noch nie symbolisiert wurde bzw. da das Subjekt noch nie darüber kommuniziert hat (vgl. RADTKE, 1996, S.73). Die Fülle und der Reichtum des impliziten Wissens jedes Einzelnen – so PÖPPEL (2000) – sind nicht explizit berechenbar, da zu viele, zum größten Teil unbekannte Faktoren zu berücksichtigen wären. Diese Nichtberechenbarkeit unserer inneren Zustände kann sich auch in Unberechenbarkeit äußern. So kann u.a. niemand das eigene Handeln bzw. das eines anderen exakt voraussagen.

„Diese Offenheit des impliziten Wissens garantiert absolute Individualität; wir können nie kopiert werden, denn selbst wenn wir Klone wären, würden uns einzelne Prozesse in unserer impliziten Wissensbasis hinreichend verschieden machen“ (ibid., S. 25).

Kultur als Kontext für Entwicklung 84

Die in der Semiotik angesprochenen Unterscheidungen von Ausdrucks- vs. Inhaltsebene (siehe S.136) sowie die im Laufe einer Kultursozialisation erworbenen, nichtsprachlich gefassten impliziten Wissensbestandteile, wie sie BOURDIEU in seinem Habitus-Konzept explizit verdeutlicht, werfen demnach Fragen auf zum Anteil des bewussten Wissens im Vergleich zum tatsächlich verfügten Wissen eines Subjekts, zur Legitimität der Existenz eines solchen Wissens und zur Problematik des Erfassens – Standpunkte, die in der handlungstheoretischen Literatur kontrovers diskutiert werden (vgl. u.a. LENK, 1984; BAUDOUIN & FRIEDRICH, 2001). Es gibt allerdings viele Anhaltspunkte dafür, dass das Wissen eines Menschen sich nicht auf das sprachlich formulierbare Wissen beschränkt und dass im Sinne von SEARLE (1990)

„die Verarbeitung der Informationen aus einer Situation ganz ohne den Durchgang durch analytisch unterscheidbare Teilschritte, ungewusst, geschehen kann“ (RADTKE 1996, S.67).

In diesem Zusammenhang gilt es allerdings zu bedenken, dass das implizite bzw. intuitive Wissen nicht irrational ist, denn retrospektiv können wir uns durch Reflektieren der Sinnhaftigkeit des Handelns versichern31. Die Ausformung des impliziten Wissens ist nicht nur für das individuelle Handeln relevant, sondern auch für kollaboratives Handeln auf der Gemeinschaftsebene, wie es u. a. in Organisationen, Arbeitsgruppen bzw. in Schulgemeinschaften stattfindet. Ein Großteil der individuellen sowie der kollektiven Wissensressourcen (externe Wissensspeicher, -netze, -träger...) sind nicht bekannt und können deshalb nur unbefriedigend genutzt werden. Zur Zeit werden vielfältige Verfahren der Kodifizierung von Wissen (siehe S.168ff.) unternommen, die darauf abzielen, implizites Wissen intensiver zu fassen, die Verteilung innerhalb einer Gemeinschaft transparent zu machen sowie den Austausch über dieses Wissen zu verbessern. Alle diese Verfahren basieren auf der Annahme, dass Wissen expliziert, kategorisiert und modelliert werden kann. REIMANN–ROTHMEIER & MANDL (2000) verweisen darauf dass spätestens hier der Versuch, Daten, Information und Wissen präzise zu trennen (siehe S.75), auf Schwierigkeiten stößt.

„Denn sobald Wissen unabhängig von seinem Wissensträger betrachtet und damit dekontextualisiert und vom persönlichen Erfahrungshintergrund getrennt wird, kann man genau genommen nicht mehr von Wissen sprechen. Auch die für das Wissensmanagement in Organisationen so wichtige Unterscheidung von implizitem und explizitem Wissen kann einen beim Thema Wissensrepräsentation bisweilen in Verlegenheit bringen: Wie lässt sich das in seiner Wertigkeit oft so besonders hoch eingeschätzte implizite Erfahrungswissen darstellen, wenn es sich per definitionem weitgehend einer expliziten Erfassung entzieht? Als Kompromiss zeichnet sich inzwischen in dieser paradoxen Situation ab, dass nicht die Wissensinhalte per se, sondern die

31 vgl. auch die Problematik zum Verhältnis von handlungsleitendem und -rechtfertigendem Wissen in Radtke

(1996, S.61f.).

Kultur als Kontext für Entwicklung 85

Träger des Wissens32 erfasst und der Organisation und ihren Mitgliedern zugänglich gemacht wer-den.“ (ibid., S.278).

Genau wie REIMANN–ROTHMEIER & MANDL verweisen auch andere Autoren darauf, dass die ‚tazite Dimension‘ (POLANYI, 1985) mindestens genauso handlungswirksam ist wie das symbolisierte Wissen, das explizit verfügbar ist. Es sind gerade die Routinen, also Handlungen, die ohne Bewusstsein des implizit verwendeten Wissens ausgeführt werden, die mit größter Zuverlässigkeit und Sicherheit zum Ziel führen. Insbesondere der Experte, der Könner, der bestimmte Abläufe meisterhaft und ohne Reflexion vollzieht, zeichnet sich durch das lockere Ausführen einer Bewegung oder einer Handlung aus, d.h., ohne dass er sich explizit darauf konzentrieren muss. Ein Explizitmachen bzw. ein Problematisieren des zugrundeliegenden Wissens, so warnen viele Autoren, könnte zu einer Verunsicherung des Handelns führen (vgl. RADTKE, 1996, S.74). Indem man die taziten Kenntnisse analysiert und explizit macht, riskiert man unter anderem, genau das zu verlieren, was sie in Wirklichkeit ausmacht.

„Es gibt eine Grenze, um die Stille der taziten Kompetenzen reden zu lassen; ist es nicht illusorisch, das explizit machen zu wollen, was als Charakteristik besitzt, ohne Expliziertheit zu funktionieren“ (LE BOTERF, 1994, S.102, vom Verfasser übersetzt).

Der Anteil unbewusster Elemente in der situationsadäquaten Vorgehensweise wird nicht nur in soziologischen Ansätzen, wie sie u. a. BOURDIEU (1997) im Rahmen des ‚Handelns aus praktischer Veranlagung‘ (ibid., S.166f.) beschreibt, sondern auch in psychologischen Erklärungsansätzen kontrovers diskutiert. Um das Verhalten der Individuen zu verstehen, geht WEIL-BARAIS (1996) davon aus, dass sie im Laufe der Zeit verschiedene 'kognitive Invarianten' ausgeformt haben, die an der Kontrolle und Regulierung ihrer Handlungen beteiligt sind, selbst wenn die Subjekte nichts über sie explizieren können. Um diese mentalen Operationen zu objektivieren und zu bezeichnen, muss man sich der Sprache und bestimmter Begriffe bedienen, was aber nicht bedeutet, dass diese die tatsächlich eingesetzten Operationen wirklich fassen können (ibid., S.433). VERGNAUD (1981) unterscheidet zwischen den 'rationalen' Konzepten und jenen, die sich 'nur in den Köpfen der Schüler' befinden und die er als "connaissance en acte" oder "théorème en acte" bezeichnet. So lösen Kinder z.B. eine Rechenaufgabe wie 3+6=?, indem sie mit der großen Zahl beginnen und so unbewusst die Kommutativität der Addition für ihr Vorgehen nutzen. Sie verfügen demnach über ein größeres Wissen als Kinder, die vor dem Addieren nicht wissen, dass 6+3 gleich 3+6 ist. Ein entsprechendes Vorgehen genügt aber nicht um zu behaupten, dass die Kinder die Kommutativität der Addition 32 Als typisches Beispiel erwähnen die Autoren die »Gelben Seiten«, die kein Wissen an sich beinhalten, sondern

Wege aufzeigen, wie man zu den wichtigsten Wissensstandorten und Experten mit kritischem Wissen hinge-langt.

Kultur als Kontext für Entwicklung 86

bewusst verwenden. Ähnlich wie die angeführte "commutativité en acte" gibt es auch entsprechende "théorème en acte" im Bereich des elementaren technischen und naturwissenschaftlichen Wissens, die den Ausgangspunkt bilden, um explizite Kenntnisse zu entwickeln. So stellen Kinder bei Versuchen mit einfachen Versuchsmaterialien wie Batterie, Drähten, Schalter, Fassung... schnell fest, dass sie alle Elemente miteinander verbinden müssen, damit z.B. eine Glühlampe aufleuchtet. Kinder verwenden demnach das Prinzip 'geschlossener Aufbau' als eine 'Kenntnis im Akt', ohne aber den Begriff 'Schaltkreis' oder 'Stromkreis' bewusst zu beherrschen. Andere Autoren sprechen von 'unbewussten Kenntnissen' oder 'kognitivem Unbewussten' (PIAGET, 1974 a). Das 'kognitive Unbewusste' stellt PIAGET dar als die Gesamtheit der Strukturen, welche das operatorische Funktionieren beherrschen: Das Kind hat nur Bewusstsein vom Resultat, nicht aber von den Prozeduren, die zum Resultat führen. Das kognitive Unbewusste33 verfügt über einen Hemmmechanismus, vergleichbar mit dem affektiven Zurückweisen.

„Das Kind kann schnell die erfolgreiche Handlung ausführen, aber es bedarf Jahre, bevor es sich dessen bewusst wird, als ob sich irgendein Faktor dem widersetze und verschiedene Bewegungen oder sogar verschiedene intentionale Partien der erfolgreichen Ausführung im Unbewussten zurückhält“ (PIAGET, 1977, S.13, zit. in PERRAUDEAU, 1996, S.30, v.V. übersetzt).

Bildliches Wissen Im Bereich des bildlichen Wissens unterscheidet PÖPPEL (2000) drei verschiedene Ausformungen, nämlich Anschauungswissen, Erinnerungswissen und Vorstellungswissen. Das sinnliche Anschauungswissen erfolgt völlig mühelos, wenn wir unsere Augen öffnen – so weit wir unser Augenlicht nicht verloren haben – und die Welt in ihren Formen und Gegenständen, in ruhenden und bewegten Gestalten wahrnehmen. Unser Auge nimmt dabei die Umrisse von Objekten wahr und trennt sie als Figuren und Muster vom Hintergrund ab.

"Das Bewusstsein erhält dadurch das Signal, dass wir die betreffenden Objekte sehen. Es ist immer etwas Bestimmtes, was wir sehen, und in diesem Wahrnehmungsakt wird das Gesehene für wahr genommen" (ibid., S.25).

Für PÖPPEL unterliegt der Aufbau des visuellen Wissens einem kategorialen Zwang;

"das Gehirn mit seinen Sinnessystemen kann gar nicht anders als gestaltend zu wirken, d.h. als etwas Bestimmtes zu erkennen. ... Das Wahrnehmen von Gegenständen, die Gliederung des Sehraumes und die Gestaltung der visuellen Welt, an der etwa die Hälfte des ganzen Gehirns

33 vgl. auch die Hypothese der Inhibition konkurrierender Denkstrukturen von HOUDÉ

Kultur als Kontext für Entwicklung 87

beteiligt ist, ist ein Ausdruck unseres bildlichen Wissens, das vor allem unser gegenwärtiges Erleben bestimmt" (ibid., S.25f.).

Eine zweite Form des bildlichen Wissens spiegelt sich in den sinnlichen Erfahrungen und den Episoden wider, die wir als Erinnerungen in uns tragen. Erinnerungswissen aus der Vergangenheit ist mit Situationen verbunden, die sich bleibend in unser Gedächtnis eingeprägt haben. Es zeichnet sich durch große Ich-Nähe aus, denn diese Bilder stehen in Zusammenhang mit affektiv–emotional getönten Episoden unserer Biografie. Bildliches Wissen als Erinnerungswissen ist grundlegend für das Selbstwissen, d.h., diese Bilder bestimmen unser Selbst und lassen uns in der Welt heimisch werden. In seiner dritten Ausformung äußert sich bildliches Wissen als Vorstellungswissen. Im Gegensatz zum individuell bedeutsamen Erinnerungswissen bezieht sich diese Form bildlichen Wissens auf topologische Strukturen, die wir aus der Distanz betrachten. Vorstellungswissen beeinflusst die Wahrnehmung von Zusammenhängen in unserer Umwelt und modelliert unser Verständnis der Wirklichkeit. Schulfächer wie Mathematik, Geometrie, Naturwissenschaften... operieren verstärkt mit bildlich–räumlichen Modelldarstellungen, die uns bestimmte Gesetzmäßigkeiten viel einprägsamer bewusst machen als komplexe Wortbeschreibungen solcher Sachverhalte. Man denke nur an die Visualisierung einer einfachen funktionalen Beziehung zwischen einer abhängigen und einer unabhängigen Variablen als Ordinate und Abszisse in einem zweidimensionalen Koordinatensystems in Form einer Sigmoide (siehe S.167). Zusammenspiel der drei Wissenformen Die drei angesprochenen Formen des Wissens, – das explizite, das implizite und das bildliche Wissen – hängen untereinander zusammen, auch wenn sie an unterschiedliche Mechanismen des Gehirns gebunden sind. Keine der drei Wissensformen kann für sich alleine stehen, denn jede Form des Wissens ist wesentlich und unverzichtbar.

"Wenn explizites oder begriffliches Wissen fehlt, dann fehlt die Klarheit; wenn implizites Wissen oder Handlungswissen fehlt, dann fehlt die Tat; wenn bildliches Wissen, wie es sich im Selbstwissen zeigt, fehlt, dann fehlt die Menschlichkeit" (PÖPPEL 2000, S.31f.).

Sie bilden ein gemeinsames Wirkungsgefüge mit jeweils unterschiedlichen betonten Orientierungen unseres Wissens. Entsprechende Orientierungen äußern sich beispielsweise in der Ich-Nähe oder der Ich-Ferne des Wissens. Explizites Wissen, das in symbolisierter Form zwischen Trägern von Information ausgetauscht werden kann, kontrastiert als ich–fernes Wissen über Sachverhalte mit ich–nahen, biografisch bedeutsamen Wissensformen, wie sie z.B. in intuitive Handlungen einfließen. Auch

Kultur als Kontext für Entwicklung 88

unmittelbares Anschauungswissen und subjektspezifisches Erinnerungswissen kennzeichnen sich durch Einmaligkeit im Gegensatz zu distanzierterem und sozial geteiltem Vorstellungswissen,

"das Wissen ins Bild setzt, damit wir im Bilde sind" (PÖPPEL, 2000, S.28).

Aber auch bei letzerem bestimmt mit der ästhetischen Qualität der Darstellung ein subjektives Kriterium die Nachhaltigkeit, mit der bildlich-räumliche Informationen34 im Vorstellungswissen verankert werden. Nach PÖPPEL (2000) verbirgt sich hierin ein fundamentales Prinzip unseres Wahrnehmens und Erkennens,

"nämlich nur dann etwas als richtig und wahr begreifen zu können, wenn es in einfacher Form, sei es in einem einfachen Bild oder in einer einfachen Formel, dargestellt werden kann. Die Schönheit einer Lösung gilt in den Naturwissenschaften geradezu als ein Kriterium für Richtigkeit" (ibid., S.29).

PÖPPEL betrachtet das ästhetische Prinzip35 darüber hinaus als verbindendes, grundlegendes Prinzip, ohne das auch in allen übrigen Wissensformen kein Wissen verankert werden kann. Stimmigkeit und Klarheit sind z.B. entscheidende Kriterien, die eine Klassifikation als mehr oder weniger gelungen charakterisieren. Weisen z.B. explizite Ordnungsstrukturen diese Kriterien nach unserem Empfinden nicht auf, so greifen wir auf eigene Schemata und Klassifikationsstrukturen zurück – ein Umstand, der sich im Unterricht unter anderem in der Resistenz äußert, die bisherigen Vorstellungen zu verändern. Dies gilt auch für die Stimmigkeit impliziten Wissens:

"Wenn Handlungs- und Bewegungsabläufe harmonisch sind, wenn sie eine Gestalt bilden, dann werden sie als richtig empfunden" (ibid., S.29).

Für das gegenwärtige Anschauungs- und das zurückliegende Erinnerungswissen formt dagegen die subjektive, durch Erfahrung determinierte Bedeutung den Rahmen. Das ästhetische Prinzip wirkt demnach hier in seinem ursprünglichen Sinn als "aesthesis". Die drei Wissensformen stehen laut PÖPPEL in einem wesentlichen Bezug zu unserer Zeiterfahrung insbesondere für die Wahrnehmung der unmittelbaren Gegenwart. In dieses "Gegenwartsfenster" wird Erinnertes und Erwartetes projiziert, so dass diese Wahrnehmung vergangenheits- und zukunftsorientiertes Wissen umschließt. Explizites Wissen appelliert an Kenntnisse von früher für später und geht über die individuelle Ebene hinaus. Implizites Wissen äußert sich im Willen und in der Entscheidung zur Tat und wird erst in der Zukunft wirksam. Bildliches Wissen, das sich in jetzigen und vergangenen Bildern manifestiert, ist Wissen für die Gegenwart.

34 So gibt z.B. die Ästhetik der sigmoiden Kurve den funktionellen Beziehungen, die zum Ausdruck gebracht

werden sollen, ein stärkeres Gewicht (ibid., S.29).. 35 Der Begriff Ästhetik leitet sich etymologisch vom griechischen "aisthesis" ab, was ursprünglich

gleichbedeutend war mir Wahrnehmung, Gefühl und auch Erkenntnis.

Kultur als Kontext für Entwicklung 89

Analysiert man Gegenwart nur in Bezug auf explizites Wissen, so bekommt sie "den Charakter einer ausdehnungslosen Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, ... ein flüchtiger Punkt, der eine abstrakte Wirklichkeit allein auf der Grundlage einer mathematischen Konstruktion erhält" (ibid., S.32).

Geht man allerdings auf die ich–bezogene Ebene, dann erhält die erlebte Gegenwart eine bestimmte Dauer. Die moderne Hirnforschung belegt dabei eine Art "Drei-Sekunden-Rhythmus", der sich im Sinne einer anthropologischen Konstante nicht nur beim Sprechen (Dauer programmierter Satzeinheiten beim Sprechen), Erinnern (Kurzzeitgedächtnis), Sich–Bewegen (Dauer einer intentionalen Bewegung) sowie in Dichtung und Musik manifestiert, sondern auch in der Erneuerungsrate unserer inneren Bilder (neuer Blickfang). Die empfundene Gegenwart ist auch der zeitliche Hintergrund, auf dem sich unsere sozialen Interaktionen realisieren. Eine Unterredung zwischen zwei Menschen erfolgt in den individuellen Gegenwarten der beiden Personen, wobei diese aufeinander abgestimmt (synchronisiert) werden.

"In dieser Vergleichzeitigung erlangt der andere eine unmittelbare Evidenz und wird ein Teil von mir. Durch die mühelose Verbindung des gegenwärtigen Erlebens, die getragen ist von identischen Bewusstseinsinhalten, treten wir für Momente aus der Einsamkeit unserer Innenwelt heraus und erkennen uns im Angesicht des anderen Selbst" (ibid., S.34).

Bewusstsein als Emergenz

Die Erforschung der spezifischen Architektur unseres Gehirns belegt auch, dass in Augenblick des Erlebens rationale und emotionale Funktionen zusammenwirken und aufeinander bezogen sind. Das Erleben besteht aus unmittelbarer Anschauung, die immer auch Absicht, Gefühl, Erinnerung miteinschließt. Dies widerspricht der vorherrschenden Aufteilung von unabhängigen subjektiven Dimensionen, die man nach emotionalen und rationalen Komponenten aufteilt – eine Unterscheidung, die zudem durch unsere an Vernunft und expliziter Begrifflichkeit orientierten Sprache noch verstärkt wird.

"Eine Trennung in Rationalität und Emotionalität kann nur retrospektiv vorgenommen werden, wenn über das Erlebte reflektiert wird und man versucht, virtuelle Erlebensbereiche als etwas Eigenständiges zu definieren und abzugrenzen" (ibid., S.36).

Der Handlungsreflexion im Anschluss an bestimmte Aktivitäten – ob nun in Alltags- oder Schulkontexten – fällt demzufolge eine gesteigerte Bedeutung zu. Um das partikulare und originale Zusammenwirken unterschiedlicher Wissensarten ein Stück weit explizit zu machen, bedarf es allerdings einer Artikulierung subjektiv bedeutsamer Elemente mittels vielfältiger Repräsentationsmodi wie Sprachen, Bilder, Bewegungen...

Kultur als Kontext für Entwicklung 90

Die Schwierigkeit eines solchen Bewusstmachens liegt vor allem im komplexen Zusammenspiel von Ratio und Gefühl – eine Interdependenz, die die Neurowissenschaften verstärkt untersuchen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist laut VARELA (2000), dass Affekte und Gefühle die Basis unseres gesamten Handelns und 'Sich–mit–der–Welt–Auseinandersetzens' ausmachen. Aus dieser gefühlsmäßigen Befindlichkeit, die in den Körper eingebettet ist, erwächst unser Bewusstsein36. Vernunft kommt in diesem Prozess erst im letzten Moment hinzu.

"Die Frühphase des Entstehungsprozesses mentaler Zustände hat ihre Wurzeln in den sensomotorischen Oberflächen im Mittelhirn, nahe dem Rückenmark. Von dort wandert er in das sogenannte limbische System im Cortex, wodurch sich die emotionale Tonlage dann in Kategorien, voneinander unterschiedene Elemente und Gedankenketten, ausdifferenziert, mit denen üblicherweise die Kategorien des Bewusstseins beschrieben werden. Vernunft und Kategorie sind sozusagen die Spitzen auf den Bergen aus Gefühlen und Affekten, die demnach in sich bereits Bewusstsein enthalten" (ibid., S.153).

Dies erklärt auch warum Erfahrungen so schwer in Worte zu fassen sind. "Sie sind prä-reflexiv, vom Gefühl bestimmt und nicht-konzeptuell. Es ist schwer etwas in Worte zu fassen, was dem 'Fassen-in-Worte' vorausgeht. Das heißt allerdings nicht, dass Erfahrungen nicht Teil des Bewusstseins sind und in Worte gefasst werden können. Es ist lediglich so, dass sie in einer solchen Tiefe liegen, dass sie noch nicht zum Bestandteil der Vernunft geworden sind, von der wir annehmen, dass sie der höchste Ausdruck von Bewusstsein sei" (ibid., S.153).

Die Hirnphysiologie hat deutlich gemacht, dass es mentale Fähigkeiten ohne einen Körper, der sie umschließt und mit der Welt verbindet, nicht geben kann.

"Mentale Fähigkeiten sind untrennbar mit der Aktivität und Bewegung unseres Körpers verbunden, der sich auf diese Wiese in der Welt zurechtfindet" (VARELA 2000, S.146).

Die vorherrschende Computermetaphorik, nach der sich das Bewusstsein mit einem Computerprogramm bzw. einer regelgesteuerten Manipulierung von Symbolen vergleichen lasse, muss man aufgeben zugunsten der Konzeption:

"Das Bewusstsein ist nicht im Kopf" (ibid., S.146) oder

"Das Bewusstsein verkörpert sich durch Handeln" (ibid., S.147).

Damit sich Bewusstsein entwickeln kann, muss man sich aktiv mit der Außenwelt auseinandersetzen, so dass es sich beim Bewusstsein um etwas Aktives, Eingebettetes handeln muss.

"Alles was wir als 'Objekte' bezeichnen, egal, ob es sich um Tische oder Stühle oder um menschliche Gesichter handelt, ist vollkommen von dieser motorischen Art und Weise abhängig, mit der wir sensorisch auf die Außenwelt reagieren. Wir sind nicht in der Lage, Objekte als etwas von uns Unabhängiges wahrzunehmen, das 'irgendwo da draußen existiert. Objekte entstehen erst durch unser Handeln. Umgekehrt entwickeln wir uns auch erst dadurch, dass wir auf die Außenwelt reagieren" (ibid., S,147).

36 Unter Bewusstsein versteht VARELA alles das, was mit Mentalität, Erkenntnis und Erfahrung zu tun hat

(VARELA, 2000, S.146).

Kultur als Kontext für Entwicklung 91

Unsere Wahrnehmung, als Grundlage von allem, was wir mit Bewusstsein umschreiben, entsteht aus unserem andauernden aktiven Handeln.

"Das was für uns 'außen' ist, beeinflusst und bestimmt sehr stark das, was für uns 'innen' zu sein scheint. Mit anderen Worten: Die Welt da draußen kann nicht getrennt werden von meinem Handeln in ihr. Dieser Prozess wechselseitiger Beeinflussung macht ... beide komplett voneinander abhängig" (ibid., S.148).

Diese Wechselbeziehung zwischen 'innen' und 'außen', wie sie aus den Ergebnissen der Hirnforschung hervorgeht, zeigt interessante Parallelen zur Soziogenese unserer mentalen Funktionen sowie zur Analyseneinheit 'Mensch im Kontext', wie sie soziokulturelle Ansätze postulieren. Sie wirft aber auch zugleich die Frage nach dem Lokus des Bewusstseins auf – ein Umstand, den soziokulturelle Ansätze im Rahmen der 'verteilten Kognition' (SALOMON 1993) thematisieren. Für VARELA befindet sich das Bewusstsein an dem Nicht-Ort, der sich aus der wechselseitigen Beziehung zwischen 'innen' und 'außen' ergibt, der aber weder 'innen' noch 'außen' ist. Es ist untrennbar sowohl mit der uns umgebenden Außenwelt als auch mit unserer Innenwelt verknüpft. Dabei darf man die innere Dimension nicht nur in unserem Kopf ansiedeln, wie dies aus bestimmten philosophischen Traditionen hervorgeht. Unser Bewusstsein ist untrennbar mit dem ganzen Organismus verbunden – einem Wirkungsgefüge aus Elementen, die alle voneinander abhängen, sich gegenseitig beeinflussen und eine komplexe Einheit bilden. Bewusstsein entsteht und entwickelt sich mittels Emergenz. Es handelt sich dabei um eine Wechselwirkung zwischen Prozessen auf der lokalen neuronalen Ebene – in unterschiedlichen Bereichen im Gehirn und mit lokal verschiedenen Gesetzmäßigkeiten – und globalen, systemischen Zuständen auf der Ebene des Bewusstseins – als gleichzeitig ablaufende, außerordentlich schnelle und dynamische Interaktionen aus vielen Millionen hochkomplizierter Verbindungen von Nervenzellen. Ein entsprechender systemischer Zustand oder Prozess ist weder unabhängig von den lokalen Interaktionen, noch lässt er sich auf diese reduzieren. Emergente Einheiten sind die Basis auf der komplexe Systeme wie Leben, Bewusstsein... entstehen. Das Bewusstsein ist demnach das Ergebnis von Handeln und entsteht aus der wechselseitigen Aktivität zwischen lokalen Prozessen und systemischen Zuständen, aus der eine Vielzahl neuer Eigenschaften herauswächst. Dabei finden die Aktivitäten, die den Kern unseres Bewusstsein ausmachen, andauernd statt. Dies gibt laut VARELA Anlass zu zwei Schlussfolgerungen: a. Bewusstsein hat nichts mit Abbildung eines bestimmten Zustands (der inneren und äußeren Welt) zu tun, sondern ist eine Sache der Fantasie und Imagination, so dass

"Wahrnehmung ebenso sehr imaginiert, wie Imagination unauflösbar an Wahrnehmung gebunden ist" (ibid., S.152).

Kultur als Kontext für Entwicklung 92

Dies zeigt sich u.a. daran, dass ein handelnder, verkörperter Organismus anfängt aus etwas, das er erhält und das seine sensumotorische Aktivitäten stimuliert, eine Welt zu formen und zu gestalten.

"Denn wenn alles Anlass sein kann, um Realität zu erfinden, dann muss man nicht mehr bestimmte Eigenschaften der Welt verstehen, damit man sich ein zusammenhängendes Bild von ihr machen kann. Der Stoff aus dem die Welt besteht ist Imagination und Fantasie. Deshalb ist es für Kinder so wichtig sich ihre eigene Welt zu erfinden" (ibid., S.152).

b. Wenn Bewusstsein das Ergebnis des Übergang von lokalen Prozessen in einen systemischen Zustand ist, dann lässt es nicht in einzelne Elemente aufteilen. Es gibt also keine Trennung zwischen Gefühl, Vorstellung und Gedächtnis (siehe die zusammenhänge zwischen Affekt und Vernunft weiter oben). Für PÖPPEL ist unser gegenwärtiges Bewusstsein durch zwei qualitativ verschiedene Inhalte gekennzeichnet, die beide Ausdruck unserer Denkwerkzeuge sind und für jeweils verschiedene Wissenswelten stehen. Die unmittelbare und gegenwärtige Anschauung realisiert sich nach dem angesprochenen 'Drei–Sekunden–Rhytmus' im zeitlichen Fenster der subjektiven Gegenwart. Dabei stehen wir als soziale Wesen fast immer in Kontakt mit anderen, entweder in der Wirklichkeit oder in einer potenziellen Wirklichkeit wie z.B. beim Lesen. Diesen Normalzustand der gegenwärtigen Anschauung verlassen wir gelegentlich, wenn wir uns vom unmittelbar Erlebten abwenden und in den Zustand der retrospektiven Reflexion begeben.

"Dieses Nach-Denken, in dem wir uns von uns selbst distanzieren, ist retrospektiv orientiert, greift sich Teile aus den Erinnerungen heraus und versucht diese zu ordnen, zu verstehen und zu deuten. ... In der Reflexion werden jeweils nur Teilmengen früherer Repräsentationen herausgegriffen. Um welche es sich dabei handelt, bestimmt sich aus den Themen, die in einer historischen Situation als interessant empfunden oder als wichtig angesehen werden, oder sie erklären sich aus der persönlichen Biografie des einzelnen" (ibid., S. 37).

Da bei der Retrospektion lediglich ausgewählte Teilmengen vom tatsächlich Erlebten erinnert werden, muss man das retrospektive Nachdenken vom gegenwärtigen Erleben bezüglich der Themen, Inhalte... unterscheiden.

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 93

K A P I T E L 2

ZUR DIALEKTIK DES INDIVIDUELLEN UND KULTURELLEN KONTEXTS

Soziokulturelle Ansätze fassen die menschliche Entwicklung nicht als eine rein individuelle Leistung des Subjekts auf, sondern als einen Prozess, der entscheidend durch den sozialen, kulturellen, institutionellen und historischen Kontext geprägt wird. Solche Ansätze postulieren, dass man mentale Prozesse wie Denken und Erinnern nicht unabhängig vom Kontext, in dem die Menschen leben bzw. arbeiten, untersuchen kann. Wollen wir die Entwicklung der Kinder im Bereich des elementaren naturwissenschaftlich–technischen Bereichs verstehen, so müssen wir uns, in Anlehnung an VYGOTSKY, näher mit den Ursprüngen und den erfolgten Transformationen der Werkzeuge der geistigen Tätigkeit befassen. Lernen und Entwicklung werden dabei in einem dialektischen Zusammenhang betrachtet. Lernen ist dabei gleichbedeutend mit 'Sich Engagieren' in Aktivitäten einer Gemeinschaft sowie in den Prozess des progressiven Beherrschens der Ziele dieser Aktivitäten und der Mittel, mittels derer sie realisiert werden. Eine qualitative Verbesserung des Lernprozesses erfolgt nicht erst nach Erreichen einer bestimmten Entwicklungsstufe in einer unumgänglichen Stadiensequenz, sondern in dialektischer Auseinandersetzung mit den soziokulturell ausgeprägten Charakteristika des jeweiligen Mediums. Diese sozialen Instrumente der Sinnkonstruktion ('meaning making') und der Kommunikation spielen eine zentrale Rolle in der Genese der individuellen intellektuellen Entwicklung des Kindes. Zum ersten Mal begegnet das Kind entsprechenden Werkzeugen / Artefakten im Laufe gemeinsam unternommener sozialer Handlungen und Vorhaben in einem bestimmten Kontext b seiner Geburt. Dann werden diese Mittel – falls das Kind sie sich selbst angeeignet hat – zu wichtigen semiotischen Instrumenten ('tools'), zu persönlichen intraindividuellen Ressourcen, die geistige Tätigkeiten wie z.B. Denken, Erinnern, Kategorisieren, Transferieren, Problemlösen, Planen... mediieren, dies sowohl bei individuellen als auch bei gemeinsamen Vorhaben. Ein solches Lernen, bei dem kulturelle Artefakte und Praktiken mittels Partizipation an gemeinsamen Aktivitäten erworben werden, umfasst nach WELLS (1999) einen kontinuierlichen Drei-Phasen-Zyklus, der folgende drei Veränderungen umfasst: – � eine Veränderung des Lernenden: seiner mentalen Prozesse; seiner Art und

Weise, die Welt wahrzunehmen, zu interpretieren und zu repräsentieren und

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somit seiner Fähigkeit, an der Aktivität teilzunehmen;37 – � eine Veränderung des Artefakts und der Praktiken: der Lernende passt

(assimiliert und rekonstruiert) das jeweilige Artefakt – entsprechend seinem aktuellen Wissensstand – auf kreative Art und Weise an die partikulare Situation und Aktivität an;

– � ein Veränderung der Handlungssituation: der Rückgriff auf das Artefakt, das zukünftige Handlungen mediiert, verändert die soziale Praktik sowie die Art und Weise, wie andere Mitglieder der Gemeinschaft das Artefakt verstehen und einsetzen (ibid., S. 137/ S. 295).

Entsprechende Veränderungszyklen charakterisieren u. E. nach gut die Genese der Denk- und Wissensstrukturen der Kinder, mit denen sie ab ihrer Geburt versuchen, den Phänomenen der physikalischen Umwelt zu begegnen. Bevor nämlich Kinder im Rahmen des Unterrichts mit ausgewählten Phänomenen aus dem physikalischen und technischen Bereich in Kontakt kommen, haben sie bereits aufgrund zurückliegender Erfahrungen eigene Ansätze und Theorien zu den physikalischen Ereignissen ihrer Umwelt entwickelt. Im Rahmen des Unterrichts äußern sich diese Konstruktionen oft als bizarre, schwer zu verstehende netzwerkartige Gebilde aus bedeutsamen Erfahrungen, individuell ausgelegten Begriffen, Analogien, einprägsamen räumlich–bildlichen Repräsentationen und eigenwilligen Ursache–Wirkungs-Zusammenhängen. Lehrende übergehen solche Vorstellungen oft allzu schnell im Glauben, dass das Vermitteln sachlich ‘korrekter’ Fakten, angemessener bildlicher Darstellungen und bestimmender Kausalrelationen im Laufe des Unterrichts diese 'falschen' Vorstellungen berichtigen würde. Viele Untersuchungen38 lassen allerdings darauf schließen, dass die Kinder ihre 'naiven' Initialvorstellungen trotz eines gut strukturierten Unterrichts hartnäckig weiter vertreten, fast als ob diese resistent gegen jede Art von Belehrung wären. Diese These erhärten zum Teil auch die Erklärungsmodelle vieler Erwachsener, die ihre 'naiven' Initialvorstellungen zu naturwissenschaftlichen Phänomenen beibehalten haben, obschon sie sich in ihrer Schulzeit öfters mit diesen Sachverhalten auseinandergesetzt haben. Am Beispiel der ‚Impetus’-Auffassung39 von Ingenieurstudenten belegte John CLEMENT (1982), als einer der ersten, die Resistenz 'naiver' Theorien gegenüber Veränderungsversuchen mittels formaler Unterweisung. Von den teilnehmenden

37 Siehe auch dazu den sozio-konstruktivistischen Ansatz von DOISE & MUGNY (1997), die eine

Kausalitätsspirale der kognitiven Entwicklung und der erhöhten Partizipationsfähigkeit an sozialen Interaktionen postulieren (vgl. Darstellung in MAX 1999, S.289ff.).

38 sieh u.a. die Literatur zum 'conceptual change'-Ansatz (vgl. EINSIEDLER, 1997; MARGOLIS & LAURENCE, 1999; VOSNIADOU ET AL., 2001).

39 Die Ursache, wieso wir uns eher für Antwort B als für Antwort C entscheiden, beruht auf der Vorstellung, dass wir irrtümlicherweise glauben, die Münze bekäme bei ihrem Abstoß einen Impetus, d.h., eine gewisse Quantität an Energie, die sie dann progressiv verbraucht. Nach NEWTONS 2. Regel aber bewegt sich ein in Bewegung gesetztes Objekt kontinuierlich und linear auf seiner Bahn weiter, wenn nicht eine andere Kraft, in diesem Fall die Gravitationskraft, auf es einwirkt und es abbremst.

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Studenten, die alle in Physik graduiert hatten und zu den besten an diesem College gehörten, konnten lediglich 12 % im 1. Semester das Münzproblem aus Abbildung 20 lösen. 72% der Teilnehmer versagten auch noch nach dem ersten Semester und 70% sogar immer noch nach dem 2. Semester. Obschon alle diese Studenten NEWTONs Gesetze kannten und sie in Formeln zu übertragen wussten, schafften sie es nicht, diese Prinzipien auf einfache Alltagsprobleme anzuwenden. Diese Erklärungsmodelle der Kinder bzw. Erwachsenen, die nur selten mit den momentan gültigen, 'wissenschaftsnahen' bzw. schulischen Erklärungsansätzen übereinstimmen, sind Produkte einer soziokulturellen Ausformung ‚natürlicher’ Lerndispositionen in ihren jeweiligen Lebensumfeldern. Bereits VYGOTSKY ging in seinem genetischen Ansatz davon aus, dass in der Ontogenese simultan multiple Entwicklungskräfte am Werke sind. Dabei verwies er auf eine natürliche und eine kulturelle Entwicklungslinie, die sich eng durchdringen und so die kindliche Persönlichkeit nach einer einzelnen sozio-biologischen Entwicklungslinie ausformen (siehe S.30). Seiner Ansicht nach operieren in den Frühphasen der Ontogenese die beiden Linien nach ziemlich unabhängig voneinander. Inwieweit diese Annahmen heute noch zutreffen, wollen wir im folgenden Kapitel überprüfen, indem wir neuere Untersuchungen aus der Entwicklungspsychologie heranziehen, welche die Entwicklung der Denk- und Wissensstrukturen zum physikalischen Weltwissen bei Kleinkindern untersuchen.

Abbildung 20: 'coin tossed in the air' problem (CLEMENT, 1982, in BRUER, 1997, p.127)

KLEINE MENSCHEN MIT WUNDERBAREN THEORIEN Für GOPNIK & MELTZOFF (1999), zwei amerikanische Entwicklungspsychologen, werden Kinder als empirische Forscher geboren, die vom ersten Tag ihres Lebens an Theorien erstellen, die sie dann kontinuierlich weiterentwickeln. Kinder konstruieren ihre Theorien zwar nicht explizit wie Wissenschaftler, die grübelnd am Schreibtisch sitzen und systematisch ihre Ge-danken ordnen, sondern – ihren Denkmodi entsprechend – intuitiv und ver-mutlich weitgehend unbewusst. Ohne die Fähigkeit, Theorien zu konstruieren, zu verwerfen und auszubauen, würde die Welt für die Kinder ein unbegreifliches

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Chaos bleiben. Mit ihren Sinnen allein könnten sie die Phänomene und die auf sie hereinprasselnden Erfahrungen zwar aufnehmen, aber kaum verwerten. Die Fähigkeit der Theoriebildung hilft ihnen auch, sich von einer Bewusstseinsstufe auf die nächste vorzuarbeiten. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Fähigkeit zu kategorisieren, d.h., die verwirrende Vielfalt der Erscheinungsformen der belebten und unbelebten Umwelt zu stabilen Objektfamilien zusammenzuschließen. Für den Babyforscher LÉCUYER (1996) kommen Kinder mit dieser Fähigkeit auf die Welt und beginnen vom ersten Tag ihres Lebens an verlässliche Kategorien zu erstellen, mithilfe deren sie sich schnell in ihrer Umgebung zurecht finden. In Versuchen, in denen sie immer wieder gezielt bestimmte Ereignisse herbeiführen wie z.B. Gegenstände aufheben, bewegen, fallen lassen... stellen bereits Anderthalbjährige bestimmte Gesetzmäßigkeiten auf, häufig zum Unmut ihrer älteren Mitmenschen. Solche Konflikte mit den Eltern nehmen die kleinen Versuchsinitiatoren bewusst in Kauf und lassen sich auch von ihrem Forscherdrang nicht abbringen. Laut GOPNIK & MELTZOFF handeln sie in Analogie zu echten, verbissen arbeitenden Wissenschaftler – auch denen ist Erkenntnis oft wichtiger als Zuneigung.

"Kinder verfügen obendrein über die besten Voraussetzungen zu wissenschaftlicher Arbeit: Gesegnet mit nahezu unbegrenzter Freizeit, können sie endlos experimentieren und aus den empirischen Befunden eine Art Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickeln. Je öfter sie ein und dasselbe Experiment wiederholen und das gleiche Ergebnis erzielen, desto sicherer können sie sich ihrer Theorie sein. Nach genau diesem Prinzip funktioniert Wissenschaft: Ein Versuch ist nichts wert, solange er nicht unter gleichen Bedingungen mit gleichem Ergebnis reproduziert werden kann" (KLINGHOLZ, 1999).

Weil ihre Theorien offenbar die gleiche Funktion wie jene in der Forschung haben, besitzen Kinder offensichtlich bereits jene mentalen Werkzeuge, die auch Wissenschaftler bei ihrer Arbeit benutzen. Leider wird dieses selbstveranlasste Bilden von Theorien im Laufe der Jahre – so GOPNIK und MELTZOFF – insbesondere aber in der Schulzeit, durch zunehmende Instruktion gelähmt, so dass die Aufwachsenden geistig immer träger werden bis sie, von Normen und Ideologien geprägt, kognitiv erstarren. Analysiert man entsprechende Entwicklungsverläufe aus sozio-kultureller Perspektive, so gilt es, die relevanten Praktiken, die interpersonalen Prozesse sowie die eingesetzten Mediationsmittel in den jeweiligen Kontexten präziser in ihrem Zusammenspiel zu betrachten, und die generierten höheren mentalen Funktionen auf der intrapersonellen Ebene miteinander zu vergleichen. Besonders im Hinblick auf die Gestaltung von naturwissenschaftlich–technischen Aktivitäten im Unterricht lassen sich so Einsichten gewinnen, wie Lehr–Lern-Situationen zu gestalten sind, damit authentische kindliche Forschungspraktiken weitergeführt statt abgetötet werden.

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BEFUNDE AUS DER KOGNITIVEN ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGIE Im folgenden Kapitel wollen wir einen entwicklungsspezifischen Blick auf die Genese naturwissenschaftlicher Wissensstrukturen bei Kindern ab ihrer Geburt werfen. Wir sind der Meinung, dass Einblicke in die Lernprozesse von Säuglingen und Kleinkindern uns wichtige Einsichten in den Prozess der Weltaneignung der Kinder gestatten. Zudem ermöglicht dieser weiter gefasste Blickwinkel ein detaillierteres Nachzeichnen wesentlicher Veränderungen auf der intramentalen Ebene der Kinder als dies beim alleinigen Betrachten schulisch initiierter Lernprozesse geschehen kann. Er öffnet ein Fenster auf bereichsspezifische Lernprozesse in unterschiedlichen Kontexten über einen ausgedehnteren Lebensabschnitt, der uns ermöglicht, die Voraussetzungen und Schwierigkeiten der Schüler angesichts schulischer Lehr–Lern-Situationen besser zu verstehen. Die Erforschung bereichsspezifischer Lernprozesse erfolgt sowohl in der Entwicklungs- als auch in der Kognitionspsychologie. Forscher versuchen den Wissenserwerb in grundlegenden Domänen wie Sprache, Physik, Biologie, Mathematik, Psychologie... zu verstehen. Dabei verfolgen die beiden Bereiche zwar gemeinsame Fragestellungen, wenden aber unterschiedliche, teilweise komplementäre Untersuchungsmethoden und Forschungsstrategien an. Entwicklungspsychologen untersuchen in der Regel stärker den Anteil an angeborenem Wissen, die beim Wissenserwerb eingesetzten Lernmechanismen sowie die Transformation bereits erworbenen Wissens. Sie tendieren zur Zeit verstärkt dazu, bereichsspezifische Lernmechanismen und -module zu postulieren. Im Gegensatz dazu gehen Kognitionsforscher40 eher von bereichsübergreifenden, allgemeinen Lernmechanismen im Gefolge assoziationistischer Lerntheorien aus (vgl. WALDMANN, 1996). Erst in den letzten Jahrzehnten wurde Säuglingen und Kleinkinder die Fähigkeit zugesprochen, komplexe Ideen zu generieren. Vorher ging man von eingeschränkten mentalen Fähigkeiten der Kleinkinder aus. Sie reagierten lediglich auf Hinweisreize, die zudem als äquivalent und als unabhängig von ihrer semantischen Bedeutung betrachtet wurden. Das lernende System entsprach bei Lernbeginn einer 'tabula rasa', in die sich die progressiven Erfahrungen einschrieben. Lernen erfolgte ausschließlich datengesteuert, also als 'bottom up' Prozess, wobei die Wissensinhalte vom jeweiligen Lernangebot bestimmt wurden. Wissen wurde somit lediglich als Produkt, nicht aber als Ausgangspunkt von Lernprozessen aufgefasst (vgl. WALDMANN, 1996, S.322). Die neuere entwicklungspsychologische Forschung zum Wissenserwerb in Verbindung mit naturwissenschaftlich–technischen Alltagsphänomenen, die wir 40 Kognitionspsychologen, deren typische Forschungspopulation Studenten sind, tendieren eher zu homogenen,

häufig auch assoziativen Lernmechanismen, die durch eine Wissensbasis gestützt werden (WALDMANN, 1996, S.325)

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im Folgenden kurz darstellen wollen, betont, dass Menschen, auch ohne jegliche Unterweisung in formelle physikalische Zusammenhänge, über Intuitionen zu physikalischen Phänomenen verfügen müssen. Zu diesem intuitiven physikalischen Wissen zählen wir das Wissen über die Eigenschaften physikalischer Objekte wie Objektpermanenz, Solidität der Materie, Kontinuität von Bewegungen, Objektkohäsion... Nebst Erwachsenen müssen auch bereits Kinder über entsprechende Intuitionen verfügen, sonst könnten sie wohl kaum auf adäquate Weise in ihrer Umgebung agieren. Wie kommt es zu diesem Wissen? Kommen wir bereits mit entsprechenden Intuitionen auf die Welt oder erwerben wir sie erst in den ersten Lebensjahren? Auch wenn die angeführten Befunde nicht spezifisch im Rahmen eines soziokulturellen Forschungsansatzes durchgeführt wurden, so generiert die überwiegend domänspezifische Ausrichtung der Untersuchungen interessante Einblicke in die Genese und die allmählichen Veränderungen bereichsspezifischer Wissens- und Denkstrukturen. Eine umfassendere Übersicht zu weiteren Bereichen wie Spracherwerbsforschung, mathematisches Denken und intuitive Psychologie finden sich u.a. in WELLMAN & GELMAN (1992), KARMILLOFF-SMITH (1992), SODIAN (1995), BRANSFORD ET AL. (1999), BREMNER (2001).

Wissensgeleitetes Lernen im Säuglingsalter Wie es die neuere Säuglingsforschung eindrucksvoll belegt, verfügen Kleinstkinder über weit größere Erkenntnisfähigkeiten als bisher angenommen. Diese stehen in krassem Gegensatz zu ihren noch eingeschränkten sensumotorischen Fähigkeiten (vgl. Übersicht in BAILLARGEON, 1999). Säuglinge sind biologisch ausgestattete, zum Lernen vorbestimmte Organismen, denen man von Beginn an eine aktive Rolle in ihrer kognitiven Entwicklung zuschreiben muss. Diese umfasst einerseits die Genese ihrer konzeptuellen Entwicklung wie etwa im Bereich der Sprache, der physikalischen und biologischen Kausalität oder des ersten Zahlenverstehens. So belegen Untersuchungen nicht nur, dass sie Phänomene und Ereignisse in ihrem Umfeld gezielt auswählen41, sondern dass sie diese auch in bezug auf zusammenhängende bereichsspezifische Wissensbestände, die z.B. den Kern unseres Wissens über physikalische Objekte ausmachen, organisieren und erinnern. Neben den begrifflichen Werkzeugen, denen im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine größere Bedeutung zukommt, umfasst die kognitive Entwicklung andererseits die Konstruktion sowohl bereichsspezifischer als auch -

41 Auf die aktive Rolle des Lerners hat auch VYGOTSKY in seinen Arbeiten hingewiesen und dabei vor allem die

Wichtigkeit der vielfältigen Mediationen des sozialen Umfelds für die Entwicklung höherer mentaler Funktionen betont. Hier fallen u.a. den kulturellen ‚tools’ sowie der aktiven Unterstützung durch andere Personen zentrale Bedeutung zu.

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übergreifender Erkenntniswerkzeuge, mit denen sie in der Lage sind, sich wirksam mit den umgebenden Realitäten auseinanderzusetzen. Dazu zählen wir u.a. mentale Strategien, um bereichsspezifische Wissenselemente zu verstehen, zu erinnern bzw. anfallende Probleme zu lösen. Einen wichtigen Schritt weg von der 'tabula–rasa'-Sichtweise des kindlichen Geistes leitete bereits PIAGET ein. Ab seiner frühen Untersuchungen in den zwanziger Jahren beschrieb er das kognitive System der Kinder in Termini komplexer kognitiver Strukturen, die sich in einer bestimmten Stadienfolge entwickeln. Obschon PIAGET kein Assoziationist war, stoßen wir dennoch auf Grundannahmen assoziationistischer Lernmechanismen in seiner Entwicklungstheorie. Säuglinge verfügen seiner Meinung nach lediglich über bereichsunspezifische biologische Mechanismen wie a) eine Reihe sensorischer Reflexe und b) mit Assimilation, Akkomodation und Äquilibration über drei funktionale Prozesse. Diese globalen Mechanismen helfen dem Säugling, die vielen undifferenzierten Eindrücke allmählich zu bedeutsamen Zusammenhängen zu verknüpfen, wobei sich ihr kognitives System anfangs allerdings durch übergreifende Defizite charakterisiert. So sind Kinder, laut PIAGETs Auffassung, in einem frühen Entwicklungsstadium u.a. noch nicht in der Lage, verschiedene Merkmalsdimensionen eines Ablaufes gleichzeitig zu erfassen und in ihre Erklärungsansätze einzubeziehen. Im Laufe der Entwicklung vollziehen sich zeitlich aufeinanderfolgende, übergreifende Veränderungen des kognitiven Systems, die sich auf das Verständnis wesentlicher Inhaltsbereiche wie z.B. Physik, Biologie, soziale Beziehungen... auswirken. Das Lernen und Verstehen unterschiedlicher Inhaltsbereiche stellt demzufolge eine nachgeordnete Konsequenz fundamentaler und globaler Veränderungen des Denkens dar. PIAGET, der als einer der ersten Wissenschaftler das Entstehen des physikalischen Wissens bei Kindern systematisch untersuchte, nahm an, dass Säuglinge unter zwölf Monaten mit chaotischen, weitgehend unstrukturierten Erfahrungen konfrontiert sind, die sich stark vom Wahrnehmen einer geordneten Welt der Erwachsenen abheben. Säuglingen fehle u.a. das Wissen über die Permanenz von Objekten sowie über grundlegende physikalische Gesetzmäßigkeiten, die erst im Laufe der Stadienfolge aufgebaut würden. PIAGET stützte sich dabei auf Hinweise aus Untersuchungen, die zeigten, dass Säuglinge nicht weiter nach einem Objekt suchten, nachdem es verdeckt wurde – sie aber dazu manuell durchaus in der Lage gewesen wären. Ältere Babys suchten zwar nach dem verdeckten Objekt, nahm man es allerdings vor den Augen der Babys unter der Abdeckung hervor und versteckte es an einem anderen Ort, dann suchten sie es nach wie vor an der ersten Stelle.42 PIAGET

42 Man spricht von „A nicht B"-Fehlern..

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schloss auf fundamentale Unterschiede zwischen dem Objektverständnis des Säuglings und dem des älteren Kindes bzw. des Erwachsenen. Er führte das bizarre Verhalten auf das Nichtvorhandensein handlungsunabhängiger Konzepte über die sie umgebende Realität zurück. Kleinkinder verharren demnach im 'Irrglauben', dass das Objekt bei Wiederholung der einmal erfolgreichen Handlung wieder auftauchen werde (vgl. BAILLARGEON, 1999). Ein entsprechender Schluss ist allerdings nur dann zu vertreten, wenn das aktive Suchen des Kindes als geeigneter Indikator für das physikalische Verständnis aufgefasst wird (SODIAN, 1995, S.635). Im Anschluss an PIAGET untersuchten wahrnehmungsbasierte Lernansätze ('perceptual learning theories'), wie Säuglinge mittels ihrer sensorischer Eingangskanäle und entsprechenden Wahrnehmungsmuster versuchten, Informationen über die Objekte und Ereignisse in ihren Wahrnehmungsfeldern zu erhalten (vgl. GIBSON, 1969). Informationsverarbeitungstheorien der kognitiven Entwicklung konzipierten das kognitive System in Analogie zu einem Computer und führten die Fortschritte im Verständnis wesentlicher Inhaltsbereiche auf eine Verbesserung übergreifender Merkmale des informationsverarbeitenden Systems zurück wie etwa der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung oder der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses (vgl. u.a. NEWELL & SIMON, 1972). In den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte sich allerdings eine Gegenposition zu PIAGETs dominierender Sichtweise des kognitiven Systems der Säuglinge. Angesichts des Erwerbs von Wissen über physikalische Alltagsphänomene postuliert dieser Ansatz, dass Säuglinge bereits mit Wissen über bereichsspezifische Basisprinzipien, über die Persistenz von Objekten und über einige grundlegende physikalische Gesetzmäßigkeiten ab ihrer Geburt ausgestattet seien. Die Hauptkritik richtet sich dabei vor allem auf die von PIAGET verwendete Methode, die als zu anspruchsvoll kritisiert wurde. So ist es durchaus denkbar, dass die Performanzdefizite der Kleinkinder nicht infolge mangelnder Objektpermanenz zustande kamen, sondern weil es ihnen an den nötigen Planungskompetenzen fehlte, um die von ihnen verlangten Suchaufgaben erfolgreich zu bewältigen (vgl. BAILLARGEON, 1999; DIAMOND, 1991; FISCHER & BIDELL, 1991). Um herauszufinden, was Babys bereits wissen bzw. zu lernen imstande sind, entwickelten Forscher alternative Methoden, um Babys zu ‚befragen’ ohne Rückgriff auf die Sprache und in Anbetracht ihrer eingeschränkten motorischen Fähigkeiten. So griff man auf kindliche Verhaltensäußerungen wie Saugen, Betrachten, mit Erstaunen auf Neues Reagieren... zurück, um Techniken für das Erforschen ihrer kognitiven Fähigkeiten zu entwerfen wie nicht-nutritives Saugen, Habituation sowie visuelle Erwartungen (vgl. Übers. in BROADFORD ET AL., 1999, S.71). Die Belege für diese alternative Sichtweise wurden mit Hilfe der Habituationsmethode erzielt. Säuglinge beobachten dabei solange die

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Wiederholungen eines Ereignis bis sie auf die Situation habituieren, d.h., bis sie sich desinteressiert anderen Dingen zuwandten. Zeigt man den Babys anschließend im Rahmen des gleichen Versuchsaufbaus ein physikalisches mögliches oder unmögliches Ereignis, so lassen sich Rückschlüsse aus ihrer jeweiligen Betrachtungszeit des Ereignisses ziehen. Mittels dieses Indikators widerlegte BAILLARGEON (1986, 1987, vgl. Übers. in 1999) PIAGETs Annahme von der fehlenden Objektpermanenz bei Säuglingen. Sie konnte zeigen, dass 3 bis 4 Monate alte Säuglinge überrascht waren, wenn sie ein physikalisch unmögliches Ereignis beobachteten: Ein rotierender Schirm passierte ohne Behinderung eine Stelle, an der zuvor ein Quader plaziert war, ging also durch diesen hindurch. Säuglinge scheinen demnach bereits ab Mitte des ersten Lebensjahres zu wissen, dass Objekte solide sind und dass Bewegungen zum Stillstand kommen, wenn sie auf eine Hindernis stoßen.

Abbildung 21: Experimentelle Bedingungen zur Untersuchung des Wissens über Kontinuität und Solidität von Objektbewegungen bei Säuglingen (SPELKE ET AL., 1992).

Letzteres untersuchten auf eindrucksvolle Weise SPELKE, ET AL. (1992) mittels nebenstehender Versuchsanordnung. Sie ließen drei bis vier Monate alte Säuglinge immer wieder einen fallenden Ball beobachten. Kurz nach dem Loslassen verschwand der Ball dabei hinter einer Sichtblende. Die Sichtblende wurde anschießend weggenommen, so dass die Säuglinge den Ball am Boden der Versuchsanordnung sehen konnten. Dieses Ereignis wurde solange wiederholt bis sie auf die Situation habituierten. In der anschließenden Testphase wurde eine horizontale, tischähnliche Fläche in mittlerer Höhe hinter die Sichtblende geschoben, so dass die Kanten des Hindernisses links und rechts hinter der Sichtblende gut sichtbar hervorragten. Der Ball wurde nun erneut fallen gelassen. Das zentrale Interesse richtete sich jetzt auf die möglichen

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Erwartungen der Säuglinge über Objekteigenschaften und -bewegungen: Würden sie den Ball erneut am Boden vermuten (wo sie ihn ja bereits so oft gesehen hatten) oder würden sie wissen, dass ein fallendes Objekt ein anderes, in Form einer horizontalen Tischplatte, nicht durchdringen kann? Als Indikator fungierte das Habituationsverhalten auf der Basis ihres Blickverhaltens, wenn man ihnen die beiden Möglichkeiten nach Entfernen der Sichtblende präsentierte. Es zeigte sich, dass die Säuglinge tatsächlich überrascht waren, wenn der Ball nach dem Fallenlassen am Boden lag, also scheinbar das Hindernis durchdrungen hatte. SPELKE ET AL. sehen dies als Beleg dafür, dass bereits Säuglinge Wissen über die Solidität von Objekten (verschiedene Objekte können nicht denselben Platz einnehmen) und über die Kontinuität von Bewegungen haben. WALDMANN (1996) betont an der Versuchsanordnung,

"dass dieses Wissen aktiviert wurde, obgleich die Säuglinge nie den vollständigen Bewegungspfad der Objekte gesehen hatten. Der Fall der Objekte wurde durch die Sichtblende verdeckt. Dies deutet darauf hin, dass bereits Säuglinge in Abwesenheit direkter Wahrnehmungen Inferenzen über das Verhalten von Objekten machen können (aktive Repräsentationen). Es handelt sich also nicht um eine perzeptuelle, sondern um eine kognitive Leistung" (1996, S.328f.).

Diese Erklärung erwähnt auch SPELKE (1990) in Zusammenhang mit der Wahrnehmungen von vier Monate alten Säuglingen in bezug zu teilweise verdeckten Objekten. Nachdem sich die Babys an den Anblick eines Stabes gewöhnt hatten, dessen Mittelteil durch eine Abdeckung verborgen war, zeigten sie sich erstaunt, wenn der Stab aus zwei Einzelstücken statt aus einem einzigen Stück bestand. Das gleiche Phänomen trat ein, wenn man den Stab in unterschiedliche Richtungen bewegte (rechts – links, auf – ab, vor – zurück) Auch hier inferierten die Kinder einen einzelnen zusammenhängenden Stab.

Abbildung 22: Experimentelle

Bedingungen zur Untersuchung des

Wissens über die Solidität von Objekten

bei Säuglingen (SPELKE, 1990, S.34).

BAILLARGEON (1986) belegte, dass sechs bis acht Monate alte Säuglinge bereits verstehen, wie sich versteckte statische und bewegliche Objekte verhalten. Die Babys betrachteten ein Spielzeugauto, das auf einer Bahn eine schiefe Ebene hinunterflitzte, hinter einem Vorhang verschwand, und rechts davon wieder herauskam, um dann aus dem Versuchsaufbau hinaus zu rollen. In der Habituationsphase zeigte man den Kindern, dass sich nichts hinter dem Vorhang verbarg. Dann stellte man ihnen zwei Testaufbauten vor, bei denen sich jedesmal eine Kiste hinter dem Vorhang befand: Einmal stand sie hinter der Bahn (Weiterfahrt möglich) und einmal direkt auf der Bahn (Weiterfahrt

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unmöglich da Kollision). Anschließend befuhr das Auto wieder seine gewohnte Route hinter dem verschlossenen Vorhang hindurch; das unmögliche Ereignis rief das Erstaunen der Babys hervor.

Abbildung 23: Experimentelle Bedingungen zur Untersuchung der Objektpermanenz bei Säuglingen (BAILLARGEON, 1986).

Daraus folgerte BAILLARGEON, dass 6 bis 8 Monate alte Babys bereits über Schemata verfügen müssen, die ihnen erlauben, – � das Fortbestehen starrer und beweglicher Objekte hinter einer Abdeckung zu

repräsentieren (die Kiste existiert weiter am gleichen Ort, der Wagen verfolgt weiter die gleiche Bahn).

– � über einfache Kollisionen mit nicht sichtbaren Objekten nachzudenken. – � die Solidität von Gegenständen anzunehmen (ein Wagen kann nicht durch

einen Raum rollen, den bereits eine Kiste einnimmt). Da diese Annahmen alle gleichzeitig zutreffen müssen, um das Erstaunen der Kinder zu erklären, kann man bereits in diesem Alter von zusammenhängenden Theorien sprechen. Kinder erwerben diese Schemata nicht durch Instruktion, sondern durch das Wahrnehmen der Phänomene, um sie herum.

Angeboren oder erlernt? SPELKE ET AL. (1992) gehen davon aus, dass die Soliditäts- und Kontinuitätsan-nahmen angeboren sind, da auch Untersuchungen zum intuitiven Verständnis Erwachsener, kaum Verletzungen der Kontinuitäts- und Soliditätsannahmen ergeben haben (SPELKE ET AL., 1994). Ab ihrer Geburt sind Säuglinge neurophysiologisch bereits so ‚verdrahtet’, dass sie Erfahrungen in Mustern von rigiden Objekten organisieren, die sich entlang kontinuierlicher Bahnen bewegen und durch Zusammenstöße interagieren. Für SPELKE reichen folgende vier Prinzipien aus, um diesen Prozess in Gang zu setzen: – � Objekte bewegen sich als Ganzes auf kontinuierlichen Bahnen

(Objektkohäsion); – � Objekte dringen nicht ineinander ein (Objektabgrenzung); – � Objekte behalten ihre Form bei, wenn sie sich bewegen (Rigidität);

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– � Objekte bewegen sich separat, sofern sie nicht miteinander in Kontakt kommen (keine Handlung auf Distanz).

Diese Prinzipien organisieren die initialen Erfahrungen der Säuglinge und lenken die Wahrnehmung auf relevante Eigenschaften physischer Objekte. Das Konzept ‚physisches Objekt’ wird demzufolge nicht erlernt, sondern ist ein angeborenes, organisierendes Konzept, das die menschlichen Erfahrungen strukturiert. Die erwähnten vier Prinzipien bestimmen, so SPELKE, auch das naive, alltägliche physikalische Denken und sind demnach für die intuitiven Vorstellungen der Menschen verantwortlich.

„It’s possible, that the principles by which infants perceive objects come to be deeply embedded in human thinking“ (SPELKE, 1990, p.54)

Ist dies der Fall, so müssen wir uns im Klaren sein, dass im Rahmen schulisch organisierter Lernprozesse in bezug zu physikalischen Sachzusammenhängen, der Einsatz entsprechend tief verwurzelter Denkprinzipien im Sinne psychologischer 'tools', die das Denken und Handeln der Kinder mediieren, bewusst in Betracht gezogen und hinterfragt werden muss. Andere wichtige fundamentale Eigenschaften physikalischer Objekte scheinen dagegen Kinder erwerben zu müssen. In einem Folgeexperiment zum S. 101 erwähnten Versuch (siehe Abbildung 21) erfolgte die Habituation der Säuglinge mittels eines Balles, der über einer horizontalen Fläche fallen gelassen wurde und sich im Anschluss – nach Entfernen der Sichtblende – auf der Fläche befand. Entfernte man im Anschluss die Fläche, so waren die Säuglinge keinesfalls überrascht, wenn der Ball frei in der Luft schwebte an der Stelle, an der sich zuvor die Tischfläche befunden hatte. 4 bis 6 Monate alte Babys scheinen demnach also noch nicht zwischen Ereignissen, die das Schwerkraft- bzw. das Trägheitsprinzip verletzen und physikalisch möglichen Ereignissen zu unterscheiden. Analog dazu scheinen ebenfalls vier Monate alte Säuglinge nicht zu wissen, dass ein horizontal rollendes Objekt nach unten fällt, wenn sich auf dem Weg eine Öffnung befindet. Wissen über Gravitation und Trägheit scheint diesen Befunden zufolge also erst im Alter von 8 bis 10 Monaten auf der Basis von Lernerfahrungen erworben zu werden und insgesamt auch schwächer verankert zu sein, als das Wissen über die Kontinuität von Objektbewegungen. Interessanterweise zeigen auch Untersuchungen (vgl. Übers. in SODIAN 1995) inkonsistente Anwendungen des Trägheitsprinzips unter bestimmten Bedingungen bei Erwachsenen wie z.B. beim Herunterfallen von Objekten von einem sich bewegenden Träger (Eisenbahnwaggon) oder Kugeln, die aus spiralförmigen gewundenen Gewehrläufen abgefeuert werden. Naive Vorstellungen über Objektbewegungen – so eine mögliche Interpretation dieser Befunde – ähneln mittelalterlichen Impetustheorien: Objekte werden diesen zufolge mittels einer mitgegebenen inneren Kraft (“Impetus“) in Bewegung gesetzt, die dann kontinuierlich abnimmt, so dass das Objekt nach dem Ver-

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brauch dieser Kraftreserve zum Stillstand kommt (siehe Versuch von CLEMENT S.95). Andererseits muss man sich aber auch fragen, ob Erwachsene überhaupt über eine allgemeine, konsistente Theorie der Objektbewegung verfügen oder etwa nur eng begrenzte, kontextualisierte Erwartungen über das Verhalten vertrauter Objekte in bekannten Situationen (vgl. SPELKE ET AL., 1994, S. 135). Nach Ansicht der Autoren scheint das Trägheitsprinzip – im Gegensatz zum Kontinuitätsprinzip – nicht zum Kernbereich unseres physikalischen Wissens zu gehören, was demzufolge auch die Vielzahl an Fehlkonzepten und kognitiven Täuschungen erklärt (siehe auch Übers. in WALDMANN, 1996, S.332). SPELKES 'core knowledge'-These lautet, dass Babys mit einem bestimmten Fundus an Wissenselementen – etwa zu Kontinuität und Solidität – zur Welt kommen, die den eigentlichen Kern unseres Wissens über physikalische Objekte bilden. Im Laufe der Entwicklung – also auch über die Schulzeit hinweg – wird dieses Kernwissen quantitativ ausgebaut, wobei lediglich eine Anreicherung dieses intuitiven physikalischen Wissens stattfindet, nicht aber ein fundamentaler begrifflicher Wandel (SPELKE ET AL., 1992). Der Prozess des Wissenserwerbs ist demnach nur ein Prozess der Anreicherung angeborener konzeptueller Strukturen. WALDMANN (1996) wertet SPELKES Hypothese einer angeborenen Disposition, die es gestattet, bestimmte physikalische Zusammenhänge rasch und bevorzugt zu erkennen, als die sparsamere Alternative.43 Es lässt sich nämlich nicht von der Hand weisen, dass Säuglinge genausogut das untersuchte Wissen über Solidität und Kontinuität in den ersten Lebensmonaten erwerben können (vgl. SLATER ET AL., 1990). Sie kommen schließlich in den ersten Lebensmonaten mit vielen Objekten in ihrem unmittelbaren Umfeld in Kontakt. SPELKE ET AL. (1995) verweisen allerdings darauf, dass Säuglinge Wissen über andere Ereignistypen erst viel später ausbilden, die sie aber ebenfalls – man nehme z.B. den Schatten – bereits in den ersten Lebensmonaten sehr häufig wahrnehmen. Andere Wissenschaftler weisen dagegen den Ansatz angeborener Wissenselemente zurück und betonen die Ausbildung naiver bereichsspezifischer Vorstellungen der Kinder zu Phänomenen der physikalischen Umwelt. Für BAILLARGEON sind Kinder ab der Geburt mit hochselektiven Lernmechanismen ausgestattet, die ihnen ermöglichen, ein bestimmtes bereichsspezifisches Wissen sehr früh zu erwerben. Sie zeigt in ihren Untersuchungen, dass Säuglinge, im Gegensatz zur Auffassung von SPELKE, Wissen über Gravitation besitzen. So scheinen 4,5 Monate alte Säuglinge

43 Er verweist auf Untersuchungen zum Spracherwerb (vgl. Übersicht in ibid., S.328), bei denen ähnliche be-

reichsspezifische Lerndispositionen (biases) für die privilegierte Verarbeitung bestimmter Reize, ausgemacht wurden.

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durchaus zu wissen, dass Objekte ohne Unterstützung nach unten fallen. Die Babys waren stärker überrascht, wenn ein Objekt in der Luft schwebte, als wenn es durch eine Hand oder ein anderes Objekt gestützt wurde. Bei dieser Untersuchung griffen NEEDHAM & BAILLARGEON (1993) auf ein Untersuchungsparadigma zurück, das nicht auf dem Habituationsverfahren basierte.

Abbildung 24: Experimentelle Bedingungen zur Untersuchung des Verstehens möglicher und unmöglicher physikalischer Ereignisse bei Säuglingen (NEEDHAM & BAILLARGEON, 1993).

Dass dieses Wissen allerdings nur rudimentär ist, belegten BAILLARGEON, NEEDHAM & DE VOS (1992) bei 5,5 Monate alten Säuglingen. Die Kinder nehmen an, dass jede Art von Kontakt zwischen Objekten ausreicht, um das auf-liegende Objekt zu stützen und ignorieren dabei, dass unter manchen Bedingungen das aufliegende Objekt beispielsweise hinunterkippen kann.

Abbildung 25: Experimentelle Bedingungen zur Untersuchung des Verstehens möglicher und

unmöglicher physikalischer Ereignisse bei Säuglingen (BAILLARGEON, NEEDHAM & DE VOS, 1992).

Ein anderes gut dokumentiertes Beispiel des frühen Verstehens physikalischer Kausalität (siehe auch S.115ff.) ist das Bewegen von ruhenden Objekten nach Berührungen mit sich bewegenden Objekten. Bereits im Alter von 2,5 Monaten verstehen Säuglinge dieses Konzept, während sie erst mit 6,5 Monaten einen Zusammenhang zwischen der Größe des sich bewegenden Objekts und dem Verschieben des statischen Objekts herstellen.

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 107

„When looking at collision events between a moving and a stationary object, infants first form an initial concept, centred on an impact/no-impact decision. With further experience, infants began to identify variables that influence the initial concept” (BAILLARGEON,1995, p.193)

Wie aus dem erwähnten Zitat hervorgeht, betonen BAILLARGEON und ihre Mitarbeiter die Fähigkeit der Säuglinge, ein bestimmtes bereichsspezifisches Wissen sehr früh zu erwerben (vgl. BAILLARGEON, 1992). So lernen die Säuglinge zunächst ein initiales Konzept, welches das Wesen eines Phä-nomens qualitativ erfasst wie etwa "Objekte fallen nach unten, wenn sie keinen Kontakt zu anderen sie stützenden Objekten haben". Mit zunehmender Er-fahrung wird dieses initiale Konzept um Variablen angereichert, welche die Bedingungen der Anwendung dieses Konzepts spezifizieren und abgrenzen. In diesem Sinne argumentiert auch der französische Säuglingsforscher LECUYER (1996), der angeborene, genetisch determinierte Wissenselemente im Sinne von SPELKE ET AL. abstreitet, aber, in Anlehnung an MOUNOUD ET AL. (1985), von angeborenen, vorbereitenden Lernstrukturen spricht, welche im Laufe der Entwicklung die anfallenden Informationen auf eine progressiv komplexer werdende Art und Weise kodieren. Ohne solche vorbereitenden Strukturen für bestimmte Lernprozesse könnte ein Säugling seine Mutter nicht bereits nach 48 Stunden sicher erkennen. Auch Susan CAREY (1985, 1991) vertritt die Ansicht, dass der Wissenserwerb nicht immer ein kontinuierlicher Prozess des quantitativen Wissensausbaus ist wie es SPELKE vertritt. Während der kognitiven Entwicklung kommt es ihrer Meinung nach zu fundamentalen, qualitativen Reorganisationen der Wissensbestände in wichtigen Phänomenbereichen im Sinne der von KUHN (1973) postulierten Paradigmawechsel44. Entsprechende Ansätze stützen sich auf entwicklungspsychologische Forschungsbefunde, die eine Fülle von kindlichen 'Fehlvorstellungen' belegen, von denen einige offenbar bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Zudem wurde entdeckt, dass die meisten 'Fehlvorstellungen' erstaunlich resistent gegen Instruktion sind, sogar wenn massive Gegenevidenz vorliegt. Demnach genügt es nicht, Kindern lediglich relevante faktische Kenntnisse zu vermitteln, um ihre Deutungen eines bestimmten Phänomenbereichs auf konsistente Weise zu verändern. Am Beispiel der animistischen Deutungen der Kinder verdeutlicht SODIAN (1995), dass sie sich einem Phänomenbereich nicht einfach mit blankem Unverständnis nähern, sondern mittels eines Begriffsapparats und eines Erklärungsmodells, die sie aus einem völlig anderen Bereich entnommen haben

44 Mit dem Begriff „Paradigmawechsel" hat Thomas S. KUHN (1973) revolutionäre Veränderungen akzeptierter

Rahmentheorien in der Wissenschaftsgeschichte bezeichnet wie z.B. von der Newtonschen zur modernen Physik. Solche Paradigmawechsel beruhen nicht einfach nur darauf, dass neue Entdeckungen vorhandenes Wissen ergänzen oder Irrtümer berichtigen, sondern dass das gesamte Denken innerhalb einer Domäne neu strukturiert wird.

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 108

und auf diesen Sachverhalt übertragen45. Die kindliche Erklärung ist somit nicht einfach eine lückenhafte Version der physikalisch richtigen, die durch korrekte Informationen leicht richtiggestellt werden könnte. Es handelt sich um eine alternative Denkweise, die aus einer völlig anderen 'Welt' stammt – dem Bereich mentaler Zustände: Das Kind verwendet Begriffe wie wünschen, wissen, glauben..., die keine Entsprechung in dem System haben, das gebildete Erwachsene zur Erklärung physikalischer Phänomene heranziehen. Fehlvorstellungen sind nach dieser Ansicht in alternative intuitiven Theorien des Kindes über wichtige Phänomenbereiche eingebettet – ein Standpunkt der ebenfalls SPELKEs Auffassung widerspricht: Ein Modell der Anreicherung angeborener konzeptueller Strukturen lässt die Genese alternativer begrifflicher Systeme nicht zu und kann sie auch nicht erklären. SODIAN (1995, S.639) verweist zudem darauf, dass allein die erwähnte Resistenz gegenüber Instruktion eine Einbettung in intuitive Theorien nur unzulänglich stützt. Zusätzlich muss das Begriffssystem und der Erklärungsapparat der intuitiven Theorie expliziert werden. CAREYS These des ‚Theorienwandels’ scheint sich auf den ersten Blick nicht wesentlich von PIAGETs Auffassung zu unterscheiden. Auch PIAGET postulierte radikale und fundamentale Veränderungen des physikalischen ‚Weltbilds’ des Kindes sowohl für das Säuglingsalter als auch für spätere Stadien der kognitiven Entwicklung. Führt PIAGET aber die Weiterentwicklung der kindlichen Vorstellungen in so unterschiedlichen Bereichen wie Physik, Entwicklung des Mengenbegriff oder des Zeitverständnisses auf einige grundlegende, übergreifende Veränderungen des Denkens zurück, so sieht CAREY, im Gegensatz dazu, entsprechende Umstrukturierungen als rein bereichsspezifisch an. Demzufolge können sich in verschiedenen Inhaltsbereichen wesentliche Veränderungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlicher Sequenz vollziehen. Die Probleme bereichsübergreifender Stadientheorien können auf dieses Weise umgangen werden, ohne dass die Idee fundamentaler Umstrukturierungsprozesse in der kognitiven Entwicklung aufgegeben werden muss. Qualitative Umstrukturierungen des Wissens im Bereich der intuitiven Physik belegt CAREY (1991) in ihren Untersuchungen zum Gewicht/Dichte-Konzept von Schülern. Die meisten Erwachsenen besitzen eine ‚implizite’ Theorie über materielle Objekte, die in den meisten Alltagssituationen unser Handeln reguliert, so dass wir nur selten über bestimmte Sachverhalte explizit 45 CAREY geht davon aus, dass Kinder zuerst nur über zwei bereichsspezifische Theorien verfügen, eine intuitive

Physik und eine intuitive Psychologie, aus denen dann alle übrigen Theorien durch begriffliche Differenzierungsprozesse hervorgehen. Demzufolge entwickle sich z.B. unser intuitives biologisches Verständnis erst in der mittleren Kindheit aus einer ursprünglich undifferenzierten naiven Verhaltenstheorie.

Vertreter angeborener intuitiver Wissensbereiche gehen davon aus, dass Kinder mit zwei Wissensbereichen zur Welt kommen, die den Kern ihres Wissens ausmachen und die sie lediglich in vielen Erfahrungssituationen anreichern, ausbauen und in wissenschaftliche überführen: Wissen um die Eigenschaften der Objektwelt; Wissen über Personen.

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nachdenken müssen46. Wie nehmen in der Regel an, dass physische Gegenstände im Gegensatz zu immateriellen aus einer stofflichen Substanz gemacht sind und ein Gewicht haben. Sind zwei Gegenstände aus dem gleichen Material geformt, so hat das größere auch das höhere Gewicht. Erwachsene wissen auch, dass Materialien eine unterschiedliche Dichte haben. So können sie leicht verstehen, dass kleine Objekte aus einem bestimmten Material durchaus schwerer sein können als wesentlich größere aus einem anderen Material und sich z.B. in Flüssigkeiten ganz anders verhalten. CAREYs Befunde deuten darauf hin, dass Begriffe wie 'Dichte' und 'Gewicht' sechs- bis zwölfjährigen Kindern nicht einfach nur fehlen, sondern dass sie über ein undifferenziertes Gewicht–Dichte-Konzept verfügen, das sich qualitativ vom Gewichts- und Dichtekonzept Erwachsener unterscheidet. Ihr Verständnis physikalischer Mengenbegriffe ist folglich nicht einfach nur eine lückenhafte Version des Erwachsenen-Verständnisses, sondern es handelt sich um ein alternatives begriffliches System, das mit dem Erwachsener nur bedingt kompatibel ist (SODIAN, 1995, S.642). Dieses ‚Mischkonzept’ funktioniert in einer Vielzahl von Situationen störungsfrei, führt aber in ausgewählten Testsituationen zu Widersprüchen, die denen ähneln, die man oft auch im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte47 findet. Befragt man z.B. Vorschulkinder, ob ein Reiskorn oder ein kleines Stück Styropor "viel, ein bisschen oder gar nichts" wiege, so sagen fast alle, es wiege "nichts". Ein Gegenstand hat für Kinder dieser Altersstufe demnach ein Gewicht, wenn sie ihn in die Hand nehmen können und er 'fühlbar schwer' ist (CAREY, 1991, S. 280). Fordert man sie auf, Entitäten wie Gegenstände, Flüssigkeiten, Rauch, Luft, Hitze, Licht, Schatten, Wünsche, Träume... in mate-rielle und immaterielle zu klassifizieren, so betrachten nahezu alle Kinder leichte Gegenstände wie z.B. ein Stück Styropor als materiell. Für Vorschulkinder scheint im Gegensatz zu Erwachsenen demnach Gewicht kein konstitutives Merkmal der Materie zu sein. SMITH, CAREY & WISER (1985) belegten allerdings, dass bereits dreijährige Kinder Gegenstände entweder nach Größe oder nach Gewicht korrekt ordnen können. Dieser Befund widerspricht z.B. PIAGETs Ansicht, der Kindern zwischen 3 und 6 Jahren getrennte Konzepte für Größe bzw. Gewicht abstritt. Das Dichtekonzept ‚schwer für diese Größe’ entwickelt sich nur allmählich, wie es CAREY in ihren Arbeiten zeigt. Forderte sie Kinder auf, Gegenstände nach diesem Kriterium zu ordnen, so berücksichtigten Vier- bis Fünfjährige lediglich das Gewicht und ließen die Dichte außer acht.

46 Siehe auch Ausführungen zur Ebene der Operationen in LEONTJEWs Tätigkeitsmodell S.53. 47 So hat der französische Physiker AMPERE (1775 - 1836) das Leuchten einer Glühlampe durch den

Zusammenstoß zweier Elektrizitätsströme (im Sinne einer positiven und negativen Elektrizität) ausgelegt – ein Modell, das man auch heute noch bei Kindern antrifft (siehe S.224).

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Acht- bis zehnjährige Kinder haben z.B. größere Schwierigkeiten konsistent zwischen dem absoluten Gewicht eines Objekts (z.B. eines Stahlzylinders) und dem spezifischen Gewicht des Materials, aus dem ein solches Objekt gemacht ist (Stahl), zu unterscheiden. CAREY (1991) zeigte Kindern mittels einer Balkenwaage, dass ein kleiner Stahlzylinder gleichviel wiegt wie ein wesentlich größerer Aluminiumzylinder. Die Acht- bis Zehnjährigen deuteten diesen Umstand mit dem Hinweis, dass Stahl eben schwerer bzw. ein schwereres Material als Aluminium sei. Zeigte sie ihnen jedoch im Anschluss einen Stahl- und einen Aluminiumzylinder gleicher Größe mit der Aufforderung, vorherzusagen, ob die beiden gleich oder unterschiedlich schwer seien, so antworteten die Kinder, dass diese wiederum gleichviel wiegen würden, da Stahl und Aluminium ja vorher gleichviel gewogen hätten (ibid., S. 271). Auch bei Klassifikationsaufgaben zeigte sich, dass Kinder Mühe haben zwischen Gewicht und Dichte zu differenzieren. SMITH ET AL. (1985) stellten Kindern die Anweisung, Paare von gleich großen Zylindern in Stahl- und Aluminium-Familien aufzuteilen. Trotz des Hinweises, dass Stahl ein viel schwereres Material als Aluminium sei, ordneten viele Kinder große Aluminium Zylinder der Stahl-Familie zu. Für die Kinder waren diese Zylinder 'absolut' schwer. Entsprechende Gewichts-Intrusionen in Dichte-Urteile ereigneten sich auch, wenn Kinder Objekte nach Gewicht bzw. Dichte ordnen mussten. Nur wenigen Kindern unter 12 Jahren gelang es, Objekte fehlerfrei nach Dichte zu ordnen. Ähnliche Schwierigkeiten zeigten sich auch, wenn Kinder Einordnungen nach Gewicht vornehmen mussten. Hier wurden dann Dichte-Intrusionen in Gewichts-Urteile festgestellt (SMITH ET AL., 1988). Ältere Kinder hatten dagegen schon differenzierte Konzepte für Größe, Gewicht und Dichte, und verfügten über ein ‚naive’ Theorie zu den materiellen Objekten, die in etwa vergleichbar mit dem Ansatz Erwachsener ist. Dieses undifferenzierte Gewicht–Dichte-Konzept ist für CAREY (1991) Teil eines naiven Verständnisses des Aufbaus der Materie. Kinder scheinen 'Gewicht' nicht als konstitutives Merkmal der Materie aufzufassen, was u.a. durch den Umstand begründet werden könnte, dass insbesondere jüngere Kinder materielle Substanzen noch nicht als kontinuierlich und homogen auffassen. Ein Stück Metall ist für sie nicht 'aus beliebig kleinen Eisenteilchen zusammengesetzt', so dass sie notgedrungen Probleme haben, das Gewicht eines metallenen Gegenstandes als „Summe der Gewichte der beliebig kleinen Teile der Substanz, aus der das Objekt besteht“ zu verstehen. Für CAREY (1991, S.287) könnte dies ein möglicher Grund für den Umstand sein, dass jüngere Kinder Gewicht als "gefühltes Gewicht" bzw. als "Gewicht relativ zu einem Standard" – schwer für mich, aber nicht schwer für einen Erwachsenen – verstehen, nicht aber als Maß für die Quantität der Materie.

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 111

In Ihren Untersuchungen zur intuitiven Astronomie haben VOSNIADOU & BREWER (1992) versucht, die Faktoren qualitativer Wissensumstrukturierungen am Beispiel der Erde als Himmelskörper aufzuzeigen. Sie folgern dabei, dass sich im Laufe der Entwicklung ein Wandel vom geo- zum heliozentrischen Weltbild vollzieht. Junge Kinder nehmen im allgemeinen an, die Erde sei flach und befinde sich in der Mitte des Universums. Die Autoren begründen dies wie folgt: Zum einen entspricht diese Annahme der phänomenalen Erscheinung der Erde, zum anderen scheint eine runde Erde der intuitiven Physik von Kindern zu widersprechen.

Abbildung 26: Mentale Modelle der Erde von Grundschülern (VOSNIADOU & BREWER, 1992).

Wie bereits erwähnt, wissen bereits sehr junge Kinder, dass Gegenstände fallen, wenn sie nicht gestützt werden (NEEDHAM & BAILLARGEON, 1993; SPELKE ET AL., 1992). In Anbetracht dieses Wissens muss die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die sich auf der „Unterseite“ der Erde aufhalten, absurd erscheinen. Interessant ist nun zu sehen, was passiert, wenn Kinder in der Schule mit der Tatsache konfrontiert werden, dass die Erde rund ist. VOSNIADOU UND BREWER (1992) befragten Kinder der ersten bis fünften Klasse und zeigten, wie schwierig der Prozess der Umstrukturierung naiver Vorstellungen ist. Die Kinder versuchten, ihre Vorannahmen graduell an kulturell vermittelte Sachverhalte anzupassen, ohne aber die eigenen, ihnen hochplausibel erscheinenden Annahmen völlig aufzugeben. Auf diese Weise entstand beispielsweise die Vorstellung, dass es zwei Erden gäbe, eine flache, auf der die Menschen leben, und eine runde. Andere Kompromissmodelle sahen die Erde als abgeflacht oder auch als hohl, wobei die Menschen im Inneren der hohlen Erde auf einer Ebene leben. Wäre z.B. die flache Vorstellung der Erde nur eine isolierte falsche Überzeugung, so müsste sie im Sinne von SPELKES Bereicherungsansatz leicht zu berichtigen sein. Es zeigte sich allerdings, dass die Kinder neue Informationen, wie z.B. die

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 112

Erde ist eine Kugel, in ein kohärentes System von Überzeugungen integrieren, die ihren Interpretationsrahmen ausmachen, mit dem sie sich einem Phänomenbereich näher und anfallende Informationen interpretieren.

Abbildung 27: Die Erde als 'hohle Kugel' – Synthesemodell nach VOSNIADOU & BREWER

(1992).

Die Autoren sprechen von Synthesemodellen, die den Kindern konsistente Sachvorstellungen ermöglichen. So bleibt z.B. der äußere Eindruck der flachen Erde auch noch für ältere Kinder bestehen. Kindliches Wissen ist demnach nicht fragmentiert, sondern kohärent. Eine Veränderung der kindlichen Vorstellungen zu einem Phänomenbereich verläuft nach VOSNIADOU & BREWER in Form einer Neuinterpretation von Alltagsbeobachtungen. Auf diese Weise entwickelt sich ein zunehmend flexibler Umgang mit Wissensbestandteilen. Die Veränderung diese Rahmens selbst scheint ein langwieriger Prozess zu sein, der sich über viele Jahre hinweg zieht. Ein Umstand, der bei der Konzeption von schulischen Curricula im naturwissenschaftlich–technischen Bereich in Betracht gezogen werden muss.

Unterschiede zwischen Lebewesen und unbelebten Objekten Säuglinge scheinen bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt zwischen Lebewesen und unbelebten Objekten zu differenzieren. So belegte BERTENTHAL (1993), dass sechs Monate alte Säuglinge Bewegungen von Menschen von Bewegungen unbelebter Objekte als Lichtmuster unterscheiden. SPELKE (1990) fand heraus, dass sieben Monate alte Säuglinge nicht weiter überrascht sind, wenn zwei Menschen nahe zusammenkommen und ohne gemeinsamen Kontaktpunkt weggehen. Sie dishabituieren allerdings, wenn es sich um zwei unbelebte, menschengroße Objekte handelt. Im ersten Lebensjahr scheinen Säuglinge zu verstehen, dass unbewegte Objekte in Bewegung versetzt werden müssen und sich nicht von alleine bewegen können. Sie verstehen, dass Lebewesen das Potenzial haben, sich selbst in Bewegung zu setzen, da sie aus biologischem ‚Stoff’ sind – was GELMAN (1990) als "innards principle of mechanism" bezeichnet. Unbelebte Objekte dagegen müssen durch einen externen Agens in Bewegung versetzt werden (‚external-agent principle’). Alan LESLIE (1994) spielte vier bis sieben Monate alten Säuglingen eine Szene vor, in der eine unbewegte Puppe durch eine Hand verschoben wurde; einmal mit und einmal scheinbar ohne physische Berührung. Auf diese Weise konnte er

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 113

zeigen, dass Säuglinge hoch empfindsam auf spatio–temporale Diskontinuitäten reagieren. Sie betrachten die Hand als Agens, der ruhende Objekte in Bewegung versetzt im Sinne eines Ursache–Wirkungs-Zusammenhangs. Bewegungen ohne Berührung nehmen Kinder als Verletzung solcher Kausalprinzipien wahr.48 Bereits in einer früheren Untersuchung haben LESLIE & KEEBLE (1987) versucht zu zeigen, dass bereits sechs Monate alte Säuglinge die mechanische Rolle von Ereignissen repräsentieren. Sie zeigten einer Gruppe von Säuglingen einen Film, in dem ein Objekt sich auf ein zweites zubewegt und der Eindruck entsteht, dass es dieses anstößt – die Kausalsequenz fungierte als Standardbedingung. Unter Kontrollbedingungen sah eine andere Gruppe eine ähnliche Ereignissequenz, wobei aber der Kausaleindruck dadurch unterdrückt wurde, zumindest bei Erwachsenen, dass sich das zweite Objekt erst zeitversetzt (nach einer halben Sekunde) zu bewegen begann. Nachdem beide Gruppen von Säuglingen auf die kausale bzw. nicht-kausale Ereignissequenz habituiert waren, wurden die Filme rückwärts abgespielt, so dass die Objekte sich nun von rechts nach links bewegten, und dem zweiten Objekt nun die Rolle eines potentiellen Verursachers zufiel. Die raum–zeitlichen Beziehungen änderten sich für beide Gruppen auf identische Weise, so dass die Säuglinge unter beiden Bedingungen gleichermaßen überrascht reagieren müssten, falls sie lediglich sensitiv für raum–zeitliche Veränderungen sind. Wenn die Babys aber die Standardsequenz ebenso wie Erwachsene kausal interpretieren, dann sollten sie überrascht reagieren, denn eine solche Umkehrung der Reihenfolge beinhaltet eine Vertauschung von Ursache und Wirkung: das ursprüngliche Effekt-Ereignis (der Rezipient einer Kraft) muss nun als Sender einer Kraft re-repräsentiert werden. In den Kontrollbedingungen dürfte hingegen Umkehrung der Reihenfolge keine Überraschung bewirken, da weder das ursprüngliche Ereignis noch die Umkehrung eine Kausalsequenz nahelegen. Beim Rückwärtslauf dishabituierte tatsächlich nur die Gruppe in der Standardbedingung (also der kausal interpretierbaren Bedingung), was LESLIE (1995) als Beleg dafür sieht, dass die Säuglinge die mechanische Rolle der Ereignisse in dem Film mitrepräsentierten. Bereits ein- bis zweijährige Kleinkinder zeigen sich sensitiv für die kausal relevanten Eigenschaften von Gegenständen. BROWN & SLATTERY (vgl. BROWN, 1990) untersuchten die Fähigkeit von Säuglingen, ein adäquates Werkzeug in bezug auf Länge, Rigidität, Zug- oder Stoßprinzip zu nutzen. Zuerst brachten die Versuchsleiter gemeinsam mit der Mutter den Kindern bei, bewegliche Spielsachen mit verschiedenen Werkzeugen heranzuziehen. Waren sie in der Lage die Werkzeuge alleine zu benutzen, bot man ihnen einige andere Werkzeuge an, die denen im Training äußerlich mehr oder weniger ähnelten (siehe Abbildung 28) und mit denen man mehr oder weniger gut Gegenstände heranziehen konnte. Die Befunde belegen, dass bereits 14 Monate alte Babys in

48 siehe auch unsere Erläuterungen zum Kausalitätsverständnis im Anschluss..

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 114

der Lage waren, bei der Auswahl der Werkzeuge von den Oberflächenmerkmalen wie Farbe und Form abzusehen und auf funktionale, für die Aufgabe relevante Merkmale wie u.a. Rigidität, Länge oder wirksame Zugvorrichtung zu achten. 18 Monate alte Säuglinge verfügten bereits über differenzierte Vorstellungen, wie bestimmte Werkzeuge Bewegungen bei anderen Objekten verursachen können. Innerhalb der Gruppe der 10 bis 24 Monate alten Babys benutzten die Säuglinge zuerst Instrumente, die fest mit dem Objekt verbunden waren im Gegensatz zu solchen, bei denen der Kontakt an einer bestimmten Stelle hergestellt oder eine Kontaktstelle gar erst herausgefunden werden musste.

Abbildung 28: Learning tools and transfer tools (BROWN 1990, p.116)

Diese Untersuchung sowie die anschließende Fallbeschreibung von PIAGET lassen sich auch mittels der von VYGOTSKY postulierten 'Zone der nächsten Entwicklung’ interpretieren, bei der kompetentere Mitmenschen Kindern beim Lernen von bestimmten Fähigkeiten in einer initialen Phase behilflich sind, bevor diese dann das Gelernte selbst in unterschiedlichen Situationen anwenden können. Zudem verdeutlichen diese Beispiele auch die Dimensionen "Soziogenese der mentalen Fähigkeiten" sowie "Mediation mittels kultureller Artefakte". PIAGET (1952) beschreibt eine ähnliche Szene in seinen Beobachtungen von Kleinkindern beim entdeckenden Spiel. Seiner Meinung nach verstehen Kleinkinder von zwölf Monaten die Wichtigkeit eines Kontaktpunktes, um entfernte Objekte in ihre Reichweite zu bringen. Jacqueline (9 Monate) entdeckt, dass sie ein Spielzeug erreichen kann, indem sie den Teppich, auf dem es sich befindet, zu sich heranzieht. In den folgenden Wochen benutzt sie dieses Schema – wie PIAGET es bezeichnet – öfters (ibid., S.285). Nachdem Lucienne (12 Monate) Jacqueline beim Ausführen dieses Schemas beobachtet hat und das Konzept der 'Unterlage' verstanden hat, überträgt sie dieses Schema auf andere Träger wie Blätter, Kleidungsstücke, Bücher... Der gleiche Lernprozess erfolgt, so PIAGET, für stab- und schnurähnliche Objekte als 'Mittel für Heranbringen'. Jede neue Anwendungssituation trägt auch zum Verallgemeinern des Schemas bei (ibid., S.295). Die entwickelten Stoß- bzw. Ziehschemata sind aus aktivitätstheoretischer Sicht zudem ein interessantes Beispiel für den Aufbau höherer mentaler Funktionen, bei dem die verfügbaren

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 115

kulturellen Artefakte die Ausformung der mentalen Werkzeuge entscheidend bestimmen (mediieren). Auf der Grundlage dieser Ergebnisse entwerfen BRANSFORD ET AL. (1999) interessante Szenarien für die bereichsspezifische Entwicklung der Kinder, indem sie die spezifischen Eigenarten der jeweiligen Lernsituation (kulturelle ‚tools’, Aufbau des Versuchs...), aber auch die entscheidende Unterstützung durch relevante Andere betonen:

“Although children in habituation paradigms seem to understand the need for point of contact early (5-7 months), they cannot at 10 months apply that knowledge to tool use tasks unless the contact between the tool and the goal is provided in the physical layout of the task: the tool touches the object; the solution is physically situated in the environment itself. Several months later, infants can learn, with a demonstration, to envision the point of contact that is not specified in the visual array, but is invited by the pulling features of the tools. They can see that a hook would work in getting the tool if it is rigid and long enough. By 24 months, children readily note the pulling potential of unattached tools and can make a choice between available tools on the basis of their adequacy. The research shows that young children have the requisite knowledge in some sense very early on, but they need help in the form of demonstrations to prompt the application of what they know” (ibid., p.76).

Kausalzusammenhänge

Die eben erwähnten Versuche werfen auch ein neues Bild auf die Fähigkeit der Babys, Kausalzusammenhänge zu erfassen. Besonders in Zusammenhang mit dem Erwerb von physikalischem Wissen im Alltag muss dies als eine der zentralen Leistungen des kognitiven Systems betrachtet werden. Da diese Fähigkeit vergleichsweise bereichsübergreifend zu operieren scheint, bietet sie sich nach WALDMANN (1996) als Ankerpunkt für assoziationistische Theo-rienbildung an. Kausalitätserfahrung lässt sich, wie es bereits HUME (1748/1977) erwähnte, auf das bloße Beobachten der Wiederholung des raum–zeitlich benachbarten Auftretens von Ereignissen reduzieren – eine Annahme, die von psychologischen Assoziationstheorien übernommen wurde. Für WALDMANN (1996) wäre es durchaus nicht unplausibel anzunehmen, dass Säuglinge allge-meine Assoziationsmechanismen verwenden, um Kausalwissen zu erwerben. Ein solches Zusammenhangswissen oder relationale Wissen bezieht sich auf die unterschiedlichen Ursache–Wirkungs-Zusammenhänge. Die Relationen sind dabei sehr vielfältig und können sowohl qualitativer als auch quantitativer Natur sein. Quantitative Beziehungen definieren sich durch den Typus der Größen (diskrete, kontinuierliche, arithmetische, algebraische, intensive, extensive49...)

49 Eine Regel wie z.B. ‚Die Fläche eines Rechtecks ist das Produkt seiner Länge und seiner Breite‘ drückt eine

Abhängigkeitsbeziehung aus zwischen einer extensiven Größe und zwei anderen extensiven Größen, die

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und durch die Natur der sich im Spiel befindlichen Operatoren (logisch, mathematisch...). Im Rahmen der Konstruktion wissenschaftlichen Wissens stellen Kinder z.B. fest, dass gleiche Pole von Magneten sich abstoßen während entgegengesetzte sich anziehen, dass erhitzte Luft mehr Platz einnimmt als kalte, dass das Volumen des verdrängten Wassers eines schwimmenden Gegenstands maßgeblich für die Schwimmfähigkeit verantwortlich ist... Relationales Wissen wurde unter vielen Etiketten untersucht: Identifikation von Regeln, Identifikation von Konzepten, experimentelles Überlegen... Diese Untersuchungen versuchen zu erhellen, wie Menschen vorgehen, um Regelmäßigkeiten, welche die Welt um sie herum strukturieren, zu berücksichtigen und kausale Beziehungen zu erstellen. Annick WEIL-BARAIS (1996) erstellte folgende Staffelung immer schwieriger zu erfassenden Zusammenhänge: Beziehungen der Kookkurenz: zwei Phänomene fallen zeitlich oder räumlich zusammen und werden vom Kind auch entsprechend assoziiert. So sinkt z.B. eine auf der Wasseroberfläche 'schwimmende' Büroklammer durch Hinzugeben eines Tropfens Spülmittel... Die beiden Phänomene können dabei tatsächlich zusammenhängen bzw. nur zufällig raum–zeitlich zusammenfallen. Beziehungen der Kovarianz: eine Steigerung / Verringerung eines Faktors bewirkt eine entsprechende Veränderung eines zweiten wie z.B. "je stärker die Hitzeeinwirkung, desto größer die Ausdehnung der Luft in einem Ballon". Beziehungen der Kontravarianz: eine Steigerung / Verringerung eines Faktors bewirkt eine entgegengesetzte Veränderung eines zweiten wie z.B. "je mehr Glühbirnen in einen seriellen Stromkreis eingebaut werden, um so schwächer leuchten sie" (ibid., S.436). Die Schwierigkeiten, solche Zusammenhänge zu identifizieren, wird zudem durch die Anzahl der im Spiel befindlichen Charakteristika oder die in Betracht zu ziehenden Dimensionen beeinflusst. Dabei konzentrieren sich die Kinder in der Regel auf andere Dimensionen als Erwachsene. Für den Beobachter ziehen sie z.B. sehr oft Oberflächenmerkmale den Tiefenstrukturmerkmalen bestimmter Sachverhalte vor (vgl. VOSNIADOU, 2001). Hinsichtlich dieser eigenwilligen Betrachtungsweise der Kinder tendieren erwachsene Beobachter oft vorschnell dazu, dem Kind die Fähigkeit der Diskrimination zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften einer Situation, eine Objekts oder eines Problems abzusprechen. Die Aufgabe, Situationen nach bestimmten Merkmalen zu gruppieren oder zu trennen, fällt allerdings allein dem Ausführenden und nicht dem Beobachter zu. Nur der Ausführende kann seine Beziehung zu der Situation hinsichtlich seiner Projekte, Besorgnisse und momentanen Interessen festlegen. Gesteht man diesen subjektiven Konstruktions- und Strukturierungsprozessen der Kinder eine

multiplikativ verknüpft sind (Beispiel aus WEIL–BARAIS 1996, S.435).

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größere schulische Legitimität zu, so erweitert man das Spektrum der Artikulationsmöglichkeiten mit schulisch relevanten Inhalten um ein Vielfaches. Kausales Denken im Säuglingsalter Die bereits angeführten Untersuchungen von LESLIE & KEEBLE (1987), BROWN (1990), LESLIE (1994), belegen, dass schon sechs Monate alte Säuglinge einige Aspekte mechanischer Verursachung verstehen und zwischen kausalen und nicht-kausalen Ereignissequenzen unterscheiden können. BULLOCK ET AL. (1982) vermuten, dass bereits Neugeborene mit Wissen über einige fundamentale Kausalprinzipien ausgestattet sind, z.B. über das Prinzip der temporalen Priorität von Ursachen. Diese Prinzipien unterstützen den Lernprozess beim Erwerb von Kausalwissen. LESLIE (1995) führt den Erwerb von physikalischem Kausalwissen auf ein spezialisiertes Lernmodul zurück. Dieses Modul ist zwar ganz im Sinne der HUMEschen Analyse sensitiv für bestimmte visuelle Inputs (z.B. raum–zeitliche Nähe), reichert aber dann die Repräsentationen der wahrgenommenen Ereignisse mit Annahmen über mechanische Eigenschaften an. So werden Ursachen als Ereignisse aufgefasst, denen eine Kraft innewohnt, die sie auf ihre Effekte übertragen.50 In der aktuellen Entwicklungspsychologie scheint sich nach WALDMANN (1996) zunehmend eine neue Auffassung des Erwerbs von Kausalwissen durchzusetzen, die spezialisierte Lernmechanismen für den Erwerb von probabilistischen Ereignisrelationen (GALLISTEL, 1990) und Kausalrelationen (vgl. u.a. BULLOCK, GELMAN & BAILLARGEON, 1982; SHULTZ, 1982) postuliert. Diese Befunde legen die Schlussfolgerung nahe, dass die lange dominierende Sichtweise PIAGETs, Kinder in der präoperationalen Phase verfügten nicht über die Grundprinzipien unseres kausalen Denkens und könnten deshalb auch keine kausalen Folgerungen ziehen, so nicht stimmen kann. In einer Reihe von Studien zur Form- und Farbwahrnehmung, sowie zu den Konzepten Zeit, Geschwindigkeit und Entfernung widerlegte die Forschungsgruppe um WILKENING (1994) die Auffassung, dass Kinder im Vorschul- und Grundschulalter a) nur eindimensional denken können; b) qualitativ andere Konzepte als Kinder der formal–operatorischen Stufe haben und c) lediglich Phänomene ganzheitlich wahrnehmen. Für das Experimentieren in der Schule ist dabei die Tatsache von Bedeutung, dass bereits Vorschulkinder zwei Aufgabendimensionen gleichzeitig berücksichtigen und Informationen aus beiden Dimensionen integrieren können, auch wenn sie dies nicht immer korrekt tun (vgl. Übers. In ANDERSON & WILKENING 1991). 50 WALDMANN (1996) bemerkt, dass sich LESLIE hier der anti-assoziationistischen Kritik an HUMEs Theorie

anschließt. Diese Gegenposition geht davon aus, dass Kausalität die Übertragung von Kräften und Energie involviert (vgl. Übers. in ibid., S.330).

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 118

Kausales Denken der Vorschulkinder PIAGET bezeichnetet das Denken des Vorschulkindes als "präkausal", d. h., er nahm an, dass Vorschulkinder zwar nach Erklärungen für Phänomene ihrer Umwelt suchen, jedoch bei der Ableitung von Erklärungen nicht die gleichen Prinzipien anwenden wie ältere Kinder oder Erwachsene (vgl. BULLOCK, GELMAN & BAILLARGEON, 1982, S. 218f.). Er folgerte diese Ansicht aus einer Reihe von Befragungen von Kleinkindern zu vielfältigen Phänomenen ihrer Umwelt. Dabei machten die Kinder kaum Angaben über die Art und Weise, wie eine vermutete Ursache zu einem Effekt führen könne, bzw. unterstellten physikalischen Ereignissen psychologische Ursachen wie z.B. Wünsche und Absichten (1930; 1974 c). Jüngere Kinder unterscheiden seiner Meinung nicht zwischen intentionaler und mechanischer Verursachung. So wie sie selbst absichtlich Ereignisse herbeiführen, so interpretieren sie auch Ereignisse in der belebten und unbelebten Natur als absichtsvoll bewirkt. Objekten, die irgendeine Aktivität zeigen, schreiben sie deshalb Absichten zu – und somit auch Bewusstheit und Leben. Illustrieren kann man diesen Ansatz anhand der Aufzeichnungen von Agnes BANHOLZER (1936 zit. in WAGENSCHEIN ET AL., 1973, S.80f.) zur Anziehungskraft eines Magneten. Die Autorin führt dabei folgende Kinderaussagen zur Deutung des Phänomens an: Animistische Deutungen; Sachen werden als belebt aufgefasst und haben einen eigenen Willen, eigene Absichten...

M. (6,1 J.) "Ja, da geht bloß das Eisen hin, weil es dahin möchte. Das Fließblatt, das möchte liegen bleiben. Dem gefällt es nicht bei dem Magneten.”

Phänomenologische Kontingenzen (Zeit – Raum – Ähnlichkeit – Verwandtschaft – ....) Analogien zu Arbeitsweisen und Arbeitstechniken, die den Kindern bekannt sind

K. (6,2 J.) : “Das pappt daran. Da ist Papp’ dran”

K. (7,3 J.): "Der geht nicht weg, der hebt fest. Das ist halt Eisenpapp. Den macht die Fabrik, Die Fabrik macht auch Magneten und schmiert den Eisenpapp hin"

Assoziationen mit bekannten Phänomenen: Luft, Zugkraft... K. (11,6 J.): “Die blasen, wenn es nah' dran ist. Dann gibt's Luft. Die treibt das Stückle hin."

K. (6.9 J.): "Da ist ein Zug drin. Das hat man in eine Zugmaschine hineingetunkt, in eine Eisenbahn. Dann kommt etwas hinein, wo zieht”

M. (7,9 J.): "Da ist ein Zug drin. So ein Bändle oder ein Gummi, und wenn das Eisen dahin kommt, zieht's an."

Analogien mit bekannten Erklärungen von andern Phänomenen: K. (10,5 J.): "Da gibt es einen Strom. Vorher ist der nicht da. Den gibt's erst, wenn das Eisen

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kommt. Dann fließt er von dem Magnet durch das Eisen, und dann wieder in den Magnet zurück. Der hält das Eisen fest."

Artifizialistische Zuweisungen: ein Verursacher ist verantwortlich für den Ursprung der Phänomene (technische Magie, Feuer, Strom...)

K. (6,4 J.) "Das hebt, weil man da elektrisches Feuer hineingetan hat. Ich hab' schon elektrisches Feuer gesehen beim Schlosser. Das ist rot und gelb. Das (=den Magneten) hat man hineingehalten an das Feuer. Der hebt jetzt einfach, weil er drinnen elektrisch ist. Das hat die Fabrik gemacht."

Erste Deutungen nahe der wissenschaftlichen Auslegung: M. (13,2 J) "Das ist so ein besonderes Eisen. Das zieht anderes Eisen an. In dem ist etwas wie Strom. Das ist wie so eine Kraft. Das zieht das Eisen an. Wie wenn sie durch das Eisen hindurchginge. Dann kann man an das eine Eisenstück eiserne Sachen hängen.”

Sehr oft führen die Kinder auch finale Zuweisungen an. Die Realität wird nach praktischen Zwecken, pragmatischen Absichten (dient zum...) und Schwerpunkten der menschlichen Aktivität repräsentiert. Aufgrund unklarer kausaler Zusammenhänge beschränkt sich das Kind auf das Entdecken nützlicher Zusammenhänge wie z.B. in der Aussage "der Magnet klebt, um Nägel aufzuheben".

"Animistische Deutungen sind damit nach Piaget nur ein Symptom für ein sehr viel weiterreichendes kognitives Defizit: Das mangelnde Verständnis jüngerer Kinder für mechanische Verursachung beschränkt ihre Möglichkeit, die Welt zu erklären, und das gilt über die verschiedensten Inhaltsbereiche hinweg“ (SODIAN 1995, S.623).

Die Bedeutung bereichsspezifischen Wissens

Der Auffassung eines eingeschränkten Kausalverständnis jüngerer Kinder hält SODIAN (1995) die These entgegen, dass es jüngeren Kindern vermutlich an re-levanten bereichsspezifischen Wissen fehle, um Phänomene wie das Schwimmen von Schiffen oder das Funktionieren einer Dampfmaschine erklären zu können. Auch viele Erwachsenen können entsprechende Zusammenhänge nur unbefriedigend erklären, wissen aber zumeist in welchen Bereichen, sie nach einer Erklärung suchen müssen. Es liegt demnach auf der Hand anzunehmen, dass auch Kinder – bei fehlendem bereichsspezifischem Wissen – eine Erklärung aus einem ihnen vertrauten Bereich wählen: dem Bereich menschlichen Handelns. PIAGET akzeptierte seinerseits entsprechende kontinuierliche Veränderungen im Verständnis spezifischer Inhaltsbereiche, betonte aber dennoch, dass zusätzlich bereichsübergreifende Veränderungen in der Struktur des kausalen Denkens stattfinden, die von übergeordneter Bedeutung sind. Einschränkungen im Kausalverständnis des jüngeren Kindes limitieren seiner Meinung nach die Möglichkeit zum Erwerb bereichsspezifischen Wissens. SODIAN verweist zusätzlich auf eine wesentliche Schwäche in der Argumentation PIAGETs: In seinen empirischen

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Untersuchungen ist das Verständnis spezifischer Inhaltsbereiche wie z.B. das Wissen über das Funktionieren von Fahrrädern oder Dampfmaschinen stets konfundiert mit bereichsunabhängigen Merkmalen des kausalen Denkens.

„Um zu prüfen, ob das kausale Denken des Kindes den von Piaget unterstellten Beschränkungen unterliegt, muss das Kausalverständnis in Inhaltsbereichen untersucht werden, die so einfach sind, dass selbst junge Kinder über die relevanten inhaltlichen Kenntnisse verfügen“ (ibid., S.629).

Merry BULLOCK und Kollegen konnten mit diesem Untersuchungsparadigma nachweisen, dass sich das kausale Denken des Vorschulkindes nicht wesentlich von dem Erwachsener unterscheidet (vgl. Übers. in BULLOCK ET AL., 1982). Kinder ziehen kausale Schlussfolgerungen im wesentlichen nach den gleichen Prinzipien wie Erwachsene das tun: Sie denken deterministisch, d. h., sie nehmen im Regelfall an, dass ein Ereignis eine Ursache hat. BULLOCK (1979) zeigte, dass bereits vier- bis fünfjährige Kinder ebenso wie Erwachsene eine Ur-sache für ein Ereignis suchen, die durch einen plausiblen Mechanismus mit dem Ereignis in Verbindung gebracht werden kann. Beim Suchen nach Ursachen gehen sie nach dem Prinzip der zeitlichen Priorität vor, d. h., mögliche Ursachen können nur Ereignisse sein, die dem Effekt zeitlich vorangehen bzw. mit ihm zeitlich zusammenfallen, nicht aber solche, die ihm nachfolgen. Schließlich gehen Kinder wie Erwachsene von kausalen Mechanismen aus, d.h., sie vermuten, auf welche Weise der fragliche Effekt zustande gekommen sein könnte. Diese Annahmen führen sie dazu, relevante Ursachen zu suchen und irrelevante zu ignorieren. Ist der Mechanismus einer physikalischen Ereigniskette so einfach, dass Kinder ihn verstehen können, so können bereits drei- bis vierjährige relevante von ir-relevanten Eingriffen unterscheiden (BAILLARGEON & GELMAN, 1980). Die Kinder sahen eine Kettenreaktion bei der das Anstoßen eines Klötzchens eine Reihe von Dominosteinen zum Umfallen bringt, die zum Schluss einen Spielzeughasen von einem Brett hinunter in sein Bettchen stoßen. Schon 3jährige verstanden, dass die Kettenreaktion unterbrochen wird, wenn man einen Stab auswählt, der zu kurz ist, um die Dominosteine anzustoßen bzw. wenn man einen Dominostein herausnimmt. Dass schon Dreijährige einen einfachen kausalen Mechanismus durchblicken, belegt der Umstand, dass die Kinder begriffen, dass eine Veränderung der Farbe bzw. des Materials des Stabes oder der Dominosteine keinen Einfluss auf die Ereigniskette hat. Zusammenfassend kann man behaupten, dass sowohl die Ergebnisse der Säuglingsforschung als auch die Befunde zum kausalen Denken des Vorschulkindes darauf hindeuten, dass die Veränderungen im Verständnis von Kausalität stärker auf Veränderungen im Verständnis der zu erklärenden Phänomene zurückzuführen sind, als auf übergreifende Veränderungen im kausalen Denken selbst. Zudem zeigen die Untersuchungen, dass das

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Kausalverständnis von Kindern sich weniger dramatisch von dem Erwachsener unterscheidet, als PIAGET dies noch beschrieb. Darüber hinaus zeigt sich, wenn wesentliche Annahmen über bereichsübergreifende Defizite im Denken des jungen Kindes so nicht zutreffen – wie es die Entwicklung des kausalen Denkens zeigt – auch andere Annahmen PIAGETs über die Art der Entwicklungsveränderungen neu zu überdenken sind. Dies äußert sich in den heute vorgebrachten Zweifeln an der Haltbarkeit seiner Stadientheorie (vgl. SODIAN, 1995; REUSSER, 1998). Zusammenfassung: Veränderung kindlicher Vorstellungen: Anreicherung oder

Umstrukturierung? Insgesamt zeigt die neuere entwicklungspsychologische Forschung zum intuitiven physikalischen Wissen des Kleinkindes, dass die Grundlagen unseres physikalischen Weltbilds sehr viel früher erworben werden als bislang angenommen wurde, ja vielleicht sogar in Grundzügen angeboren sind. Das kognitive System von Säuglingen darf demzufolge nicht als tabula rasa betrachtet werden, die mit Hilfe allgemeiner, übergreifender Lernmechanismen allmählich mit Inhalten gefüllt wird. Neugeborene verfügen bereits über bereichsspezifisches Grundwissen oder zumindest bereichsspezifische Lerndispositionen, die eine raschen Wissenserwerb ermöglichen – Wissen, das entwicklungsabhängig auf multimodale Weise gespeichert und erinnert werden kann. Das selbst konstruierte Wissen der Schüler zu physikalischen Phänomenen ist sehr reichhaltig, allerdings in weiten Teilen inkonsistent mit formalem physikalischen Schulwissen. Es ist unumstritten, dass trotz dieser reichhaltigen Ressourcen wesentliche Veränderungen des physikalischen Verständnisses im Kindes- und Jugendalter – also während der Schulzeit – stattfinden. Offen ist zur Zeit noch, wie diese zu verstehen sind: Handelt es sich um eine bloße Anreicherung angeborenen bzw. früh vorhandenen Wissens um elementare physikalische Prinzipien oder findet eine Neudefinition und Umstrukturierung von Begriffssystemen in Analogie zu Theorieveränderungen in der Wis-senschaftsgeschichte statt? Auf jeden Fall müssen wir uns im weiteren Verlauf der Arbeit noch detaillierter für das bedeutsame Vorwissen als Grundlage der Zuwachs- und Reorganisationsprozesse beim weiterführenden Wissenserwerb interessieren – insbesondere in Zusammenhang mit den aufgezeigten soziokulturellen Charakteristika der jeweiligen Aneignungssitutationen. Die Vertreter angeborenen physikalischen Wissens im Sinne von SPELKE beschränken ihren Anreicherungsansatz auf die Genese unseres naiven Alltagsverständnisses über physikalische Ereignisse. Mit Befunden zur Kontinuität von Bewegungen und zur Solidität der Materie gelang es auch bislang erst vereinzelte Elemente des intuitiven Realitätsverständnisses auszumachen. Im Bereich des Alltagsverständnisses erschient uns ein

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entsprechender Anreicherungsansatz plausibel, wenn man berücksichtigt, dass Menschen sich auch ohne spezifischen Physikunterricht in ihrer Umwelt angemessen orientieren können. In der Schule werden dagegen Wissensinhalte an die Schüler herangetragen, die weit über die elementaren physikalischen Prinzipien hinausgehen und Bereiche berühren, die sicher nicht mehr zu den Kernelementen unseres Realitätsverständnisses im Sinne von SPELKE gehören. In diesen Bereichen lassen die in vielen Untersuchungen belegten Fehlvorstellungen der Kinder, die zum Teil bis ins Erwachsenenalter weiterbestehen, darauf schließen, dass Kinder nicht einfach nur Wissenslücken, sondern alternative Denkweisen, unangemessene Begriffssysteme und eigenwillige Modellvorstellungen verwenden in Anlehnung an spezifische kulturelle Modelle (siehe S.213). Diese integrieren sie in bestimmten Wissensbereichen zu einem kohärenten System von aufeinander bezogenen Konzepten, das ihren Interpretationsrahmen ausmacht, mit dem sie sich einem Phänomenbereich nähern und anfallende Informationen interpretieren. Eine Weiterentwicklung dieser stabilen Systeme von Überzeugungen des Vor- und Grundschülers hin zum wissenschaftlich akzeptierten Verständnis des Phänomenbereichs, wie es z.B. Susan CAREY (1991) für Gewicht und Dichte oder VOSNIADOU & BREWER (1992) für die kindliche Kosmologie untersucht haben, kann nicht als Bereicherung eines angeborenen oder früh erworbenen Wissenskerns beschrieben werden. Hier müssen tiefgreifendere Umstrukturierungen erfolgen, da unterschiedliche, situationsspezifische kulturelle Modelle das Denken bestimmen. Selbst die Vertreter der Anreicherung angeborener konzeptueller Strukturen weisen auf fundamentale Restrukturierungsprozesse hin. Sie trennen in der Tat zwischen intuitiver und wissenschaftlicher Physik und räumen entsprechende Restrukturierungen ein, wenn intuitive physikalische Vorstellungen im Physik-unterricht mit wissenschaftsnahen Modellen in Kontakt gebracht werden. Dies betrifft besonders das Aufeinanderbeziehen der spontanen Konzepten der Kinder einerseits und der formalen, wissenschaftskonformen Begriffe andererseits – eine Problematik, auf die wir noch näher eingehen werden (siehe S.208ff.). Die Gestaltung wirksamer schulischer Lehr–Lern-Situationen muss den Schülern jedenfalls Gelegenheit bieten, ihre 'naiven' Vorstellungen in den Unterricht einzubringen. Dabei können bestehende Kontingenzen zwischen den intuitiven Konzeptionen der Schüler und offiziellen Erklärungsansätzen eine fruchtbare Ausgangsbasis darstellen, welche die Schüler motiviert, auch weniger konsistente Auffassungen in Angriff zu nehmen und allmählich zu verändern. Zudem wirft der Ansatz der bereichsspezifischen kognitiven Entwicklung die Frage auf, in welcher Weise bereichsübergreifende Veränderungen und Restrukturierungen bereichsspezifischen Wissens zusammenhängen. D.h.,

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inwiefern Veränderungen des physikalischen Verständnisses durch andere Veränderungen in angrenzenden Bereichen begünstigt oder erschwert werden bzw. selbst Entwicklungen in diesen Bereichen beeinflussen. Auch wenn PIAGETs Annahmen über die Art der bereichsübergreifenden Veränderungen im Denken des Kindes heute in Zweifel gezogen werden, bedeutet dies noch nicht, dass es keinerlei solche Veränderungen gibt, und dass alle wesentlichen Veränderungen im Laufe der kognitiven Entwicklung auf der Ebene der Konzeptualisierung spezifischer Inhaltsbereiche zu lokalisieren sind. Die entwicklungspsychologische Forschung steckt hier noch in der Kinderschuhen und hat bislang die Zusammenhänge zwischen bereichsübergreifenden Veränderungen und der Restrukturierung bereichsspezifischen Wissens kaum empirisch untersucht.

DEFIZITE IM BEREICH HÖHERER MENTALER FUNKTIONEN Nationale Untersuchungen (‚The National Assessments’) in den USA (vgl. BRUER, 1997, S.131) beschreiben relevante Defizite bei den meisten Studenten auf den höheren Ebenen des 'wissenschaftlichen Könnens' ('science proficiency'). Sie können zwar einfache wissenschaftliche Fakten wiedergeben, haben aber Mühe, ihnen bekannte Fakten anzuwenden, Daten zu interpretieren, experimentelle Designs zu evaluieren und spezifisches naturwissenschaftliches Wissen zu nutzen, um Schlüsse zu ziehen. Wissenschaftliches Überlegen fällt ihnen schwer, was so viel heißt wie: sie verstehen die Naturwissenschaften nicht (ibid.). Die entwicklungspsychologische Forschung, so BRUER (1997, S.138), belegt dass bereits Zehn- bis Zwölfjährige eine beachtliche Menge an informellem Wissen über die physische Welt erworben haben, obschon ihre Schemata und Konzepte oft fragmentarisch und schwach integriert sind bzw. auf inkonsistente Art und Weise angewandt werden. Ihr informelles Wissen, genauso wie das der Erwachsenen, ist allerdings wenig wissenschaftlich, selbst dort wo es korrekt ist. Besonders dort, wo die formale Wissenschaft hoch integrierte Theorien mit einem weiten Anwendungsfeld entwickelt, schlagen viele von uns sich mit fragmentarischen, eingeschränkten Konzepten und Schemata durchs Leben.

Einsicht in den Prozess des Wissenserwerbs: eine wesentliche Bedingung? SODIAN (1995) verweist in diesem Zusammenhang auf einen weiteren wesentlichen Unterschied beim Erwerb intuitiven bzw. wissenschaftlichen Wissens. Die geistige Tätigkeit des Kindes erfordert Einsicht in den Prozess des Wissenserwerbs oder, wie es SODIAN formuliert, die Denkentwicklung des Kindes setzt analog zum Theoriewandel in den Wissenschaften metakonzeptuelles Verständnis voraus. Wissenschaftler bilden nicht nur

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Theorien, die sie prüfen und revidieren, sondern sie sind sich des Prozesses der Theoriebildung und -revision auch bewusst und reflektieren, inwiefern die Evidenz ihre Theorie bestätigt oder widerlegt. Kinder dagegen sind sich oft der spezifischen Überzeugungen und Vorannahmen, die ihr Lernen beeinflussen, nicht bewusst. Aus einer naiv–realistischen Epistemologie heraus fassen sie ein physikalisches Konzept wie etwa 'Kraft' als reelles Faktum der physikalischen Welt – sozusagen als Eigenschaft eines physischen Objekts – auf, denn als Erklärungskonstrukt mit hypothetischem Charakter, den es zu bestätigen oder zu widerlegen gilt. Belege aus der Literatur zur Entwicklung des (natur-)wissenschaftlichen Denkens (INHELDER & PIAGET 1954; KUHN ET AL., 1988) sprechen Kindern in der Regel einen reflexiven Zugriff auf den Prozess der Bildung und Revision ihrer intuitiven Theorien ab. Sie sind zwar in der Lage, so wird angenommen, Hypothesen zu bilden und Evidenz zu nutzen, um ihre Hypothesen und Theorien zu revidieren, verstehen aber die Logik des wissenschaftsnahen Ex-perimentierens nicht. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass sie Begriffe wie "Hypothese", "Theorie" und "Experiment" nicht verstehen oder anders deuten als die formale Schulphysik. Die Metapher vom "Kind als Wissenschaftler" sei deshalb im Grunde fehlgeleitet51. Man beruft sich dabei auf die Schwierigkeiten, die Kinder haben, um ein Phänomen wie z.B. Pendelbewegungen oder eine chemische Reaktion systematisch – also nach wissenschaftlichen Kriterien – zu explorieren. So versuchen Kinder häufig nur, einen interessanten Effekt zu produzieren, untersuchen aber nicht die Ursache für das Zustandekommen dieses Effekts. Ihr Vorgehen ist in der Regel schlecht organisiert, d.h., sie manipulieren meist mehrere Variablen gleichzeitig wie z.B. die Fadenlänge und das Gewicht des Pendels anstatt eine Variable zu verändern und alle anderen konstant zu halten. Aus den Ergebnissen solcher 'schlecht' realisierter Experimente ziehen sie voreilige Schlussfolgerungen. Entsprechende Ableitungen muss man mit der gebührenden Vorsicht betrachten und sowohl die verwendeten Erhebungsstrategien und -methoden als auch die abgeleiteten Folgerungen kritisch hinterfragen. Dabei drängt sich als erstes die Frage auf, wo, wie, wann denn Kinder solche systematischen Vorgehensweisen erworben haben könnten? Wissenschaftsspezifische Vorgehensweisen, die von Alltagspraktiken wie Entdecken, Suchen, Fragen... aus rationalisiert, abstrahiert und spezifisch weiterentwickelt wurden, kann man beim Kind – in Anlehnung an die von VYGOTSKY beschriebene Soziogenese höherer mentaler Funktionen – erst dann erwarten, wenn es Gelegenheit hatte durch Enkulturation in entsprechende Praktiken hineinzuwachsen.

51 In der Entwicklungspsychologie bedient man sich gern der Metapher vom "Kind als Wissenschaftler", um die

kognitive Entwicklung des Kindes in Analogie zum Erkenntnisprozess in den Wissenschaften besser zu verstehen.

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 125

Eine andere Frage betrifft die Angemessenheit sprich die Vertrautheit der aufgebauten Versuchssituation. Das experimentelle Vorgehen von Kindern – noch dazu nach wissenschaftsnahen Normen und Kriterien – kann nicht mittels fachdidaktischer Laborexperimente untersucht werden, denen das Kind in dieser Ausgestaltung noch nie begegnet ist. Schon gar nicht kann aus angetroffenen Schwierigkeiten und eigenwilligen Vorgehensweisen des Kindes auf dispositionale, entwicklungsbedingte Defizite gefolgert werden. Eine Erhebung muss an den alltäglichen Versuchssituationen von Kindern ansetzen und erforschen, wie materielle und symbolische Mittel sein Vorgehen in einer bestimmten Situation mediieren und seine geistige Tätigkeit strukturieren.

Die naiv-realistische Epistemologie der Kinder SODIAN (1995, S.651ff.) hat neuere Befunde zusammengetragen, welche die begrifflichen und prozeduralen Probleme von Kindern beim Verständnis der Logik des Experimentierens erhellen. Die Belege deuten darauf hin, dass Kinder zwar relativ früh die Logik der Prüfung einzelner Hypothesen verstehen, dass ihnen jedoch ein tiefergehendes Verständnis der theoretischen Motivation des Experimentierens fehlt. Untersuchungen belegen, dass Grundschulkinder durchaus eine einfache Hypothese über einen ihnen vertrauten Sachverhalt wie etwa das Riechvermögen eines Hundes testen können, wenn man ihnen verschiedene Tests zur Auswahl vorgibt. So ziehen schon Siebenjährige einen schlüssigen einem nicht-schlüssigen Test vor und können diese Wahl auch begründen. Präsentiert man Kindern Experimente zur Prüfung von Hypothesen über Ursache–Wirkungs-Zusarnmenhänge, so zeigen bereits Zehnjährige ein gutes Verständnis einer Variablen-Kontrollstrategie. Sie ziehen ein kontrolliertes Experiment, bei dem sie eine Dimension variieren und alle anderen konstant halten, einem konfundierten vor und können diese Wahl (mehrheitlich) auch korrekt begründen (vgl. BULLOCK, 1993 in SODIAN 1995, S.652). Sie machen auch spontan gute Vorschläge zur Prüfung von Kausalhypothesen in ihnen vertrauten Domänen wie etwa bei Versuchen, mittels derer sie ihre Vermutungen zu den Ursachen von Erkältungen überprüfen sollen. Die meisten Neun- bis Zehnjährigen schlagen einen kontrastiven Test vor, auch wenn sie dabei nicht von sich aus die Notwendigkeit der Variablenkontrolle thematisieren (SODIAN ET AL., 1992). Aus aktivitätstheoretischer Sicht betrachtet wollen wir hier allerdings die Bemerkung einbringen, dass Schule es bislang nicht fertig gebracht hat, authentisch veranlasstes Explorieren (Forschen, Probieren, Versuchen...), wie es Kinder in Alltagssituationen durchaus gekonnt praktizieren, als Motiv/Objekt auf der institutionalisierten Aktivitätsebene zu etablieren. Da ein entsprechender sinnstiftender Referenzrahmen im schulischen Bereich fehlt, kann eine solche

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Dimension dem Handeln der Schüler weder eine objektive Bedeutung noch einen subjektiven Sinn verleihen. Die angeführten Versuche zeigen allerdings, dass Kinder bei adäquater Unterstützung durch kompetente Erwachsene durchaus in die Lage sind, Hypothesen zu formulieren und zu überprüfen. Eine Weiterentwicklung dieser Fähigkeiten, auf die u.a. GOPNIK & MELTZOFF hingewiesen haben (siehe S.95), kann nur durch ein Engagieren in das systematische Praktizieren dieser Tätigkeit erfolgen nach dem Motto von CAZDEN "performance before competence". Dies erfordert die Enkulturation in einer Forschungskultur. wie wir sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu konzipieren versuchen. SODIAN (1995) verweist darauf, dass man aus diesen Befunden nicht schließen darf, dass die naive Epistemologie des Kindes im Grunde mit der eines Wissenschaftlers vergleichbar sei. Wissenschaftler testen nicht einfach beliebige Hypothesen, sondern sie leiten ihre Hypothesen aus Theorien ab und interpretieren die Befunde mit Bezug auf einen theoretischen Rahmen. Dies bewirkt, dass die gleichen Befunde in Abhängigkeit vom jeweiligen Theorierahmen höchst unterschiedlich interpretiert werden können. Angesichts der Frage, ob Kinder Einsicht in die Theorieabhängigkeit von Erklärungen haben, zitiert SODIAN (1995) Befunde aus der Literatur zur kognitiven Entwicklung im Jugendalter. Interviewstudien zum intuitiven Wissenschaftsverständnis bestätigen die geläufige Annahme, dass Kinder und jüngere Jugendliche an den direkten und unproblematischen Zugang zur Wahrheit glauben. in bezug auf den Zusammenhang zwischen Theorien, Hypothesen, Experimenten und Befunden verstehen Kinder Experimente vorwiegend als Aktivitäten, die man durchführt, um etwas auszuprobieren ("sehen, ob es funktioniert"), nicht um Theorien zu prüfen. Auch hier muss man dann erneut die Frage aufwerfen: Ist ihnen diese Praktik aus den alltäglich bzw. schulischen Aktivitätssystemen vertraut, denen sie angehören? Aus dieser naiv–realistischen Sicht haben sie Schwierigkeiten zu verstehen, wie Konflikte über die Interpretation ein- und desselben Datensatzes entstehen können. Interpretationskonflikte werden negiert oder als triviale Missverständnisse (z.B. persönliche Meinungen) abgetan, da unterschiedliche Standpunkte nur durch Informationsdiskrepanzen – eine Partei ist falsch oder unzureichend informiert – zustande kommen können (ibid., S.652). Angesichts der aktuellen Praktiken in naturwissenschaftlich–technischen Erfahrungssituationen ist es nicht weiter verwunderlich, dass Kinder den Argumentationszusammenhang zwischen (wissenschaftlichen) Theorien und empirischer Evidenz nicht oder nur unzureichend verstehen. Wir betrachten es deshalb als normal, dass Kinder bzw. Jugendliche große Schwierigkeiten haben, die Rolle von Theorien im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zu verstehen.

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Hier drängt sich die Frage auf, ob die fehlenden psychologischen Werkzeuge in Zusammenhang mit dem metakonzeptuellen Verständnis ein Umwandeln der naiven Alltagstheorien beeinträchtigen. Diese Frage ist für schulische Umsetzungen in dem Maße von Bedeutung, wenn intuitives physikalisches Wissen um wissenschaftsnahe Dimensionen angereichert werden soll. Nach SODIAN (1995) könnte das naive metakonzeptuelle Verständnis des Kindes ein bereichsübergreifendes Hindernis bei der Veränderung intuitiver naturwissenschaftlicher Vorstellungen sein. Der Zusammenhang zwischen Veränderungen auf der metakonzeptuellen Ebene und dem Erwerb bereichsspezifischen Wissens ist bisher kaum untersucht worden. Eine Einsicht in diese Zusammenhänge könnte Aufschluss über das bereits angesprochene Zusammenwirken von bereichsspezifischen und bereichsübergreifenden Veränderungen in der kognitiven Entwicklung bringen. Sie würden darüber hinaus auch Aufschluss darüber geben, in welchem Ausmaße die Förderung des allgemeinen metakonzeptuellen Verständnisses für den Erwerb spezifischer inhaltlicher Kenntnisse von Bedeutung ist und systematischer in schulischen Lehr–Lern-Arrangements zu berücksichtigen ist. Die Gestaltung schulischer Versuchssituationen als authentisch angelegte Forschungspraktiken muss jedenfalls den diskursiven und reflexiven Dimensionen verstärkt Rechnung tragen und kann so als übergeordneter Gegenstandsbezug den individuellen Handlungen der Schüler die notwendige praxisrelevante Bedeutung zukommen lassen. So entsteht zugleich ein interessantes Aktivitätsfeld, in dem die angesprochenen Fragestellungen unter einem soziokulturellen Paradigma erforscht werden können.

Theoriefähigkeit der Kleinkinder

"Theorien, alltägliche wie wissenschaftliche, helfen uns, die Welt zu erklären. Sie gestatten uns, zu-nächst einmal zu definieren, welche Phänomene überhaupt zu einem gemeinsamen Gegenstandsbereich gehören. So sagt uns unsere Theorie über Lebewesen, dass Menschen, Tiere und Pflanzen aufgrund gemeinsamer biologischer Funktionen (z.B. Stoffwechsel, Wachstum, Reproduktion) zur Kategorie der Lebewesen gehören. Wenn wir jedoch den Bereich der Lebewesen nicht nach biologischen Kriterien, sondern nach dem Kriterium der Verhaltensähnlichkeit abgrenzen, dann kommen wir zu einer völlig anderen Definition der Kategorie der 'Lebewesen': Dieser würden dann wohl Menschen und solche Tiere angehören, die dem Menschen im Verhalten relativ ähnlich sind, nicht jedoch Pflanzen" (SODIAN, 1995, S.632).

Theorien kennzeichnen sich durch ein System von Kernbegriffen, die sich gegenseitig definieren, d. h., die Bedeutung einzelner Begriffe erschließt sich erst aus ihrem jeweiligen Stellenwert innerhalb des gesamten begrifflichen Gefüges der Theorie. Will man z.B. einem Laien einen Begriff wie Spannung erklären, so muss man zur Erläuterung dieses Begriffs andere Begriffe aus dem Gesamtsystem heranziehen wie etwa 'Stromkreis', 'Stromstärke', 'Widerstand'...

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 128

Für das Verstehen spielt aber nicht nur der Stellenwert eines jeden einzelnen Begriffs im Gesamtgefüge eine wichtige Rolle, sondern auch die Sequenz der Aneignung wesentlicher Begriffe der Rahmentheorie. VOSNIADOU ET AL. (2001, S.392) verweisen z.B. darauf, dass Kinder über ein elementares Gravitationskonzept verfügen müssen, um zu verstehen, dass die Erde eine Kugel ist. Aufgrund der Erfahrungen aus dem Alltag nehmen sie (wir) an, dass Objekte ohne Halterung zu Boden oder nach unten fallen. Dieses naive Gravitationskonzept erschwert das Verständnis, dass Menschen sich an der Unterseite einer kugelförmigen Erde aufhalten könnten und lässt so die Kugelform als wenig plausibel erscheinen. Die Vorstellung einer Erdkugel impliziert demnach einen Wandel des naiven Gravitationskonzepts: nicht länger als Fallen von oben nach unten, sondern als ein Anziehen zum Erdzentrum hin. Das jeweilige Modell der Erde bestimmt auch wie Kinder sich den Tag–Nacht-Zyklus sowie die Mondbewegung erklären. VOSNIADOU ET AL. (2001) zeigen, wie ein Konzept sich im Sinne eines 'Denkwerkzeugs' auf das Verstehen eins anderen auswirkt.

Abbildung 29: Einfluss der mentalen Modelle

der Erde auf die Erklärung des Tag-Nacht-

Zyklus aus VOSNIADOU ET AL. (2001, S.389)

Für Schüler mit einem Scheiben- oder Doppelmodell der Erde gehen Mond bzw. Sonne hinter den Bergen auf oder unter. Sie berücksichtigen weder die Erdrotation (Bilder 3 und 4) noch die gegenüberliegende Seite der Erde (Bild 2) bei ihrem Erklärungsansatz. Es ist einleuchtend, dass solche Erklärungsversuche inkonsistent mit dem Modell einer flachen, stationären und am Boden verwurzelten Erde sind. Erst wenn die Schüler die Erde als frei schwebende Kugel im Weltall wahrnehmen, erklären sie auch den Tag–Nacht–Zyklus mittels der Erdrotation (vgl. VOSNIADOU ET AL., 2001, S.390). Versucht man andererseits unterschiedliche Theorien aufeinander abzustimmen oder aneinander anzugleichen so stellt man fest, dass es häufig keine eins–zu–

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 129

eins–Entsprechung zwischen den Kernbegriffen konkurrierender Theorien gibt; das Begriffssystem von Theorie A lässt sich nicht einfach in die Sprache von Theorie B übersetzen, sondern man braucht für die Übertragung eine Übersetzungshilfe. Eine derartige begriffliche Differenzierung und Deutung der unterschiedlichen Begriffe braucht man z.B. beim Weiterentwickeln kindlicher Überzeugungen hin zum wissenschaftlich geteilten Begriffssystem. Dabei kommt man meist nicht an Begriffen vorbei – � die eine spezifische Bedeutung in dem bestimmten Inhaltsbereich haben,

wie z.B. Verbraucher, Strom, Kraft...; – � die mit anderen Kernbegriffen ein zusammenhängendes System bilden, so

dass zum Verstehen auch noch anderen Kernbegriffe aus dem Bereich herangezogen werden müssen, die genau so abstrakt und kaum verständlicher sind, wie z.B. Verdunstung – Luftteilchen – Wasserteilchen – Gase – Temperatur – Hitze.....,

Bei einem zu erklärenden Konzept wie z.B. StromKREIS handelt es sich sehr oft um einen mehrdeutigen Begriff, den das Kind in anderen Zusammenhängen schon erfahren hat und in diesen spezifischen Bedeutungen auch verwendet. Dieser Begriff muss um die bereichsspezifische Bedeutung erweitert und auf interdisziplinärer Ebene differenziert werden, was wiederum Auswirkungen auf die Begriffskonstruktion in anderen Bereichen haben kann. Prozesse des Theoriewandels sind demnach Veränderungen komplexer be-grifflicher Systeme, die nicht einfach mit der Akkumulation von isolierten Wissensbestandteilen gleichzusetzen sind. Die von uns zusammengetragenen Befunde aus kognitiven und entwicklungsspezifischen Untersuchungen stützen dagegen die Idee, dass sich die kindlichen Interpretationsrahmen durch einen langwierigen, kontinuierlichen Umwandlungsprozess verändern. Bei dieser Revision werden nach und nach Elemente der momentan gültigen wissenschaftsnahen Erklärungen in die initialen Erklärungssysteme der Kinder integriert, so dass diese konsistenter zu den momentanen wissenschaftsnahen Sichtweisen werden52. Voraussetzung ist aber, dass die unterschiedlichen Kontexte von Schule und Alltag mit ihren jeweiligen kulturellen Modellen aufeinander bezogen und immer wieder kritisch hinterfragt werden. Dabei ist allerdings von Bedeutung, dass die Kinder sich des Konstruktcharakters und der Veränderbarkeit ihrer Konzepte bewusst werden – ein Prozess, bei dem ihnen Lehrende durch 'guidance' bzw. mittels 'apprenticeship' helfen müssen, die eigenen Überzeugungen und Vorannahmen zu explizieren und zu verstehen. Neben der Umstrukturierung bestehender

52 Diese Auffassung hebt sich deutlich von einem 'conceptual change'-Ansatz wie dem von POSNER ET AL.

(1982) ab. Die Autoren postulierten eine Inkompatibilität zwischen parallelen und gut organisierten Erklärungssystemen. Anders ausgedrückt: der Schüler muss ein System zugunsten des anderen aufgeben.

Zur Dialektik des individuellen und kulturellen Kontexts 130

Konzepte erfordert dies sehr oft zugleich ein Umstrukturieren des Denkens im entsprechenden Bereich oder, wie es VYGOTSKY ausdrückt, das Ausarbeiten veränderter mentaler Funktionen im betreffenden Bereich. Die Arbeit in der jeweiligen 'ZNE' muss demnach darauf hinauslaufen, dass Schüler auf reflexive Weise umfassendere konzeptuellen Rahmentheorien konstruieren, die eine größere Erklärungskraft haben und auch die notwendige Flexibilität aufweisen, multiple Sichtweisen in Betracht zu ziehen.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 131

K A P I T E L 3

MEDIATIONEN DURCH KULTURELLE MODI DER WISSENSREPRÄSENTATION

Die Mediation mittels kultureller Artefakte stellt wie angesprochen eine der wichtigsten Dimension der Basisstruktur menschlicher Aktivität aus kulturhistorischer Sichtweise dar. Wir haben bereits ausführlich auf die Charakteristika der Mediation hingewiesen (siehe S.37) und wollen in diesem Kapitel die wesentlichen Dimensionen semiotischer Werkzeuge im Rahmen des Erwerbs naturwissenschaftlich–technischen Wissens näher besprechen. Einsteigen wollen wir dabei, indem wir kurz die wichtigsten Punkte in Anlehnung an die Zusammenfassung von COLE & ENGESTRÖM (1993) wiederholen.

"...

2. Cultural mediation creates a species-specific, universal structure of human mind and associated morphology of action.

3. Cultural mediation has a recursive, bidirectional effect; mediated activity simultaneously modifies both the environment and the subject.

4. Cultural artefacts are both material and symbolic; they regulate interaction with one's environment and oneself. In this respect, they are "tools" broadly conceived, and the master tool is language.

5. The cultural environment into which children are born contains the accumulated knowledge of prior generations. In mediating their behavior through these objects, human beings benefit not only from their own experience, but from that of their forebears.

6. Cultural mediation implies a species-specific mode of developmental change in which the accomplishments of prior generations are cumulated in the present as the specifically human part of the environment; culture is, in this sense, history in the present.

7. Cultural mediation implies a special importance of the social world in human development since only other human beings can create the special conditions needed for that development to occur" (COLE & ENGESTRÖM 1993, p.9).

DIE DIALEKTIK ZWISCHEN MENTALEN UND KULTURELLEN REPRÄSENTATIONEN Die im letzten Kapitel angeführten Befunde zum Erwerb bereichsspezifischen Wissens bezogen sich auf die Veränderung inhaltlicher Aspekte, d.h., elementarer Wissens- und Denkinstrumente der physikalischen Objektwelt. Diese muss man von den kulturspezifischen Repräsentationsmodi entsprechender Wissenselemente unterscheiden, mittels derer Menschen sich

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 132

ihre Erfahrungen und Kenntnisse vergegenwärtigen. Dies verweist auf die vor allem in der Semiotik (siehe S.135ff.) getätigte Unterscheidung zwischen der Struktur eines Sachverhalts – dem Geflecht von Elementen und Beziehungen – und dem Medium seiner Repräsentation. Repräsentationen gestatten den Menschen nicht nur, laufende Aktivitäten im Hier und Jetzt zu koordinieren oder Intentionen, Erfahrungen und Gefühle zu teilen, sondern sie erlauben auch, diese Aktivitäten, Gefühle, Intentionen unabhängig von der konkreten Entstehungssituation zu überdenken und zu verarbeiten. Diese werden so zum Objekt von Reflexions-, Erklärungs- und Kommunikationsprozessen. Den Repräsentationsmodi, symbolischen 'tools' oder "Medien des Denkens" (AEBLI, 1981), kommt eine fundamentale Bedeutung beim Aufbau und der Veränderung mentaler Denk- und Wissensstrukturen zum elementaren naturwissenschaftlich–technischen Wissen zu. Man denke bloß an den Einfluss, den unterschiedliche domänspezifische Darstellungsformen und Notationen in der Wissenschafts- und Kulturentwicklung gespielt haben (vgl. Übers. in DAMEROW & LEFÈVRE, 1998; REUSSER, 1998, S.145). Wir treffen hier auf das Problem, das seit jeher sämtliche Ansätze mentaler Entwicklung betrifft: Wie erklären sie die Natur und die Genese der Repräsentationen? Kultur-historische Ansätze betonen das dialektische Zusammenspiel zwischen mentalen (internen) und kulturellen (externen) Repräsentationen, wie es die Punkte 2 und 3 im angeführten Zitat von COLE & ENGESTRÖM S.131 ausweisen. Gesellschaftliches Wissen beeinflusst den Aufbau des individuellen Wissens. Es wird nicht nur mental im Individuum, sondern ebenfalls kulturell in den jeweiligen, historisch sich verändernden Artefakten, besonders aber in den gegenständlichen Mitteln der Kommunikation und der geistigen Tätigkeit repräsentiert und tradiert.

"Der Prozess der Repräsentation und Tradierung des in den Artefakten extern repräsentierten Wissens hat zwar seinerseits wiederum psychologische Voraussetzungen, er ist jedoch seiner Natur nach ein historisch–soziologisch zu begreifendes Phänomen" (DAMEROW & LEFÈVRE, 1998, S.79).

Die kulturhistorische Sicht klammert die Ebene der mentalen Repräsentationen also nicht aus, die als interne Werkzeuge unser Denken und Handeln mediieren. Sie konzipiert allerdings solche internen Repräsentationen als Internalisierungen kulturspezifischer Objekte und Handlungen, in denen das gesellschaftliche Wissen extern repräsentiert wird. Die fundamentalen psychologischen Werkzeuge wie Begriffsbildung, Induktivität, Deduktivität... besitzen historischen Charakter und werden von den jeweiligen konkreten sozialhistorischen Bedingungen ausgeformt. Der Werkzeuggebrauch sowie die

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 133

Sprache sind, wie bereits S.115 erläutert, für die Menschwerdung konstitutiv und bilden die Voraussetzungen für die Entstehung von Kultur. DAMEROW & LEFÈVRE weisen darauf hin, dass sich aus dem realen Gebrauch der jeweils spezifischen Mediationsmittel in den verschiedenen historischen Epochen, Erklärungen für die historischen Veränderungen der mentalen Funktionen und der Strukturen von Wissenssystemen gewinnen lassen.

"man erhält Erklärungen für historische Veränderungen, die ihre Ursache nicht in der Natur des individuellen Erkennens haben und sich daher durch historische und kulturvergleichende Analysen mit Mitteln der Kognitionspsychologie zwar konstatieren, nicht jedoch theoretisch rekonstruieren lassen" (ibid., S.80).

Folgende Gründe ermöglichen dabei den Erhalt entsprechender Erklärungen: – � Der Umgang mit derartigen Mitteln stellt historisch sich verändernde

mentale Anforderungen und erfordert das Vermitteln eines bestimmten Wissens zu ihrem adäquaten Gebrauch.

– � Die Form der mentalen Repräsentation des Wissens selbst (bildhaft, propositional, regelbasiert etc.) wird darüber hinaus auch durch diese kulturellen Repräsentationen strukturiert und erhält bestimmte Funktionen.

Will man die historischen Voraussetzungen klären, unter denen die psychologisch bestimmbaren Strukturen sowie die Funktionen verschiedener Wissenssysteme entstanden sind, so muss man die bestimmenden Faktoren des kulturhistorischen Kontexts des Wissens für die unterschiedlichen Epochen der Entwicklung der Kognition untersuchen. DAMEROW & LEFÈVRE denken dabei an die Gegenstände, Strukturen und Funktionen des intersubjektiv geteilten Wissens, seine externen Repräsentationen, die sozialen Mechanismen seiner Tradierung sowie seine Funktion im jeweiligen System der gesellschaftlichen Reproduktion (ibid., S.80). Die Psychologie dagegen fasst kulturelle Repräsentationen als Externalisierungen menschlichen Wissens in kulturspezifischen Medien der Darstellung auf. Anders ausgedrückt: Die Formen mentaler Repräsentation haben externe Entsprechungen in Form von Handlungen und Objekten wie schriftliche und mündliche Darstellungen, Bilder und Grafiken, Vorgänge, Interaktions- und Kommunikationsformen... Nach der Natur dieser Medien lassen sich so enaktive, ikonische und symbolische Repräsentationen unterscheiden. Für BRUNER kann sich eine Struktur nur in einem Medium realisieren und er postuliert drei sequentielle und sich überlagernde Medien oder Repräsentationsformate. Am Anfang der ontogenetischen Entwicklung steht das aktionale oder enaktive Medium, das sich weitgehend mit PIAGETs53 Beschreibung der Stadien sensumotorischer Intelligenz (des Denkens im Tun) 53 Bereits PIAGET (1959/1975) hat auf die Bedeutung der Repräsentationsmodi und ihrer Beziehungen zu den

inhaltlichen Dimensionen hingewiesen.

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deckt. Danach folgt das ikonische oder bildhafte Medium, das ungefähr dem von PIAGET beschriebenen anschaulichen Denken in Vortellungsbildern – der "pensée intuitive" – entspricht. Schließlich folgt das sprachlich–symbolische Medium, zu dem sich keine wirkliche Entsprechung bei PIAGET findet, da dieser die entscheidenden universell–abstrakten, logisch–mathematischen Strukturen, auf die es seiner Meinung nach bei der Entwicklung ankommt, amodal (medienfrei) denkt54 oder wie es AEBLI (1981) formuliert: "frei schwebend wie eine platonische Idee" (ibid., S.289). Externe und interne Repräsentationen haben die gleichen Funktionen und basieren auf den gleichen mentalen Fähigkeiten in Zusammenhang mit dem Symbolgebrauch.

"Durch die von der mentalen Repräsentation unabhängige Existenz dieser Objekte und Handlungen und durch die gesellschaftliche Tradierung ihrer Bedeutungen werden die intersubjektive Natur und die historische Kontinuität der Funktionen und Strukturen von Wissenssystemen über die Psyche des einzelnen Subjekts hinaus gewährleistet" (DAMEROW & LEFÈVRE, 1998, S.79).

Die Psychologie hat somit das prinzipielle Problem, dass sie Kultur lediglich als akzidentelle Randbedingung der individuellen Entwicklung auffasst, die sie in die Entwicklung des menschlichen Kognitionssystems einbeziehen kann. Die Analyse mentaler Repräsentation in ihren unterschiedlichen Ausformungen ist ein zentraler Fokus der Kognitionspsychologie. Mentale Repräsentationen lassen sich – in Anlehnung an DAVIS, SHROBE & SZOLOVITS (1993) – durch folgende Funktionen charakterisieren:

„Ein Surrogat, ein Ersatz für das Repräsentierte selbst: Aufgrund dieser Funktion können die Konsequenzen von Handlungen bestimmt werden, ohne dass man die Handlungen vollzieht.

Eine Menge ontologischer Vorannahmen: Damit wird eine Anwort gegeben auf die Frage, in welchen Begriffen man über zu repräsentierende Weltausschnitte sprechen möchte.

Eine fragmentarische Theorie von Intelligenz, die dreierlei umfaßt: a) eine Grundkonzeption rationalen Handelns, z.B. die Auffassung, dass sich rationales Handeln in der Suche in einem Problemraum niederschlägt; b) eine Menge von Inferenzen, die die Repräsentation erlaubt, und c) eine Menge von Inferenzen, die die Repräsentation empfiehlt.

Ein Medium zum effektiven Ausführen (symbolischer) Berechnungen.

Ein Medium zum Informationsaustausch zwischen Menschen (Ausdrucksfunktion)“ (REIMANN,1998, S.342).

Im Bereich der kognitiven Entwicklungspsychologie wird wiederholt auf die Bedeutung des Prozesses der Redeskription von Repräsentationen im Rahmen des Wissenserwerbs hingewiesen. Darunter versteht man das Überführen von 54 Da PIAGET nicht zwischen Struktur und einem modalen Substrat, in welchem sich diese realisiert,

unterscheidet, haben die Strukturen keine Modalität.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 135

Repräsentationen in ein anderes Repräsentationsformat im Zusammenhang mit veränderten, stärker gewichteten Darstellungsmodi innerhalb des soziokulturellen Kontexts. Dieser Ansatz stellt einen Erklärungsversuch für oftmals U-förmig55 verlaufende Entwicklungen bzw. Inkonsistenzen in der kognitiven Entwicklung dar (vgl. Übers. in WALDMANN, 1996, S.333; REUSSER 1998, S.137). Verfechter der situierten Kognition wie CLANCEY & ROCHELLE (1991) werfen den Kognitionswissenschaften vor, die Natur der Repräsentationen sowie der Kognition verzerrt zu haben (ibid., S.9). Repräsentationen werden in einer Übereinstimmungs-Sichtweise, das Gedächtnis in einer 'retrieval'-Sichtweise und Sinn in einer rein individualistischen Sichtweise aufgefasst. Im Hinblick auf situierte Kognitionsprozesse bagatellisieren entsprechende Sichtweisen die Notwendigkeit, neben den neurologischen auch die sozialen Prozesse in Betracht zu ziehen (ibid., S.14). Regel- und schemabasierte Ansätze porträtieren lediglich ein 'repräsentationales Flachland' (ibid., S.5), da sie die umfassende Vielfalt der Materialien und physischen Formen, die Leute als Repräsentationen beanspruchen, ignorieren (ibid., S.7). Für die Autoren wird etwas zu einer Repräsentation

"by virtue of someone claiming that it stands for something, Meaning is not inherent in the form, but attributed by further representations about the form. That is, representational status is attributed by an observer" (ibid., p.9).

Dies verweist auch auf den Semiologie-Ansatz von PIERCE (siehe nächsten Punkt), der auf die unendliche Vielfalt der möglichen Formen und Substanzen hingewiesen hat, die als Elemente dynamischer Bedeutungszusammenhänge fungieren können, ohne aber Repräsentationen nur auf jene Objekte zu begrenzen, welche Menschen bewusst als Repräsentationen erkennen oder in Anspruch nehmen.

DAS UNIVERSUM DER ZEICHEN Die Semiotik versucht seit langem die Beziehungen zwischen der Darstellungs- und Inhaltsebene zu verstehen und zu erklären. Dabei interessiert sie sich besonders für die Umstände, wie die verschiedenen Elemente eines Zeichens zusammenwirken und wie der damit zusammenhängende semiotische Prozess der Sinngebung / Deutung abläuft. Im Laufe seines Lebens erwirbt der Mensch mehrere Ausdrucks- und Kommunikationssysteme, von denen der Sprache sicherlich die wichtigste Bedeutung zukommt, ohne aber andere Ausdrucksformen wie körperliche, gestuelle, mimische, grafische, plastische oder musikalische zu unterschätzen (vgl. GALLAS, 1994). 55 Nach einer Frühphase der Kompetenz folgt ein Leistungsabfall und in einer späteren Phase wieder ein

Leistungsanstieg. Dies stellt man u.a. bei der Konstruktion von Konzepten fest bzw. bei Rechenkapazitäten des Säuglings, die im Alter von zwei Jahren fürs erste wieder verschwinden (vgl. HOUDÉ, 1996, 1998).

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Die Vielzahl der Zeichen, mit denen man innerhalb eines bestimmten Kulturraums in Kontakt kommt, kann nach sehr unterschiedlichen Klassifikationskriterien geordnet werden. So kann man natürliche Zeichen wie etwa Rauch als Zeichen von Feuer von künstlichen wie etwa Postleitzahlen unterscheiden. Man kann sie aber auch nach der Art des Wahrnehmungskanals in auditive, visuelle, haptische, olfaktische... differenzieren., wobei solche wahrnehmungsspezifischen Klassifikationen uns allerdings wenig über die Mechanismen der Sinngebung verraten. Unterscheidungen wie Repräsentation–Inhalt, Medium–Struktur oder Behältnis–Inhalt erfolgen in der Regel in Anlehnung an DE SAUSSURE als Trennung zwischen Signifikant (‚signifiant‘) und Signifikat (‚signifié‘). Begriffe wie Behältnis, Signifikant... beziehen sich auf die wahrnehmbaren Zeichen und Symbole der Ausdrucksebene; Begriffe wie Struktur, Signifikat gehören zur Inhaltsebene und verweisen auf die unsichtbaren Einheiten im kognitiven System des Lernenden, die man nur inferieren kann. Das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten eines Zeichens wie z.B. das Wort 'WASSER' – Signifikant, Signifikat, Stimulus und Referent – lässt sich mit dem folgenden Tetraeder56 von KLINKENBERG (1998) darstellen. Ausdrucksebene

Inhaltsebene

Signifikant

Stimulus 57

Signifikat

Referent

Abbildung 30: Tetraeder-Modell des Zeichens VON KLINKENBERG (1998, S.21)

Der Stimulus manifestiert die konkrete, wahrnehmbare Präsenz eines Zeichens wie etwa die Schallwelle des Lautgefüges oder der Lichtstrahl des Schriftbildes 'WASSER'... Er wird vom Subjekt nur als bedeutsam empfunden, wenn er einem bestimmten abstrakten Muster, das in einem ihm bekannten Kode aufgeführt ist, entspricht. Dieses Muster ist der Signifikant wie z.B. das jeweilige Schriftbild der Buchstaben W, A, S, S, E, R, die alle im Alphabet enthalten sind bzw. das Wort

56 Die meisten Linguisten und Semiotiker klammern allerdings den Stimulus aus, so dass das vorliegende Modell

die Form eines Dreiecks einnimmt. Im Rahmen des Erwerbs des bereichsspezifischen Wissens zu physikalischen Ereignissen der Umwelt spielen unterschiedliche Stimulierungen eine bedeutsame Rolle, so dass dieses Modell für die vorliegenden Arbeit angemessen erscheint.

57 Die gestrichelte Linie zwischen Referent und Stimulus bedeutet, dass diese Beziehung meistens arbiträr ist.

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'WASSER', das als Ganzes erkannt wird. Der Signifikant ist nur von Interesse, wenn er auf etwas anderes als er selbst verweist. Dieses evozierte innere Bild bezeichnet man als Signifikat: so verweist das Lautbild [wasser] auf das Konzept "Wasser". Das Signifikat verweist wiederum auf einen Referenten. So kann "WASSER" z.B. bei mir die vertraute Vorstellung eines Sees, Baches, Flusses, Weihers in meinem Garten... induzieren. Eine entsprechende affektiv getönte Beziehung einer Person zu einem Objekt, die biographisch ausgeformt ist, charakterisiert sich durch eine hohe konnotative Bedeutung (Ich-Beteiligung). Das Wort 'WASSER' kann aber auch im Sinne einer distanzierteren, sachlichen (denotativen) Bedeutung auf eine Begriffskategorie wie Naturelemente, chemische Moleküle, Getränke, Ökologie... verweisen. Eine entsprechende Ordnungsleistung kann auf vielfältige Art und Weise erfolgen: durch Kombination kritischer Attribute, durch den Grad der Übereinstimmung mit dem (proto-)typischen Vertreter einer Kategorie, durch ein markantes Exemplar oder durch spezifische Erklärungstheorien erfolgt sein. Dabei können sowohl funktionale Kriterien wie etwa die Verwendung von Wasser beim Waschen, Putzen, Blumengießen, Duschen, Schwimmen als auch formale Kriterien, sei es durch Übereinkunft oder festgelegte Konventionen (wissenschaftliche Kriterien) bestimmte theoretische Annahmen oder gemeinsame Kategorien generieren (siehe S.193ff.). Der Referent ist jedenfalls nicht nur ein materieller Gegenstand, er kann genau so gut eine Abstrahierung wie z.B. 'Transzendenz', eine Qualität wie z.B. 'Geschwindigkeit' oder etwas Erfundenes wie z.B. 'Einhorn' sein. Er ist der Gegenstand, über den man kommuniziert. Analysiert man ein Zeichen, so muss man die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Komponenten der beiden Ebenen, die nicht unabhängig voneinander existieren können, näher ins Auge fassen. Ein Stimulus ist nur ein Stimulus, weil er das Modell (Signifikant) aktualisiert. Dieser besitzt diesen Status nur, weil er mit einem bestimmtem Signifikat assoziiert ist. Der Referent wiederum ist wichtig, da es ein Signifikat gibt, das mit einer bestimmten denotativ oder konnotativ gewichteten Ordnungsleistung in Zusammenhang steht. Je nach Zusammenhang zwischen Ausdrucks- und Inhaltsebene differenziert KLINKENBERG (1998) zwischen unterschiedlichen Familien von Zeichen: – � Korrespondenz bzw. Nicht-Korrespondenz der Ebenen:

Zeichen bilden Kodes, d.h., bestimmte Ansammlungen von notwendigen oder konventionellen Beziehungen zwischen Ausdruck und Inhalt wie z.B. bei der Sprache, den Telefonnummern... Die Zeichen bestimmter Kodes sind nicht zerlegbar. So steht z.B. die Farbe 'rot in bestimmten Kontexten als Zeichen für Gefahr, Donner als Zeichen für ein herannahenden Gewitter, Fußspuren als Zeichen eines Wildwechsels... Jeder einzelnen Einheit auf der Ausdrucksebene entspricht eine Bedeutung auf der Inhaltsebene, so dass man in diesem Fall von korrespondierender Segmentierung auf beiden Ebenen spricht. In anderen Fällen lassen sich Ausdrucks- und Inhaltsebene unabhängig

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voneinander analysieren wie z.B. bei der menschlichen Sprache, wo Ausdruck einerseits und Semantik andererseits über eigene Artikulationen verfügen. Die Signifikanten bestehen aus Laut- bzw. Schriftbildern, deren einzelne Bestandteile in Form von Phonemen bzw. Graphemen nicht länger auf eine gleiche Sinneinheit verweisen. So entspricht kein einzelnes Phonem bzw. Graphem des Wortes 'WASSER' einem signifikanten Element des Wassers wie z.B. Dichte, Farbe, Temperatur... die, zusammengesetzt, den Sinn des Begriffs "WASSER" ergeben würden. So kann ich gefrorenes Wasser auch als 'EIS' bezeichnen, wobei ebenfalls keine Komponente des Signifikanten 'EIS' auf gefrorenes Wasser hinweist. Für diese Kodes gibt es keine korrespondierende Segmentierung.

– � Arbiträrer bzw. motivierter Zusammenhang zwischen den beiden Ebenen: Bei arbiträren Zeichen beruht die Relation zwischen Zeichen und Objekt auf purer Konvention wie z.B. 10, X, 'zehn'... als Ausdrucksformen für eine Menge von zehn Gegenständen oder die Bezeichnung einer bestimmten Flüssigkeit als "Wasser", "eau", "aqua"... Die Form des Stimulus ist unabhängig von der des Referenten. Motiviert sind dagegen alle Zeichen, bei denen es einen direkten Bezug zwischen der Form des Referenten und der Art der Repräsentation gibt wie z.B. das Objekt an sich, die naturgetreue Abbildung bzw. eine analoge grafische Darstellung, Kontiguität wie etwa zwischen Wetterfahne und Windrichtung oder Fußspur und Laufrichtung...

Die Kombination dieser beiden Kriterien erlaubt es, vier große Kategorien von Zeichen festzulegen, die sämtliche Objekte der Semiotik umschließen, und die wir im Anschluss auf ihre Bedeutung beim Erwerb physikalischen Wissens besprechen wollen: Motiviert Arbiträr Korrespondierende Segmentierung

Indizien Symbole

Nicht-Korrespondierende Segmentierung

Ikonen Zeichen im engen Sinne des Wortes

Abbildung 31: Kategorien von Zeichen nach KLINKENBERG (1998, S.22)

Indizien sind kausal motiviert wie z.B. die Wetterfahne, der Wasserabdruck eines Glases auf dem Tisch, das Beschlagen der Brille, die Fallrichtung eines Objekts... Diese Zeichen sind nicht zerlegbar und es gibt demnach eine unmittelbare Korrespondenz zwischen den beiden Ebenen. In Zusammenhang mit dem Erwerb intuitiven physikalischen Wissens umschließt diese Kategorie auch die physikalischen Phänomene im Umfeld des Kindes. Entsprechend

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verursachte Ereignisse kann bereits ein Säugling mit entweder seinen angeborenen Wissen über fundamentale Kausalprinzipien oder seinen Lernmechanismen für den Erwerb von probabilistischen Ereignisrelationen und Kausalrelationen (siehe S.117) in einen bedeutsamen Zusammenhang bringen. Man darf annehmen, dass solche Lernmodule auf Assoziationsmechanismen zurückgreifen und sensitiv für die erwähnten Zusammenhänge der Kookkurenz, Ko- und Kontravarianz (siehe S.116) sind. Der Reichtum an diesbezüglichen Phänomenen im direkten Umfeld des Kindes wirkt sich sicher förderlich auf den differenzierten Aufbau eine intuitiven physikalischen Wissens aus. Dabei bleibt es selbstverständlich den Verfechtern der angeführten Ansätze vorbehalten, solche Prozesse als Anreicherung oder Umstrukturierung auszulegen. Mit den sich entwickelnden motorischen Fähigkeiten kann das Kleinkind auch zunehmend eigene Versuche unternehmen, in denen entsprechende Erwartungen über den Verlauf von Ereignissen oder über Eigenschaften von Objekten an bekannten Indizien überprüft oder aufgrund neuer Indizien überdacht und weiter untersucht werden. Auch beim Erwerb formalen physikalischen Wissens in schulischen Lernsituationen spielen entsprechende Indizien eine wichtige Rolle, einerseits als Erwartungen aufgrund bestehender intuitiver Schülertheorien, andererseits mittels der eingesetzten fachspezifischen Zeichen sowie der bereitgestellten Versuchsmaterialien in den spezifischen Lehr–Lern-Situationen. Ikonen basieren auf einer Ähnlichkeitsbeziehung, die sich aber nicht nur auf bildliche Analogien beschränkt wie z.B. das Spiegelbild, das Modell eines Flugzeugs, die Imitation eines Geräusches oder eines Tierlauts, die geographische Karte... Ihre Segmentierung ist nicht korrespondierend, da man eine Ikone wie z.B. die Landkarte in 'bedeutungslose' Einzelteile aufteilen kann, die man auch anders wieder zusammensetzen kann. Spezifische Arten von Ikonen sind zum einen die "ostensiven" ('ostensifs') Zeichen, bei denen der Zusammenhang durch die Ähnlichkeit begründet wird. Hier ist der Signifikant das Objekt selbst wie z.B. Warenmuster oder Ausstellungstücke im Laden, die auf andere Objekte – in diesem Fall die vorrätigen Verkaufswaren – hinweisen. Zum anderen die "angrenzenden/verwandten" oder "intrinsischen" Zeichen wie z.B. die Imitation einer bestimmten Gebärde oder einer Verhaltensweise eines Lebewesens, die gezielt auf dieses Objekt durch Hervorheben eines spezifischen (relevanten) Attributs verweisen. Auf diese beiden partikularen Ikonenarten wird systematisch zurückgegriffen, wenn Kinder im Rahmen formaler oder informeller Unterweisungen auf bestimmte Merkmale von Abläufen oder spezifische Eigenschaften von Objekten aufmerksam gemacht werden (siehe auch Indexe im Anschluss). In Zusammenhang mit Versuchssituationen zu naturwissenschaftlich–technischen Sachverhalten verweisen z.B. die Materialien der luxemburgischen Experimentierkartei auf Alltagsgegenstände. Dies soll bewusst die Kinder anregen, entsprechende Aktivitäten mit ähnlichen Materialien auch daheim zu unternehmen. Vorsichtiges Fühlen und Anfassen sehr kalter (Metallbecher im Gefrierfach) oder heißer Gegenstände (brennendes

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Glühlämpchen) zeugt vom Bewusstsein des Ausführenden über die jeweilige Eigenschaft des Objekts. Entsprechende Ikonen und die damit zusammenhängenden analogen Relationen zwischen Darstellungs- und Inhaltsebene spielen auch beim Verstehen physikalischer Sachverhalte und Vorgänge eine wichtige Rolle, sei es unter aktional–enaktiver oder ikonografisch–bildlicher Form. Beide Modi überwiegen sicher bei jüngeren Kindern, während symbolische Modi in Form arbiträrer Zusammenhänge mit zunehmendem Alter und vor allem in formalen Instruktionskontexten an Bedeutung gewinnen. Symbole sind Zeichen, die auf arbiträre Weise einen Signifikanten und eine Abstrahierung verbinden. So steht z.B. die Farbe "grün" für Umweltschutz, ein Blitz für Elektrizität, eine Schneeflocke für Temperaturen unter dem Gefrierpunkt... Manche Symbole sind weit auf der interindividuellen Ebene geteilt, andere sind rein idiosynkratisch ausgeformt wie der Geschmack einer Madeleine und die Erinnerung an Combray für Marcel PROUST. Symbole sind nicht teilbar, da ihre Elemente nicht systematisch wiederverwendbar sind, es sei denn, es handele sich dabei selbst wieder um Symbole. Diese Gruppe umschließt auch die kulturell ausgeformten Zeichensysteme, die ein Kind formal durch Unterweisung vermittelt bekommt oder im Laufe der Enkulturation eher intuitiv durch die Teilnahme an bestimmten sozialen Aktivitäten erwirbt. Die Konstruktion persönlicher Symbolrelationen ist eng an persönliche konnotative Bedeutungen gebunden, die Kinder mit bestimmten Gegebenheiten verbinden. Eine Veränderung entsprechender Interpretationsrahmen erfordert das gezielte Hinterfragen solcher Symbolrelationen. Zeichen im engen Sinn des Wortes formen die am höchsten entwickelten Kodes wie z.B. die linguistischen Zeichen, Telefonnummern, chemische Symbole, Strichkodes... Sie können in 'bedeutungslose' Elemente aufgeteilt werden, mit denen man systematisch neue Zeichen erstellen kann. Entsprechende Kodes erwirbt das Kind durch die Teilnahme an einer Gemeinschaft, vor allem aber durch gezielte formale Instruktion. Zu den Zeichen muss man angesichts der zunehmenden Digitalisierung der Informationsverarbeitung auch die 'Bits' hinzuzählen. Diese können gescannt, gespeichert, neu kombiniert und miteinander vertauscht und gekreuzt werden. Damit wird es möglich, sie in beliebigen Konfigurationen neu zusammenzusetzen. Im Rahmen der arbiträren Zeichen sind sicherlich auch die erstmals von PEIRCE erwähnten Indexe interessant, da diese die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand lenken. Der Sprachgebrauch würde uns unlösbar mit Ambiguität, Polysemie, Nuance, Metaphern usw. konfrontieren, gäbe es nicht extralinguistische Hilfen für Äußerungen im Kontext (BROWN ET AL., 1989). Dabei können wir allerdings Zeichen wie z.B. Büchertitel, Inschriften, Etiketten,

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ein ausgestreckter Zeigefinger (Symbol)... erst nutzen, wenn wir die spezifischen 'Leseregeln' erworben haben. Innerhalb dieser Zeichenart spielen sicher die linguistischen Indexe eine interessante Rolle für die Einsicht in bestimmte Objekteigenschaften bzw. Ereignisketten. So lenkt z.B. beim gemeinsamen Probieren in der Gruppe ein Schüler mittels Aussagen wie " Schau mal hier hin! Dieser XY dort... " die Aufmerksamkeit eines Kameraden auf für ihn persönlich relevante, interessante Aspekte der phänomenologischen Vielfalt. Laut BARWISE & PERRY (1983) kann jedes Wort, zumindest teilweise, als 'indexikalisch' betrachtet werden. Dies macht deutlich, inwieweit die Sprache, als 'tool of tools' eine bedeutende Mediationsrolle beim Erwerb bereichsspezifischen Wissens einnimmt und wie dem relevanten Anderen eine unterstützende Rolle im Rahmen von Lernprozessen zufällt. Indexe sind vollkommen kontextabhängig und verweisen auf bestimmte Eigenarten der Situation, in der die Kommunikation erfolgt. So können z.B. Wörter wie 'ich' oder 'nun' nur in ihrem Verwendungskontext verstanden werden, d.h., wenn wir nähere Einzelheiten über die Umstände ihrer Produktion und die jeweiligen Referenten der verwendeten Wörter in Erfahrung bringen (über den Autor, den Adressaten, Ort und Zeit, den Verlauf der Unterredung... ). Solche Informationen geben zugleich auch wichtige Aufschlüsse über die Identitäten der Teilnehmer, den Schwerpunkt des Themas... Die Interpretation einer Aussage basiert demnach auf der einzigartigen Beziehung zwischen Redner, Zuhörer und Kontext, so dass man intersubjektiv geteiltes Verstehen als kollaborative Leistung der Teilnehmer auffassen muss. In diesem Sinne charakterisiert SUCHMAN (1987) Sprache als situierte Handlung, in die alle Teilnehmer sich aktiv einbringen müssen, damit ein mutuelles Verständnis zustande kommt.

Indexikalität ('indexicality') und ihre Bedeutung für den Wissenserwerb Aus ethnomethodologischer Sicht sind 'indexikalische' Expressionen konstitutiv für Alltagsereignisse. Für ROTH (1995, S.22) ist Indexikalität ein Ordnung gestaltendes Phänomen, das unsere Erfahrungswelt reguliert und uns erlaubt, das Austauschen von Meinungen in alltäglichen Interaktionen zu verstehen. GARFINKEL (1967) charakterisierte diesen Umstand mit 'background expectancies'. Auch bei Klassengesprächen greifen Lehrende und Schüler auf 'indexikalische' Äußerungen zurück, ähnlich wie sie es im Alltag tun. Dabei kann der Verweis auf unterschiedliche Referenten zu Verstehensproblemen in Klassengesprächen führen, besonders dann wenn der Lehrende bzw. ein Mitschüler den anderen Teilnehmern bestimmte Sachverhalte vorstellt. Nehmen z.B. die Schüler während des Vortrags Notizen, so ist es für sie unmöglich, sämtliche verbalen und non-verbalen Indexe, die gezielt auf eine ganz bestimmte Bedeutung in der Aussage hinweisen, in ihren individuellen Aufzeichnungen festzuhalten. Beim späteren Überlesen der Notizen konstruieren sie dann oft Bedeutungen, die sich

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nicht mit denjenigen des Autors decken. Interaktionen im Klassensaal, sei es in kollaborativen oder lehrergesteuerten Sozialformen, müssen hinsichtlich ihrer 'indexikalischen' Natur erforscht werden, bevor wir kollaborative Aushandlungen, Sinndeutungen und Schüler–Schüler–Interaktionen wirklich verstehen (vgl. WELLS, 1999). Zudem müssen wir den Schülern Repräsentationswerkzeuge zu Verfügung stellen wie etwa Mindmaps, Konzeptkarten... (siehe S.168), die es ihnen gestatten, die sinnstiftenden Referenten hinter den vielfältigen Ausdrucksmodi der Teilnehmer auszumachen und zu explizieren. Die gemeinsame Aushandlung der Bedeutung wird auf diese Weise begünstigt, so dass die Schüler einen wirksameren Nutzen aus kollaborativen Aktivitätsszenarien ziehen können. Indexe spielen ebenfalls eine wichtige Rolle im Rahmen authentischer Aktivitäten. Dabei entscheidet gerade die Authentizität der Aktivität, ob der Lernende Zugang zu den Vorgehens- und Sichtweisen des Praktikers findet, der in der Lage ist, entschlossen und zielbewusst zu handeln. Zugleich formt bzw. schärft die Aktivität die eingesetzten Werkzeuge und ermöglicht Erfahrungen, die für nachfolgendes Handeln wichtig und wertvoll sind. Die Werkzeuge und deren adäquater Gebrauch mediieren auf entscheidende Weise die subjektive Wahrnehmung einer bestimmten Aktivität. BROWN, COLLINS & DUGUID (1989) verweisen darauf, dass verschiedene Aktivitäten unterschiedliche 'indexicalized', nicht aber äquivalente, universale Repräsentationen produzieren. Folglich spielt die Aktivität, die zu solchen Repräsentationen führt eine zentrale Rolle beim Lernprozess (siehe Ausführungen zur Aktivitätstheorie). Repräsentationen sind demnach ähnlich 'indexicalized' wie Sprache, d.h., sie sind an den jeweiligen Kontext gebunden. In Unterredungen von Angesicht zu Angesicht können Menschen 'indexikalische' Äußerungen58 wie "Ich, du, hier, nun, das..." interpretieren, da ihnen die charakteristischen Indexe der Situation vertraut sind. Die Bedeutung und den Einfluss solcher umweltspezifischer Faktoren für das Verstehen bestimmter (Sach-)Zusammenhänge nehmen Menschen allerdings meist erst dann wahr, wenn sie sich über eine größere Distanz bzw. über Schriftproduktionen miteinander kommunizieren müssen, so dass das Deuten bestimmter Aussagen zum Problem wird. Hier müssen dann Wege gefunden werden, um die Interpretation entsprechender 'indexikalischer' Äußerungen, etwa durch Explizieren der Referenzen bzw. zusätzlicher Kommentare oder ausführlicher Beschreibungen, zu gewährleisten. Werden unmittelbare 'indexikalische' Termini durch Beschreibungen ersetzt, so verändert sich allerdings die Natur des Diskurses. Umfassende Beschreibungen zum Zweck der Klärung werden zudem oft sehr undurchsichtig bzw. können bestimmte Indexe gar nicht erst ersetzen.

"Indexical terms are virtually transparent. They draw little or no attention to themselves. They do

58 Jedes Wort ist stets wenigstes zu einem Teil indexikalisch.

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not necessarily add significantly to the difficulty of understanding a proposition in which they occur, but simply point to the subject under discussion, which then provides essential structure for the discourse. Descriptions, by comparison, are at best translucent and at worst opaque, intruding emphatically between speakers and their subjects. The audience has first to focus on the descriptions and try to interpret them and find what they might refer to. Only then can the proposition in which they are embedded be understood" (BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989).

Die Autoren fassen jedes Wissen in Analogie zur Sprache auf. Die konstituierenden Wissenselemente 'indexieren' die Welt und werden somit unentwirrbar ein Produkt der Aktivität und der Situationen, in denen sie erstellt werden. Die einbettenden Umstände determinieren auf effiziente Weise wesentliche Teile der Struktur und der Bedeutung. So evoluiert z.B. ein Konzept kontinuierlich mit jeder neuen Verwendung, da diese Situationen, neue Aushandlungen und Tätigkeiten es unweigerlich in eine neue, dichter beschaffene Form evoluieren lassen. Jedes Konzept befindet sich ähnlich wie die Bedeutung eines beliebigen Wortes immer 'im Aufbau'. Dies trifft auch für scheinbar präzise, nach logischen Regeln und rationalen Kriterien definierbare Begriffe in der Wissenschaft zu. Auch diese können nicht vollständig definiert werden und widersetzen sich einer kategorialen Beschreibung. Ein Teil ihrer Bedeutung wird immer durch den Verwendungskontext bestimmt, wie es JOSEPHS (1996) in Anlehnung an VAIHINGER (1911/1986), dem Begründer der legendären Philosophie des Als Ob, und LÖWY (1992) betont. Nach VAIHINGER bedienen sich Wissenschaft, Kunst, Religion etc. bewusst falscher Konzepte – also Fiktionen –, die aber dennoch von hohem pragmatischen Nutzen seien.

"Wie kommt es, daß wir mit bewußtfalschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen? Wir operieren mit ‘Atomen‘, obgleich wir wissen, daß unser Atombegriff willkürlich und falsch ist, und, was eben das Merkwürdige ist, wir operieren glücklich und erfolgreich mit diesem falschen Begriff: wir kämen ohne ihn nicht so gut, ja überhaupt nicht zum Ziele. Wir rechnen mit dem ‘Unendlich-Kleinen‘ in der Mathematik, obgleich wir wissen, daß dies ein widerspruchsvoller, also gänzlich falscher Begriff ist. Aber wir wissen auch, daß wir ohne diesen falschen Begriff in der höheren Mathematik überhaupt nicht vorwärts kommen könnten (...). Wir machen in den verschie-densten Wissenschaften sehr viele derartiger bewußtfalscher Annahmen und rechtfertigen sie damit, daß sie nützlich sind. Auch im praktischen Leben verführen wir so: die Annahme der Willensfreiheit ist die notwendige Grundlage unserer sozialen und juristischen Ordnungen, und doch sagt uns unser logisches Gewissen, daß die Annahme der Willensfreiheit ein logischer Nonsens ist. Aber darum geben wir jene Vorstellung doch nicht auf: denn sie ist nützlich, ja un-entbehrlich. Und in der Religion verfahren wir ebenso: logisch unhaltbare, ja unbedingt falsche Vorstellungsweisen behalten wir bei, nicht etwa weil sie uns ‘lieb‘ sind, nein, weil wir ihre Nützlichkeit und Unentbehrlichkeit zum richtigen Handeln erkennen. Wir kommen im theoretischen, im praktischen und im religiösen Gebiet zum Richtigen auf Grundlage und mit Hilfe des Falschen" (ibid., S. XXIV).

LÖWY (1992) betont, dass gerade locker definierte Konzepte, sogenannte 'boundary concepts' – sie beruft sich auf den Begriff des 'immunologischen

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Selbst' – zu einer fruchtbaren interdisziplinären Forschung führen. Die Lockerheit schließe nämlich Verhandelbarkeit mit ein und ermögliche so eine Diskussion zwischen den Disziplinen in Form von 'trading zones'.

"‘Boundary objects‘ and ‘boundary concepts ‘ facilitate the constitution and the maintenance of heterogeneous interactions between distinct professional groups. They may be thus viewed as tools which further the development of ‘trading zones‘ or ‘pidgin zones‘ between disciplines, specialities and professional segments. (...). The same immunological term. eg., ‘cytotoxic cells‘, ‘receptors‘, ‘histocompatibility‘, often has a different meaning for clinicians and for scientists. This ‘polyphony of meaning‘ or ‘indeterminacy‘ of terms has played an important role in the construction of experi-mental strategies in immunology. (...). I will argue that this loosely defined ‘boundary concept‘ [the immnunological self Ch. M.] facilitated the interaction between physicians and biologists by making the articulation between certain medical tasks and scientific tasks possible. It permitted the redefinition and enlargement of the sphere of expertise of immunologists, and was at the origin of the revival of immunology after the Second World War. The case of immunology illustrates thus the heuristic role of weak ties in creating links between groups" (ibid., p. 375).

Die angeführten Erläuterungen von VAIHINGER und LÖWY zeigen, dass unterschiedliche Gesprächsteilnehmer sich stets auf ihr eigenes semantisches Universum stützen, sogar dann, wenn sie ihre Begriffe im allgemeinen auf abstrakter Ebene – also auf der Ebene von VYGOTSKYS echten Konzepten – verstehen. Die Unschärfe der Begriffe hat aber, wie es die zitierten Autoren unterstreichen, einen hohen pragmatischen Wert. Das Wissen, das in einem bestimmte Umfeld und durch situierte Tätigkeiten erstellt wird, bleibt nicht nur eng mit den situativen Charakteristika verbunden; es verteilt sich auch über die verschiedenen Komponenten der Situation. Einige davon befinden sich im menschlichen Bewusstsein, andere im Umfeld, so ähnlich wie sich das Endbild eines Puzzles auf die einzelnen Teile verteilt. Die Struktur der Kognition ist für die Theoretiker der 'distributed cognition' (vgl. SALOMON, 1993) breit über das materielle und soziale Umfeld verteilt. Demzufolge trägt das Umfeld entscheidend zur Ausbildung von 'indexikalischen' Repräsentationen bei, welche Menschen durch engagierte Teilnahme an einer Aktivität konstruieren. Diese beeinflussen zudem die Ausführung zukünftiger Tätigkeiten. So steigern sie u.a. die Wirksamkeit, mit der Folgeaufgaben erledigt werden, falls die strukturierenden Elemente des Umfelds in weiten Teilen unverändert bleiben. Davon zeugt z.B. die Ausführung bestimmter Aufgaben, die, abgelöst von der Situation, weder beschrieben noch erinnert werden können (vgl. MINSTRY, 1997).

"Recurring features of the environment may thus afford recurrent sequences of actions. Memory and subsequent actions, as knots in handkerchiefs and other aides memoirs reveal, are not context-independent processes. Routines (Agre, 1985) may well be a product of this sort of indexicalization. Thus, authentic activity becomes a central component of learning" (BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989).

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Im Rahmen der naturwissenschaftlich–technischen Sachverhalte verdeutlicht die Verwendung des Begriffs 'Strom' in Alltagskontexten und die damit verbundenen Vorstellungen die angesprochene Problematik (siehe S.178ff.). Erwähnen muss man noch, dass die Funktionalität der verschiedenen Repräsentationsmodi sowohl intra- als auch interkontextuell variieren kann. So ist z.B. die numerische Schriftweise mächtiger als andere Ausdrucksformen, für den Schüler in einer ersten Phase aber nicht unbedingt operander. So kann man im Unterricht immer wieder feststellen, dass die Schüler eher vertraute Repräsentationen verwenden als solche, die sie im Begriff sind zu erlernen und meist noch weniger gut beherrschen. So greifen Kinder bei auftretenden Schwierigkeiten wie z.B. im Rechnen spontan auf persönlich motivierte Formen zurück, die sehr oft auf körperlichen und handlungsgebundenen Erfahrungen basieren wie etwa 'mit den Fingern zählen'. Hinsichtlich der Organisation von Unterricht muß man sich fragen, wie Lehr–Lern-Situationen die vielfältigen symbolischen Repräsentationssysteme bewusster und systematischer in die Lernaktivitäten einbinden können und wie sie Zusammenhänge zwischen schulischen und subjektrelevanten ‚Medien des Denkens‘ am besten fördern können.

INTERDEPENDENZ VON WISSEN UND MEDIEN DER REPRÄSENTATION Die Art du Weise, wie Wissensinhalte ausgewählt und dargestellt werden, hängt unmittelbar mit dem Medium zusammen, das zur Repräsentation des Wissens benutzt wird. So veränderte sich seit den archaischen Piktogrammen der Höhlenmalerei das konkrete Erscheinungsbild des Wissens und die Art seiner Distribution synchron zur kontinuierlichen Modifizierung der Medien, die zur Darstellung der jeweiligen Wissensinhalte benutzt wurden. Dabei charakterisiert eine 'Visualisierung von Wissen' die abendländische Kultur seit der griechischen Antike. Die signifikante Dominanz des Visuellen in unserer Kultur führt DE KERCKHOVE (2000) auf die Bedingungen zurück, durch die das Wissen seine Geltung erhält.

„Wissen muss sichtbar gemacht werden, um überhaupt bemerkt zu werden und anwendbar zu sein. Natürlich ist Wissen viel mehr als das, was wir über die Augen wahrnehmen. Aber diese Vereinheitlichung von Wissen auf das Visuelle hin scheint in der abendländischen Kultur herausgebildet worden zu sein, da wir uns leichter über Dinge verständigen können, die wir sehen, als über solche, die wir fühlen oder hören. Taktiles und Akustisches scheinen im Vergleich zum Sehen subjektiv zu sein“ (ibid., S.50).

Dabei steht die kontinuierliche Weiterentwicklung der Darstellungsmedien in engem Zusammenhang mit dem kontinuierlichen Anwachsen unseres Wissensfundus und der sich ständig beschleunigenden Vermehrung, Verteilung und Integration in Alltagsprozesse dieses Wissens. DE KERCKHOVE (2000)

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illustriert diesen Akzelerationsprozess anhand folgender fünf Phasen, die wir aufgrund der präzisen Darstellung integral aus seinem Artikel übernehmen:

„1. Durch die alphabetische Schrift wurde es zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit möglich, Sprache zu externalisieren, zu kodifizieren, zu klassifizieren und zu speichern. Damit wurde Sprache dem einzelnen Benutzer als Mittel zur Herstellung von Wissen verfügbar gemacht. Die Einführung einer derart exakten, demokratischen Form von Sprachvisualisierung, wie sie das Alphabet darstellt, macht Wissen potenziell allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft zugänglich und stellt darüber hinaus ein auch für längere Zeitraume verlässliches Speichermedium dar. Diejenigen Kulturen, die das alphabetische System adoptierten, vergrößerten dadurch entscheidend ihr kulturelles Kapital.

2. Durch die Druckerpresse verstärkte sich dann der Einfluss der geschriebenen Sprache auf die Menschen noch einmal, da das Geschriebene einer noch größeren Anzahl von Menschen zugänglich wurde. In der Folge kippte das bis dahin bestehende Gleichgewicht zwischen Gesellschaften mit oraler Tradition und Gesellschaften, welche die Schriftsprache übernahmen. ... Im Gegensatz zu der mehr von der oralen und taktilen Tradition bestimmten mittelalterlichen Handschriftenkultur verstärkte sich durch die Drucktechnik die Tendenz zur visuellen Repräsentation und Verbreitung von Wissen. Das in der Kunst des Barock und auch später noch vorherrschende Prinzip der perspektivischen Darstellung drückt sich in einem visuellen Grundgerüst aus, in das alle Erfahrungen und alles Wissen von der Welt eingebettet werden.

3. Mit der Erfindung der Telegrafie fügte die Elektrizität zu den bestehenden ein neues Informationsmedium hinzu, das sich durch die Möglichkeit der sofortigen Weitergabe von Information auszeichnete. Die Schnelligkeit der Übermittlung hat im Internet seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden. Außerdem wurden durch die Elektrizität auch Projektion und Bildschirm möglich, wodurch die Visualisierung von Information in den Vordergrund rückte. ...

4. Mit dem Computer wurde dann das Moment der Simulation und Interaktivität in die dynamische, grafische Darstellung von Wissen eingeführt. Immer, wenn wir das Programm am Bildschirm manipulieren, werden wir »interaktiv«, das heißt, wir teilen unsere mentalen Fähigkeiten zwischen Kopf und Computer auf und delegieren einen Teil der Verantwortung für die Verarbeitung von Information an den Computer. Derjenige Teil des Verarbeitungsprozesses, der auf den Computer übertragen wird, beschleunigt mentale Grundfunktionen wie Rechnen, Strukturieren und Entwer-fen. Derjenige Teil, der in unserem Kopf stattfindet, stellt die Kontexte von Information her. ...

5. Mit den vernetzten Medien ist ein weiterer Multiplikationseffekt des Wissens hinzugekommen: Diese Medien vernetzen nicht nur die mentalen Fähigkeiten vieler Köpfe miteinander, sie eröffnen darüber hinaus in „real time“ den Zugang zu ganz unterschiedlichen Formen von Erinnerungs- -und Wissensspeichern. Mit dem Internet ist Wissen tatsächlich für alle zugänglich geworden und breitet sich mit großer Geschwindigkeit aus. ... “ (ibid., S.50ff.).

Aus soziohistorischer Sichtweise illustriert DE KERCKHOVE die Rolle des Alphabets bzw. anderer Schriftsysteme für eine „Kultur der Innovation“ (ibid., S.53), die kulturspezifische Wissensformen und diesbezügliche Annahmen hervorbringt – einen Umstand, den wir als genuine Eigenschaft der menschlichen Spezies dargestellt haben (siehe S.38).

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Ein erster wichtiger Aspekt ist die Verteilung des Wissens bzw. der Zugang zu Wissen und die damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung. In Kulturen, die keine Schrift kennen, wird Wissen zumeist durch Einzelpersonen oral überliefert und ist nur unter wenigen, auserwählten Mitgliedern der Gemeinschaft geteilt. Diejenigen, die über ein bestimmtes Maß an Wissen verfügen, gelten als Weise59 und besitzen einen hoch geachteten Status innerhalb der Gemeinschaft. Weise wird man durch Erfahrung, denn nur Erfahrung verleiht Wissen, es sei denn, das Wissen wird einem durch Inspiration oder durch einen Seher zuteil. Wir haben es hier mit ganz individuellen und letzten Endes privaten Wissensformen zu tun. Ein theoretischer Unterbau für das, was Wissen ist, fehlt. Die Bildung und die Verbreitung von Theorien wird erst durch Schrift möglich, die dazu dient, Wissen und Informationen zu veräußern und der kritischen Analyse und Begutachtung zugänglich zu machen. Bringt man nämlich eigene Ideen in eine schriftliche Form, so erlangen Worte und Sätze die Verfügbarkeit, um sie, über die unmittelbare mündliche Mitteilung hinaus, auch in andere Zusammenhänge stellen zu können. Angesichts der privaten Natur der mündlichen Überlieferungsart und des erfahrungsgebundenen bzw. vergangenheitsbezogenen Modus der Wissensgenese reproduzierten entsprechende Kulturen vor allem bereits bewährte Verhaltensmodelle. Die Ausformung eines ‚tools’ wie des Alphabets führte zu einer Neuausrichtung der menschlichen Kultur, die sich stärker auf die Zukunft hin orientiert und an innovativen Lösungen für ihre derzeitigen Probleme arbeitet. Nach Ansicht des amerikanischen Antikeforschers HAVELOCK (zit. in ibid., S.53) blieb die Schrift durch die Differenzierungen, die das Alphabet bei den Griechen erfuhr, nicht nur eine bloße Gedächtnisstütze, sondern entwickelte sich zu einem regelrechten Denkwerkzeug. Befreit von der Last, Erinnerungen nur im Gehirn aufzubewahren, um sie in gesellschaftliche Innovation umzusetzen, nutzten die Menschen ihre mentalen Fähigkeiten, um Informationen aus einem bestimmten Kontext in einen anderen zu übertragen – einem Geheimnis von Erfindung und Innovation. Das Alphabet erwies sich in dem Maße als leistungsfähiges, präzises, flexibles und vielseitiges Medium, da es die Übertragung von flüchtigen Worten in dauerhafte visuelle Zeichen gestattete. Auf diese Weise stellt es jedem Autor ein fast unbegrenztes Potenzial an Möglichkeiten zur Verfügung – die Ressourcen der gesprochenen Sprache ausnutzend –, neues Wissen zu gestalten. Aus kulturhistorischer Sichtweise veranschaulicht u.a. die Genese unseres Wissenskapitals eindrucksvoll die Zusammenhänge zwischen Schriftsystem und innovativer Kultur.

„Es wurde von allen, die lesen konnten, zusammengetragen und war allen, die lesen wollten, zugänglich“ (ibid., S.53).

59 vgl. auch den 'wisdom'-Ansatz von STAUDINGER (1996).

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DE KERCKHOVE veranschaulicht auch, inwieweit der Begriff "Theorie", der in der griechischen Antike ein Gegenstand des Wissens war, aufs Engste mit der Vorstellung von Visualisierung verbunden ist. Etymologisch geht der Begriff auf den griechischen Wortstamm "thea-ein, thea-ma" zurück und auf die Doppelbedeutung von Sehen als "Sehen" oder "Geschautwerden"60. Diese Doppeldeutigkeit des Wortes 'Sehen' setzt eine Trennung voraus zwischen dem, was angeschaut wird, und der Person, die anschaut. Ein wesentlicher Effekt der Wissensspeicherung mittels des Alphabets – so HAVELOCK – bestand in der Trennung des Wissenden vom Wissen. Wissen wurde auf diese Weise theoretisiert und objektiviert61. Die visuelle Darstellung erlaubt zwei oder auch mehr Menschen, sich darauf zu einigen, dass sie das Gleiche sehen, auch wenn sie sich möglicherweise nicht darauf einigen können, wie das Gesehene zu interpretieren ist.

„Entgegen der landläufigen Vorstellung handelt es sich bei Lesen und Schreiben um keine kommunikativen Tätigkeiten, sondern um eine vollkommen private und gänzlich individuelle Beschäftigung mit Text. Text ist visualisierte Sprache und etwas, das für sich selbst steht, eine ei-gene Autorität besitzt und verbindlich für alle ist. Das ist die Erklärung dafür, warum Texte, sei es in Religion oder Wissenschaft, als etwas auf eine bestimmte Weise Heiliges angesehen werden“ (ibid., S.54).

Auch die Erfindung der Zentralperspektive, im Sinne einer rein rationalen Darstellung des Raumes und einer radikalen Abkehr von der bis dato üblichen, symbolischen Darstellung räumlicher Beziehungen, lässt sich laut DE KERCKHOVE als eine direkte Folge der griechischen Schriftkultur und der von ihr erwirkten phonemischen Analyse von Sprache ableiten (vgl. nähere Ausführungen in ibid., S.56). Zur Darstellungsnorm wurde Perspektive allerdings erst mit der Erfindung des Buchdrucks in der Renaissance. Die sich daraus ergebende Verbreitung der Schriftkultur steigerte das Bedürfnis nach perspektivischem Sehen und perspektivischer Darstellung. Die Einführung der Perspektive in die Malerei62 führte sehr bald auch zur Entwicklung eines einheitlichen, 'objektiven' Betrachter-Standpunktes. Dieser wird nicht nur bestimmend für die Wahrnehmung von räumlichen Gegebenheiten, sondern auch für die Logik und Genauigkeit des Wissens. Für DE KERCKHOVE bewirkte dieses Festlegen der Sichtweise vor allem die Ausbildung von Subjektivität.

„Die perspektivische Wahrnehmung der Welt bringt den Beobachter dazu, nicht nur die Proportionen von Gegenständen und die Beziehungen zu reflektieren, die sie in seinem visuellen

60 Hannah ARENDT hat daraufhingewiesen, dass dieser Wortstamm im fünften Jahrhundert vor Christus eine

wahre Blütezeit erlebte und dass sich beispielsweise auch das Wort »Theater« aus diesem Wortstamm entwickelte (vgl. DE KERCKHOVE, 2000, S.54)

61 Laut DE KERCKHOVE geht der Begriff »Objektivität« auf eine spätere Entwicklung innerhalb der antiken Philosophie zurück. Reflexion und Distanz vom Objekt der Betrachtung werden zur Bedingung von Erkenntnis und Wissen.

62 Eine regelrechte Euphorisierung für die Perspektive schlägt sich u.a. in der Kunst vom späten 13. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nieder.

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Gesichtsfeld zueinander haben, sondern auch die Beziehung zwischen dem Beobachter und der beobachteten Umgebung.

Raum mittels Perspektive darzustellen bedeutet, die Welt anzuhalten, zu fixieren und zu objektivieren. Perspektivischer Raum ist unbeweglich und objektiv, nur das Subjekt, der Beobachter, bewegt sich. Sein Blickpunkt ist immer ein einzigartiger, auch wenn er noch so banal ist. Mit Perspektive erfahren wir die Welt als einen sich nicht bewegenden Fixpunkt, während wir, die Betrachter, diejenigen sind, die sich bewegen.

Nach LACAN entsteht das »Subjekt« im sogenannten »Spiegelstadium«. Wenn das Kleinkind bemerkt, dass die Bewegungen im Spiegel seiner körperlichen Eigenwahrnehmung entsprechen, identifiziert es das Spiegelbild als Abbild seiner eigenen Bewegungen und erkennt sich darin erstmals als ein von der Welt getrenntes Selbst. Die Autonomie der privaten, sozialen, psychologischen und politischen Person hängt also allein vom objektiven Status der Außenwelt ab. Subjektivität ist das Komplement zur objektiven Realität. Das Bild vom Selbst stellt sich durch Perspektivität und die Mobilität des Blickpunkts her. Die Folge ist, dass das Bewusstsein des Subjekts in der abendländischen Psychologie dazu verurteilt ist etwas im Kopf Eingeschlossenes, vollkommen Privates zu sein, das abgeschirmt ist von den Einflüssen der Außenwelt“ (ibid., S.59f.).

Die Tendenz zur visuellen Repräsentation, die parallel zur Verbreitung der Drucktechnik aufkam, zeigt sich bereits im 18. Jhdt. in der Enzyklopädie von DIDEROT. Hoch spezialisierte Tätigkeiten wie etwa die Seidenweberei wurden nicht länger mittels abstrakter Beschreibungen, sondern mittels bildhafter Erklärungen einem breiteren Publikum verständlich gemacht. Heute werden komplexe Inhalte in Sachbüchern oder Illustrierten63 mittels sogenannter 'Info-Grafiken', eine Mischung aus Textelementen, Symbolen, Statistiken und Abbildungen auf anschauliche Weise dargestellt. Ergebnisse der Hirnforschung (vgl. u.a. EDELMAN & TONONI, 2000) zeigen, dass Darstellungsformen, die bildlich-räumliche Darstellungen mit Textelementen kombinieren, beide Gehirnhälften gleichermaßen ansprechen und sich deshalb besonders gut eignen, komplexe Zusammenhänge bewusst zu machen.

Wissen auf dem Bildschirm: Objektivierung von Imagination DE KERCKHOVE verweist darauf, dass neue Repräsentationstechnologien – von der Fotografie bis zu 'Virtual Reality' – Wissen mitsamt der diesbezüglichen Verarbeitungsprozesse aus unseren Köpfen nach außen wie z.B. auf Bildschirme verlagern (ibid. S.58). Beim Lesen ist der Ort, an dem Information verarbeitet bzw. sinnlich wahrgenommen und visualisiert wird, mein eigenes Bewusstsein. Beim Fernsehen dagegen erfolgt der Prozess der sinnlichen Wahrnehmung und seiner Übersetzung in Bilder auf dem Bildschirm.

63 Vgl. die unter dem Namen FOCUS-Ikonolgie bekannt gewordene Darstellungsform von Sachzusammenhängen

des Nachrichtenmagazins FOCUS, welche die Darstellungsform in den Medien entscheidend geprägt hat.

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Wenn wir ein Bild betrachten, sei es eine Fotografie, sei es ein Bildschirm, schauen wir nicht wie beim Lesen in uns hinein, sondern orientieren uns nach außen. Schaut z.B. eine ganze Nation zur gleichen Zeit ein identische Fernsehsendung, produziert sie in diesem Moment ein allen Zuschauern ge-meinsames öffentliches Bewusstsein. Der Bildschirm wird so zum Ort kollektiven Denkens. DE KERCKHOVE spricht von "objektivem Imaginieren" und meint damit das Phänomen, dass der Bildschirm zum Ort wird, an dem Information verarbeitet wird, und zwar nicht nur die Information eines einzelnen, sondern gleichzeitig die von allen übrigen Bildschirmbenutzern. Ein Effekt, der im Umgang mit 'Virtual Reality' noch stärker und unmittelbarer zutage tritt, so als ob unsere Imagination selbst in die virtuelle Umgebung ausgelagert, objektiviert und nun auch von anderen Menschen erfahrbar geworden wäre. Der Körper umhüllt nicht länger das Bewusstsein wie bei der Voraussetzung von Schriftkultur, sondern wird in eine Art veräußertes Bewusstsein, eine zum Environment gewordene Fernsehwelt, eingeschlossen. Diese Externalisierung innerer Vorgänge wird auf lange Sicht sicherlich Auswirkungen auf unser Verständnis von Identität, Privatsphäre und öffentlicher Sphäre haben. Die zunehmende Digitalisierung der Wissensdiffusion verändert auch das Wissen selbst. DE KERCKHOVE verweist zum einen auf den Einsatz ausgefeilterer Visualisierungstechniken gegenüber bisherigen Printmedien. Mit der Schaffung unterschiedlicher Schnittstellen ('interfaces') werden die Repräsentationsformen des Wissens zum anderen multisensorisch (siehe auch die Ausführungen von KLINKENBERG S.135ff.).

"Dabei sind Zeichen, Bilder und Simulationen nicht länger Illustrationen, und Symbole beschränken sich nicht mehr darauf, auf etwas anderes zu verweisen. Computer-Icons sind dyna-misch aktive Werkzeuge, die den Benutzer zu den Quellen des Wissens hinführen. Vergleicht man sie mit dem Medium Schrift, haben sie eher die Funktion von Satzbau und Grammatik als die von Wörtern und Illustrationen. Man könnte auch sagen, Computer-Icons sind die Syntax unseres ausgelagerten Denkens. Das Gleiche gilt für die Computersimulation, die im Gegensatz zu anderen Formen der Repräsentation dynamisch-aktiv ist und sich in Echtzeit verändern lässt“ (ibid., S.59).

Insbesondere Simulationen oder auch 'Virtual Reality' beschränken sich nicht einfach nur auf die Repräsentation eines Inhaltes, sondern gestalten diesen durch konkrete Eingriffe des Benutzers neu.

„Wissen interaktiv zu machen, bedeutet bereits, den Wissenstransfer von der inhaltlichen auf die prozessuale Seite zu verlagern. Wenn Wissen darüber hinaus dann auch noch in Echtzeit für alle verfügbar ist, dann verlagert sich der Schwerpunkt nahezu völlig auf die Erfahrungsseite. Dabei besteht dann allerdings die Gefahr, dass wir die kritische Distanz zum Wissen verlieren“ (ibid., S.59f.).

In Bezug auf die Interaktivität verweist DE KERCKHOVE darauf, dass je personalisierter der Zugang zu dem jeweiligen Medium ist, desto mehr Raum steht zur Verfügung, um Wissen zu verbreiten: das Medium kann dann besser

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auf die Bedürfnisse kleinerer Gruppen eingehen. Im Gegensatz zum Fernsehen bietet erst der PC eine durchgehende Interaktivität. Mit dessen Verbreitung steigt auch die Nachfrage nach altersspezifischen, interaktiven Lern- und Bildungsinhalten. Das Internet ist zur Zeit das Medium, das am meisten auf Wissen aufbaut und gleichzeitig auch den höchsten personalisierten Zugang erlaubt. Jeder individuelle Nutzer kann seine ein- und ausgehenden Informationen in beliebig viele Richtungen personalisieren und an eine riesige Anzahl von Knotenpunkten verteilen. Das 'online' verfügbare Wissen ist in Form von Hypertext zudem schnell auffindbar und in der Regel leicht verständlich. Die zunehmende Digitalisierung zerlegt sowohl die Wissensgegenstände als auch die Verarbeitungsstrategien buchstäblich in 'Bits', die als bedeutungslose Zeichen (siehe S.140) wieder in neue Sinnzusammenhänge integriert werden können. Im 'World Wide Web' etwa werden diese Minimaleinheiten als Hypertext innerhalb eines bestimmten Suchumfeldes dauerhaft abgelagert, mehr oder weniger systematisch miteinander verknüpft und von allen Menschen geteilt bzw. weiter genutzt. Diese Repräsentationsform ist, was das Wiederauffinden von Inhalten anbetrifft, ähnlich strukturiert wie menschliches Denken, nur dass das ausgelagerte Gedächtnis momentan noch sehr viel langsamer funktioniert als das biologische. Aus rein quantitativer Sichtweise aber erscheint sie viel effizienter als der vergleichsweise unsystematische Informationsverarbeitungsprozess im menschlichen Gehirn. Verdeutlichen lässt sich dies am Schreiben mittels einer Textverarbeitung auf einem PC. Obschon sich die einzelnen Worte dabei auf dem Bildschirm weitaus langsamer bewegen als in unserem Kopf, kann der Computer sie besser speichern als der Kopf und sie außerdem analysieren, in Tabellen oder Statistiken einsortieren... sowie einfärben und animieren.

„Wir sind Zeuge des Wiederherstellens einer Sprache, in der Gesprochenes, Geschriebenes, individuelle und kollektive Imagination sowie private und öffentliche Denkstrukturen zusammenwachsen. Wir konnten dadurch eine ganz neue Beziehung zur Sprache gewinnen“ (ibid., S.60).

"Mindtools" (JONASSEN ET AL., 1999) sind leicht zu beschaffende und zu erlernende Computeranwendungen, die dem Lernenden helfen, sein Wissen zu organisieren, darzustellen und weiterzuentwickeln. Sie zielen auf die Förderung der kritischen bzw. komplexen Denkfähigkeiten der Schüler und entsprechen dem konstruktivistischen Lernparadigma des aktiven Lerners. Das zugrunde liegende Modell komplexen Denkens integriert drei Komponenten, die in permanenter Interaktion stehen: – � bereichsspezifisches Denken bezieht sich auf die inhaltsgebundenen

Denkstrategien zum Erlernen und Erinnern der grundlegenden Informationen;

– � kritisches Denken umfasst die dynamische Reorganisation des Wissens

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hinsichtlich Bedeutsamkeit und Nutzbarkeit sowie das Evaluieren, Analysieren und Verknüpfen der Informationen;

– � kreatives Denken bezieht sich auf die Aktivität, die neues Wissen von bestehendem Wissen des Lernenden aus generiert. Dies kann auf vielfache Art und Weise erfolgen: durch Synthetisieren der Information mit Konzepten, durch Imaginieren neuer Verbindungen bzw. Ideen oder durch Elaborieren durch Hinzufügen persönlicher Bedeutsamkeiten.

Für JONASSEN ET AL. ist komplexes Denken handlungsorientiert und bezieht sich auf drei Hauptaktivitäten, nämlich Probleme lösen, Produkte oder Ideen gestalten und Entscheidungen zwischen Alternativen treffen. "Mindtools" lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Darstellungs- oder Forschungswerkzeuge. Darstellungswerkzeuge sind Anwendungen, mittels derer die Benutzer eine Darstellung ihres domänspezifischen Wissens erstellen, auf deren Basis sie aber weder weiter forschen noch interagieren. Beispiele sind Softwareprogramme wie Powerpoint, Inspiration64 und Webseiten-Editierprogramme. Forschungswerkzeuge erlauben den Benutzern sowohl eine Repräsentation ihres Wissens zu erstellen als auch Nachforschungen aufgrund dieser Explizierung zu unternehmen. Beispiele sind Datenbanken, Kalkulationsblätter, computergestützte Algebrasysteme (CAS) und grafische Kalkulatoren. Der Einsatz entsprechender Werkzeuge erfolgt bevorzugt in kollaborativen Lernformen. – � Einerseits erfordern "Mindtools" bestimmte Fertigkeiten, über die

verschiedene Teilnehmer einer Gemeinschaft eventuell bereits verfügen, so dass das Lernen hier im Sinne von VYGOTSKYs "Lernen in der ZPD“ erfolgen kann. Verfügt dagegen niemand über entsprechende Vorerfahrungen, so haben wir es mit Prozessen im Bereich des kollaborativen Problemlösens zu tun, die in Anlehnung an das oben angesprochene komplexe Denken das Ausgestalten von alternativen Vorgehensweisen, das Einbeziehen multipler Sichtweisen bzw. das Treffen von Entscheidungen erfordern.

– � Andererseits erfordern Aktivitäten wie etwa Problemlösen, Entscheidungen treffen oder Artefakte gestalten ein hohes Maß an Nachforschungs-, Sammel-, Koordinationsarbeit..., die sich leicht unter den Gruppenmitgliedern aufteilen lässt65.

Digitale 'Tools' fördern demnach das Ausbilden höherer Denkfunktionen in Zusammenhang mit den mediierenden kulturellen Artefakten sowie das Lernen

64 ein 'Concept'- bzw. 'Mind–Mapping'-Programm. 65 Weiter Informationen gibt es u.a. unter http://piglet.uccs.edu/~haefner/workshop99/coding/coding.html , der

Webseite von J. HAEFNER an der University of Colorado

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in der Zone der nächsten Entwicklung, wobei hier sogar digitale Mediationsmittel im Sinne unterstützender Agenten intervenieren. Beim Organisieren ständig größer werdenden Informationsmengen kommt den computergestützten Visualisierungstechniken heute eine zunehmend wichtigere Bedeutung zu. Die Fortschritte in den Informations- und Kommunikationstechnologien erweitern dabei die bestehenden Visualisierungsmethoden durch zwei- und dreidimensionale Darstellungs- und Animationstechniken. Sie generieren unaufhaltsam schnellere, effizientere, interaktivere Methoden für das Sammeln, Aufbewahren, Auswerten, Verbreiten von Informationen und das Organisieren von komplexen und umfassenden Datenbeständen. Werkzeuge wie "Perspektivische Wand", "Hyberbolic Tree" "Tabellenlupe" (vgl. Übers. in RAO, 2000) arbeiten nach dem Prinzip "Fokus–plus–Kontext", d.h., sie erlauben dem Benutzer zwischen eng definierten Detailfokussierungen – viel Informationen über wenig Gegenstände – und umfassenderen Übersichtsdarstellungen – wenig Informationen über viele Gegenstände – hin und her zu wechseln. Dabei bleiben der inhaltliche Zusammenhang und die kontextuelle Einbettung des momentanen Fokus stets gewahrt. Verlagert der Benutzer seinen Informationsfokus, so bewegt sich das ganze System und rückt den angewählten Knotenpunkt ins Zentrum der Schnittstelle. Neben dem "Fokus–plus–Kontext"–Prinzip orientieren sich entsprechende Werkzeuge am Umstand, dass unser Gedächtnis sich stark an visuellen und räumlichen Merkmalen orientiert. So finden wir z.B. leichter eine bestimmte Eintragung in der bildlich–räumlichen Anordnung einer Webseite an einem spezifischen Ort nach einer bestimmten Zeit wieder, als dass wir uns die betreffende Bezeichnung merken und uns zum gegebenen Zeitpunkt an sie erinnern können. Das Abtasten grafischer Bilder erfordert zum einen viel weniger intellektuelle Anstrengung als zum Beispiel das Lesen von Tausenden von Buchstaben oder Zahlen. Zum anderen lassen sich in grafische Darstellungen sehr viel mehr Informationen hineinpacken als in Texte. Zeichen, die sich nach Farbe, Helligkeit, Textur, Form, Größe und Inhalt unterscheiden und räumlich miteinander verbunden sind, gestatten es, eine große Zahl von Zusammenhängen zwischen einzelnen Gegenständen auf eine leicht verständliche Art und Weise darzustellen. Numerische Computersimulationen, interaktive 3D-Technologien oder "Augmented–Realitiy–Techniken"66 sind nur einige Bereiche in denen in naher Zukunft innovative Entwicklungen zu erwarten sind (vgl. Übers. in SPERLICH, 2000).

66 Durch eine spezielle Datenbrille werden Bilder der realen Welt mit computergenerierten Bildern und Daten in

Echtzeit überlagert, so dass der Ausführende komplexe Arbeitsprozesse in realen Anwendungskontexten mit hochspezifischer Unterstützung durchführen kann.

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Wissen online: Vernetzte Intelligenz Durch die vernetzten Medien erfahren wir momentan einen tiefgreifenden Wandel unserer Kultur und Psyche. Der Zugang zu Wissensnetzen wird durch neue drahtlose Technologie nicht nur ständig mobiler und von jedem Ort der Welt aus möglich, die Wissenserzeugung und -verarbeitung ist durch die Vernetzung zu einem kollektiven Vorgang geworden. Informationen, die auf meinem Display erscheinen, sind das Ergebnis kollaborierender Menschen, die irgendwo zur gleichen Zeit vor einem Bildschirm sitzen. Die Informationen entstehen ähnlich wie Gedanken, können aber, anders als diese, dauerhaft gespeichert und von allen Menschen geteilt bzw. weiter benutzt werden. Aus der Verknüpfung von subjektiven Erfahrungen und Darstellungen, die Millionen von Internet-Benutzern in das Netz einspeisen, entsteht eine unglaubliche Menge an geteilten Inhalten, die zunehmend besser aufgefunden und akkurat verarbeitet werden können.

„Die Aufgabe des Web im gegenwärtigen Stadium der menschlichen Evolution könnte es sein, Inhalte des individuellen Gedächtnisses und des im Inneren des Individuums eingeschlossenen privaten Denkens zumindest teilweise für alle Menschen zugänglich zu machen“ (DE KERCKHOVE

2000, S.63)

DE KERCKHOVE (2000) erwähnt zwei Schritte in der Evolution durch elektronische Systeme (E-volution) – � das Auswandern von Teilen des Denkens und Geistes in den Computer und

die Beschleunigung von Denkvorgängen durch die Maschine; – � die Multiplizierung des Denkens durch Vernetzung mit dem Denken

anderer. Mit vernetzten Medien kann Wissen leicht einer Vielzahl von Menschen zugänglich gemacht werden, die 'online' zeitgleich die selben interaktiven Erfahrungen machen können. Dabei helfen immer intelligentere interaktive Werkzeuge wie Suchprogramme und Navigationssysteme, das im Netz gespeicherte Wissen aufzufinden. Wenn der Prozess des Wissenstransfers sich durch Erfahrung und Teilhabe dynamisiert, spielt Intelligenz und Vernetzung eine entscheidende Rolle. Vernetzte Intelligenz entsteht als Prozess aus der Koordination physischer und mentaler Aktivitäten einer Gruppe von Menschen, die gemeinsam an einem Projekt arbeiten bzw. die Lösung eines bestimmten Problems finden wollen, wie es bereits Arbeiten innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft dokumentieren. Der Begriff 'vernetzte Intelligenz' entstand nach DE KERCKHOVE erst mit den neuen Medien aufgrund derer sich unsere Psyche und Kultur tiefgreifend verändert. Durch das Internet und insbesondere durch die Verlinkungstechnik des Web zeichnet sich erstmals in der Geschichte der Menschheit so etwas wie eine vorsätzlich hergestellte Vernetzung von indivi-

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dueller Intelligenz ab. Der Autor geht davon aus, dass vernetzte Intelligenz nicht unabhängig von individueller Intelligenz existiert, dass es aber durch zeitglei-ches Zusammenschalten der Intelligenz vieler Menschen möglich ist, ein höheres Kommunikationsniveau zu erreichen. Einige der Prozesse, wie sie bei der Kooperation menschlicher Nervenzellen in einem menschlichen Körper entstehen, können auch zwischen Menschen stattfinden. Der Prozess der Wissensgenerierung wird sich dabei vom Erinnern von Wissen zur vernetzten Intelligenz verlagern, wobei die technischen Hilfsmittel der Wissensgenerierung virtuelle, dynamische, bildschirmgestützte Multimediawerkzeuge sein werden (ibid., S.65).

DAS BILD UND SEINE ZEICHEN Der verstärkte Rückgriff auf Bilder, Grafiken, Fotos, Filme... infolge des 'pictural turn' in unserer Mediengesellschaft, legt nahe, dass man das Lesen von Bildern ebenso rigoros zu ergründen versucht, wie es die linguistische Semiotik betreffs der literarischen, politischen oder anderer Diskurse entwickelt hat. KLINKENBERG weist darauf hin, dass ein Bild ohne Legende sich nicht wie ein Text liest. Was wir in dem Bild erkennen, gehört a priori nicht zu einem erlernten Code (ibid., S.23). Dabei haben Angaben zum Autor, Zeitpunkt, Ort, zur Methode und zum Zweck dieses Bildes lediglich einen pragmatischen und akzessorischen Zweck. Wie müssen uns aber im Grunde fragen, wie es uns gelingt, in einem Bild etwas zu erkennen ohne uns allzu oft dabei zu irren. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass bei den linguistischen Zeichen, Darstellungs- und Sinnebene arbiträr und mittels festgelegter Konvention in Beziehung stehen (siehe S. 138). Es bedarf einiger Jahre unseres Lebens, um den Kode solcher Konventionen kompetent zu beherrschen. Die Zeichen, aus denen Bilder erstellt werden, gehören einem anderen Genre an. KLINKENBERG unterscheidet dabei zwischen plastischen und ikonischen Zeichen. Die plastischen Zeichen stehen in Zusammenhang mit der Farbe, der Textur und der Form eines Bildes. Als Zeichen fungieren sie nur, wenn sie auf ein Signifikat verweisen, so dass man sie den bereits besprochenen Familien der Symbole und Indexe annähern kann. So kann eine Farbe u.a. auf ein Konzept, eine Emotion... verweisen. Die plastische Semantik ist ganz besonders vieldeutig und die Signifikate sind kaum definiert, so dass das Lesen solcher Zeichen auf der Basis sehr offener Interpretationsprozesse erfolgt. Die Unschärfe auf einem Foto kann z.B. Geschwindigkeit als auch die Erregung des Fotografen andeuten. Die zweite Art von Zeichen, die man in visuellen Botschaften antrifft, ist ikonischer Natur, d.h., sie basieren auf einem Ähnlichkeitsbezug zwischen Signifikant und Signifikat und engen stärker ein. Was wir z.B. in einem Bild erkennen, scheint wie von selbst zu erfolgen. Wir deuten eine Kinderzeichnung

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als 'Katze' und keinesfalls als 'Hund', auch wenn die Zeichnung das reale Tier weder detail- noch naturgetreu darstellt. Diese Entsprechung, auch wenn sie wie 'natürlich' abläuft, ist in weiten Teilen unklar und mit spezifischen Problemen verbunden. Die Struktur eines ikonischen Zeichens umfasst ebenfalls die in Abbildung 30 angesprochenen vier Elemente: Stimulus, Signifikant, Typus und Referent. Dabei ersetzt 'Typus' das bekannte 'Signifikat'. Dies rührt daher, dass das Signifikat einer Ikone an andere Wissenselemente apelliert als das Signifikat eines linguistischen Zeichens. Die Identifikation eines Bildes basiert in erster Linie auf enzyklopädischen Informationen: man erkennt eine Katze an bestimmten Körpermerkmalen wie Pfoten, Schwanz, Ohren, Schnurrhaaren... Der 'Typus' hat darüber hinaus eine ganz besondere Funktion, die man besser versteht, wenn man die Struktur des ikonischen Zeichens näher unter die Lupe nimmt. Der Stimulus, d.h., der materielle Support des Zeichens (Flecken, Striche, Kurven...) unterhält mit dem Referenten (der Tierkategorie 'Katzen') eine Umwandlungsrelation: die gezeichnete Katze ist keinesfalls mit dem Tier 'Katze' identisch. Wir erkennen eine Katze auf der Zeichnung, weil der Stimulus konform zu einem Modell (Signifikant) ist, das äquivalent mit einem 'Typus' – einem Ensemble von visuellen Attributen – ist, der selbst wieder mit dem konform ist, was wir über das Tier 'Katze' (Referent) wissen. Für KLINKENBERG erfolgt der Prozess der Sinnzuweisung ('signification') bei ikonischen Zeichen im wesentlichen dadurch, dass der Stimulus (die Zeichnung) und der Referent (das repräsentierte Objekt) Konformitätsbeziehungen mit einem gleichen 'Typus' unterhalten, der den Transformationen, die zwischen Stimulus und Referent erfolgt sind, Rechnung trägt. Ein Problem des ikonischen Zeichens besteht darin, dass es auf Transformationen des visuellen Reellen ('réel visuel') beruht: Wie sind die Gesetze dieser Umänderungen? Wie lang müssen diese Umwandlungen erfolgen bis Konformität zu einem Signifikat besteht? Wann geht man von einem Referenten zum nächsten über? Diese kleine Zusammenfassung versucht Einblick in die Funktionsweise eines 'motivierten' Zeichens zu geben. Im Falle der ikonischen Zeichen schlägt KLINKENBERG (2000) vor, von 'Motivation'67 zu reden, wenn

"entre la pipe peinte par Magritte et les pipes que nous avons vues, il existe un type « pipe » qui autorise certaines transformations et pas d'autres. Ce type appartient à notre culture (celle de la peinture occidentale) et on peut dire que tout comme le signe linguistique, le signe iconique a une part d'arbitraire. n'est donc vrai qu'on peut écrire en dessous, comme l'a fait le peintre, «ceci n'est pas une pipe» mais faux de croire qu'on pourrait écrire «ceci est un chat» sans abuser" (ibid., p.23).

67 Die Idee der 'Motivation' ist dabei allerdings umstritten und von vielen Semiotikern aufgegeben worden: denn,

was heißt schon die vage Formulierung 'einem anderen Objekt ähnlich sein'.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 157

MEDIATIONEN IM BEREICH DES SACHUNTERRICHTS Angesichts der Vielfalt der kulturellen Repräsentationsmodi und der Situiertheit der Lernprozesse muss man die Wirklichkeitskonstruktionen des Kindes in Zusammenhang mit den vielfältigen Aneignungsversuchen stellen und analysieren. So sind die eigenwilligen Vorstellungen zu physikalischen Phänomenen keineswegs nur originale Kreationen der Kinder, die sie in einer isolierten, rein individuellen Auseinandersetzung mit der Realität erstellen. Sie entwickeln diese in einem sozialen und kulturellem Umfeld, in dem wechselnde Interaktionen mit Erwachsenen und anderen Kindern eine wichtige Rolle spielen. Auch die Artefakte, auf die sich ihr Handeln bezieht bzw. die ihre Handlungen mediieren, weisen eine inhärent soziale Dimension auf. Lernen erfolgt dabei als eine 'Begleiterscheinung' von zweckmäßigen Handlungen, die das Kind gemeinsam mit älteren, vor allem aber kompetenteren Mitgliedern der jeweiligen Gemeinschaft unternimmt. Durch den Rückgriff auf bestimmte 'tools' in sinnstiftenden Aktivitäten erlernt das Kind den Umgang mit diesen Medien des Handelns und Denkens, indem es sie auf immer kompetentere Art und Weise unter Anleitung und Hilfestellung erfahrener Mitmenschen benutzt. Das Beschäftigen mit Phänomenen der physikalischen Umwelt erfolgt aber nicht immer im direkten handelnden Umgang mit konkreten Objekten, sondern sehr oft lediglich über die Sprache. VYGOTSKY (1978, 1981) unterstrich die herausragende Bedeutung der Sprache im Rahmen solcher Prozesse, schrieb aber gleichzeitig auch allen anderen kulturellen Repräsentationssystemen wie etwa Bildern, Grafiken, Modellen... eine wichtige Rolle zu. Besonders in den ersten Lebensjahren überwiegen mündliche Übermittlungen vertrauter Menschen in Form vielfältiger Aussagen und Erzählungen über Sachverhalte, die diese Menschen selbst erfahren haben, bzw. zu Texten, Begriffen, Darstellungen, Modellen, Symbolen, die Autoren, heute oder früher, für die Nachwelt aufgezeichnet haben. Berücksichtigen muss man auch den steigenden Impakt statischer, vor allem aber dynamisch und interaktiv gestalteter Bildsequenzen im Rahmen neuer Multimedia- und IT-Technologien (siehe DE KERCKHOVE). Gerade im Bereich der Vermittlung von naturwissenschaftlich–technischen Sachverhalten weist unsere westliche Kultur eine Vielzahl an direkten und indirekten Informationsquellen auf, welche die kindlichen Vorstellungen der Realität strukturieren bzw. modellieren und als Ergebnisse einer soziohistorischen Entwicklung gedacht werden müssen. Neuere Forschungsansätze wie Diskursanalyse oder situierte Forschungsszenarien versuchen hier detaillierte Einblicke in entsprechende Prozesse zu erhalten (vgl. SÄLJÖ, 1999).

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 158

Versucht man die vermittelnden Artefakte unserer Kultur im Bereich des naturwissenschaftlich–technischen Sachwissen aufzulisten, so wollen wir in einer ersten Phase Mediationen in außerschulischen Lebens- und Lernsituationen erfassen, die das Wissen der Kinder entscheidend prägen bevor sie in der Schule mit entsprechenden Sachverhalten in Kontakt kommen. Eine Analyse schulisch relevanter 'Werkzeuge' im Rahmen der Unterrichtsgestaltung des Sachunterrichts werden wir dann in einem nächsten Punkt näher beschreiben. Dabei wollen wir versuchen im Sinne eines situierten Lernansatzes, Gemeinsamkeiten bzw. Brücken zwischen den kontextspezifischen internen und externen Mediationsmitteln aufzudecken. Insgesamt gehen wir aber davon aus, dass zwischen unterschiedlichen Aktivitätssystemen wie Familie – Freizeit – Schule zur Zeit noch sehr große Unterschiede bestehen – man denke nur an die spontanen Konzepte der Kinder und die wissenschaftskonformen Konzepte –, die es aufeinander zu beziehen gilt und die sich in entsprechende Folgerungen für die Gestaltung von Unterricht niederschlagen müssen.

Mediationen im außerschulischen Bereich Die Analyse der mentalen Tätigkeiten von Kindern im kulturellen Kontext erfordert, wie bereits erwähnt, eine veränderte Analyseeinheit wie etwa: "Kind, das Mediationsmittel innerhalb einer organisierten Aktivität verwendet". Um die Entwicklung der geistigen Werkzeuge im elementaren naturwissenschaftlich–technischen Bereich zu begreifen, müssen wir demnach das Handeln der Kinder im Rahmen ihrer alltäglichen Aktivitäten näher betrachten. Mentale Funktionen entwickeln sich in zweck- und zielgerichteten Tätigkeiten, die je nach kulturellem Kontext und spezifischer Situation variieren. Dabei generieren u.a. die Heterogenität und Pluralität materieller und symbolischer 'tools', kulturspezifischer Regeln und der jeweiligen Aufgabenaufteilung eine Vielzahl koexistierender Aktivitätssysteme in unserer Gesellschaft. In Zusammenhang mit den bereits besprochenen Repräsentationsmodi des Wissens (siehe S.145ff.) bringen z.B. unterschiedliche externe Repräsentationen wie etwa Buchtexte oder Hypertexte verschiedenartige Beschreibungen und Einordnungen von Wissen mit unterschiedlichen Schwerpunkten hervor. Gegenüber einem reich illustrierten Sachbuch umfasst z.B. die Darstellung eines Sachverhalts auf einer CD–Rom erweiterte Möglichkeiten durch Tondokumente, raffinierte Trickanimationen oder eindrucksvolle Filmsequenzen. Dies führte im letzten Jahrzehnt in Zusammenhang mit der stark gewichteten "Visualisierung von Wissen" (siehe S.145) zu einem rapiden Anwachsen bildbasierter Darstellungen und Simulationen komplexer wissenschaftlicher Zusammenhänge. Diese werden, didaktisch aufbereitet, inzwischen für sämtliche Altersstufen – vom Kleinkind bis zum domänspezifischen Experten – angeboten. Zudem erfordert und fördert der steigende Rückgriff auf interaktive IT-Medien noch einmal ganz andere Strategien für die Aufbereitung und

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 159

Verteilung von Wissen als dies für die rein darstellenden Medien wie etwa die Printmedien bislang erforderlich war. Unsere anschließende Auflistung hat deshalb keinesfalls den Anspruch, ein umfassendes kulturtypisches Modell zu erstellen – dazu bedarf es einer detaillierten Querschnittstudie –, sondern verfolgt lediglich die Absicht, häufig anzutreffende Kombinationen als eine Art heuristisches Suchraster aufzulisten. Wir konzentrieren uns vor allem auf geistige Tätigkeiten der Kinder in Verbindung mit – � der Mediation durch die materiellen und symbolischen Werkzeuge der

Kultur; – � der Mediation durch Tätigkeiten anderer Teilnehmer der jeweiligen

Gemeinschaft. Beide Dimensionen stehen, wie eben erwähnt, in dialektischer Wechselwirkung. Kinder beobachten in ihrer nahen oder erweiterten Umgebung technische Vorrichtungen, die ihnen eigenartig und interessant erscheinen wie etwa einen Kran, der Eisenteile mit einem Elektromagneten anhebt. Bei den Versuchen solche Vorgänge zu klären, verknüpfen sie oft auf vordergründige Art und Weise wahrgenommene Phänomene und mögliche Ursachen. Oft übertragen sie auch Kausalzusammenhänge aus anderen, ihnen bekannten Fällen auf eine neue Situation (siehe Analogien). Diese Erklärungsversuche sind als Zeugnisse des Interesses bzw. als erste Schritte eigener Deutung und aktiver geistiger Verknüpfung fundamental. Sie belegen, dass Kinder sich solchen Phänomenen nicht 'unbedarft' annähern, sondern mittels eines Frage- und Erklärungsrahmens, den sie immer wieder verändern, verwerfen und weiterentwickeln, wenn die Lebenssituation ihnen die Gelegenheit dazu bietet. Sie betrachten und untersuchen technische Gegenstände in ihrer alltäglichen Umgebung. Dabei kann es sich um Spielsachen, Werkzeug, Alltagsgeräte... handeln. Dabei sind sie sehr oft in der Lage, technische Vorrichtungen in alltäglichen Situationen virtuos zu handhaben, ohne, dass sich dadurch allerdings ein tieferes Verständnis der zugrunde liegenden physikalischen oder technischen Gesetzmäßigkeiten entwickeln muss. Dieses Umgehen mit einer Vorrichtung schafft allerdings ein Fundament praktischen Benutzerwissens, das jeder Ansatz, weiterführendes Verstehen zu entwickeln, aufgreifen muss. Sie versuchen die beobachteten, für sie interessanten Dinge, Erscheinungen und Vorgänge immer wieder hervorzurufen und gezielt zu verändern. Stellvertretend für viele relevante Situationen erwähnen wir hier z.B. das Explorieren der Schwimmfähigkeiten unterschiedlicher Materialien und Objekte in der Badewanne, im Planschbecken, in Vaters Aquarium... Dieses wiederholte Erkunden bzw. Nachdenken über Zusammenhänge sind von hoher Bedeutung. Einerseits erklimmen die Heranwachsenden im Laufe ihrer Entwicklung ständig

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 160

neue Stufen der Einsicht und Erkenntnisfähigkeit, so dass sie die gleichen Sachverhalte immer wieder auf einer höheren, elaborierteren Stufe durchdenken können. Zudem zeigt dieses wiederholte Beschäftigen mit gleichen Themen von anhaltendem Interesse. Sie stellen selbst einfache technische Artefakte für eigene Zwecke her wie z.B. ein Windrad, ein einfaches Fahrzeug... Dabei kann es sich um freie, vom Kind selbst oder in Gemeinschaft mit anderen veranlasste Handlungen handeln, als auch um gezielte Anregungen in didaktisch vorstrukturierten Situationen wie z.B. in einer Ausstellung, im Museum, an Spielnachmittagen, bei den Pfadfindern... Erfolgen solche Tätigkeiten im Spiel, so bildet nach aktivitätstheoretischem Ansatz die Sinn- bzw. Motivationsebene den übergeordneten Gegenstandsbezug. Gegenstand des Handelns ist dabei nicht alleine der materielle Gegenstand bzw. die Spielthematik wie die des Autofahrens bzw. Transportierens beim Fahrzeugbeispiel, sondern eine existentielle Thematik, eine Daseinsthematik. Der übergeordnete Gegenstand des kindlichen Handelns ist demnach die eigene Existenz in der Welt (vgl. OERTER, 1997, S.182). Auch wenn Erfahrungen oft individuell gemacht werden, so unterhalten sich die Kinder mit Erwachsenen und anderen Kindern über ihre Beobachtungen bzw. bekunden zusätzlichen Wissens- und Erklärungsbedarf. Die Möglichkeit, mit anderen, Erlebnisse, Beobachtungen und Erklärungsansätze auszutauschen ist für die Genese höherer mentaler Funktionen zentral, weil die eigenen Ansätze dabei auf der sozialen Ebene Zustimmung oder Ablehnung erfahren. Das Äußern, Diskutieren und Erwägen alternativer Sichtweisen überträgt sich von der intersubjektiven auf die intramentale Ebene, so dass die Kinder beim weiteren Vorgehen selbst kritischer mit ihren Sichtweisen umgehen, alternative Sichtweisen in Betracht ziehen und die eigenen Vorstellungen weiterentwickeln. Oft übernehmen Kinder dabei lediglich Details, Fakten oder neue Begriffe, die sie auf ganz persönliche Art und Weise in ihre eigenen Erklärungssätze einbauen. In Einklang mit ihrem aktuellen Erklärungsrahmen stellen sie bei passenden und unpassenden Gelegenheiten Fragen an andere Menschen und erhalten darauf eher punktuelle oder stärker zusammenhängende Antworten. Dieses Fragen ist ein Zeichen der Entwicklung und eine der wichtigsten Quellen für das Entwickeln von lebenslang wirksamem Interesse (siehe die Äußerungen von GOPNIK & MELTZOFF, S.95). Kinder übernehmen Erklärungen und Darstellungsmodelle, die sie in Sachbüchern gelesen oder in Bildern und Bildfolgen gesehen haben. Sie interessieren sich dabei oft für Einzelheiten der Darstellung, die sie auf ganz eigenwillige Weise verinnerlichen, d.h., ohne die dargestellten Sachzusammenhänge wirklich verstanden zu haben (siehe S.111 VOSNIADOU).

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 161

Derartige Details können oft erst später in die entsprechenden Zusammenhänge gesetzt werden, wenn weitere Lernerfahrungen und Entwicklungen dafür die Grundlagen schaffen bzw. wenn günstige Situationen bewusst Erfahrungen aus unterschiedlichen Kontexten zusammen führen (siehe S.231f. SCHNOTZ), so dass es zu einem tieferen Verstehen kommt. Dies verdeutlicht, dass der Aufbau von Wissen nicht nur auf dem Erwerb neuer Informationen basiert, sondern auch auf der Umstrukturierung und Klärung bereits erworbenen Wissens. Kinder erliegen allerdings noch stärker als Erwachsene der "Illusion von Wirklichkeit", welche Fotografie, Film und Fernsehen uns oft vorgaukeln. So hat u.a. die Fotografie unser Verständnis von Bildern so stark verändert, dass die meisten Menschen Fotos 'Objektivität' zuschreiben. Sie betrachten diese sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich als das verlässlichste Medium, um Ereignisse als getreue Abbildungen der Wirklichkeit auf ewig festzuhalten. Dabei drückt immer ein Mensch den Auslöser am Apparat, nachdem er Blickwinkel, Blickpunkt und Bildausschnitt des Gesehenen nach eigenen Intentionen festgelegt hat. Zudem gestatten die neuen Digitaltechniken, Fotos nachträglich so zu verändern, dass ihre Entsprechung mit der tatsächlichen Situation nicht mehr als gegeben aufgefasst werden darf. Sie verfolgen aufmerksam didaktisch aufbereitete Filmsequenzen im Fernsehen, auf Video oder DVD, die sie teilweise bis in alle Einzelheiten wiedergeben können. Auch hier gilt, dass vor allem Details behalten werden, die Eindruck gemacht haben und die, wenn sie in andere Zusammenhänge gesetzt werden, neue Bedeutung gewinnen können. Das Massenmedium Kino, das im Unterhaltungs- und Freizeitbereich unserer Kultur eine zentrale Rolle einnimmt, hat im vorliegenden Sachverhalt lediglich eine geringe Bedeutung, da Kinder sich zum Anschauen eines Spielfilmes ins Kino in Begleitung Erwachsener begeben müssen.68 Die Faszination der Kinobilder ist dagegen aufgrund der innovativen Digitaltechnik oft überwältigend – wir erinnern nur an Filme wie 'Star Wars' oder 'Jurassic Parc'. Aufgrund der geringen Medienerziehung können die gezeigten Effekte bei den jungen, weitgehend unkritischen Beobachtern ihre volle Wirkung entfalten. Der Plot steht jedenfalls vor allem im Zeichen der Fiktion, nicht aber der Dokumentation. Das Fernsehen dagegen bringt sowohl Information als auch Unterhaltung rundum die Uhr direkt ins Wohnzimmer, wobei der Verbraucher zwischen konkurrierenden Kanälen wählen kann. Die Fernsehsender haben im Rahmen ihres Angebots auch einzelne Bildungsprogramme und Wissenschaftssendungen entwickelt bzw. sich auf bestimmte Spezialangebote spezialisiert. Der Bildungseffekt des Fernsehens ist aber eher gering.

68 Um zu überleben muss das Kino als kommerzielles Unternehmen sein Angebot an Filmen nach den Bedürf-

nissen des Publikums richten. Dabei dominiert der Unterhaltungsfaktor gegenüber dem Informationsfaktor, ein Umstand der auch die Video- bzw. die DVD-Branche charakterisiert.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 162

„Als typisches »Einweg-Kommunikationsmedium« kann es Wissen nur hierarchisch vermitteln, d.h., der Zuschauer erhält ein Programm, auf dessen Inhalt er keinen Einfluss nehmen kann“ (DE

KERCKHOVE 2000, S.61).

Im Gegensatz dazu bietet der PC – insbesondere in seiner Eigenschaft als interaktives, vernetztes Medium – eine weiterreichende Interaktivität, die es gestattet, eigene Zugänge zu bestimmen bzw. selbst Inhalte zu kreieren. Alle diese Informationen aus sehr unterschiedlichen Quellen und mittels vielfältiger kultureller Artefakte und Darstellungsmedien verbinden Kinder zu einem in ihrer Lebensphase schlüssigen und bedeutsamen System von Überzeugungen und Annahmen. In Anbetracht der unterschiedlichen Erfahrungssituationen im außerschulischen Bereich entwickeln Kinder denn auch ganz unterschiedliche psychologische Werkzeuge, die den Erwerb höherer mentaler Funktionen aus formaler fachspezifischer Sicht erschweren oder erleichtern. Bereits VYGOTSKY (1987) hat auf diese Schwierigkeiten hingewiesen, indem er zwischen spontanen und wissenschaftlichen Konzepten unterschied. Diese bedeutsame psychologische 'tools' darf der naturwissenschaftlich–technische Unterricht nicht umgehen. Er muss sie in bewusst organisierten schulischen Aktivitäten aufgreifen und so den Kindern Gelegenheiten bieten, mit und an ihnen zu arbeiten und sie weiterzuentwickeln. Mediationen mittels bereichsspezifischer Zeichen, Ikonen, Symbole und Begriffe Um Informationen zu Sachthemen zu vermitteln, hat unsere Kultur unterschiedliche Darstellungen bzw. Textgenres entwickelt. Als zeitgenössische soziokulturelle Artefakte beeinflussen sie sowohl die domänspezifischen Aneignungsprozesse als auch die soziohistorische Entwicklung der Wissenschaften in unseren westlichen Kulturen (vgl. WELLS, 1994). Im Rahmen schulischer Versuchssituationen erfolgt die Mediation über eine Vielzahl an materiellen Artefakten wie Geräte, Werkzeuge, Vorrichtungen, Materialien... einerseits, sowie an symbolischen Werkzeugen wie Sprachen, Zeichensystemen, Begriffen, Symbolen, Darstellungen, Modellen, Diskursen, Prozeduren, Methoden, Erzählungen... andererseits. Beide Mediationsformen wirken in jedem kulturellen Artefakt zusammen (siehe S.260). Sieht man sich die Symbole, Ikonen und Zeichen genauer an, mit denen Kinder im Rahmen einfacher Versuchssituationen in der Schule in Kontakt kommen, so lassen sich folgende Kategorien unterscheiden: a) Ikonen; b) Symbole; c) Grafiken, Diagramme, Tabellen, 'grahical organizers'; d) Modelle; e) standardisierte Zeichensysteme; f) fachspezifische Termini.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 163

A. Ikonen

Abbildung 32: Bildkärtchen für das Anzeigen der Wetterphänomene

Im Rahmen des naturwissenschaftlich–technischen Unterricht kommen wiederholt Ikonen zum Einsatz. Sie basieren auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Signifikant und Signifikat, die sich aber nicht auf bildliche Analogien beschränken muss. Ikonen kann man in "bedeutungslose" Einzelteile aufteilen, die man wieder auf andere Weise zusammensetzen kann. So besitzt z.B. auch das Versuchsmaterial in den Experimentierkästen den Charakter von Ikonen. Die Gegenstände verweisen auf ähnliche Alltagsgegenstände und sollen die Kinder anregen, entsprechende Aktivitäten mit ähnlichen Materialien auch zuhause zu unternehmen.

Abbildung 33: Hilfekarte aus der luxemburgischen Experimentierkartei (MENFPS, in press).

B. Symbole und Konventionen Symbole verbinden auf arbiträre Weise einen Signifikanten und eine Abstrahierung. So verwenden wir z.B. im naturwissenschaftlich–technischen Bereich folgende Symbole, um auf bestimmte Gefahren aufmerksam zu machen.

Abbildung 34: Symbole für Gefahren

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 164

Auch eine Vielzahl von Schildern greift auf entsprechende Symbole zurück, um selbst wieder Symbole zu bilden, die auf Gefahren, Verbote oder Empfehlungen hinweisen.

ein Dreieck warnt vor Gefahr ein roter Kreis verbietet bestimmte Tätigkeiten

eine blaue Scheibe gebietet Verbindlichkeit

ein Rechteck weist auf etwas hin

Abbildung 35: Schilder als Symbole für Gefahren, Verbote, Empfehlungen oder Hinweise

Neben solchen Symbolen mit weit geteilter Verwendung greift der naturwissenschaftlich–technische Unterricht zusätzlich auf bereichsspezifische Symbole zurück wie etwa für chemische Elemente, Elektrizitätsdiagramme... Atomic number

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Symbol H He Li Be B C N O F

Element Hydrogen Helium Lithium Beryllium Boron Carbon Nitrogen Oxygen Fluorine

Abbildung 36: Chemische Elemente und ihre Symbole

Abbildung 37: Elektrizitätsdiagramm

Ein Elektrizitätsdiagramm stellt die Anordnung der einzelnen Komponenten des Schaltkreises durch bestimmte Symbole sowie die Verbindungsdrähte mittels dünner, gerader Linien recht übersichtlich dar. Als Konvention gilt, dass die

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 165

Linien horizontal bzw. vertikal und die Verbindungspunkte mittels 90° Winkel dargestellt werden müssen. Die 'oberflächliche' Einfachheit solcher technischer Schemata sowie ihre ‘angebliche' Klarheit verleiten dazu, sie recht früh als strukturierende Verstehenshilfen einzusetzen. Man verspricht sich so, eine fachlich korrekte Darstellungsweise als schüleradäquate Repräsentationsform zu nutzen. Dabei ist der Rückgriff auf solche fachspezifischen Darstellungen im Unterricht mit unterschiedlichen Schwierigkeiten verbunden. Um eine derartige symbolische Darstellung zu verstehen und zu nutzen, müssen die Schüler nacheinander – � zuerst den verwendeten grafischen Kode lesen und verstehen können; – � den räumlichen Zusammenhang der einzelnen Elemente überblicken

können; – � die technischen Informationen herauslesen können. Neben den oft überhöhten Anforderungen an die Abstraktionsfähigkeiten des Kindes (siehe auch die Bemerkungen zum Verstehen eines Modells S.170) führt außerdem ein nicht systematisch angeleiteter Konstruktions- und Leseprozess dazu, dass die Symbole ihre Anschaulichkeit nicht entfalten und vom Schüler später nie als Verstehens- oder Kommunikationswerkzeuge eingesetzt werden können. Sachbücher greifen zudem gerne auf Kombinationen unterschiedlicher Darstellungsformen zurück, die durch gezielte Indexe und bildlich–räumliche Assoziation den Aufbau spezifischer Repräsentationen bei den Kindern fördern sollen.

Abbildung 38: Elektrizitätsdiagramm in Kombination mit Foto eines real aufgebauten Stromkreises (HANN, 1992, S.155).

Beobachtungen aus dem Unterricht (vgl. AMIGUES ET AL., 1996) verdeutlichen allerdings den Zusammenhang zwischen der Qualität der grafischen Darstellung in Schülerzeichnungen und den Denkmodi der Schüler. Waren die Schüler erst einmal in der Lage, einen aufgebauten Schaltkreis aus der Vogelperspektive zu zeichnen, schafften sie es auch, die räumliche Anordnung der Elemente und die funktionalen Zusammenhänge besser zu verstehen.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 166

Die Verbesserung der grafischen Darstellung korreliert folglich mit einem qualitativen Sprung auf der mentalen Repräsentationsebene, – � die den Schülern erlaubt, die Struktur des Stromkreises gedanklich zu

reorganisieren und – � die ihnen hilft, Einsichten in grundlegende technische Zusammenhänge wie

z.B. bei Parallel- oder Serienschaltungen zu erwerben.

Anfänglich vom Kind gezeichneter

Stromkreis

schematisierter

Stromkreis

Abbildung 39: Schematische Darstellung und Kinderzeichnung (AMIGUES ET AL., 1996, S.87ff.)

C. Grafiken, Diagramme, Tabellen, Visualisierungs-Instrumente Beim Darstellen komplexer Sachverhalte, von Befunden aus Erhebungen sowie individueller und kollektiver Wissenskonstruktionen fällt dem Veranschaulichen durch statische und animierte bildlich–räumliche Darstellungen eine zunehmend wichtigere Rolle zu (siehe die Ausführungen von DE KERCKHOVE). Auf diese Weise schafft man es, in den drei Bereichen komplexe Zusammenhänge auf transparente Art und Weise zu strukturieren. Illustrationen in Form von Querschnitten zeigen Informationen aus dem Inneren eines Objekts mit ihrer räumlichen Anordnung. Im Gegensatz zu einem beschreibenden Text sind hier alle Teile leicht mit einem Blick zu überschauen.

Abbildung 40: Querschnitt durch eine Glühlampe mit Legende (MENFPS, in press)

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 167

Explosionszeichnungen zeigen den Gesamtzusammenhang und die Details der Komponenten auf einer gemeinsamen Illustration; allerdings sind sie zum besseren Verstehen aus ihrer präzisen räumlichen Anordnung herausgelöst. Ergebnisse einer Umfrage, einer Bestandsaufnahme oder eines kritischen Test werden oft mittels unterschiedlicher Diagramme visualisiert, wobei jedesmal andere Formen benutzt werden, um relevante Quantitäten bzw. Größenverhältnisse darzustellen.

Balkendiagramm Tortendiagramm

Liniendiagramm Histogramm

Abbildung 41: unterschiedliche Diagramme zur Darstellung statistischer Daten

Abbildung 42: geometrische Darstellung in Form einer sigmoiden oder S-förmigen Kurve

1. Qrtl.

2. Qrtl.

3. Qrtl.

4. Qrtl.

0

20

40

60

80

100

1.

Qrtl.

2.

Qrtl.

3.

Qrtl.

4.

Qrtl.

Ost

0

50

100

150

200

1.

Qrtl.

2.

Qrtl.

3.

Qrtl.

4.

Qrtl.

Nord

West

Ost

0

20

40

60

80

100

1.

Qrt

l.

2.

Qrt

l.

3.

Qrt

l.

4.

Qrt

l.Ost

West

Nord

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 168

Die geometrische Darstellung in Form einer sigmoiden oder S-förmigen Kurve lässt uns erst bestimmte funktionale Prinzipien erkennen, die charakteristisch sind für Phänomene in der Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Ökologie, Psychologie... Internationale Konventionen gelten auch für die Verwendung von Tabellen, im Bereich der Naturwissenschaften. So werden die Informationen in Tabellen nach gewissen Kriterien geordnet und zusammengefasst.

schwimmt sinkt Holz Kieselstein Becher

x x

x

Abbildung 43: Tabelle mit Ergebnissen eines kritischen Versuchs

Stellt man z.B. die Ergebnis eines Versuchs mittels einer solchen Tabelle dar, so wird die Folge der getesteten Objekte (unabhängige Variable) in die linke Spalte eingetragen. Die rechten Spalten verdeutlichen, was sich infolge bestimmter Eingriffe verändert (abhängige Variable) bzw. was man beobachtet hat. Tabellen heben im Sinne der angesprochenen Indexe (siehe S.140) die Wichtigkeit oder die spezifische Funktion ausgewählter Elemente hervor. Die Auftrennung in viele einzelne Zellen sowie deren spezifische Anordnung im Tabellenraster erfordern ein zerstückeltes (segmentiertes) Lesen. Im Rahmen der Explizierung und Modellierung von individuellem bzw. kollektivem Wissen fällt dem Visualisieren mittels spezifischer Instrumente – sogenannter ‚graphical organizers’ (vgl. TROWBRIDGE & WANDERSEE, 1997) – eine zunehmend wichtigere Rolle zu. Diese Werkzeuge gestatten bisweilen bessere Einblicke in erstellte Zusammenhänge und erleichtern oder umgehen69 das oftmals schwierige Verbalisieren impliziter Elemente. Die derzeit bekanntesten Visualisierungsmethoden sind 'Mind Mapping', 'Concept Mapping' und 'Cognitive Mapping'. Die daraus resultierenden mentalen und begrifflichen Karten kommen sowohl in Organisationen als auch in pädagogischen Anwendungen zum Einsatz. Dabei können sie sowohl mittels Papier und Bleistift als auch mittels spezifischer Software auf Computern ablaufen (vgl. die Arbeiten von JONASSEN ET AL.; KOCH & MANDL 1999; REIMANN–ROTHMEIER & MANDL 2000). Mind Mapping ist eine assoziativ–kreative Visualisierungstechnik, die sich für das Aufzeichnen und Ordnen von Gedanken und Ideen von Einzelpersonen und kleineren Gruppen eignet (vgl. BUZAN & BUZAN, 1996). Es stellt eine Momentaufnahme des individuellen oder gemeinsamen Wissens einer Gruppe oder einer Organisation dar. Die Menschen erhalten auf diese Weise die 69 Entsprechenden Verfahren basieren auf der Annahme, dass Wissen erfasst, beschrieben, kategorisiert und

strukturiert, bisweilen auch simuliert oder modelliert werden kann.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 169

Möglichkeit, sich einen Überblick über die Inhalte des eigenen Wissens und Vorwissens sowie über deren Zusammenhänge zu verschaffen. Im Rahmen pädagogischer Anwendungen lassen sich Mind Maps hervorragend einsetzen, um die Kreativität von Lernenden oder Gruppen anzuregen und dabei gleichzeitig die Merkfähigkeit neuer Information zu verbessern. REIMANN–ROTHMEIER & MANDL (2000) beschreiben das Vorgehen beim 'Mind Mapping' wie folgt:

"Zunächst wird das zentrale Thema oder Konzept identifiziert und in die Mitte eines Blattes ge-schrieben. Ausgehend von dieser Schlüsselaussage werden weitere Ideen und Gedanken assoziiert und als Äste an die entstehende Mind Map angefügt. Dieses Vorgehen kann mehrmals wiederholt werden. Die Ideen und Gedanken werden immer detaillierter und die Verästelungen immer feiner. Am Ende lassen sich dann durch Einfügen von Querverbindungen die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Inhalten noch weiter verdeutlichen. Es entsteht ein Netzwerk von Inhalten, das sich grafisch beliebig mit Farben, Symbolen etc. anreichern lässt" (ibid., S.280f.).

Konzeptkarten ('concept maps') werden sehr oft zu pädagogischen Zwecken erstellt (vgl. NOVAK, 1998), lassen sich aber auch dazu nutzen, komplexe Sachverhalte und Problemstellungen in transparenter Weise zu strukturieren (siehe Abbildung 52, S.177). Beim 'Concept Mapping' werden inhaltliche Konzepte und ihre Beziehungen grafisch angeordnet. Dabei werden zuerst die Konzepte nach Kategorien, also z.B. nach Gesetzmäßigkeiten, Phänomenen, Anwendungen... geordnet. Anschließend werden die Muster bestimmt, denen die gefundenen Beziehungen folgen, also z.B. Ursache–Wirkung, Auslöser–Konsequenz, Oberbegriff–Unterbegriff, Konzept–Beispiel... Die fertigen Karten visualisieren dann das Bedeutungsgeflecht zwischen Begriffen und Konzepten und stellen damit eine Art semantisches Netzwerk dar. Ähnlich wie für 'Mind Mapping' gibt es auch für 'Concept Mapping' inzwischen eine Reihe computergestützter Werkzeuge, die das Herstellen kognitiver Karten erleichtern (vgl. JONASSEN).

Abbildung 44: Konzeptkarte eines Schülers zu Wasser (NOVAK, 1998)

Abbildung 45: Konzeptkarte zu Bedeutungen (NOVAK, 1998)

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 170

Kognitive Karten stellen die inhaltlichen Konzepte einer Person, einer Gruppe bzw. einer Organisation sowie die Beziehungen zwischen diesen Konzepten grafisch dar. Es handelt sich dabei um ein Gefüge von Knoten (logische Proposition), die mittels bestimmter Bögen (Implikationen) verbunden sind. Bei dieser Technik – � werden bisher unverbundene Wissenskonzepte miteinander bzw. mit

vorhandenem Wissen verknüpft werden; – � wird strukturelles Wissen leichter expliziert; – � werden die individuelle sowie die gemeinsame Wissensbasis (Team,

Organisation...) deutlich gemacht und im Anschluss miteinander verglichen; – � werden Fehler und Wissenslücken aufgedeckt; – � werden sowohl neue Wissenselemente generiert als auch An-

wendungsmöglichkeiten für vorhandenes Wissen ausfindig gemacht. D. Modelle Modelle sind Verstehensinstrumente, die es ermöglichen die Komplexität der realen Welt besser und besser zu verstehen. Der naturwissenschaftliche bzw. technische Unterricht greift auf ausgewählte Modelle zurück, um das Ausbilden wissenschaftlich geteilter Konzepte zu bestimmten Phänomenen zu fördern. Dabei kommen sowohl materielle dreidimensionale Modelle als auch vereinfachte zweidimensionale Darstellungen zum Einsatz. Um z.B. das Verstehen der Kinder im Bereich der Elektrizität zu fördern, werden unterschiedliche Modelle bzw. Analogien eingesetzt.

Analogie mit Schienenkreis

(JOHSUA & DUPIN, 1989, S.110)

Analogie mit Wasserkreislauf

(GLYNN, n.d.)

Analogie mit Doppelwassersäule

(SCHWEDES, 1996, S.279) Abbildung 46: Modellierungen des Stromkreislaufes in Analogie zu einem bekantnen Phänomen

Ein Modell ist laut WEIL–BARAIS (1994) – � stets sachgebunden und durch die Phänomenologie sowie die entsprechende

spezifische Fragestellung bestimmt; – � mit einer gewissen Anzahl von mentalen Operationen verbunden, die der

Schüler systematisch aktivieren muss, wenn er das Modell verwendet; – � durch eine bestimmte Anzahl von Begriffe und deren Vernetzung definiert; – � mittels unterschiedlicher Zeichen- und Symbolsysteme (grafische,

schriftliche...) darstellbar.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 171

Abbildung 47: Luftdruck als komprimierte Luftteilchen (MENFPS, in press)

Im Gegensatz zu einer zweidimensionalen Darstellung (siehe u.a. den Querschnitt einer Glühlampe S.166), bei der nicht sichtbare Komponenten eines Objekts in ihrer spezifischen Anordnung vereinfacht dargestellt werden, soll ein zweidimensionales Modell nicht sichtbare physikalische Vorgänge wie etwa der Übergang von materiellen Wasserteilchen in das Luftgemisch bei der Verdunstung von Wasser mittels bildlich–räumlicher Darstellungen verständlich machen. Entsprechende Modellierungen sollen das Denken der Kinder in diesem Bereich leiten und ihnen helfen, die spezifischen Begriffe aufeinander zu beziehen sowie ihre Vorstellungen weiterzuentwickeln. Wichtig ist, dass die Kinder sich bewusst sind, dass derartige Modelle keine genauen Kopien der physikalischen Realität sind, sondern lediglich fachspezifische Konstrukte, die im Sinne der erläuterten kulturellen Modelle (siehe S.213) situative Bedeutungen generieren können. Sie beinhalten kontextspezifische Begrenzungen und müssen in höheren Studiengängen zugunsten elaborierterer Modelle aufgegeben werden. E. Standardisierte Zeichensysteme

GRÖßE MAßEINHEIT SYMBOL

Länge

Masse

Zeit

Temperatur

Stromstärke

Meter

Kilogramm

Sekunde

Grad Celsius

Ampere

m

kg

s

°C

A

Durch Kombination dieser Basiseinheiten erhält man dann

Fläche

Volumen

Geschwindigkeit

Stromspannung

Quadratmeter

Kubikmeter

Liter

Meter pro Sekunde

Volt

m2

m3

l

m/s

V

Abbildung 48: Standard-Maßeinheiten

Bestimmte Zeichensysteme sind international standardisiert, um die Verwendung zu normieren und die Kommunikation zu erleichtern. Hervorheben muss man in Zusammenhang mit Versuchssituationen im technischen und

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 172

naturwissenschaftlichen Bereich z.B. die Standard-Maßeinheiten. Das Dezimalsystem bildet die Grundlage der internationalen Maßeinheiten, von denen fünf Basiseinheiten im Rahmen der Primarstufe und der unteren Sekundarstufe relevant sind (siehe Abbildung 48). Zu den standardisierten Zeichensystemen zählen wir ebenfalls die Magnituden bestimmter Maßeinheiten, wie wir sie bei Kilometer (km), Kilogramm (kg), Kilowatt (kw), Millimeter (mm)... antreffen.

Vergrößern Multiplikatoren Verkleinern Divisoren

10

100

1 000

1 000 000

1 000 000 000

1 000 000 000 000

Deca-

Hecto-

Kilo-

Mega-

Giga-

Tera-

da

h

k

M

G

T

0.1

0.01

0.001

0.000 001

0.000 000 001

0.000 000 000 001

Deci-

Centi-

Milli-

Micro-

Nano-

Pico-

d

c

m

µ

n

p

Abbildung 49: Magnituden bestimmter standardisierter Einheiten

Auf andere internationale physikalische Einheiten wie N (Newton), Hz (Hertz), P (Pascal), J (Joule)... wollen wir hier nicht näher eingehen. F. Fachspezifische Termini Wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft effizient über bestimmte Sachverhalte, Phänomene, Zusammenhänge... kommunizieren wollen, müssen sie auf eine präzise festgelegte und von allen geteilte Terminologie zurückgreifen können. In der Schule, wo Kinder und Jugendliche in disziplinäre Wissensbereiche eingeführt werden, wird seit jeher ein sehr starkes Gewicht auf das Vermitteln einer fachspezifischen Terminologie gelegt. Dies erfolgt allein durch Instruktion, ohne dass aber gleichzeitig die diskursive Verwendung in wissenschaftsnahen Praktiken gepflegt wird. Dies steht in Verlängerung mit dem bereichsspezifischen schulischen Lehrhabitus, der stark systemstabilisierend, also konservativ–restaurativ, ausgerichtet ist. Das Vermitteln von Fachtermini geht demnach bei den Lehrenden auf persönliche Erfahrungen in der eigenen Ausbildungszeit zurück. In der Öffentlichkeit genießt es, als wesentlicher Bestandteil naturwissenschaftlich–technischer Grundbildung, eine hohe Zustimmung, so dass Lehrende, Eltern und Autoritäten einer Veränderung solcher Praktiken negativ gegenüberstehen (siehe S.186 WHITEBREADs inerte Begriffe aus dem Jahre 1929). Hier liegt der Verdacht nahe, dass das Erlernen spezifischer Fachtermini zum eigentlichen Zweck des Unterrichts geworden ist und dass Wortgewandtheit unkritisch mit Verstehen gleichgesetzt wird, so dass das Augenmerk stärker auf

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 173

der korrekten Reproduktion fachspezifischer Termini statt auf den damit verbundenen Konzepten liegt. Spezifische und teils vage verstandene Termini nähren bei vielen Schülern leider die Auffassung, Naturwissenschaft bezeichne vertraute Phänomene mit schwer verständlichen, komplizierten oder gar mysteriösen Bezeichnungen. Kinder verwenden z.B. den Begriff 'Verdunsten' lange bevor sie erfahren, dass winzige Wasserteilchen in die Luft übergehen oder, dass Luft eine materielle Substanz ist. Beschreibt z.B. ein Schüler das Austrocknen einer Wassermenge durch Wärmeeinwirkung (etwa Sonneneinstrahlung) mit der Aussage "Das Wasser ist verdunstet", so kann er lediglich das Verschwinden70 des Wassers mit einem Fantasienamen bzw. einem unverstandenen Begriffsnamen bezeichnen. Nichtsdestotrotz kann der Zuhörer die Aussage vorschnell als Indiz für das Erklären des Prozesses mittels eines kinetisch–molekularen Theorieansatzes deuten. Technische Fachtermini erweisen sich vor allem dann als hilfreich, wenn in formellen und informellen Gesprächen immer wieder auf gemeinsame semantische Bezüge verwiesen wird. Das Erlernen verbindlicher, bewusst ausgesuchter Termini ist demzufolge ein wesentlicher Bestandteil eines naturwissenschaftlich–technischen Unterrichts. Wie dies allerdings vonstatten gehen soll, ist eine Frage, bei der sich zwei grundlegende Ansätze gegenüberstehen. Dem schulkonformen Ansatz, dass bestimmte Termini erst dann verwendet werden, wenn den Schülern die entsprechende fachspezifische Bedeutung bekannt ist, kann man auch die Vorgehensweise entgegensetzen, ob Kinder nicht auch teils unverstandene und weniger vertraute Fachtermini in Unterrichtsdiskussionen verwenden sollen. Durch den kontinuierlichen Gebrauch dieser Terminologie werden dann die interpersonellen Auslegungen der verwendeten Begriffe progressiv expliziert, miteinander verglichen und auf einen gemeinsamen, verbindlichen Nenner gebracht. Diese Vorgehensweise lehnt sich an den Erwerb der Muttersprache an. Lernen wir diese nicht auch, indem wir immer wieder neue Wörter in unseren aktiven Wortschatz integrieren, deren Bedeutung wir aber oft erst im Laufe der Zeit genauer ausdifferenzieren? Der Erfolg eines solchen Vorgehens ist a priori nicht auszuschließen, erfordert jedoch eine zusätzliche kritische Analyse der spezifischen Bedingungen, denen entsprechende Prozesse in schulischen Kontexten gegenüber Alltagskontexten unterliegen. Die schulischen Curricula üben mit ihrer Stofffülle, ihren normativen Evaluationsformen... einen großen Druck auf den Lehrenden aus, der versucht mit ökonomischen Lehr–Lern-Ansätzen diesen Zwängen zu begegnen. Anders 70 Wir unterscheiden hier zwischen der 'naiven' Vorstellung des puren Verschwindens des Wassers im Gegensatz

zum Überwechseln in einen anderen Aggregatzustand (Flüssigkeit – Gas).

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 174

ausgedrückt: Er versucht eine Vielzahl von Themen in einem feststehenden Zeitvolumen zu bearbeiten. Allzu schnell wird dann vom bloßen Artikulieren einzelner Fachbegriffe auf das Verstehen der grundlegenden Konzepte geschlossen, ohne dass aber die Schüler angeregt werden, ihre jeweiligen Deutungen des benutzten Vokabulars zu explizieren (siehe Erklärungsbegriffe S.200). Ein Umdenken erfordert, über das bloße Nennen des passenden Terms hinauszugehen und das kritische Diskutieren der Ergebnisse eigener Nachforschungen systematisch bei den Schülern zu fördern. Dies bedeutet ebenfalls, ausgesuchte Interesse-Schwerpunkte umfassender und mittels authentischer Vorgehensweisen exemplarisch zu bearbeiten statt eine Fülle von Unterrichtsthemen nur oberflächlich abzuhaken. In Anlehnung an Martin WAGENSCHEIN (1988) postulieren wir ganz klar: Verstehen zuerst, Definieren im Nachhinein.

"Als fundamentales Ziel des Physikunterrichts sehe ich an, Physik verstehen zu lehren. Verstehen als Akt des Verstehenden, der ihm von keinem anderen abgenommen oder vorgemacht, wenn auch begünstigt werden kann. Er muß ihn aus der Sache selber leisten.

Die Erfahrung – nichts anderes – hat mich gelehrt, daß dieser Akt – nicht: so kurz wie möglich, sondern: so lang wie nötig – in der vollkommen ungezwungenen Muttersprache sich vollziehen oder doch anbahnen muß, wenn er eindringlichen und nachhaltigen Erfolg haben soll. Mit anderen Worten: daß die Zone der erst stammelnden, dann genauen Muttersprache nicht, wie ein lästiges Vorzimmer, überrannt werden darf, sondern der eigentliche Verweil-Raum sein sollte, aus dem erst mit letzten Schritten die exakte Fachsprache heraustritt.

Die Muttersprache ist die Sprache des Verstehens, die Fachsprache besiegelt es, als Sprache des Verstandenen.

Die Sprache der Physik ist also nicht einfach die Sprache des Physikunterrichts. Muttersprache ist nicht Abraum, sondern Fundament. Sie führt zur Fachsprache, sie beschränkt sich auf sie hin. Sie entläßt sie mit ihrem Segen, und nicht darf sie (wie so oft) ihr verstummend Platz machen" (ibid., S.137)

Den Einsatz einer Fachsprache im elementaren technischen und naturwissenschaftlichen Bereich gilt es demnach auf ein vernünftiges Maß zu begrenzen, das in Schülerkonversationen zur mutuellen Klärung der jeweiligen Aussagen beiträgt und demzufolge eher von funktionalen als von enzyklopädischen Zwecken gesteuert wird. "Nur so viel Fachtermini wie unbedingt nötig" müsste also die Maxime für den Unterricht lauten, in dem Schüler kontinuierlich angeregt werden, subjektiv bedeutsame Deutungen untersuchter Phänomene mit spontanen Begriffen zu beschreiben sowie die eigenen kritischen Attribute oder relevanten Erklärungen darzulegen. Bereichsspezifisches Vokabular wird dann progressiv ausgehandelt und – � einerseits in Verbindung mit bedeutsamen Versuchssituationen in

Zusammenhang gebracht; – � andererseits auf jene wesentlichen Fachtermini begrenzt, die für das

Erklären der unternommenen Versuche unerlässlich sind.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 175

Die formale Sprache in fachdidaktischen oder gar wissenschaftlichen Texten unterscheidet sich des weiteren erheblich von alltagssprachlichen Formulierungen. Sie greift verstärkt auf präzise definierte Begriffe zurück und zeichnet sich durch einen ausgeprägten Nominalstil aus. BERKENKOTTER (1994) illustriert das Überwechseln von der alltäglichen zur wissenschaftsnahen Formulierung anhand drei unterschiedlicher Äußerungen eines gleichen Sachverhalts:

"The water in the ground here is flowing to the east.

Ground water flows in an easterly direction.

Ground water flow is in an easterly direction" .

In diesen Sätzen stellen wir ein Überwechseln vom Spezifisch–Konkreten hin zum Abstrakt–Allgemeinen fest. Dies lässt sich vor allem in den verwendeten Nominalstrukturen verdeutlichen: "the water (in the ground here)" "ground water" "ground water flow". HALLIDAY (1993) unterstreicht den Einfluss kultureller Darstellungsmedien wie etwa die spezifischen Sprachgenres auf die Konzeption und das Angehen der Realität. In einer (Schrift-)Kultur, in der Unterricht ein wesentlicher Teil der Lebenswelt ist, lernen Kinder ihre Erfahrungen nach zwei komplementären Modi zu konstruieren: dem dynamischen Modus der Alltagsgrammatik und dem synoptischen Modus der elaborierten Schriftgrammatik. Unterschiedliche Genres generieren dabei kontrastierende Auffassungen von Realität: als statisches Objekt einerseits oder als dynamischer Prozess andererseits.

”A written text is itself a static object: it is language to be processed synoptically. Hence it projects a synoptic perspective on to reality: it tells us to view experience like a text, so to speak. In this way writing changed the analogy between language and other domains of experience; it foregrounded the synoptic aspect, reality as object, rather than the dynamic aspect, reality as process, as the spoken language does..." (ibid., p111f.).

Solche unterschiedlichen Genres beschränken sich allerdings nicht nur auf kontextspezifische Sprachformen, sondern haben eine fundamental existentielle Dimension, wie es BAZERMANN (1997) verdeutlicht:

“Genres are not just forms. Genres are forms of life, ways of being. They are frames for social action. They are environments for learning. They are locations within which meaning is constructed. Genres shape the thoughts we form and the communications by which we interact. Genres are the familiar places we go to create intelligible communicative action with each other and the guideposts we use to explore the unfamiliar” (ibid., p. 19).

Sachtexte fassen nicht nur die Charakteristika bestimmter Sachverhalte zusammen, sondern versuchen auch oft die Sequenz spezifischer Abläufe wie etwa des Stromflusses in einem Stromkreis präzise zu beschreiben. Oft werden

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solche verbalen Schilderungen durch grafische Darstellungen ergänzt, die dabei mehr oder weniger mit dem fortlaufenden Text in Verbindung stehen. Sehr oft bedürfen die illustrierenden Grafiken einer zusätzlichen Beschriftungen etwa in Form von Legenden, bei denen sich die Sprache dann aufs Äußerste kondensiert. Sie beschränkt sich in der Regel auf Listen von Begriffen und Fachtermini. Verdeutlichen lässt sich dies z.B. durch den auf Seite 166 abgebildeten Querschnitt einer Glühlampe samt Beschriftung. Die Kombination bildlich–räumlicher und verbaler Darstellungen allein reicht nicht aus, um auftretende Probleme im Verstehen domänspezifischer Sachverhalte auszuschalten. Verantwortlich dafür ist vor allem die bereichsspezifische Auslegung allgemeiner Sprachtermini wie etwa 'Spannung' und fachspezifischer Begriffe wie 'Oberflächenspannung'. Zudem sind die Zusammenhänge mit anderen spezifischen Fachtermini im domänspezifischen Begriffssystem von entscheidender Bedeutung. Verdeutlichen lässt sich dies am Wechsel der Aggregatzustände des Wassers. A. Wechsel der Aggregatzustände des Wassers samt der fachspezifischen Bezeichnungen für bestimmte Übergangsprozesse Ansteigende Temperatur schmelzen verdunsten Eis Wasser Wasserdampf gefrieren kondensieren

Absteigende Temperatur Abbildung 50: Begriffe im Zusammenhang mit dem Wechsel der Aggregatzustände des Wassers

B. Wasser als Lösungsmittel Die Naturwissenschaften differenzieren zwischen drei unterschiedlichen Zuständen der Materie – feste Materie, Flüssigkeiten, Gase – mit ihren jeweiligen Eigenschaften, die sie in einem ganz bestimmten Auslegung definieren. Als Folge der Polarität des Wassermoleküls löst z.B. Wasser bestimmte Stoffe hervorragend – eine Eigenschaft, die dem Wasser beim Entstehen von Leben eine herausragende Bedeutung zufallen lässt. Eine neuseeländische Untersuchung mit Sekundarschülern (DRIVER, 1985) zum Lösen von Zucker in Wasser ergab, dass über 25% der Schüler den Prozess mit 'Schmelzen' umschrieben und in machen Fällen 'Schmelzen' auch synonym mit 'Lösen' benutzten, wie es die Aussage dieses 13jährigen belegt:

„Der Zucker löst sich auf... das Wasser schmilzt in irgendeiner Weise die Zuckerkristalle“(ibid., S.153).

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Andere gingen davon aus, dass sich der Zucker, nachdem er nicht mehr sichtbar war, mit dem Wasser zu einer neuen Substanz verbunden hatte. Für andere Schüler blieb nur der Geschmack erhalten, nicht aber der Zucker. Manche hatten auch ganz eigenwillige Erklärungen wie:

„Er löst sich nicht wirklich auf... er zerbricht nur in so feine Partikel, dass man ihn nicht mehr sehen kann“ (ibid., S.154).

DRIVER folgert daraus, dass die Schüler Zucker vor allem aber mit seiner kristallinen Struktur verbinden. Ändert er die Form, so ist es kein Zucker mehr. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings auch dadurch, dass die bereichsspezifischen Termini nicht nur mit anderen Begriffen in einem beschreibenden oder erklärenden Zusammenhang stehen, sondern dass sie ebenfalls noch mittels bestimmter Klassifikationen bzw. Taxonomien kategorisiert werden. Entsprechende sachliche Ordnungsleistungen gibt es für nahezu alle Bereiche der Naturwissenschaften. Ein Musterbeispiel hierfür ist die systematische Ordnung und Benennung der Pflanzen und Tiere durch den schwedischen Naturforscher LINNE (1707-1778). Reich: (regnum): Tiere (Regnum animale) Stamm: (Phylum): Weichtiere (Mollusca) Klasse: (Classis): Schnecken (Gastropoda) Unterklasse: (Subclassis): Lungenschnecken (Pulmonata) Ordnung: (Ordo): Landlungenschnecken (Stommatophora) Familie: (Familia): Schnirkelschnecken (Helicidae) Gattung: (Genus): Weinbergschnecke (Helix pomatia) Art: (Specis)

Abbildung 51: Die Weinbergschnecke (HEILIGMANN, JANUS & LÄNGE, 1979, S.164)

Abbildung 52: Hierarchische Organisation der Mineralien (BOWER, 1970).

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 178

Auch andere Materialien wie Mineralien oder Metalle unserer Umwelt ordnen wir in bestimmte Kategorien ein, die mit benachbarten Kategorien in Beziehung stehen. Man bezeichnet diese auch als Begriffshierarchien. Sie lassen sich mittels bildlich–räumlicher Darstellungsformen übersichtlich darstellen. Im Rahmen der detaillierten Diskussion des Begriffserwerbs werden wir noch ausführlicher auf diese eingehen (siehe S.197).

Etymologische Abstammung bestimmter wissenschaftlicher Termini Viele technische oder wissenschaftliche Begriffe weisen eine lateinische oder griechische Wurzel auf, die als Prä- oder Suffix fungiert. Texte mit vielen entsprechenden Begriffsnamen erscheinen Lesern mitunter kompliziert und nur schwer verständlich, wenn die Bedeutung entsprechender Wortteile dem Leser nicht bekannt ist.

Präfix / Suffix Präfix / Suffix Wurzel Bedeutung Beispiel Wurzel Bedeutung Beispiel

a- Nicht atypisch Intra- Innerhalb Intranet Aer- Mit Sauerstoff Aerobic Makro- Ausgedehnt Makro Amphi- Beides Amphitheater Mega- Weit Megaphon Anti- Entgegengesetzt Antipoden Meta- Nachher, über Metamorphose Auto- Selbst Automobil Micro- Klein Mikrokosmos Bi- Zwei Bipol Omni- Alle omnipräsent Contra- Entgegen

Gesetzt Contraproduktiv Peri- Herum Periskop

Dia- Durch Diameter Poly- Viel- polyvalent Extra- Außenstehend Extra Proto- erster Prototyp hetero Verschieden heterogen Sub- Unter Subgruppe Homo- Dasselbe homogen Trans- Zwischen Transport Hydr- Wasser Hydrometer Tri- drei Trizeps Inter- Zwischen international Uni- Ein uniform

Abbildung 53: die etymologische Abstammung bestimmter Prä- und Suffixe

REPRÄSENTATIONSMODI UND SPONTANE KONZEPTE DER KINDER ZUM STROM Die Spezifität der Konstruktion empirischer (alltagssprachlicher, natürlicher, spontaner...) Konzepte lässt sich eindrucksvoll an Beispielen zur Ausformung des Begriffs ‚Strom‘ verdeutlichen. Die angeführten Belege verdeutlichen dabei, inwieweit die angesprochenen kulturellen Mediationsmittel die Entwicklung der geistigen Werkzeuge des Kindes beeinflussen.

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 179

Alltagserfahrungen zur Elektrizität und zum elektrischen Strom haben Kinder im Zeitalter der Unterhaltungselektronik eine ganze Menge. Ihre Erfahrungen beschränken sich allerdings vorwiegend auf die Handhabung elektrischer Apparate wie Lampen, Audio- und Videogeräte, Haushaltsgeräte... Die Gefährlichkeit des elektrischen Stroms, wie es aus Vorsichtsregeln und Warnungen ihrer Eltern, aber auch aus entsprechenden Gefahrensymbolen an den Geräten hervorgeht, ist ihnen schon bewusst. Eigene Konstruktionserfahrungen mit den Bestandteilen einfacher elektrischer Gleichstromkreise haben die Kinder heute kaum noch, wenn man einmal vom Ersetzen von Batterien in Fernbedienungen, Spielzeugen... bzw. dem gelegentlichen Auseinandernehmen von Taschenlampen absieht. Zudem muss man bedenken, dass viele Erfahrungen gerade in diesem Bereich wahrscheinlich auch noch geschlechtsspezifisch ausgeformt sind und stärker für Jungen als für Mädchen zutreffen. Die Assoziationen der Kinder mit dem Begriff 'Strom' spiegeln deshalb auch die gebräuchlichen Verwendungszwecke wider, wie es u.a. ASSELBORN (1997) in einer Befragung von 14 Kindern eines 4. Schuljahres in Luxemburg belegte: Kinder Assoziationen (Mehrfachaussagen erlaubt) 9 Keine Ahnung, keine spezifischen Vorstellungen 7 Gefahren des elektrischen Stroms, elektrischer Schlag oder ähnlich

schmerzhafte Folgen; 5 Strom wird mit Elektrizität gleichgesetzt 5 Licht, Lampen; 3 Orte, von wo Elektrizität herkommt: die Steckdose, der

Stromverteilerkasten, die Erde; 2 Kabel; 2 Strom kann man verwenden; 2 Energie; 1 Volt; 1 Blitz 1 Hitze 1 Strom fließt 1 Strom wird durch Eisen angezogen Abbildung 54: Kindervorstellungen zum elektrischen Strom (ASSELBORN, 1997, S.94f.)

Überblickt man die Befunde aus Untersuchungen, in denen die kindlichen Vorstellungen zur Beschaffenheit von Strom bislang erforscht wurden (vgl. Übers. in DRIVER ET AL., 1994), so trifft man auf folgende Erklärungsansätze: Die Kinder halten den Strom für etwas, das man nicht sieht, etwas Substanzloses wie Luft. Sie begründen ihre Vorstellung so:

„Strom ist schnell; der braust so schnell zum Lämpchen“ (KIRCHNER & WERNER, 1994).

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 180

Einer solchen Antwort liegt die Vorstellung zugrunde, der Strom müsse beim Anschalten eines elektrischen Gerätes erst von der Steckdose zum Gerät wandern. Dies geschehe jedoch so schnell, dass beispielsweise eine Lampe sofort nach dem Anschalten leuchtet. Andere Kinder meinen, Strom sei vergleichbar mit einem „Blitz“, denn

„auf den Stromkästen ist ein Blitz drauf“ (ibid.).

In anderen Erklärungsansätze führen die Kinder die elektrischen Erscheinungen auf eine bestimmte stoffliche Substanz zurück. ZIETZ (1955) belegte die häufige, auch heute noch anzutreffende Vorstellung des elektrischen Stroms als ein "Strom von Funken", die stofflich–mechanische Wirkungen hervorbringen. Solche Funken entstehen fortlaufend im Kraftwerk, und sie laufen als Strom "im" oder "am" Draht entlang. Eine zweite Substanzauffassung ist eine Flüssigkeits-Theorie, die bereits ZIETZ (1955) belegte:

"Die Elektrizität ist eine Art Flüssigkeit, die im Draht entlang fließt." (ibid.)

Auch KIRCHNER & WERNER (1994) belegen diesen Flüssigkeitsansatz: "Strom ist eine Flüssigkeit, die von der Batterie zur Lampe und von dort zurückfließt."

Andere Kinder schränken eine solche Aussage ein: "Man sieht die Flüssigkeit nicht.”

Andere halten die Flüssigkeit in der Batterie für Strom: "Wenn eine Batterie ausläuft, sieht man eine weiße Flüssigkeit (vgl. WERNER, 1993).

Für andere Kinder wiederum kann Strom keine Flüssigkeit sein, weil man beim Auf- oder Abschneiden eines Drahtes keine Flüssigkeit findet. Elektrizität wurde auch vielfach einfach als ein Strom von Hitze bzw. Wärme oder als "zusammengepresste Hitze" (ZIETZ, 1955) bezeichnet. Die Wärmewirkung des Stroms stellt höchstwahrscheinlich die empirische Basis dieser Auffassung dar, zumal Wärme ein 'Stoff' ist, der in andere Körper eindringen bzw. diese durchdringen kann. So gilt auch der elektrische Strom als ein Strom von Wärme oder Hitze, der in den Leitungen fließt und die Kochplatte erwärmt oder in der Glühlampe sichtbar wird. Warum der Draht sich dabei nicht erhitzt, beantworteten die Kinder ganz einsichtig:

„Er ist ja isoliert“.

In Glühlampen führt die fehlende Isolation des Leuchtdrahts dann zum Glühen des Drahtes und zur Produktion von Licht und Wärme. ZIETZ berichtet von heftigen Debatten der Kinder untereinander zur Frage, ob der Strom selbst heiß oder an sich kalt ist. Sehr viele halten den Strom selbst für heiß. Sie führten es auf die Isolierung des Drahtes zurück, dass man überhaupt ein elektrisches Kabel ‚anfassen‘ kann. Die Gegner der 'Hitzetheorie' machten

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 181

geltend, dass man mit dem Strom ja auch kühlen könne wie es schlussendlich ein Kühlschrank beweist. Eine weitere Substanzauffassung ist eine verschwommene Vorstellung von Elektronen. Es sind

„kleine Körperchen, die auf dem Draht entlanglaufen“ (ZIETZ, 1955).

Dabei sind diese Elektronen aber als kleine Körper gedacht, wie aus folgender Erklärung zum Antrieb einer Klingel hervorgeht:

Die Elektronen fließen durch die Spule, fließen zu einem Blättchen (= Feder), das mit einer Schraube (= Stellschraube) verbunden ist, und stoßen den Klöppel an, dadurch wird er bewegt.

Solche stofflichen, quasi-materiellen Vorstellungen werden erheblich durch die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs ‚Strom‘ gefördert, die sich erheblich von der physikalischen abhebt. Im physikalischen Bereich verfügt der Begriff 'Strom' über zwei getrennte Bedeutungen: – � Das Wort ‚Strom‘ bezeichnet zum einen die Energieströmung vom

Erzeuger zum Verbraucher. – � Zum anderen versteht man unter elektrischen Strömen auch die Bewegung

von elektrischer Ladung (Elektrizitätsmengen) in einem geschlossenen Kreis.

Im alltäglichen Sprachgebrauch dagegen wird kaum zwischen diesen beiden Verwendungen unterschieden. Der Begriff 'Strom' wird allerdings überwiegend im Sinne von elektrischer Energie verwendet und in Analogie zu einer stofflichen Substanz in vielen Kontexten verwendet. Man spricht sowohl von 'Stromerzeugern' als auch von 'Stromanschluss', 'Stromverbrauchern', 'Stromkosten' sowie von der 'Stromrechnung' in Verbindung mit dem Fluss dieser Ware zum Konsumenten. Dieser unscharfe, lebensweltliche Sprachgebrauch prägt die spontanen Konzepte der Schüler. Sie gebrauchen Begriffe wie 'Elektrizität', 'Strom', 'Energie', 'Spannung'... undifferenziert und synonym in Zusammenhang mit dem Bewegen, Lagern und Verbrauchen von Strom. In der Batterie ist 'Strom', eine Glühlampe braucht 'Strom', die Steckdose gibt Strom ab und das Bügeleisen 'nimmt Strom' auf. Diese lebensweltlichen Sprachstrukturen generieren im Sinne kultureller Modelle (siehe S.213) situative Deutungen von Phänomenen und fördern ein Quelle–Verbraucher-Modell des elektrischen Stroms wie es z.B. in Untersuchungen belegt wurde. Primar- und Sekundarschüler (85% von 400 befragten deutschen Sekundarschülern) betrachteten die Batterie als ein Reservoir von Elektrizität oder Energie. Dabei überwog oft die Annahme eines monopolaren Gebers von Elektrizität. Eine Batterie versorgt nach Auffassung der Kinder einen Stromkreis

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 182

mit konstantem Strom statt dass sie ein konstantes Differentialpotential bzw. eine konstante Spannung unterhält (vgl. MAICHLE, 1981). Beim Vergleich einer Flachbatterie mit einer Monozelle tauchte zudem das Problem auf, ob man ein oder zwei Kabel benötige. Während bei der Flachbatterie die zwei Bleche gleich auf zwei Pole schließen lassen, bietet die Rundbatterie keine solche direkten äußeren Hinweise: Sie weist nur einen einzigen Knopf auf. Im folgenden Auszug aus einem Unterrichtsgespräch diskutierte der Lehrer (L) mit den Schülern (S) die Frage, ob eine Monozelle nur einen Pol besitzt. L: Reicht ein Kabel aus? S: Man muß zwei Kabel haben, sonst kann das ja nicht ablaufen. L: Warum muß ich zwei Kabel haben? S: Das eine liefert Strom hin, das andere kriegt ihn zurück. Der Knopf bringt ihn hin, das untere zurück. S: Durch beide kommt es hin und an der Lampe kommt es zusammen und

dann glüht es. S: Es muß ein Stromkreis sein: Erst geht es hin, dann wird es verbraucht,

und dann geht es wieder zurück. S: Eigentlich dürfen dann die Batterien nicht leer werden, wenn der Strom

wieder zurückgeht. S: Das, was zurückfließt, ist schwach und schlecht, verbraucht! S: Die Batterie saugt, damit es weitergeht. S: Ein Kabel kommt ohne Strom zurück. S: Das andere Kabel ist zum Saugen da. S: Der Strom, der nicht mehr zu benutzen ist, geht nach Minus zurück. Der Strom kommt von Plus. Abbildung 55: Interview aus QUAST (1984, S.212)

OSBORNE (1983) untersuchte Initialvorstellungen acht- bis zwölfjähriger Kinder, bevor diese mit formalem Unterricht zu Elektrizität in Kontakt kamen. Sie mussten in einer Versuchssituation eine Glühlampe an eine Rundbatterie mit Hilfe von zwei Drähten anschließen. Die Befunde belegen das handlungsleitende Quelle–Verbraucher-Modell beim Lösen der Aufgabe (siehe auch die unterschiedlichen Erklärungsansätze zum Stromkreis S.223)

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 183

Von 40 Kinder versuchten 22 die Glühlampe auf diese Weise zum Leuchten zu bringen. 11 Kinder versuchten es auf diese Weise. 6 schafften es auf diese Weise.

Abbildung 56: aus OSBORNE & FREYBERG (1994, S.22)

Den Lösungsvarianten der Schüler werden durch die Annahme mediiert, dass es sich beim Strom um eine stoffliche Substanz handelt, die von der Quelle zum Verbraucher strömt. Strom ist ein Stoff, der in der Batterie (Quelle) produziert bzw. gelagert wird. Vom Minus- und Pluspol aus fließt er (auf unterschiedliche Weise) über beide bzw. einen der Drähte zum Lämpchen (Verbraucher), wo er verbraucht wird. Die Tatsache, dass man dafür zwei ‚getrennte‘ (voneinander isolierte) Leitungen braucht, lässt die Idee aufkommen, dass die Drähte verschiedene Funktionen haben könnten. Dabei wird in der Regel entweder die Batterie als aktiver Agent betrachtet, die dem Lämpchen den Strom gibt den es braucht – MAICHLE (1979) spricht vom „Geben-Schema“– oder das Lämpchen fungiert selbst als aktiver Agent und nimmt sich von der Batterie den Strom, den es braucht – was man als „Nehmen-Schema" (ibid.) bezeichnet. Auch den Begriff "verbraucht", als wohl eines der am häufigsten im Alltag verwendeten Wörter in Zusammenhang mit Strom, deuten die Schüler sehr unterschiedlich; immer aber in Anlehnung an eine stoffliche Substanz. Viele meinen damit die Vernichtung des Stroms im Lämpchen; durch diesen Vorgang entsteht dann Licht, Wärme oder Magnetkraft. Andere stellen sich bei dem Ausdruck „Stromverbrauch“ vor, dass der Strom im Lämpchen „verwendet“ oder „gebraucht" worden ist, aber trotzdem weiter existiert (vgl. KIRCHNER & WERNER, 1994; OSBORNE & FREYBERG, 1994, S. 21).

Mediationen durch kulturelle Modi der Wissensrepräsentation 184

Zusammenfassung Soziokulturelle Ansätze unterstreichen immer wieder, dass symbolische Werkzeuge intellektuelle Aktivitäten auf ähnliche Weise gestalten wie Handwerksgeräte die Ausformung manueller Tätigkeiten. Die angeführten Beispiele zum elektrischen Strom illustrieren ganz treffend, wie der Einsatz bestimmter kultureller Artefakte die Prozesse in den Aktivitätssystemen beeinflusst, im Rahmen derer, Kinder mit andern interagieren, Bedeutungen konstruieren sowie Werkzeuge der geistigen Tätigkeit ausformen. Diese psychologischen 'tools' mediieren dabei ihrerseits wieder wie sie sich handelnd mit neuen Sachverhalten auseinandersetzen. Strukturieren z.B. Menschen ihre Tätigkeiten beim Lösen einer naturwissenschaftlich–technischen Problemstellung ganz verschieden, so könnte dies eine Folge des Rückgriffs auf unterschiedliche mentale Werkzeuge sein. Demzufolge wollen wir uns in den beiden nächsten Kapiteln näher mit der Ausformung von Begriffen und Konzepten sowie räumlich–bildllichen Repräsentationen im naturwissenschaftlich–technischen Bereich näher beschäftigen.

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 185

K A P I T E L 4

BEGRIFFE ALS WERKZEUGE DER GEISTIGEN TÄTIGKEIT Jeder Mensch versucht die Komplexität der materiellen und sozialen Umwelt bzw. die verwirrende Vielfalt der Erscheinungsformen auf einige stabile und vertraute Familien, Typen, Kategorien... zu reduzieren. Es gelingt ihm so, Objekte und Ereignisse in verlässliche Klassen zu gruppieren, die ihm erlauben, die Welt anzugehen, sie zu repräsentieren und gedanklich auf sie einzuwirken. Anders gesagt: Das Ausbilden von Begriffen71 gestattet uns eine kognitive Orientierung in der Welt. Begriffe bilden demnach die Grundlage eines effizienten Handelns. Dass unser Denken sehr eng mit unserem Tätigsein in der Welt in Zusammenhang steht hat u.a. SCHÖN (1987) mit seinem 'reflective practitioner'-Ansatz aufgezeigt. Experten konstruieren ihre Konzepte durch ein kontinuierliches Reflektieren ihrer beruflichen Praktiken, sowohl während ihrer Aktivität als auch im Nachhinein. Diese sind eng mit den praktischen Tätigkeiten verbunden, so dass sie fortwährend in der laufenden Praxis verändert sowie den sich verändernden Situationen angepasst werden. Die auf diese Weise erstellten Konzepte kontrastieren mit der impliziten Auffassung von Begriffen bzw. Konzepten als im Gedächtnis abgespeicherte stabile und dekontextualisierte Strukturen unseres Wissens über die Welt. Gemäß diesem, in der Kognitionsforschung meistens benutzen Ansatz, bestehen Konzepte aus gebündelten Informationen bzw. Erinnerungen ähnlich wahrgenommener Entitäten72, deren Kategorie sich durch ein sprachliches Label bezeichnen lässt. Sie machen unser Wissen über Objekte und Ereignisse aus, sind bei entsprechender Aktivierung abrufbar und zudem intra- wie interindividuell weitgehend invariant. Wenn Konzepte keine abstrakten und unabhängigen Entitäten sind, sondern fortlaufend durch Tätigkeiten entwickelt werden, so kann man begriffliches Wissen in Analogie zu materiellen Werkzeugen konzeptualisieren. Zum einen führt nur ihre Verwendung zu einem vollständigen Verstehen. Zum anderen verändert ihre Verwendung die Perspektive des Anwenders, indem er die

71 Man spricht von Begriffsbildung, wenn Entitäten zu einer (subjektiv neuen) Kategorie zusammengefasst

werden. Besonders bei Kindern spielt sie in Form des Aufbaus neuer alltäglicher Begriffe eine wichtige Rolle. Unter Begriffsidentifikation versteht man das Erkennen einer Entität als Bestandteil einer (bereits vorhandenen) Kategorie.

72 Als Entität bezeichnet man den Gegenstand der Wahrnehmung wie z.B. konkrete Objekte, Ereignisse, Personen...

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 186

Annahmen der Kultur, die sie hervorgebracht und in der sie verwendet werden, übernimmt. Ein entsprechender Ansatz steht in Verlängerung zu WHITEHEADs (1929) Unterscheidung zwischen dem Erwerb 'inerter' Begriffe und der Entwicklung nutzbaren Wissens. Genauso wie man sich ein spezifisches Werkzeug beschaffen kann, ohne es allerdings effektiv und sinnvoll verwenden zu können, manipulieren auch Schüler viel zu oft dekontextualisierte Begriffe, Formeln, Algorithmen, Routinen..., ohne sie adäquat zu nutzen, so dass sie 'träge' oder 'inert' bleiben. Bedauerlicherweise lassen die aktuellen schulischen Lehr- und Evaluationspraktiken dieses Problem nicht offensichtlich werden, wie es etwa authentische Bewältigungsaufgaben aufdecken würden. Andererseits passen sich die Lernenden diesen Praktiken an und begnügen sich, angesichts der an sie gestellten schulischen Anforderungen, mit einem instrumentell–technischen Bearbeiten der Aufgaben, ohne aber das Ausbleiben eines tieferen Verständnisses sich selbst oder den Lehrenden einzugestehen. Mit diesem Verhalten bestehen sie zwar schulische Examina, als distinktive Komponente unserer Schulkultur, sind aber zumeist unfähig, die domänspezifischen konzeptuellen Werkzeuge in authentischen Alltags- oder Forschungspraktiken anzuwenden.

"People who use tools actively rather than just acquire them, by contrast, build an increasingly rich implicit understanding of the world in which they use the tools and of the tools themselves. The understanding, both of the world and of the tool, continually changes as a result of their interaction. Learning and acting are interestingly indistinct, learning being a continuous, life-long process resulting from acting in situations" (BROWN, COLLINS & DUGUID 1989).

Das Erlernen von Begriffen im Sinne von mentalen Werkzeugen umfasst weitaus mehr als mittels eines formalen Regelwerks festgelegt werden kann. Die Gelegenheiten und Nutzungskonditionen entstehen im Aktivitätssystem einer Gemeinschaft, in der die Werkzeuge zum Einsatz kommen. Die Gemeinschaft, die bekanntlich in ENGESTRÖMS Aktivitätsmodell eine wichtige Komponente darstellt, sowie die Weltansicht ihrer Teilnehmer bestimmen den Einsatz eines Werkzeugs genauso entscheidend wie das Werkzeug selbst. Als semiotische 'tools' verkörpern Konzepte in akkumulierter Form die Klugheit und den Erfahrungsschatz der Kultur, in der sie zum Tragen kommen. Ihre Bedeutung wird in einem fortlaufenden, dynamischen Prozess innerhalb der Gemeinschaft ausgehandelt (siehe S.175 HALLIDAY). Ihre angemessene Verwendung ist eine Funktion der Kultur und der Aktivitäten, in denen sie entwickelt wurden. Genauso unterschiedlich wie verschiedene Handwerkskorps ein Werkzeug wie z.B. einen Hammer verwenden, so nutzen auch Mathematiker und Ingenieure Begriffe, mathematische Formeln... auf ganz eigene, originale Weise. Es ist demzufolge nicht möglich, ein Werkzeug adäquat zu nutzen ohne gleichzeitig auch die Gemeinschaft bzw. die Kultur, in der es verwendet wird, zu verstehen.

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 187

"Aktivität, Kultur und Konzept sind interdependent Keine Dimension kann vollends ohne die beiden anderen verstanden werden. Lernen muss alle drei Dimensionen mit einbeziehen" (BROWN ET AL., 1989).

LIEGT DIE BEDEUTUNG IN DEN DINGEN? Auch VYGOTSKY73, der sich zu verschiedenen Zeitpunkten seines Schaffens mit der Bedeutung von Begriffen oder Konzepten sowie der Frage der Konzept- bzw. Begriffsbildung auseinandersetzte, ging davon aus, dass es auf der höchsten Ebene der Begriffsbildung Konzepte gibt, die sich abstrakt, vor allem aber eindeutig und stabil definieren lassen. Diese Annahme legt nahe, dass Konzepte sich aus den Merkmalen der Dinge ergeben und nicht aus dem intentionalen Handeln des Konzeptentwicklers bzw. -anwenders – ein Ansatz der sprachphilosophisch und -psychologisch anzuzweifeln ist (vgl. u.a. JOSEPHS, 1996). VYGOTSKY ging von einem Dreistadienmodell der Konzeptentwicklung aus. Im ersten Stadium, dem Stadium des synkretischen Denkens, gruppiert das Kind Objekte anhand irrelevanter peripherer Merkmale wie zum Beispiel räumlich–zeitliche Nähe... In zweiten Stadium, dem Stadium der Komplexe, das sich laut VYGOTSKY aus 5 Substadien zusammensetzt, fasst das Kind Objekte aufgrund konkreter, objektiv gegebener Merkmale zusammen, die es zudem während des Ordnungsprozesses verändert. Im Gegensatz zu Erwachsenen bildet es also seine Begriffe, indem es lediglich konkrete, nicht aber abstrakte Merkmale in Erwägung zieht. Es unterteilt seine Objekte zwar in Untergruppen, die gemeinsame Merkmale aufweisen können. Kein einziges Merkmal aber wird von sämtlichen Vertretern eines bestimmten 'Komplexes' geteilt. Am Ende dieses Stadiums verfügt das Kind über Pseudokonzepte, die sich phänotypisch auf dieselben Objekte beziehen wie echte Konzepte. Die Objektselektion erfolgt allerdings lediglich auf der Basis konkret und anschaulich gegebener Objektmerkmale. JOSEPHS (1996) illustriert das mit folgendem Beispiel:

"Sowohl Kinder in diesem Stadium als auch Erwachsene, die über ausgeformte Konzepte verfügen, wählen richtigerweise alle verfügbaren Dreiecke aus, wenn ein gelbes Dreieck vorgegeben wurde. Kinder jedoch treffen ihre Wahl aufgrund perzeptiver, konkreter Merkmale, Erwachsene hingegen aufgrund abstrakter Charakteristika, die ihnen auch erlauben, eine klare Definition eines Dreiecks zu geben. Kinder und Erwachsene kommunizieren damit über dieselben Objekte – als ob sie dasselbe ‘meinten‘ – in sehr unterschiedlicher Weise" (ibid., S.507).

73 In einer ersten Phase, die wir im folgenden näher erörtern wollen, versuchten VYGOTSKY und SAKHAROV über

die damals bestehenden Arbeiten zur Frage der Konzeptbildung von ACH hinauszugehen (vgl. VYGOTSKY, 1986, 1931/1994). In der zweiten setzte sich VYGOTSKY kritisch mit PIAGETs Begriffen der spontanen und wissenschaftlichen Konzepte auseinander (siehe S.178) und arbeitete die Bedeutung der wissenschaftlichen Konzepte im Gegensatz zu PIAGET stärker heraus (VYGOTSKY, 1986, 1935/1994; VAN DER VEER & VALSINER, 1991).

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Übertragen auf naturwissenschaftliche Phänomene bedeutet dies: Ein Kind und ein Erwachsener, die beide das Wort 'Wasser' gebrauchen, verstehen einander. Das Kind jedoch denkt an den konkreten Komplex 'Wasser', während der Erwachsene ein abstraktes Konzept damit verknüpft. Erst im dritten Stadium, das VYGOTSKY im Jugendalter ansiedelt, werden Konzepte, die anhand abstrakter Merkmale explizit und eindeutig definiert werden können, ausgebildet. Wie aus dem Zitat von JOSEPHS hervorgeht, leben Erwachsene und Kinder demzufolge in unterschiedlichen semantischen Universen, ohne sich dessen allerdings bewusst zu sein. Die von ihnen verwendeten Worte stimmen nur in dem Sinne überein, als dass sie sich auf dieselben Objekte beziehen. JOSEPHS (1996) verweist darauf, dass dieses illusionäre Verstehen nicht nur ein spezifisches Problem der Eltern–Kind-Interaktion ist, sondern vielmehr ein Merkmal jedweder Kommunikation darstellt, sowohl im Alltag als auch in wissenschaftlichen Domänen. Fragen muss man in der Tat, ob die objektiv gegebenen Referenten im Sinne VYGOTSKYS überhaupt existieren, insbesondere wenn man an physikalische Begriffe wie 'Spannung', 'Anziehung' oder 'Kraft' denkt. Das von VYGOTSKY vorausgesetzte Vorhandensein einer eindeutigen und stabilen Definition eines Konzeptes – auch wenn der Konzeptbenutzer zu abstraktem Denken fähig ist – hält JOSEPHS jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle für eine Fiktion (siehe auch S.143) Die Auffassung unveränderlicher, starrer kognitiver Begriffsstrukturen ist auch angesichts der multiplen Funktionen der Begriffe im Erkenntnis- und Handlungsprozess (siehe S.193) nicht haltbar. Denn, ständig wechselnde Umweltanforderungen und veränderte Handlungsziele erfordern die Fähigkeit, verfügbares Wissen immer wieder neu zu strukturieren, zu kombinieren und situations-, aufgaben- und zielorientiert einzusetzen (vgl. MAX, 1999). Um solchen Funktionen zu genügen müssen Begriffe ein bestimmtes Maß an Flexibilität zulassen. Denn worin besteht denn genau das Konzept eines Stoffes, den wir 'Flüssigkeit' nennen? Sicherlich nicht in einem, im Wörterbuch festgehaltenen, statischen Set von semantischen Merkmalen, die additiv nach gewissen Regeln kombiniert werden (siehe S.195). Die Abhängigkeit der Bezeichnung eines Objekts vom Kontext hat bereits OLSON (1970) am Beispiel von Holzklötzchen gezeigt. So verändert sich die Bezeichnung für ein Klötzchen je nachdem, ob es neben einem runden, einem weißen... Klötzchen liegt. Der Kontext generiert die jeweiligen Merkmale des Konzeptes "Klötzchen" auf eine Weise, dass der Gesprächspartner zwischen benachbarten Klötzchen unterscheiden und das gemeinte Klötzchen auffinden kann. JOSEPHS (1996) wertet dies als ersten Hinweis darauf, dass die Bedeutung sicherlich nicht (nur) in den Dingen liegt.

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Denken und Sinngebung sind situiert und durch situationsspezifische Zielsetzungen bzw. soziale Kontexte ausgeformt. Folglich rücken Kontextsensitivität im Sinne von Zugänglichkeit und Abrufbarkeit von Begriffen bzw. Flexibilität im Sinne von schnellem Transformieren von Strukturen, beweglichem Operieren in Begriffsnetzen und -systemen, flexiblem Wechseln von Perspektiven auch immer stärker in den Mittelpunkt der Kognitionsforschung. So postuliert u.a. BARSALOU (1987, 1991, 1992) in seinen Arbeiten, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene eine individuell angepasste Version des Konzepts aktiv konstruieren. Sie verbinden dabei unterschiedliche, bewusst ausgesuchte Komponenten miteinander, um kontextspezifischen Denk- und Kommunikationsbedürfnissen zu genügen, bzw. um eigene Handlungsziele zu erreichen. Diese Konstruktion im Kontext kann bei manchen Begriffen leicht nachvollzogen werden, insbesondere wenn man die zu vernetzenden Begriffe explizit anführt und die verbindende Idee deutlich hervorhebt. In vielen Fällen aber verweisen selbst sehr allgemeine und geläufige Wörter wie Wasser, Luft... auf konkrete partikulare Muster, die im spezifischen Kontext bewusst erstellt werden, um bestimmten situativen Bedürfnissen und Zielen zu genügen. Aktivitätstheoretische bzw. soziokulturelle Ansätze analysieren solche Muster nicht nur als mentale, sondern auch als materielle Konfigurationen aus Objekten, Symbolen, Werkzeugen, Menschen und Tätigkeiten, die zu einem kohärenten, funktionstüchtigen Muster verknüpft werden. Laut GEE (1997) charakterisiert sich unser Bewusstsein ('mind') vor allem durch das Erkennen, Verwenden und Verändern von Mustern. Der Erwerb eines Konzepts erfordert, dass der Lernende einerseits über eine Vielfalt an Erfahrungen verfügt und andererseits bestimmte Muster und Teilmuster in seinen Erfahrungen aufdeckt. Da in sämtlichen Bereichen unserer Umwelt eine unendliche Anzahl potenziell bedeutsamer Muster von einem Lernenden ausgemacht werden können, muss ihn irgend etwas bei der Auswahl der präziser anzuvisierenden Muster leiten. Diese Funktion übernehmen die kulturellen Modelle (siehe S.213) der soziokulturellen Gemeinschaften, an denen der Lernende teilnimmt sowie die Praktiken und Kontexte, in denen sie verankert sind. Diese bestimmen die Muster, nach denen der Lernenden denkt, handelt, spricht, wertet und interagiert. Dies bedeutet nicht, dass die persönliche Tätigkeit des einzelnen Akteurs in Frage gestellt wird. Individuen gehören stets vielfältigen soziokulturellen Gemeinschaften an, so dass sich die jeweiligen kulturellen Modelle und Muster gegenseitig auf ganz einzigartige Weise sowie infolge der jeweiligen 'Mixtur' des Handelnden beeinflussen können. Auf biologisch bzw. neuronaler Ebene unterscheiden sich die einzelnen Individuen sowieso voneinander74. 74 GEEs Ansatz verweist auf die von VYGOTSKY postulierte Verzahnung einer kulturellen und natürliche

Entwicklungslinie zu einem einzigen soziobiologischen Entwicklungsstrang (siehe S.30).

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Eine entsprechende aktive und kontextspezifische Begriffsbildung vertritt auch KRESS (1997) in seinen Arbeiten zur sozialen Semiotik. Der Autor zeigt auf, wie Kinder in einem bestimmten Kontext auf partikular verfügbare und angebrachte kulturelle Besonderheiten zurückgreifen, um bestimmte Dinge ihrer Umwelt darzustellen wie z.B. 4 Kreise für 4 Reifen – 4 Reifen für ein Auto (ibid., S.11).

„Signs are motivated conjunctions of meaning and form, in which the meanings of the sign-maker lead him or her to the apt, plausible, motivated expression of meaning in the most apt form. This process rests on the interest of the maker of the sign, which leads her or him to focus on particular aspects of the object to be represented as being, at this moment, criterial” (KRESS, 1996, p.5).

Die Grenzen zwischen Begriffsbildung und Wissenserwerb sind fließend. Bei beiden handelt es sich um aktive kognitive Strukturierungsprozesse, die keine ‚Abbildungen‘ der Umwelt, sondern mentale Konstruktionen beim Subjekt hervorbringen. Begriffe kann man als die Bausteine des Wissens betrachten. Nach VYGOTSKY (1987) organisieren und konstruieren die Kinder in der frühen Kindheit die Welt ihrer Erfahrungen mittels ‚spontaner Konzepte’, die sich aus den dynamischen, narrativen Modi der gesprochenen Sprache ergeben im Rahmen sozial eingebetteter Alltagsaktivitäten. Der Aufbau ‚wissenschaftlicher Konzepte’ dagegen erfolgt hauptsächlich mittels schulisch angeleiteter Aktivitäten, die reflexives und metarepräsentationales Denken75 betonen, und durch die progressive Aneignung und Beherrschung der ‚genres of written discourse’ (vgl. HALLIDAY, 1988; HALLIDAY & MARTIN, 1993; BRUNER, 1986) erfolgen. Diese haben sich über Jahrhunderte lang entwickelt und mediieren die soziale Konstruktion des wissenschaftlichen Wissens. Besonders die Konstruktivisten weisen darauf hin, dass Begriffe und begriffliche Beziehungen mentale Strukturen sind, die nicht von einem zum anderen übertragen werden können. Begriffe muss jeder Lerner selbst und für sich aufbauen, wobei dem Lehrer die Aufgabe zufällt, die Konstruktionsprozesse des Schülers anzuregen und zu orientieren. VON GLASERSFELD (1996) beschreibt dies wie folgt:

"Aus konstruktivistischer Perspektive sind Begriffe nicht in den Dingen enthalten, sondern müssen durch reflexive Abstraktion von jedem Individuum aufgebaut werden. ... Die praktischen Lehrmittel sind daher in der Tat nützlich, sie müssen aber als Mittel genutzt werden, um Gelegenheiten zum Reflektieren und Abstrahieren zu schaffen, nicht als aus sich selbst verständliche Manifestationen der gewünschten Begriffe" (ibid., S.296).

Die im Zitat angesprochenen materiellen Mediationsmittel sowie das Angebot an kognitiven Modellen, spezifischen Denkformen, Sprachen, Wertsystemen in einer bestimmten Kulturgemeinschaft prägen die Art des Weltzugangs und der -bewältigung bei den längerfristig partizipierenden Mitgliedern.

75 Anderen Ansätze sprechen von rationalen Konzepten, die aus der Reflexion des Denkens auf sich selbst

resultieren (WEIL–BARAIS,1996, S.436).

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SPRACHE UND VERSTEHEN Für viele Menschen ist Wissenserwerb gleichbedeutend mit sprachlichem Lernen, bei dem relativ abstrakte, allgemeine Bedeutungen memorisiert werden, um dann angesichts bestimmter Anwendungen wieder aus dem Gedächtnis hervorgekramt zu werden. Lehnt man den Begriffserwerb an das Sprachlernen an, so darf man nicht außer acht lassen, – � dass Wörter Etiketten für Dinge und Sachverhalte sind, d.h., dass sie sind

bedeutungshaltig sind. – � dass sich z.B. die anfänglich unvollständige und fragile Bedeutung eines

Wortes erst durch steten Gebrauch und soziale Negation entwickelt und ausdehnt. Demzufolge ist jede Verwendung eines Wortes situiert.

Nach MILLER & GILDEA (1987) erfolgt dieser Lernprozess in zwei Etappen. Ein neues Wort ordnen die Lernenden erst einmal einer semantischen Kategorie zu. So wird z.B. der Begriff 'türkis' rasch mit der allgemeinen Kategorie 'Farben' in Zusammenhang gebracht. Beim wiederholten Auftauchen des Wortes werden innerhalb der semantischen Kategorie dann Unterscheidungen zwischen dem Farbton 'türkis' und anderen Farbtönen erkundet. Dies ist ein allmählich fortschreitender Prozess, der nach Meinung der Autoren eventuell nie wirklich zu Ende ist (ibid., S.95). An den Tätigkeiten der zweiten Phase lässt sich auch das aktive Konstruieren sämtlichen konzeptuellen Wissens begreifen. Die unscharfen Konzepte, die sich anfangs aus der Aktivität des Kindes entwickeln, bekommen durch wiederholtes Anwenden in unterschiedlichen Situationen langsam aber sicher Textur. Am Beispiel des Wortes 'Schuh' illustriert GEE (1997, S.239), wie Kinder das Konzept, das mit der sprachlichen Bezeichnung assoziiert ist, aufbauen. Kinder assoziieren ein solches Wort schnell mit einer Vielzahl von sehr vertrauten und auch weniger vertrauten Kontexten, in denen ein oder mehrere saliente Merkmale auf die Verwendung dieses Wortes verweisen. GEE erwähnt dabei u.a. das Erkunden von Mutters Schuhschrank, das Befühlen von Füßen von Spielzeugpuppen, das Betrachten von Bilderbüchern... Das Kind muss selbstverständlich realisieren, dass es die verschiedenen, mit einem bestimmten Begriff assoziierten Merkmale nicht als Liste betrachten darf, die in Anlehnung an die serielle Sequenz ihres bisherigen Antreffens anzuwenden sind. Diese Merkmale korrelieren vielmehr auf bestimmte Weisen miteinander und entscheiden so über den Einsatz des angemessenen Wortes. Je nach Korrelation bestimmter Merkmale kommt es zu unterschiedlichen Ausformungen des Begriffs wie etwa Sportschuh, Frauenschuh..., von denen einige einen großen Teil der Familie 'Schuhe' abdecken, bis hin zu Randbereichen, die ganz spezifische, wenig typische Attribute des Begriffs aufweisen wie etwa Sandale, Slipper... Hat das Kind dieses Bewusstsein erst einmal entwickelt, so entdeckt es

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von selbst immer wieder neue Muster und Teilmuster in den Kontexten, in denen auf das Wort 'Schuh' zurückgegriffen wird. Am Beispiel der Erklärung eines bestimmten Begriffs verdeutlicht JOSEPHS (1996) in Anlehnung an WITTGENSTEIN, wie Bedeutung in der Interaktion geschaffen wird.

"Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache" (WITTGENSTEIN, 1968, § 43).

Werden z.B. vom Lehrenden Beispiele angeführt, um einen bestimmten Begriff wie etwa 'Strom' zu erklären, so springt die spezifische Bedeutung nicht automatisch aus diesen Beispielen heraus. Der Erklärende muß sich vergewissern, dass die Hörer die herangezogenen Beispiele in einem ganz bestimmten Sinne auffassen, wie es WITTGENSTEIN in seinen philosophischen Überlegungen erwähnt:

"Man gibt Beispiele und will, daß sie in einem gewissen Sinne verstanden werden. – Aber mit diesem Ausdruck meine ich nicht: er solle nun in diesen Beispielen das Gemeinsame sehen, welches ich – aus irgend einem Grunde – nicht aussprechen konnte. Sondern: er solle diese Beispiele nun in bestimmter Weise verwenden" (WITTGENSTEIN, 1968, § 71).

Der Hörer seinerseits muss die Impulsfigur dieser Intention mit-wollen und den an ihn herangetragenen Akt also mit- oder nachvollziehen. Verstehen heißt demnach, dass der Hörer dort Sinn realisiert, wo der Sprecher meint. Dies zeigt sich z.B. immer wieder bei Rückfragen anlässlich von Vorträgen.

"Nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, der schon etwas mit ihr anzufangen weiß" (WITTGENSTEIN, 1968, § 31).

Auf diese Weise entwickelt sich ein Spiel, bei dem der Hörer sozusagen im voraus ahnen muss, was der Sprecher wollen, d.h., meinen könnte, wenn er dessen Erklärung verstehen will. Bezogen auf die Kommunikationssituation folgert JOSEPHS (1996), dass

"die Akte des Meinens und Verstehens von immenser Wichtigkeit sind bei der Festlegung dessen, was wir unter Bedeutung verstehen wollen: Unser sprachliches und denkerisches Handeln besteht also nicht aus einer schlichten Anwendung und Kombination lexikalischer, denotativer Bedeutung" (ibid., S.509).

Trotzdem müssen wir im Anschluss die Frage klären, wie wir es schaffen, einander in der Kommunikation zu verstehen. JOSEPHS (1996) verweist darauf, dass wir meisten gar nicht überprüfen, ob wir in demselben Sinne reden. Wir setzen schlicht ein Verstehen voraus im Sinne einer Art Vorverständigung über die Beschaffenheit einer geteilten sozialen Welt. Sowohl Sprecher als auch Zuhörer beziehen sich dabei auf ihre vorausgesetzte Vorerfahrung. ROMMETVEIT (1979) spricht angesichts dieses Sachverhalts von Intersubjektivität:

"Intersubjectivity has thus in some sense to be taken for granted in order to be achieved. It is based on mutual faith in a shared social world" (ibid., p. 96).

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Bliebe noch zu klären, wann ein Hörer schließt, dass er verstanden hat, was der Sprecher meint? HÖRMANN (1978) hat hierfür den Begriff 'Sinnkonstanz' eingeführt.

"Was durch die Sinnkonstanz konstantgehalten wird, ist also nicht das durch den Sender der Äußerung bestätigte Verstandenhaben dieser Äußerung, sondern das mit dem Gefühl des Verstehens einhergehende Sinnvollsein einer Äußerung, das nicht mehr identisch zu sein braucht mit dem vom Sprecher Gemeinten" (ibid., S.208).

Für JOSEPH (1996) heißt dies: Wenn wir vom Gefühl getragen werden etwas zu verstehen, brechen wir unsere Analyse ab und gehen davon aus, dass das Verstandene mit dem Gemeinten übereinstimmt. In Zusammenhang mit dem angesprochenen illusionären Verstehen (siehe S.188) und VYGOTSKYS Konzeptentwicklung folgert die Autorin:

"daß im Alltag der als-ob Charakter des ‘von denselben Dingen Redens‘ zwischen dem Kind auf Pseudokonzept- und dem Erwachsenen auf Konzeptebene die Norm darstellt, und zwar durchaus unter Erwachsenen! Wir stellen fast niemals sicher, ob wir tatsächlich zumindest Ähnliches meinen, wenn wir auf bestimmte konkrete Sachverhalte (das Sprechen von Hunden) oder, was noch schwieriger ist, auf abstrakte Begriffe (Freiheit oder Liebe) verweisen" (ibid., S.510).

Allerdings ist begriffliches Lernen nicht nur sprachliches Lernen. In Anlehnung am BRUNER gilt es neben aussagenartigen (sprachlich-inhaltlichen) auch analoge (bildhafte) und handlungsmäßige Repräsentationen beim Begriffserwerb zu erörtern sowie ihr spezifisches Zusammenspiel. Wir wollen uns in der Folge zuerst detaillierter mit der Ausbildung von Begriffen/Konzepten auf der mentalen Ebene befassen, um dann anschließend im nächsten Kapitel auch ihr Zusammenspiel mit bildlich–räumlichen Darstellungsformen zu explizieren.

BEGRIFFE AUS DER SICHT DER KOGNITIONSPSYCHOLOGIE Die Kognitionspsychologie fasst Begriffe76 als Strukturen des Wissens eines Menschen über die Welt auf. Dabei versteht man unter 'Wissen' die gesamte Menge der gespeicherten Informationen eines Menschen, die für Erkenntnisprozesse verfügbar sind. Zudem weist die Begriffsbildung auch eine inhärent pragmatische Perspektive auf:

"Begriffe sind nicht 'wahr' oder 'falsch', sondern für einen bestimmten Zweck mehr oder weniger nützlich" (ECKES, 1996, S.274).

ECKES (1996) unterstreicht drei wichtige Grundfunktionen der Begriffe: – � Kategorisierung, d.h., die Zuordnung von Entitäten zu Klassen oder

76 Aus den Untersuchungen zum Begriffslernen und Kategorisieren (vgl. ECKES, 1996) lässt sich ableiten, dass

Begriffe keine festgelegte Struktur im Sinne von Prototypen, Exemplaren oder Definitionen haben. Repräsentationen lassen sich nicht direkt beobachten, sondern nur mittels der Prozesse, die auf ihnen operieren. Verschiedene Darstellungsformen oder 'Re-Repräsentationen' werden von den Daten gestützt bzw. eignen sich, Begriffe mehr oder weniger empirisch adäquat zu 're-repräsentieren'.

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Kategorien. Kategorisieren heißt demnach verschiedenen Objekten, Ereignissen… Äquivalenz zu verleihen. Dies erfordert, a) von den Besonderheiten des Einzelfalls abzusehen (abstrahieren), b) die gemeinsamen Eigenschaften hervorzuheben, c) auf Objekte, Ereignisse… eher bezüglich ihrer Klassenzugehörigkeit als bezüglich ihrer Einzigartigkeit zu reagieren.

– � Inferenzen, d.h., der Zugriff auf zusätzlich verfügbares Wissen, das mit einem bestimmten Begriff assoziiert werden kann und das über die unmittelbare Wahrnehmung hinausgeht. BRUNER (1957) hat dies mit den Ausdruck 'going beyond the information given" bezeichnet. Inferenzen umfassen Schlüsse, Erklärungen, Vorhersagen, Verallgemeinerungen..., wobei ein Begriff umso nützlicher ist, je größer sein Inferenzpotenzial ist.

– � Kommunikation, d.h., erst ein System intra- und interindivduell ausreichend stabiler Begriffe bietet die Grundlage, um über einen wahrgenommenen Ausschnitt der Welt sinnvoll zu kommunizieren. Stabil darf dabei nicht mit rigide oder starr gleichgesetzt werden.

In Anlehnung an EDELMANN (1996) unterscheiden wir zwischen Eigenschaftsbegriffen und Erklärungsbegriffen, die jeweils mit einem spezifischen Begriffsnamen etikettiert werden können. Dabei muss man sich allerdings immer wieder vor Augen halten, dass das gesprochene oder geschriebene Wort nicht gleichbedeutend mit dem Begriff/Konzept ist, sondern lediglich das sprachliche Zeichen dafür darstellt wie z.B. 'Wasser', 'eau', 'water', 'aqua'… Zudem entwirft eine Kultur spezifische Zeichen wie etwa H2O, H–O–H..., die in unterschiedlichen Domänen auf einen gemeinsamen Referenten verweisen (siehe S.135ff.). Sehr oft lässt sich ein Konzept auch nur schwer oder unvollständig auf der sprachlich–symbolischen Ebene artikulieren, besonders dann, wenn verstärkt Handlungserfahrungen wie z.B. bei Filtrier- oder Lösungsprozessen im Phänomenbereich 'Wasser' angesprochen werden. Die Einsicht in einen Bedingung–Wirkungs-Zusammenhang muss nicht unbedingt sprachlich explizierbar sein, sondern kann auch eher intuitiv erfasst werden. So kann man eine Sache durchaus begriffen haben, ohne sie mittels kultureller Repräsentationssysteme präzise artikulieren zu können. In diesem Zusammenhang spricht man von taziten oder vorsprachlichen Begriffen (siehe S.201ff.). Diese Lernvorgänge laufen ohne direkte Anweisung von außen, also ohne bewusstes Einwirken eines Tutors ab. Im Gegensatz dazu kommt es bei der expliziten Begriffsbildung, wie sie in Bildungsinstitutionen verstärkt gefördert wird, zu intentionalen, von externem Feedback bewusst gelenkten Lernprozessen in Zusammenhang mit dem Erstellen festgelegter Kategorien, die in der Regel auch mit den entsprechenden Fachtermini präzise bezeichnet werden müssen. Mit Begriffen lässt sich im Rahmen unserer Schriftkultur – besonders aber in Schule und Berufswelt – eigentlich erst richtig operieren, wenn sie an ein Wort gebunden sind, das als ihr Symbol fungiert. Diese

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sprachliche Kodierung erleichtert bzw. ermöglicht die Kommunikation zwischen verschiedenen Personen und gestattet, Kategorien oder Theorien ökonomischer und präziser zu komplexeren Wissensstrukturen zu verbinden. In solchen Unterweisungssituationen dürfte das Lernen des Begriffsinhalts (Struktur) ohne den gleichzeitigen Erwerb des Begriffsnamens (Repräsentation) eher die Ausnahme sein, während die umgedrehte Konstellation öfters der Fall ist77. Man spricht von "inhaltsleeren" oder inerten Begriffen (siehe S.186). Die ausschlaggebende intellektuelle Leistung bei der Bildung von Begriffen ist, wie wir im Anschluss sehen werden, nicht der Erwerb des sprachlichen Etiketts, sonder die Kategorisierung, sei es durch Definieren der Attribute, des Typus oder des Exemplars, sei es durch Festlegen der spezifischen Erklärung.

Eigenschaftsbegriffe Unter Eigenschaftsbegriffen versteht EDELMANN (1996) die sprachliche Bezeichnung für das Ergebnis eines Kategorisierungsvorgangs. Eigenschaftsbegriff bedeutet in dieser engen Auslegung soviel wie Kategorisierung plus Begriffsname. In diesem Verständnis sind Begriffe Klassen, Kategorien, Familien..., die durch Wörter bezeichnet werden. Kritische Attribute Nach der klassischen Theorie zeichnet sich eine Kategorie durch bestimmte kritische oder charakteristische Attribute aus, die nach logischen Regeln (Affirmation, Konjunktion78, exklusive und inklusive Disjunktion, Kondition, Relation) kombiniert werden. BOURNE (1974) stellte einen Begriff (C) mit der folgenden Formel dar: C ≡ R(x,y,...). Dabei stehen x,y... für die begriffsrelevanten bzw. kritischen Attribute und R für die Verknüpfungsrelation (Regel) zwischen den festgelegten Merkmalen, welche die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit von Entitäten zu einem Begriff eindeutig regelt. Begriffe, die dieser Darstellung genügen, werden als definierte (logische, deterministische) Begriffe bezeichnet. Einen Begriff hat man dann erfasst, wenn man den Kern im Sinne der logischen Struktur der gemeinsamen Merkmale der Entitäten einer Kategorie erkannt hat. Komplementär zum Merkmalslernen ist das Regellernen. Dabei werden die charakteristischen Merkmale eines Begriffs (x,y,z...) dem Lernenden mitgeteilt, dessen Aufgabe es nun ist, die sie verbindende Regel R zu identifizieren. Illustrieren können wir dies am Beispiel des Eigenschaftsbegriffs 'Vogel' aus zoologischer Perspektive mit seinen kritischen Attributen:

77 Siehe unsere Bemerkungen S.172 zur Mediation durch Fachtermini bzw. 'midlevel'–Bedeutungen S.211f.. 78 Bei konjunktiven oder scharf definierten Begriffen (z.B. gelber Kreis) sind die relevanten Attribute einzeln

notwendig und gemeinsam ausreichend für die Zuweisung der Entität zum Begriff.

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– � Eier legend; – � Warmblüter (durchschnittlich 42 Grad); – � Vorderglieder zu Flügeln umgebildet (die teils wieder zurückgebildet sind); – � Haut von Federn bedeckt, die auch den größten Teil der Flügel bilden; – � Knochen: hart und leicht, ohne Mark, dafür „Luftsäcke“ (Ausnahme

Kolibris); – � Augen und Ohren hochentwickelt; – � … (HÖHNE 1977, S. 36). Dieser Begriff unterscheidet sich wesentlich von der Alltagsauffassung eines Vogels (siehe S.198). Die besonders im naturwissenschaftlichen Unterricht als Mediationsmittel oft eingesetzten Definitionen79 (siehe S.172ff.) unterteilt EDELMANN (1996) in bezug auf Eigenschaftsbegriffe wie folgt: – � Realdefinitionen sind 'Sacherklärungen' und versuchen eine sog.

„Wesensbestimmung“. Ihre Bestandteile sind die Angabe des nächsthöheren Oberbegriffs (genus proximum, Gattungsbegriff) und Angabe des artspezifischen Unterschiedes (differentia specifica).

– � Nominaldefinitionen sind dagegen 'Worterklärungen'. Ihre Aufgabe liegt in der Umschreibung des betreffenden Sachverhalts bzw. zu definierenden Begriffs. Unbekannte Begriffe werden durch andere, als bekannt vorausgesetzte Begriffe ersetzt. Sie kommen auch im Alltag sehr häufig vor.

– � Operationale Definitionen erklären einen Begriff durch Anführen der Operationen, mit denen das Phänomen empirisch erfasst werden kann. Kinder verwenden häufig entsprechende Definitionen in einfacher vorwissenschaftlicher Form häufig. Sie bieten den Vorteil, dass sie Sachverhalte sehr anschaulich beschreiben bzw. für eine (wissenschaftliche) Untersuchung eindeutig festgelegt sind (ibid., S.216f.).

Begriffe basieren zum einen immer auf Detailinformationen, die als Ausgangsbasis sozusagen als Konstruktionsmaterial allgemeinerer Ideen betrachtet werden können im Sinne der induktiven Begriffsbildung. Sie gehen zum anderen über die Einzelfälle hinaus, denn sie können deduktiv auf neue Fälle übertragen werden, um zu sehen, ob diese dem erstellten Konzept zugeteilt werden können oder nicht. Einen Begriff bilden heißt aber auch, ihn gleichzeitig von benachbarten Begriffen zu unterscheiden (Diskrimination) bzw. ihn zu ähnlichen Begriffen in Beziehung zu setzen (Bildung von Oberbegriffen). Bei diesem Vorgang werden sowohl die Unterschiede wie auch die Ähnlichkeit von Objekten und Vorgängen festgehalten.

79 Eine Definition ist laut EDELMANN (1996, S.216) eine sprachliche Beschreibung der Kategorie oder des

theoretischen Erklärungsmodells. Sie soll die Eindeutigkeit der Aussage sicherstellen, d.h., dass Personen, die den gleichen Begriffsnamen verwenden, auch das Gleiche meinen..

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Die miteinander in Beziehung stehenden Kategorien bezeichnet man auch als Begriffshierarchie. Dabei wird jede neue Kategorie von unten nach oben weniger spezifisch oder mit anderen Worten, umfassender. In dem Maße wie die Anzahl der erfassten Elemente steigt, verringert sich die Zahl der kritischen Attribute einer Kategorie (siehe Abbildung 52, S. 177). Die Begriffshierarchien sind im Grunde identisch mit dem, was die kognitive Psychologie als "Vernetztheit des Wissens" darstellt und erforscht. Die Begriffs- und Wissensnetze spielen eine ausschlaggebende Rolle beim Erinnern von Informationen. Kinder verknüpfen ihre Konzepte untereinander zu kohärenten Systemen von Überzeugungen, die gegen punktuelle Veränderungen resistent sind. Fakten, Details oder Einzeldaten, die sich nicht in solche Netzwerke integrieren lassen, werden schnell wieder vergessen. Ein Objekt kann allerdings je nach Situation auf verschiedenen Abstraktionsebenen kategorisiert werden wie etwa Ball, Lederball, Basketball, Sportgerät, Freizeitgerät... Das bevorzugte Abstraktionsniveau wird dabei durch den jeweiligen Kontext wie Familie, Schule, Arbeitswelt... bestimmt und basiert auf den als jeweils besonders relevant erachteten Kategorien.Das Bilden von Begriffen ist oft kein völliges Neulernen, sondern ein Umlernen bereits erstellter Begriffe. Typische Vertreter Die Haltbarkeit der klassischen Auffassung und das Beschränken auf definierte Begriffe geriet angesichts der Struktur von natürlichen–alltagssprachlichen Begriffen ins Wanken. Aus empirischen Untersuchungen (vgl. Übers. in ECKES 1996, S.279) lassen sich folgenden Befunde ableiten: a) für die meisten Begriffe lassen sich keine Definitionen im klassischen Sinn erstellen; b) Begriffe lassen sich nur in seltenen Fällen scharf voneinander abgrenzen; c) Begriffe haben eine interne, graduelle Struktur, die in verschiedenen Typikalitätseffekten zum Ausdruck kommt. Ausschlaggebend sind demnach die Komplexität zahlreicher Begriffe, bei denen man notwendige von wahrscheinlichen Merkmalen unterscheiden muss sowie die spezifische Verwendung eines Begriffs im jeweiligen Kontext. MEDIN & BARSALOU (1987) folgern in einer Aufarbeitung der Forschungsergebnisse, dass die meisten Begriffe nicht definiert, sondern unscharf ('fuzzy') sind. Die Prototypentheorie (vgl. Übers. in ROSCH, 1999) geht von einem ‚idealen Vertreter‘ einer Klasse aus, der die Kategorie repräsentiert. Dabei erfolgt die Kategorisierung einer Entität, indem das kognitive System zunächst die strukturelle Beschreibung der Entität mit dem Prototyp jeder Kategorie vergleicht, die in Frage kommt. Die Entität wird dann der Kategorie zugewiesen, deren Prototyp sie am ähnlichsten ist. So ist z.B. für die meisten Menschen der

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Sperling ein typischer Vertreter der Familie 'Vögel' oder die Apfelsine der Prototyp für 'Obst'… Die Klassifizierung wird durch einige wenige charakteristische Merkmale mit einer hohen Auftretenswahrscheinlichkeit bestimmt, die in höherem Maße repräsentativ sind als andere. So ist 'Vogel' zunächst ein Begriff, der die Vorhersage erlaubt, dass die Mitglieder dieser Kategorie mit großer Wahrscheinlichkeit fliegen können und dass kleine Vögel eher singen als große. Das Merkmal der Flugfähigkeit trifft z.B. keineswegs auf alle Vögel zu, ist aber dennoch das besonders kennzeichnende Attribut der Kategorie. Die Ähnlichkeit weiterer Mitglieder einer Kategorie mit dem Prototyp erfolgt im Rahmen einer 'erlaubten Variation', welche die Typikalität ausmacht. Der Grad der Typikalität einer Entität unterliegt allerdings starken kulturellen Ausprägungen und variiert sowohl interindividuell als auch nach Kontext (vgl. zusammenfassend BARSALOU, 1989). Individuen scheinen z.B. je nach linguistischem Kontext unterschiedliche Merkmale einer Entität zu aktivieren, was die Reihenfolge in der beurteilten Typikalität gegebener Exemplare verändern kann. Ist das Erfassen einer klaren logischen Struktur als unverzichtbar für die Bildung eines Begriffs im akademischen Bereich, so scheint dies im Alltag eher mittels prototypischer Repräsentationen zu erfolgen. Aussagekräftige Exemplare Der exemplarspezifische Ansatz des Begriffslernens (vgl. Übers. in SMITH & MEDIN, 1999) postuliert, dass einzelne Exemplare im Gedächtnis gespeichert werden und für jedes Exemplar eine eigene separate Repräsentation gebildet wird. Die unterschiedlichen Exemplaransätze vertreten weder eine Zentralisierung von Merkmalsinformationen noch eine Revision gespeicherter Informationen, sondern befürworten eine fortlaufende Kumulation exemplarspezifischer Merkmalsinformationen. Die Kategorisierung einer Entität erfolgt, indem das kognitive System zunächst jene Exemplarrepräsentation aussucht, die der strukturelle Beschreibung der Entität am ähnlichsten ist. Die Entität wird dann der Kategorie zugeordnet, die mit diesen Exemplaren assoziiert ist. Die Zuordnung kann aufgrund einer einzigen, maximalen Ähnlichkeit, einer bestimmten Anzahl sehr ähnlicher Exemplarrepräsentationen oder auch einer maximalen durchschnittlichen Ähnlichkeit erfolgen. Exemplartheoretische Konzeptionen des Begriffslernens sind seit dem Kontextmodell von MEDIN & SCHAFFER (1978) bzw. dem generalisierten Kontextmodell ('General Context Model') von NOSOFSKY (1991) immer stärker in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt. Sie sind nicht nur in der Lage wesentliche Befunde zum Prototypansatz ohne Annahme eines Abstraktionsprozesses zu stützen, sondern auch Lerneffekte zu erklären, die einige Prototypmodelle vor große Schwierigkeiten stellen. Neuere Ansätze integrieren entweder holistische Modi der Kategorisierung oder kombinieren das Modell mit konnexionistischen Ansätzen (vgl. Übers. in ECKES 1996). Auf

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exemplarspezifische Ansätze wird verstärkt bei der Untersuchung impliziter Begriffsbildung zurückgegriffen (siehe S.201). ECKES (1996) verweist darauf, dass trotz der ausgeprägten Gegensätze der drei angeführten Konzeptionen des Begriffslernens, dennoch viele Argumente für eine integrative Betrachtungsweise sprechen. Prototypen können z.B. neben charakteristischen auch exemplarspezifische Merkmalsinformationen bzw. Informationen über korrelierende Merkmale (Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens) umfassen. Es scheint sich zudem herauszustellen, dass bei dem induktiven Erstellen von Begriffen weit mehr exemplarspezifische Informationen bewahrt werden als für die Bewältigung einer bestimmten Aufgabe erforderlich wäre – eine entsprechende konservative Induktion (MEDIN & ROSS, 1989) dürfte in den Anfangsphasen des Begriffslernens nützlich sein. In die gleiche Richtung weisen auch HOMA, DUNBAR & NOHRE (1991), für die eine summarische kategoriale Repräsentation erst gebildet wird, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: a) das Exemplarlernen hat ein ausreichend hohes Niveau erreicht; b) die Kategorie ist groß genug, um eine kognitiv ökonomische Abstraktion zu erlauben; c) die Ähnlichkeit zwischen Exemplaren der Kategorie ist so hoch, dass spezifische Merkmalsinformationen sinnvoll zentralisiert werden können. Die Ähnlichkeit zwischen zwei beliebigen Exemplaren bzw. zwischen Exemplar und Prototyp hängt wesentlich von der Auswahl der Merkmale und ihrer Gewichtung (Relevanz) ab. Diese variieren nach Kontext, Aufgabenstellung und Entität. Zudem belegen Untersuchungen (vgl. ECKES, 1996 S.288), dass kategoriale Urteile80 systematisch von Ähnlichkeits- oder Typikalitätsurteilen abweichen können, wenn etwa die Zugehörigkeit nicht aufgrund leicht zugänglicher, oberflächlicher Erscheinungsmerkmale, sondern schwer zugänglicher Struktur- und Funktionsmerkmale bestimmt wird. Besonders im Bereich des naturwissenschaftlich–technischen Unterrichts verbleibt die fachgerechte, verbindliche Struktur vieler Sachverhalte dem Lernenden, als Konstrukteur seiner Begriffswelt, sehr oft undurchsichtig81. Die Art der Begriffsbildung kann demnach durch die mentalen Werkzeuge des Lernenden, die interne Struktur des Begriffs oder den Verwendungszusammenhang beeinflusst werden. Zudem scheint eine abstrakte logische Struktur bei bestimmten Begriffe relativ leicht zu erkennen sein, während dies bei anderen sehr viel schwieriger ist und sie deshalb eher prototypisch oder exemplarisch erfasst werden.

80 Unter einem kategorialen Urteil verstehen wir ein Urteil über die Zugehörigkeit einer Entität zu einer

Kategorie. 81 vgl. Literatur zur Konstruktivismus-Rrezeption.

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 200

Erklärungsbegriffe Das Ausbilden eines Konzepts kann sich nicht allein auf das Erkennen bestimmter Ähnlichkeitsmuster bzw. Eigenschaftskorrelationen beschränken wie es z.B. GEE mit dem erwähnten Schuh-Beispiel verdeutlicht (siehe S.191). Konzepte gehen über das Kennen der Korrelationen von Attributen und Mustern hinaus und erfordern zusätzlich Erklärungen für das Zustandekommen bestimmter Korrelationen. Diese müssen innerhalb bestimmter Ursache–Wirkungs-Zusammenhänge oder bereichsspezifischer Theorien Sinn machen, wobei solche Theorien nicht immer explizit sein müssen. EDELMANN (1996) spricht in diesem Zusammenhang von Erklärungsbegriffen, die neben der Kategorisierung und dem Begriffsnamen noch zusätzlich eine Erklärung des beschriebenen Sachverhaltes durch ein theoretisches Modell umfassen. Sie machen Aussagen über die Ursache–Wirkungs-Zusammenhänge (Bedingungen bzw. Auswirkungen) eines Phänomens. Das kritische Attribut der Erklärungsbegriffe ist also nicht das Zuordnen von Einzelfällen zu einer Kategorie, sondern die Erklärung des Phänomens mittels bestimmter theoretischer Annahmen. Zu dem Inhalt der Kategorie („Was“) gesellen sich also noch die Regeln und Gesetzmäßigkeit ("Warum") des Auftretens. Im Unterricht kann man den Defiziten einer rein ähnlichkeitsbasierten Begriffsbildung entgegenwirken, indem man das bereichsspezifische Vorwissen der Kinder, besonders aber ihrer intuitiven Theorien zu einem Gegenstandsbereich, verstärkt mit einbezieht. Intuitive Theorien verkörpern nicht nur eine bestimmte Auswahl und Gewichtung von Merkmalen, sie erlauben zudem Einblicke in die Beziehungen zwischen konkreten, leicht feststellbaren Merkmalen und abstrakten, aus der jeweiligen Theorie abgeleiteten Merkmalen. Sie können demnach eine Hierarchisierung von Merkmalen bewirken (ECKES, S.290).

Abbildung 57: Zeichnungen 10jähriger Grundschulkinder bezüglich ihres Vorwissens zum Aufleuchten einer Glühlampe

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 201

Kinder erstellen entsprechende bereichsspezifische Erklärungsansätze in Übereinkunft mit verbreiteten Mustern, Modellen und Konventionen des sozialen und kulturellen Kontexts oder anders gesagt: sie teilen mit ihrer Gemeinschaft eine mehr oder weniger tazite Theorie des spezifischen Bereichs (vgl. GEE, 1997, S.240f.). In einer entsprechenden Theorie spielen auch höhere Begriffe wie etwa Schutz, Design, Verwendungszweck... für das S.191 angeführte Schuh-Beispiel eine Rolle. Sie ermöglicht dem Kind, – � die in seinem Umfeld bislang gefundenen Muster in einen übergreifenden

Sinnzusammenhang zu stellen; – � darüber hinaus, komplexere und ausdifferenziertere Muster auszumachen. Da entsprechende Muster in den Praktiken der soziokulturellen Gruppen, an denen der Lernende teilnimmt, verwurzelt sind, kann man von kulturellen Modellen (siehe S.213) im Sinne von GEE (1997) sprechen.

IMPLIZITE BEGRIFFSBILDUNG Da die implizite Begriffsbildung im Bereich des physikalischen Weltwissens eine große Rolle spielt, von Natur aus aber sehr komplex und polymorph ist, wollen wir kurz auf einige Besonderheiten dieses Lernens eingehen. Im Unterschied zu den bereits näher ausgeführten expliziten Lernbedingungen werden die Lernenden bei der impliziten Begriffsbildung nicht ausdrücklich angewiesen, Begriffe zu lernen, und erhalten auch kein korrektives Feedback über ihre kategorialen Zuordnungen. Erfolgt die implizite Begriffsbildung ganz oder überwiegend ohne die Absicht, Entitäten zu Kategorien zusammenzufassen, so sprechen wir von nicht-intentionaler oder inzidenteller Begriffsbildung. Die von uns ausführlich erläuterte Forschung zu Kategorisierungsleistungen von Kleinkindern mittels der Habituationsversuche hat die inzidentelle Begriffsbildung zum Gegenstand. Ein Grundproblem der inzidentellen Begriffsbildung ist die exponentiell ansteigende Anzahl möglicher kategorialer Zuordnungen82 im Vergleich zu intentionalen Lernbedingungen, wie wir sie verstärkt in Bildungsinstitutionen antreffen. Die Rückmeldung hat bei letzteren die wichtige Funktion, die erwähnte große Anzahl der Kategorien zu reduzieren und somit die Aufmerksamkeit auf strukturelle Eigenschaften bestimmter Kategorien zu richten. Sind z.B. die kategorialen Strukturen nur schwach ausgeprägt, so kann dies den Lernprozess erheblich beschleunigen (HOMA & CULTICE, 1984).

82 Die Aufteilung von 10 Entitäten auf 3 Kategorien ergibt bereits 9330 Möglichkeiten, 20 Entitäten auf 3

Kategorien ergeben schon über 580 Millionen verschiedene Aufteilungen. Die Werte vergrößern sich noch zusätzlich, wenn die Anzahl der Kategorien innerhalb einer Aufteilung unbekannt ist (ECKES 1996, S.291).

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 202

Aber auch die inzidentelle Begriffsbildung kann durchaus sehr effizient sein (vgl. Übers. in ECKES, 1996). Inzidentelle Lernprozesse charakterisieren sich durch zwei wechselseitig aufeinander folgende Lernmechanismen: a) die Speicherung von Exemplaren, welche zugleich die inzidentelle Bildung von Begriffen auslöst, b) die ähnlichkeitsbasierte Kategorisierung mit anschließender Abstraktion kategorialer Informationen. Für eine anfängliche Exemplarspeicherung spricht der Umstand, dass unter den Bedingungen des inzidentellen Lernens die Aufmerksamkeit stärker auf einzelne Exemplare als auf Vergleiche zwischen Exemplaren bzw. die Identifikation gemeinsamer oder differentieller Merkmale gelegt wird. Da zudem die meisten Exemplare einer bestimmten Kategorie charakteristische Merkmalskombinationen aufweisen, erlaubt die Enkodierung von Exemplaren eine Bewahrung kategorialer Strukturinformationen. Sie ermöglicht zudem eine größere Flexibilität bei der Bewältigung späterer, nicht antizipierter Aufgaben. Solche kontext- oder aufgabenspezifische Enkodierungs-Analysen ex post (Kategorisierung, Rekognition, Inferenz) lassen sich im Sinne der angesprochenen konservativen Induktion von Begriffen (siehe S.199) umso besser durchführen, je vollständiger die Speicherung von Exemplarinformation erfolgte. Neben der reinen Exemplarspeicherung gilt es allerdings auch Revisions- und Zentralisierungsprozesse, wie sie für das Erstellen von Abstraktionen charakteristisch sind, zu berücksichtigen (vgl. ECKES, 1996, S.292f.). Die implizite Begriffsbildung kann dennoch in hohem Maße intentional erfolgen wie etwa a) bei der vorsprachlichen Begriffsbildung, die sich nur langsam an die entsprechenden Begriffe aus der Erwachsenenwelt annähert, b) bei der Bildung von Begriffen, um aktuelle Handlungsziele zu verwirklichen oder c) beim Erstellen begrifflicher Ordnungssysteme (Taxonomien und Partonomien83). Im Rahmen der Erforschung der Konstruktion von Begriffssystemen konzentriert man sich seit vielen Jahren auf die Ebene der Basisbegriffe. Darunter versteht man die Begriffe innerhalb einer Taxonomie, die bei einem Minimum an kognitivem Aufwand ein Maximum an Information bereitstellen (vgl. Übers. in ibid., S.294). Taxonomien, die u.a. bei der Kategorisierung der Entitäten der physikalischen Umwelt von Bedeutung sind, werden auf zwei Art und Weisen ohne Tutor erstellt: a) bei der simultanen Konstruktion wird eine begrenzte Menge von Entitäten als gegeben vorausgesetzt und es wird eine bestmögliche hierarchische Klassifikation dieser Menge gebildet; 83 In Taxonomien werden Begriffe durch die Teilmengen-Relation ("ist-ein"-Relation), in Pantonomien durch die

Teil-Ganzes-Relation ("hat-ein"-Relation) miteinander verknüpft. Beide Relationen sind transitiv und asymetrisch und erzeugen eine Hierarchie von Begriffen. Pantonomien können aus der Untersuchung einer Entität erfolgen, während Taxonomien aus der vergleichenden Untersuchung verschiedener Entitäten hervorgehen (ECKES, 1997, S.294).

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b) bei der inkrementellen (oder sequentiellen) Begriffsbildung erfolgt eine Veränderung und Weiterentwicklung der Begriffsordnung mit jeder neu wahrgenommenen Entität. Dieses Vorgehen gestattet kategoriebasierte Inferenzen in jedem Entwicklungsstadium des Systems, nicht erst nach erschöpfendem Einbeziehen aller in Frage kommenden Entitäten. Der impliziten Begriffsbildung scheint deshalb diese Funktionsweise besser zu entsprechen als das simultane Vorgehen. Bei inkrementellen Lernprozessen geht man davon aus, dass die Kenntnis der Begriffszugehörigkeit von Entitäten eine genaue Vorhersage ihrer Merkmale erlaubt. Ziel der Begriffsbildung ist demnach die Maximierung ihres Inferenz- bzw. Prädiktionspotenzials (vgl. Übers. in ibid.,).

Subjektivität der Begriffsbildung Begriffe zeichnen sich einerseits durch eine in einer Gemeinschaft durch Übereinkunft festgelegte sachliche (denotative) Komponente aus, die besonders in der Wissenschaft wie z.B. bei der systematischen Ordnung von LINNE (siehe S.177) oder in juristischen Texten klar und widerspruchsfrei ausdifferenziert ist. Andererseits charakterisieren sich Begriffe durch eine emotionale (konnotative) Bedeutungskomponente, die eine gefühlsmäßige, biographisch ausgeformte Beziehung zwischen Person und Sache (Ich–Beteiligung, Ego–Involvement) widerspiegelt und bei der Begriffsbildung oft überwiegt84. Dies subjektive Komponente bringt eine bestimmte Willkürlichkeit der Begriffsbildung mit sich. Unter welche Kategorie wir Objekte und Vorgänge unserer Umwelt einordnen, hängt von den jeweiligen kritischen Attributen ab, auf die wir im spezifischen Anwendungskontext zurückgreifen. So kann ein gleiches Objekt/Ereignis durch den Rückgriff auf unterschiedliche Klassifikationsregeln durchaus verschiedenen Kategorien zugeordnet sein. Je nach Qualität der kritischen Attribute unterscheiden BRUNER ET AL. (l971) drei Typen von Kategorien: – � affektive Kategorien: Objekte oder Vorgänge rufen die gleichen emotionalen

Reaktionen hervor; – � funktionale Kategorien: Ein gemeinsamer Verwendungszweck verbindet die

Elemente; – � formale Kategorien: Konventionen bzw. wissenschaftliche Kriterien legen

die Attribute fest. Individuelle Begriffe kontrastieren oft mit konventionellen Bezeichnungen. Ein gleicher Begriffsname kann von Person zu Person auf unterschiedliche konnotative (emotionale) und denotative (sachliche) Inhalte verweisen, wobei er nur in Nuancen oder auch fundamental verschieden sein kann.

84 Die zentrale Rolle der Subjektivität bei der Begriffsbildung haben wir auch bereits im Rahmen der Ich-

Bezogenheit der Wissenskomponenten hervor gehoben.

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EXTERNALE WISSENSRESSOURCEN UND INTERNALE BEGRIFFSBILDUNG Zahlreiche Ansätze (vgl. Übers. in CHENG, 1999, S.114f.) korrelieren in der Annahme, dass ein starkes konzeptuelles Verständnis eines wissenschaftlichen oder mathematischen Bereichs mit einem reichen, gut strukturierten Netzwerk von Konzepten korreliert. Auch wenn man nicht davon ausgehen darf, dass authentische Praktiken im naturwissenschaftlich–technischen Unterricht alle Schüler zu Experten in diesem Bereich machen, müsste dennoch eine angemessener Unterricht das Ziel verfolgen, ein elementares Verstehen bei sämtlichen Schülern zu entwickeln, das laut CHENG folgende zwei Aspekte umfasst: – � Eine Zusammenstellung elementarer bereichsspezifischer Begriffe, die sich

über die Gesamtbreite der Domäne erstrecken und die beim Antreffen neuartiger Situationen angemessene Lösungsprozesse initiieren können.

– � Das Entwickeln einfacher, aber zuverlässiger Methoden, die es dem Lernenden erlauben, selbst neue Begriffe zu konstruieren.

CHENG (1999) versucht die allgemeine Struktur solcher Netzwerke in Zusammenhang mit der Spezifität der jeweiligen komplexen Domänen zu ergründen. Dabei geht es ihm einerseits um den Lernenden, der entsprechende Netzwerke erstellt, und andererseits um den Designer, der Lehr–Lern-Situationen gestaltet. In Abbildung 58 illustriert der Autor die komplexen Bezüge zwischen externen domänspezifischen Wissensrepräsentationen (linke untere Ecke) und den sich allmählich entwickelnden intramentalen Begriffsnetzwerken des Lernenden (obere rechte Ecke).

Abbildung 58: Components, processes and sub-processes of conceptual learning (CHENG, 1999, p.115).

Externale Repräsentationen spiegeln die Komplexität des Bereichs sowie der Menge der zu berücksichtigenden Informationen wider. Untersuchungen zur

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Natur externaler Repräsentationen (vgl. CHENG, 1999, S.119) belegen, wie bestimmte Darstellungsformen im Sinne räumlicher Indexierungen Lösungsprozesse erleichtern oder auch behindern können. Besonders bei multiplen Repräsentationen ist die Verteilung der Informationen über die einzelnen Darstellungsmodi bzw. zwischen menschlichem Bewusstsein und Umgebung von zentraler Bedeutung. Externale Repräsentationen, auf die wir ja bereits ausführlich eingegangen sind, können dabei als Gedächtnishilfen bzw. als informationsverarbeitende Werkzeuge fungieren. Der Aufbau internaler Repräsentationen erfolgt nach Auffassung des Autors als inkrementeller Prozess (siehe S.203), d.h., die Netzwerke verändern sich kontinuierlich durch das Integrieren von Regeln, Schemata oder 'chunks', die anfangs oft isoliert voneinander existieren (ibid., S.116). Der Aufbau entsprechender Begriffsnetzwerke erfolgt mittels vier Prozessen, die in einer bestimmten Hierarchie zueinander stehen: P1 – Beobachten generiert und prüft Ausdrucksweisen ('expressions'), die als Phänomenbeschreibungen fungieren. Es umschließt zudem Subprozesse wie a) das Aufzeichnen eines Phänomens als Ausdrucksweise mittels der kulturellen Darstellungsmodi, b) das Übereinstimmen einer externalen (kulturellen) Ausdrucksweise mit einem Phänomen oder Ereignis. P2 – Modellieren schließt Beobachten mit ein und versucht neue Ausdrucksweisen zu generieren, welche Fallbeschreibungen oder Phänomene mit bestimmten Begriffen verknüpfen. Subprozesse sind: a) das Verändern einer Ausdrucksweise und Gestalten einer neuen, b) das Ausdrücken eines Begriffs mittels einer externalen Repräsentation. P3 – Erwerben umfasst das Konstruieren eines neuen Begriffs. Es subsumiert Modellieren und kombiniert dies mit Subprozessen wie a) Interpretieren einer kulturellen Ausdrucksweise als Begriff, b) Überarbeiten einer Ausdrucksweise für einen bestimmten Begriff, c) oder beides, im Falle verknüpfter, aus dem Netzwerk hervorgeholter Begriffe. P4 – Integrieren: fügt dem Netzwerk einen neuen Begriff hinzu oder verändert die Struktur eines bestehenden Netzwerks. Es subsumiert das Erwerben und kombiniert es mit folgenden Subprozessen: a) Ausbauen des Netzwerks, b) Reorganisieren des Netzwerkes durch Verknüpfen, Verschieben oder Löschen von Begriffen. Ein Netzwerk adäquat zu erweitern (P4) bzw. die verbundenen Begriffe präziser zu differenzieren erfordert, partikulare Begriffe zu aktivieren, miteinander zu vergleichen und zu kontrastieren. Dies kann auch das Aufsuchen neuer, zusätzlicher Information zu den ausgewählten Begriffen erfordern (P3). Dabei wird in der Regel die Situation, auf welche die Begriffe angewendet werden, neu modelliert, so dass die Begriffsdarstellungen auf ihre Struktur hin untersucht werden können. Eine derartige Modellierung kann in der Tat wieder spezifische

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Daten erfordern, die man über das Wahrnehmen der Phänomene (P1) oder das Aufsuchen bestimmter bereichsspezifischer Informationen erhalten kann. Konzeptuelles Lernen ist, wie es u.a. diese Modellierung illustriert, sehr komplex. Es beinhaltet Prozesse, die Komponenten auf unterschiedlichen Ebenen ansprechen und die sich über unterschiedliche Zeitspannen erstrecken. Die Entwicklung von Ansätzen, die konzeptuelles Lernen verstärkt fördern sollen, müsste sämtliche in diesem Modell aufgezeigten Prozesse gleichermaßen und in einer systemischen Weise berücksichtigen. In einer kurzen Analyse bestehender Ansätze sowie rezenter Computerprogramme zeigt CHENG auf, dass solche Ansätze in der Regel nur einige der von ihm angesprochenen Prozesse berücksichtigen (vgl. ibid., S.117f.).

Charakteristika externer Repräsentationen CHENG (1999) erwähnt fünf Kriteria, denen wirksame externe Repräsentationen beim konzeptuellen Lernen genügen müssen. Er ordnet sie nach zwei übergeordneten Dimensionen: semantische Transparenz und plastische Generativität. Die semantische Transparenz externer Repräsentationen betrifft die Leichtigkeit, die Darstellungsweisen der Repräsentationen in domänspezifischen Termini zu interpretieren. – � Eine wirksame Repräsentation muss helfen, bereichsspezifische

Informationen auf unterschiedlichen Abstrahierungsstufen zu integrieren. Die Ausdrucksweisen sollten die Natur der Beziehung zwischen den bereichsinternen Gesetzen und den Beschreibungen der Phänomene aufdecken.

– � Eine adäquate Repräsentation macht die detaillierten Unterschiede zwischen einzelnen Begriffen deutlich, expliziert aber zugleich ihre Verknüpfung auf einer höheren, allgemeinen Ebene. Einerseits sollten die fundamentalen Invarianten des Bereichs wie Axiome, Gesetze... als universelle strukturelle Eigenschaften konstant in sämtlichen Ausdrucksweisen der Repräsentationen fungieren. Andererseits sollten die sich laufend verändernden Variablen bzw. Fallbeispiele als Attribute der Repräsentation betrachtet werden, die von Ausdrucksweise zu Ausdrucksweise verschieden sind.

– � Eine adäquate Repräsentation sollte de vielfältigen alternativen Perspektiven, die wir auf einen Bereich werfen können, integrieren. Die gleichen Ausdrucksweisen innerhalb der Repräsentation sollten durch mögliche unterschiedliche Deutungen und Auslegungen alternative Sichtweisen zulassen.

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Unter der plastischen 'Generativität' externer Repräsentationen versteht CHENG die Leichtigkeit, Ausdrucksweisen in den Repräsentationen zu formen und zu handhaben. Dies steht in Zusammenhang mit der Verwendbarkeit der Repräsentationen. – � Wirksame Repräsentationen sollen sich geschmeidig ausdrücken lassen,

weder zu spröde noch zu flüssig. Von spröden Repräsentationen ist es nicht leicht alle akzeptablen Ausdrucksweisen, die sinnvoll in Termini der bereichsspezifischen Gesetze oder Phänomene erstellt werden können, abzuleiten. Flüssige Repräsentationen lassen viele korrekte, aber auch weitgehend sinnlose Ausdrucksweisen wie etwa in der Algebra zu. Hier bedarf es zusätzlicher Einschränkungen, um das Modellieren konkret durchzuführen.

– � Die mentalen Prozeduren zum Bearbeiten der Ausdrucksweisen sollen kompakt bzw. uniform sein und sich auf alle Situationen und Problemtypen des Bereichs anwenden lassen. Jede Prozedur soll dabei nur einige Inferenzschritte erfordern, so dass Fehlerquellen unterdrückt und Lernprozesse vereinfacht werden (ibid., S.120f.).

Rolle der externen Repräsentationen für das konzeptuelle Lernen

Für CHENG haben die kulturellen Repräsentationen, auf die beim Lernen zurückgegriffen wird, einen entscheidenden Einfluss auf das Lernen einerseits sowie den Lerninhalt andererseits85. Sie beeinflussen maßgeblich die Natur der konzeptuellen Strukturen und die Problemlösetrategien, die der Lernende entwickelt. Gelingt es uns, dürftige Repräsentationen durch solche zu ersetzen, die den erwähnten Prozessen gerecht werden, so können wir ein verbessertes Lernen ermöglichen. Dabei gilt es auch, die nachfolgenden Schwierigkeiten zu vermeiden (ibid., S.120f). Beobachtungen (P1) bereiten Probleme, wenn verfügbare bzw. eingesetzte Modelle keine klaren und einfachen Bezüge zwischen Merkmalen des Modells und domänspezifischen Elementen erlauben. Hier muss man dann eventuell auf andere Darstellungsmedien wie Grafiken, Tabellen... zusätzlich zurückgreifen. Auch das Modellieren (P2) gestaltet sich schwierig, wenn die Darstellungsmodi der Repräsentationen nicht einfach in Termini bereichsspezifischer Regeln interpretiert werden können, welche die Phänomene aus fachspezifischer Sicht regieren. Dies ist z.B. der Fall, wenn arbiträre syntaktische Regeln benutzt werden (siehe S.138), um die zugrundeliegenden Regeln zu enkodieren. In diesem Fall spiegeln die externalen Darstellungen nicht die Strukturen der Phänomene bzw. die Organisation des Bereichs wider.

85 siehe auch unsere Ausführungen zur Mediation mittels bereichsspezifischer Zeichen, Ikonen, Symbole und

Begriffe S.162ff.

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Der Erwerb (P3) von Begriffen gestaltet sich schwierig, wenn die Repräsentationen keine wirksame Unterscheidung der Begriffe untereinander bzw. von angrenzenden oder ähnlichen Begriffen zulassen. Die Integration von Begriffen (P4) gestaltet sich als schwierig, wenn die Repräsentationen es nicht erlauben, die Beziehungen zwischen den Begriffen leicht zu erforschen bzw. ein klares, übergeordnetes konzeptuelles Schema zu erstellen, das die Interpretation der Begriffe unterstützt. Eine gute Repräsentation sollte als adäquates Hilfsmittel dem Lernenden gestatten, a) rasch ein Gefühl von der Gesamttopologie des Begriffsnetzwerks zu bekommen; b) rasch den passenden Platz für einen bestimmten Begriff in der Struktur auszumachen.

DIE DYNAMIK DER BEGRIFFSBILDUNG Begriffe werden demnach in einem dynamischen, interaktiven und soziokulturell situierten Prozess gebildet. Angesichts der angeführten Literatur darf man nicht davon ausgehen, dass die Kinder prädefinierte Konzepte wie Monolithe abspeichern und bei Bedarf – angesichts bestimmter situativer Anforderungen – aus der Erinnerung hervorkramen. Für BARSALOU sind Begriffe temporäre Konstruktionen im Arbeitsgedächtnis86, in die drei Arten von Informationen einfließen: a) kontextunabhängige Informationen, die in verschiedenen Kontexten eine gleichbleibende hohe Zugriffswahrscheinlichkeit besitzen und in der Regel automatisch aktiviert werden wie z.B. ‚nass’ für Wasser; b) kontextabhängige Informationen, die nur dann mit einem bestimmten Begriff assoziiert werden, wenn sie im Hinblick auf den aktuellen Kontext relevant sind; c) rezent–kontextabhängige Informationen, die über den aktuellen Kontext hinaus als Assoziationen bestehen bleiben und demnach als zeitlich begrenzte kontextunabhängige Informationen fungieren (vgl. BARSALOU, 1989). Der dynamische Charakter von Begriffen tritt wohl am deutlichsten bei der Konstruktion komplexer Begriffe87 zu Tage. Die Kombinationen vertrauter Begriffe zu neuen Begriffen ist eng an den Kontext gebunden und stark vom Vorwissen und intuitiven Theorien abhängig. Die Kombination von Begriffen kommt vor allen dann zum Tragen, wenn es sich um kreative Auseinandersetzungen mit neuen, unerwarteten Beobachtungen handelt, wie es 86 Das Langzeitgedächtnis enthält bei BARSALOUS Modell lediglich lose organisiertes kategoriales Wissen, das

intra- und interindividuell relativ stabil ist. In einer konkreten Situation wird jeweils nur ein kleiner Teil dieses Wissens aktiviert.

87 Hierunter versteht man einen Begriff, der durch mehr als eine lexikalische Einheit ausgedrückt wird, ohne dass sein sprachlicher Ausdruck selbst lexikalisiert ist. Zwischen komplexen (Baumhaus) und nicht-komplexen Begriffen (Apfelbaum) lässt sich allerdings keine scharfe Abgrenzung ziehen (vgl. ECKES, 1996. S.299).

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etwa bei der frühkindlichen Sprachentwicklung oder aber beim Bilden wissenschaftlicher Theorien der Fall ist (vgl. Ansätze intentionaler Begriffskombinationen in ECKES 1996, S.301f.).

Begriffsbildung als drei Dialoge Denken umschließt, wie bereits am Anfang des Kapitels beschrieben, stets das aktive Handeln und Ausprobieren in der und über die Welt, was auf den Menschen als „reflexives Subjekt“ (vgl. GROEBEN & SCHEELE 1977) verweist. GEE (1997) hebt die angesprochene Reflexivität im Prozess der Begriffsbildung hervor, indem er diesen in Form von drei mehr oder weniger bewusst ablaufenden Dialogen darstellt (ibid., S.240ff.). Durch sein Handeln tritt das Kind in einen Dialog mit seiner Umwelt und engagiert sich in Tätigkeiten. Seine konkreten Handlungen sowie die handlungsbegleitenden ('reflections-in-acting') und -legitimierenden ('reflections-on-acting') Reflektionen informieren es über die Art und Weise, wie die Welt auf sein Einwirken reagiert. Dabei wird sein Handeln–Reflektieren durch kulturelle Modelle gesteuert, die dabei laufend revidiert bzw. durch ständig neu aufgedeckte Muster und identifizierte Eigenschaften überarbeitet werden. Die Interaktionen zwischen der Beziehung Handeln–Reflektieren und seinen kulturellen Modellen bilden den kindlichen Dialog mit der soziokulturellen Umwelt. Das Alternieren von Tätigsein und Überdenken führt zudem zu einem ständig autonomeren Vorgehen des Kindes, das kontinuierlich die mentalen Netzwerke von Assoziationen (Mustern) evaluiert und verfeinert. Die Interaktion zwischen Handeln–Reflektieren und sich aufdeckenden Mustern formt folglich auch den Dialog mit seinem eigenen Bewusstsein ('mind') als einem Muster-Erkenner.

act reflect modify pattern

reflect modify cultural model

Abbildung 59: The dynamic and interactive nature of the mind at work in forming concepts (GEE, 1997, p.241).

GEE (1997) stellt diese drei Dialoge in einem Modell dar, bei dem die Grenzen zwischen Welt, Bewusstsein ('mind') und Gesellschaft nicht streng getrennt sind. Man kann das System über mehrere Routen durchwandern, wobei vorgenommene Veränderungen sich systemisch auf andere Komponenten auswirken. So können z.B. reflektierte Handlungen bestimmte Muster

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verändern, die sich wiederum auf kulturelle Modelle auswirken; umgedreht können auch kulturelle Modelle bestimmte Muster und infolgedessen unsere Handlungen auf bestimmte Art und Weise verändern, die dann wiederum auf Muster zurückwirken usw. Zum anderen, muss man sich fragen, auf welcher Basis das Kind die Signifikanz – und die Annehmbarkeit – des Resultats seines Einwirkens auf die Umwelt einschätzt. Das Kind muss das erhaltene Feedback evaluieren, wobei Kriterien wie angenehm–unangenehm, gut–schlecht ... eine Rolle spielen. Das Kind muss sich folglich eines eigenen Einschätzungssystems – eines Gefüges aus Zielen und Werten – bedienen, das ihm ermöglicht, Rückmeldungen zu akzeptieren oder zu verwerfen. Ein entsprechendes System ist stets Teil eines kulturellen Modells. Viele verschiedene kulturelle Modelle weisen eine gemeinsame Wertepalette auf, so dass wir unterschiedliche Leitziele und -werte in einer Gemeinschaft bzw. einer Kultur ausmachen können. Erfolgreiches oder misslungenes Handeln bewirkt eine Revision der kindlichen Muster und Theorien auf der Basis der Werte und Ziele seines persönlichen Einschätzungssystems, das mit kulturellen Modellen verknüpft ist. Wenn wir versuchen die Rolle der Werte und der Evaluation explizit zu machen, erhalten wir laut GEE die Abbildung 60.

WORLD Extract features

Dialogue with the world

find patterns

Act

Reflection in & on action

Dialogue with the Mind

Mind / Brain

Evaluate Cultural model

Mind in Action

Dialogue with the Social

Appreciative system

The Social Mind

Abbildung 60: The mind–world–society system and the role of values and appreciations (GEE, 1997, p.242)

EDELMANN (1996) betont, dass das Kind, genauso wie der Erwachsene, die Erscheinungen der Welt nicht nur mit Hilfe formaler Regeln, sondern auch durch emotionale Bewertungen klassifiziert. Die Klassifizierung der Objekte erfolgt nach der Bedeutung, die sie für das Individuum besitzen. Die Wertbegriffe über die eine Person verfügt, d.h., die sich durch persönliches Engagement auszeichnen, bilden eine Wertestruktur, die den sachlichen Begriffshierarchien ähnelt. Beide stellen keine völlig getrennten Strukturen dar,

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so dass man in diesem Zusammenhang von einer kognitiv–emotionalen Struktur bzw. Wissens- und Wertestruktur sprechen könnte (siehe S.89ff). Anhand des abgebildeten Modells will GEE, die wichtigen, jedoch oft wenig sichtbaren Eigenschaften des Lernens aufdecken. Die allgemeine und dekontextualisierte Natur der Wörter, besonders der geschriebenen, verleitet uns fälschlicherweise anzunehmen, dass es eine einzige übergreifende und allgemeine Bedeutung für einen Begriff gibt, und dass das im Gedächtnis abgespeicherte Konzept auch allgemeiner Natur ist. So ist z.B. ein Wort wie 'Wasser' mit spezifischen Erfahrungsmustern verbunden, die eng an bestimmten Kontexten haften (vgl. die Arbeiten von BARSALOU, 1992). Sie lösen sich nur langsam von den Umständen ihrer Ausformung und bleiben bezüglich ihrer Allgemeinheit und Abstraktheit lange

"hinter der unbegrenzten Universalität zurück, die sich aus ihrer logisch abstrakten Analyse ergibt" (SEILER,1985, S.352).

Entsprechende Muster bezeichnet GEE (1997) als 'midlevel'–Verallgemeinerungen, die weder zu allgemein und dekontextualisiert noch zu partikular und kontextgebunden sind. Das Wort 'Wasser' ist mit ‚midlevel’ kontextualisierten Mustern verbunden wie etwa: – � Wasser bildet Pfützen, Seen, Flüsse, Meere... – � Wasser ist ein Lebensraum für Tiere und Pflanzen; – � Wasser strömt aus dem Wasserhahn; – � Wasser löst bestimmte Stoffe wie Zucker; – � Wasser kann man erhitzen oder so tief abkühlen, dass es friert; – � Wasser ist ein Getränk, das den Durst löscht... Mit entsprechenden Mustern – oder situierten ‚midlevel’–Bedeutungen – wirken Kinder und Erwachsene auf ihre Umgebung ein und orientieren sich in der Welt. Sie stellen die Ebene dar, auf der unser Bewusstsein arbeitet und lernt. Insbesondere im Lernprozess stellen sie das Bindeglied zwischen allgemeinen kulturellen Modellen und partikularen Konzepten in situ dar. Oft findet Lernen nur sehr eingeschränkt – wenn überhaupt – statt, da es den Schülern entweder nicht gelingt allgemeine Theorien mit situierten Bedeutungen zu verbinden oder sich von bedeutsamen partikularen Anwendungen zu lösen und diese mit einem allgemeineren kulturellen Modell (Theorie) zu verknüpfen, das sie erklärt und verbindet. Obschon situierte Bedeutungen unser Handeln steuern und wir wiederholt betont haben, dass die Bedeutung der Wörter keine allgemeine Begriffe sind, müssen wir erklären, wieso wir immer wieder das Gefühl haben, ein Wort wie 'Wasser' verweise auf die Existenz einer verbindenden, über den 'midlevel'–Bedeutungen anzusiedelnden, allgemeinen Idee. Für GEE ist es zum einen sicherlich die Existenz des einzelnen Wortes, die uns dazu verleitet, auf die Existenz einer einzigen, allgemeinen Bedeutung zu schließen. Zum anderen induziert das mit dem Wort 'Wasser' assoziierte kulturelle Modell in unserer Gemeinschaft ein Gefühl der Allgemeingültigkeit (ibid., S.243).

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 212

Eine situierte Bedeutung eines Konzepts zu haben ist nicht gleichbedeutend mit der Fähigkeit, angemessene sprachliche Äußerungen produzieren zu können wie etwa "Ein Glas Wasser, bitte!". Sie ermöglicht aber, ein bestimmtes Muster – in diesem Fall 'ein Glas Wasser' – in einer Vielzahl von Kontexten und Variationen auszumachen. Dieser Umstand macht unsere situierten Bedeutungen zu nützlichen symbolischen Werkzeugen, die sowohl kontextualisiert als auch ein Stück weit allgemein sind. Durch die angetroffenen Variationen und Kontexte sind sie ein Stück weit verallgemeinert, bleiben aber dennoch an bestimmte Arten von Kontexten gebunden, so dass sie weder zu allgemein noch zu partikular sind (ibid., S.245). Zudem sind die kulturellen Modelle in Alltags- und Schulkontexten verschieden. Wie benutzen z.B. ein anderes kulturelles Modell (Theorie) von Wasser in Alltagssituationen als das explizite Flüssigkeitsmodell im Rahmen des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Will man das wissenschaftsnahe Modell des Wassers verstehen, so ist es unabdinglich, unterschiedliche Erfahrungen mit diesem Element zu besitzen bzw. zu machen, die es erlauben, situierte Bedeutungen ('midlevel'–Bedeutungen, kontextualisierte Muster...) zu erwerben. Anders kann man den Nutzen, die Tragweite, die Bedeutung... einer allgemeinen physikalischen Wassertheorie nicht verstehen, zumindest nicht im Sinne, wie sie uns wirksam helfen kann, Muster zu erkennen sowie Handlungen auszuführen und zu reflektieren. Zudem muss man sich bewusst sein, dass situierte Bedeutungen Korrelationen unterschiedlicher Eigenschaften sind bzw. Muster, die Eigenschaften untereinander verbinden, wie etwa "Wasser als Flüssigkeit, die sich aus winzigen Wasserteilchen (Molekülen) zusammensetzt, die nur so stark zusammenhängen, dass immer wieder Teilchen entweichen können, wenn die Temperatur über 0°C liegt".

„To recognize such things is to be able to re-cognize (reconstruct in terms of one’s pattern recognizing capabilities) and to act on and with these various features and their association in a range of contexts. One’s body and mind has to be situated with – coordinated by and with – these correlated features in the world” (GEE, 1997, p.244).

Ein Konzept wie das Teilchenmodell des Wassers kann ein Mensch folglich erst verstehen – den sprachlichen Ausdruck kann er ja jederzeit auch ohne tieferes Verständnis artikulieren – wenn er Erfahrungen und Reflektionen durchlebt hat, die ihm ein entsprechendes Muster – das spezifische Zusammenwirken bestimmter Attribute – bedeutsam und erkennbar werden ließen. Er kann dieses so auf fruchtbare Art und Weise in seine weitere Praxis und demnach auch in die Weiterentwicklung der eigenen Muster und Theorien integrieren. Diese (begriffs- bzw. bereichsspezifische) Theorie ist das Verbindungselement, das den mit dem Wort 'Wasser' verbundenen Mustern Sinn verleiht. Situierte Bedeutungen sind sowohl ein Produkt von 'bottom–up'- als auch 'top–down'-Prozessen. Die ersten beziehen sich auf die Reflektion der eigenen Handlungen, mit denen der Lernende auf seine Umwelt einwirkt, während die

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 213

zweiten sich auf die kulturellen Modelle beziehen, die der Lernende konstruiert oder in die er in ‚apprenticeship’-Kontexten enkulturiert wird. Ohne die beiden Dynamiken würde das Lernen entweder zu spezifisch kontextgebunden bleiben oder zu allgemein abstrakt werden.

Kulturelle Modelle Kulturelle Modelle stammen aus der psychologischen Anthropologie (vgl. die Arbeiten von HOLLAND & QUINN, 1987; D'ANDRADE & STRAUSS, 1992), welche Diskurse in sozialen und kulturellen Kontexten erforscht. Sie sind auf vielfältige Art und Weise in der Kultur einer Gemeinschaft durch materielle und symbolische Tools repräsentiert. So sind sie z.B. mit spezifischen sprachlichen Bezeichnungen verbunden und teils explizit, teils implizit. Sie schlagen sich in den jeweiligen sozialen Praktiken nieder, d.h., sie bestimmen wie die Mitglieder die verfügbaren Ressourcen koordinieren bzw. wie bestimmte kulturspezifische Artefakte die Handlungen der Mitglieder koordinieren. Sie liefern Erklärungen für bestimmte Phänomene in einer der Kultur angepassten Art und Weise und erlauben anderen, angemessen auf wahrgenommene Verhaltensformen in bestimmten Anforderungssituationen zu antworten. Zudem gestatten sie den Mitgliedern alltägliche Ereignisse und Verhalten – Muster, die sie als situierte Bedeutungen identifizieren – in einen erweiterten, bedeutsamen Rahmen zu setzen. Kulturelle Modelle umschließen auch Werte (siehe S.210), die es erlauben situierte Bedeutungen auszuwählen, zu interpretieren und zu beurteilen. Werden einem Modelle oder Theorien vermittelt, die nicht mit situierten Bedeutungen, verbunden sind, so wird man durch diese Werte regelrecht kolonialisiert, die den eigenen Praktiken aber fremd bleiben. Dies ist ganz klar der Fall bei der momentanen lehrerzentrierten Ausrichtung des naturwissenschaftlich–tehnischen Unterricht, die sich zumeist durch das verbale Rezitieren von Formeln und Fachtermini charakterisiert. Die Schüler bekommen so nicht die Möglichkeit, kulturelle Modelle handelnd zu erfahren und sich mit den jeweiligen situativen Bedeutungen vertraut zu machen. Sie fühlen sich nicht als Akteur und können auch keine Erfahrungsgrundlage aufbauen, die sie motivieren würde, die Modelle auch weiterhin zu praktizieren (siehe S.212). Das Übertragen fremder Wertauffassungen – in diesem Fall jene des schulischen Instruktionsmodells – auf die eigene Praktik führt oft zur Geringschätzung der eigenen Fähigkeiten im Bereich des Naturwissenschaften. Zudem generieren die negativen affektiv–emotionalen Begleiterscheinungen Vermeidungsstrategien, die eine praktische Ausübung und damit jegliche Quelle der persönlichen Entwicklung verhindern. Interesse und Motivation flauen ab. Authentisch angelegte Versuchssituationen erlauben dagegen den Schülern situierte Bedeutungen zu erwerben und sich mit den zugrundeliegenden Wertauffassungen eines Modells zu identifizieren. Im Sinne von LAVE &

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 214

WENGER (1991) entwickeln sich Novizen im Laufe dieses Prozesses allmählich zu Experten durch periphere Teilnahme an entsprechenden Praktiken

Neue Diskurse erstellen Kulturelle Modelle existieren laut GEE (1997) nur durch die Dynamik der Diskurse. Diskurse sind soziohistorische Koordinierungen von Menschen, Objekten, Sprech-, Handlungs-, Interaktions-, Denk-, Wert-, Sprech- und Lesemodi, die gestatten, sozial signifikante Identitäten auszuweisen und wiederzuerkennen. Zerstört man einen Diskurs, so zerstört man gleichzeitig die damit verbundenen kulturellen Modelle, die situierten Bedeutungen und die damit zusammenhängenden Identitäten (ibid., S.256). Aus den oben angeführten Kritiken folgern wir, dass wir neue Modelle situierter Aneignung physikalischen Weltwissens bedürfen. Eine Abänderung des traditionellen Kanons im naturwissenschaftlichen Unterricht gestaltet sich allerdings schwierig aufgrund der langen soziohistorischen Arbeit, die zum momentanen Diskurs und zum Aufrechterhalten des wissenschaftlichen Kanons geführt hat. Das Generieren neuer Diskurse ist ein zeitaufwendiges Unterfangen.

"They are the products of groups and struggle anh history; they are formations of new commonalties, new forms of common wealth, with all the attendant dangers of othering, that that can imply (GEE, 1997, p.256).

Dabei emergieren durchaus neue Zeichen, Teile, Partien, welche Wegweiser für neue soziale Praktiken, neue kulturelle Modelle, neue situierte Texttypen und Bedeutungen sein können. GEE erwähnt dabei in Anlehnung an BAKHTIN, LOTMAN, HALLIDAY Notionen wie interne Heterogenität von Texten, Intertextualität, Dialogizität, Multivokalität... Dem Autor geht es darum, die Subjektivitäten des traditionellen akademischen Diskurses zu erneuern. Auch in den neuen IT-Technologien, sieht er vielversprechende Möglichkeiten. Diese fördern kollaborative Arbeitsweisen, neue Praktiken durch das gemeinsame Arbeiten an Produkten sowie das Erstellen multikultureller und multivokaler Arbeitsgemeinschaften auf der Grundlage eines gemeinsamen Bezuges. Dies verweist auf die erwähnte doppelte Mediationsdimension der Artefakte im Sinne von LURIA (siehe S.46). Dies heißt, dass wir – � zum einen den Erwerb von Wissen über die Objektwelt nicht vom

Spracherwerb als solchen trennen können; – � zum andern unser Augenmerk darauf richten müssen, welche Konzepte die

Kinder mit bestimmten Wörtern aus dem physikalischen und technischen Bereich verbinden.

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 215

Begriffserweiterung als situierte Aktivität GREENO (1991) bzw. ROTH (1995) greifen die Idee des Begriffs als 'Werkzeug' auf, die den Lernenden hilft, sich in konzeptuellen Landschaften bzw. Umgebungen zu orientieren. GREENO (1991) benutzt den Begriff 'Umgebung' im Sinne einer physikalischen Metapher für einen intellektuellen Bereich mit räumlich verteilten Ressourcen. Lernen bzw. (Er)kennen wird in dieser Metapher mit dem Umziehen in eine neue Umgebung, Stadt... gleichgesetzt und – � dem Kennen der Wege, d.h., wissen, wo sich Ressourcen befinden und in

der Lage sein, diese Ressourcen für individuelles oder kollaboratives Lernen zu nutzen;

– � dem Interagieren mit dem Umfeld in eigenen Termini, d.h., das Terrain erkunden, Sinn haben für seine Schönheit und verstehen, wie die verschiedenen Komponenten zusammenwirken.

Für ROTH (1995, S.63) unterscheidet sich diese Sichtweise von kognitiven Lernansätzen in dem Sinne, dass hier der Wissende und das Gewusste 'the known') unzertrennbar sind. Der Lernende aktiviert hier keine kognitiven Strukturen, die eine ontologische Realität repräsentieren, und Denken erfolgt nicht durch Verbinden und interpretieren aktivierter Komponenten. Erkennen in der Umweltmetapher verweist auf die Fähigkeiten, Begriffe zu finden und zu benutzen anstatt Repräsentationen von Konzepten zu besitzen. ROTH (1995, S.63ff.) versteht unsere subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen als 'konzeptuelle* Umwelten'88, die wir bewohnen und die so vielfältig wie natürliche bzw. soziale Umwelten sind. Sie beinhalten natürliche als auch von Menschen geschaffene Bestandteile. Das Lernen innerhalb solcher Umwelten weist sowohl individuelle als auch soziale Dimensionen auf. Vergleicht man Lernen mit dem Umzug in eine neue Umgebung, etwa in eine neue Stadt, so können wir uns zur Orientierung Unterstützung von Einheimischen anfragen, welche die Gegend ja bereits kennen und uns bei etwaigen Erkundungen helfend zur Seite stehen. Andererseits können wir die Stadt aber auch auf eigene Faust erkunden. Dabei können wir solche direkten Erfahrungen auch mit dem Studium von abstrakteren Hilfen wie etwa Karten kombinieren, die uns andere Erfahrungen von den Merkmalen der Stadt vermitteln. Im Zusammenspiel des unterschiedlichen Interagierens mit unterschiedlichen Ressourcen lernen wir nach und nach die Stadt kennen, die dann im Laufe der Zeit immer mehr zu 'unserer' Stadt wird. 88 Während 'conceptual* environments' unsere ganze Wissenslandschaft ausmachen, verweisen 'conceptual

environments' lediglich auf präzise, spezialisierte Rahmenansätze wie etwa die NEWTONsche Physik und stellen auch nur einen Teil der gesamten Karte dar. Die Trennung zwischen konzeptuellen und erfahrungsgebundenen Bereichen verweist auf die Schwierigkeiten, die beim Überwechseln von einem Bereich in einen anderen entstehen. So können Phänomene in verschiedenen Bereichen ganz unterschiedlich bezeichnet oder verstanden werden (Alltagssprache vs. Fachsprache; spontane vs. wissenschaftliche Begriffe).

Begriffe als Werkzeuge der geistigen Tätigkeit 216

Überträgt man diese Metapher auf den Aufbau einer neuen konzeptuellen und konzeptuellen* Umgebung im Bereich der Naturwissenschaften, so muss der Lernende ebenso die Möglichkeit haben, die Landschaft mit konzeptuellen Objekten und Beziehungen zu 'bevölkern' und mentale Modelle dieser Objekte auszuformen. Eine solche Umwelt beinhaltet ausgesuchte domänspezifische Objekte wie etwa Grafiken, Begriffe, Funktionen bzw. Messinstrumente, Versuchsaufbauten... Beim Umherstreifen in dieser Umwelt erlernt der Schüler auch die Operationen, mit denen er diese Objekte verändern kann. Dabei gehören solche Objekte allerdings oft verschiedenen Teilregionen eines konzeptuellen* Umfeldes an. Verweisen sie über den unmittelbaren Bereich hinaus auf keinen gemeinsamen Referenten, so verbleiben sie isoliert zueinander. Es gilt folglich, diese Landschaft zu erkunden, mit neuen Objekten anzureichern und Wege zu finden, um die einzelnen Teile der Gesamtlandschaft untereinander zu verbinden. So können z.B. einige Teile, die situativ ganz verschieden ausgeformt sind, dennoch strukturell sehr ähnlich sein. Dem Lernenden fällt folglich die Aufgabe zu, solche kruzialen Gemeinsamkeiten in ganz unterschiedlichen und originalen Erfahrungssituationen zu verstehen. Ein solches Umherstreifen in einer metaphorisch gedachten Landschaft hilft dem Lernenden, detaillierte Modelle bestimmter Erfahrungsobjekte aufzubauen. Dies erfordert zwar einen größeren Zeitaufwand, steht allerdings dem Folgen eines ökonomisch vorkonzipierten Weges radikal gegenüber wie er in der Schule oft vorgegeben wird. Der Aufbau einer konzeptuellen* Umwelt im Rahmen der Naturwissenschaften entwickelt sich in Analogie zur erwähnten Stadterkundung: Auch wenn wir im Rahmen eines kurzen Ferienaufenthaltes eine bestimmte Vorstellung einer Stadt entwickeln können, so erfordert das intime Kennenlernen dieser Stadt, dass man längere Zeit darin lebt und am kulturellen, sozialen Leben teilnimmt. Für das Gestalten von Lernumgebungen bedeutet dies, dass man sich von vorgezeichneten Führungen im Sinne lehrerbestimmter Routen und festgelegter Anweisungen verabschieden muss. Der Lernende muss selbst Objekte und Ereignisse aus der phänomenologischen Welt auswählen und dann erkunden. Ein solches Vorgehen fördert nach ROTH auch das dialektische Aufeinanderbeziehen von unterschiedlichen mentalen Modellen zu dem Bereich.

In our metaphor, knowledge of one region (A) can serve as a mental model for getting around in another region (B). But knowledge of region B could also serve as a model for getting around in region A. In this way, the mental models of regions A and B reify each other, or stand in a reflexive relationship. Region A can be used to elaborate one‘s understanding of region B, which in turn is used to elaborate one‘s understanding of region A" (ROTH, 1995, p.67).

Die angesprochenen mentalen Modelle und Metaphern wollen wir im nächsten Kapitel genauer analysieren.

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 217

K A P I T E L 5

MENTALE MODELLE ALS WERKZEUGE GEISTIGER TÄTIGKEIT Unsere Erläuterungen haben gezeigt, dass Kinder bereits ab ihrer Geburt interne Repräsentationen über Objekte der physikalischen Welt konstruieren. Die verinnerlichten kulturellen Modelle, die konstruierten Vorstellungen und impliziten Ideen leiten ihre Beobachtungen, Fragestellungen, Vermutungen sowie ihr Handeln. Sie bilden demnach die Werkzeuge, mittels derer jedes weitere Wissen über die physikalische Welt organisiert wird. Dabei scheinen auch spezifische mentale Repräsentationen – sogenannte 'mentale Modelle' – eine wichtige Rolle zu spielen. Wir verstehen diese als analoge und generative Repräsentationen, die uns helfen, bestimmte Phänomene oder Sachverhalte zu verstehen. Die meisten Modelle werden an Ort und Stelle entworfen, um mit den Anforderungen bestimmter spezifischer Situationen umzugehen. Lesen wir z.B. einen Roman, so erstellen wir auf der Basis der Schilderungen des Autors eigene mentale Modelle der im Buch beschriebenen Situationen. Wollen wir z.B. beim Petanque–Spiel feststellen, welche Kugel näher an der Zielkugel liegt, so kann u.a. die Modellierung mittels mentaler Dreiecke uns helfen, die Distanzverhältnisse zwischen den beteiligten Kugeln zu klären. Das Lösen offener, unscharf definierter Probleme erfordert vom Lernenden den Rückgriff auf unterschiedliche mentale Repräsentationen, unter denen mentalen Modellen eine zentrale Rolle zufällt. Erfolgreiches Problemlösen lässt sich nach GOTT ET AL. (1988) zumindest teilweise durch die Qualität der mentalen Modelle des Problemlösenden erklären. Bereits die Gestaltpsychologen DUNCKER (1935) und WERTHEIMER (1945) haben auf die Wichtigkeit der Problemrepräsentation bzw. des Problemverständnisses für die Lösung eines Problems hingewiesen. In vielen Fällen besteht die wesentliche Leistung des Problemlösens in der mental plausiblen Darstellung der Problemstruktur in einem geeigneten Medium bzw. in einem adäquaten aufgabenspezifischen Notationsformat (innerhalb des Mediums). Laut SENGE ET AL. (1994) reichen erste Ansätze 'mentaler Modelle' bis in die Antike zurück. Die Integration in die Wissensepistemologie wurde aber erst in den 40er Jahren durch den schottischen Psychologen Kenneth CRAIK vorgenommen. Seither beschäftigen sich sowohl Kognitionswissenschaftler89 89 In der Kognitionswissenschaft verweist der Begriff auf die semipermanenten taziten Karten ("maps") der

Welt, die die Menschen im Langzeitgedächtnis speichern sowie ihre kurzfristigeren Perzeptionen, welche Menschen im Rahmen ihrer alltäglichen Denkprozesse erstellen. Dabei können sich wiederholt erfahrene Veränderungen in den kurzfristigen alltäglichen mentalen Modellen auch allmählich in den tief verwurzelten

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 218

wie etwa MINSKY oder PAPERT am MIT oder auch Manager im Rahmen der Organisation, des Designs und des Verstehens von computergestützten Produktionssystemen mit diesem Konzept. Für JOHNSON–LAIRD (1983) basiert unser Verständnis der Welt auf der Konstruktion entsprechender innerer Modelle90.

"It is now plausible to suppose that mental models play a central and unifying role in representing objects, states of affairs, sequences of events, the way the world is, and the social and psychological actions of daily life" (ibid., p.397).

HOLLAND ET AL. (1986) postulieren, dass mentale Modelle die Basis aller Denkprozesse darstellen:

"Models are best understood as assemblages of synchronic and diachronic rules organized into default hierarchies and clustered into categories. The rules comprising the model act in accord with the principle of limited parallelism, both competing and supporting one another" (ibid., p.343).

NORMAN (1983) beschreibt sie wie folgt: "In interacting with the environment, with others, and with the artifacts of technology, people form internal, mental models of themselves and of the things with which they are interacting. These models provide predictive and explanatory power for understanding the interaction" (1983, p.7)

Mentale Modelle sind Konstrukte, die in der Regel aufgrund analogem und metaphorischem Denken entstehen (vgl. STAGGERS & NORCIO, 1993). Lernende übertragen bzw. verallgemeinern verfügbare Modelle auf neue Phänomene mittels eines Prozesses, den GENTNER & GENTNER (1983) als ‚structure-mapping’ bezeichnet haben. Dabei werden die strukturellen Zusammenhänge eines bekannten Sachverhalts auf einen neuen übertragen, um diesen zu organisieren bzw. zu verstehen wie etwa beim häufig verwendeten Rückgriff auf einen Wasserkreislauf, um den Stromfluss in einem Schaltkreis zu erklären (siehe auch S.236).

Abbildung 61: Stromkreislauf in Analogie mit Wasserkreislauf (GLYNN, 1997)

Langzeitmodellen im Gedächtnis niederschlagen.

90 Die Konstruktion mentaler Modelle stellt auch eine wichtige Komponente in dem von PIAGET beschriebenen Prozess der Akkomodation mit der Welt dar, bei dem Differenzen zwischen der Partikularität einer angetroffenen Realsituation und dem diesbezüglichen Verständnis des Subjekts äquilibriert werden.

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 219

Neuere ‚Conceptual change’-Ansätze (vgl. DUIT, 1995; SCHNOTZ, 1996; VOSNIADOU, 2001) beschränken z.B. das Ausbilden von Konzepten nicht nur auf die lexikalische Komponente sprachlich angemessener und korrekter Bezeichnungen, sondern binden auch verstärkt im Sinne des 'pictural turn' bildlich–räumliche Informationen in die Konstruktion naturwissenschaftlich–technischer Konzepte mit ein. Auch außerhalb der Kognitionswissenschaften stößt man auf mentale Modelle. So zeigte HUTCHINS (1983) am Beispiel der Mikronesischen Puluwat Navigationstechniken, wie erfahrene Seefahrer aufgrund von Wassserströmungen, Himmelszeichen, Inseln und Landzeichen, aber ohne Rückgriff auf Karte und Kompass mentale Modelle konstruieren, um in diesem Inselarchipel im Pazifik virtuos zu navigieren. Dabei integrieren Puluwat Navigatoren neben realen Gegebenheiten auch imaginäre Inseln ihre Modelle, um z.B. Distanzen zu berechnen. Mentale Modelle besitzen neben der darstellenden auch eine wichtige heuristische Funktion, d.h., sie veranschaulichen nicht nur komplexe Sachverhalte, sondern helfen auch neue Ideen zu generieren. Verweisen kann man dabei z.B. auf Einsteins Gedankenexperimente, mit denen er Theorien konstruierte und testete (vgl. HEWITT, 1989). Auch der zweifache Nobelpreisträger Linus PAULING bemerkte:

"The greatest value of models is their contribution to the process of originating new ideas" (1983).

Sein wichtigstes Laboratorium war nach eigenen Aussagen sein Bewusstsein, in dem er mentale Modelle entwarf, die dann u.a. zur Entwicklung physikalischer Modelle der Proteinstruktur führten. ROTH (1995, S.66) verweist zusätzlich darauf, dass das Operieren mit Objekten in mentalen Modellen auch soziale Aspekte umschließt. Zum einen verweisen sie oft auf Interaktionen, Gesten... – also auf Dinge, die wir mit anderen Menschen tun. Zum anderen sind auch materielle Objekte wie etwa Artefakte und Werkzeuge einer Kultur sozialen Ursprungs und entspringen nicht einer individuellen oder unabhängigen Konstruktion. Die Konstruktion eines mentalen Modells einer Karte basiert z.B. auf der sozialen Natur von Karten, auch wenn wir uns das Kartenlesen autodidaktisch angeeignet haben. Besonders zu den Sachbereichen der elementaren Naturwissenschaft bzw. Technik bietet unsere Kultur bekanntlich vielfältige Darstellungen und Modelle an, mit denen Kinder in unterschiedlichen Kontexten in Kontakt kommen.

MENTALE MODELLE ALS SUBJEKTIVE WIRKLICHKEITSKONSTRUKTIONEN Mentale Modelle sind konzeptuelle und operationelle Repräsentationen, welche Menschen im Umgang mit komplexen Sachverhalten bzw. Systemen aufbauen.

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 220

Auf der Basis ihrer vielfältigen Erfahrungen erstellen sie ein mentales (Arbeits-)Modell eines Sachzusammenhangs, um das sie ihr Wissen bzw. ihre Theorien organisieren, um bestimmte Kausalzusammenhänge zu deuten. Sie umfassen Repräsentationen der bereichsspezifischen Objekte bzw. Ereignisse sowie die sie verbindenden strukturellen Verknüpfungen. Demzufolge können ganz unterschiedliche Repräsentationen in ein mentales Modell einfließen und demzufolge interindividuell wie auch intraindividuell variieren. Im Gegensatz zu kognitiven91 oder konzeptuellen92 Modellen (vgl. JONASSEN, 1995), die anleiten, wie Lernende bestimmte Systeme oder Bereiche auf ideale Weise repräsentieren sollen, stellen mentale Modelle den augenblicklichen subjektspezifischen Interpretationsrahmen eines Bereichs wie z.B. eines Stromkreislaufs dar. Gegenüber der expliziten offiziellen Auffassung variiert ein solches Modell oft ganz erheblich aufgrund des impliziten und expliziten individuellen Vorwissens, der subjektspezifischen Sinnauslegungen und der persönlichen Annahmen zu Zweck und Funktionen eines Systems. Ein solches Modell umfasst oft nur vereinfachte bzw. unvollständige oder fragmentarische Repräsentationen komplexer Phänomene oder Zusammenhänge. Es umschließt in der Regel Fehler und Widersprüche, so dass man, vom naturwissenschaftlich–technischen Standpunkt aus betrachtet, kaum von einer 'akkuraten' mentalen Repräsentationen eines Phänomens oder Systems sprechen kann. Trotz seiner vagen Validität bzw. Unkorrektheit gestattet ein derartiges Modell dem Subjekt ein angemessenes Handeln in vertrauten und unbekannten Situationen (siehe die mentalen Modelle der Erde S.111). ROTH (1995) fasst die Unzulänglichkeiten mentaler Modelle in folgenden drei Punkten zusammen: – � Sie sind (notwendigerweise) unvollständig und instabil (vgl. NORMAN

1983). Einerseits umfassen sie nur partielle Beschreibungen der phänomenologischen Welt und andererseits geraten oft charakteristische Details, die für ihr Funktionieren wichtig sind, mit der Zeit in Vergessenheit.

– � Sie enthalten oft alltägliche und alberne Annahmen, die sie in der empirischen und konzeptuellen Welt der Physik nicht viabel machen.

– � Sie haben keine festen Grenzen, so dass es zu Verwechslungen von ähnlichen Elementen kommen kann und folglich zu inadäquaten Anwendungen des Modells. Voraussagen auf der Basis entsprechender Modelle werden in Erfahrungssituationen nicht bestätigt (ibid., S.66).

Mentale Modelle entwickeln sich parallel zur kontinuierlichen Interaktion des Individuums mit dem Sachverhalt bzw. dem System weiter. So kann z.B. die

91 Kognitive Modelle werden vor allem von Kognitionspsychologen entworfen. Sie verwenden dabei

informationsverarbeitende Vorstellungen von Fertigkeiten und Propositionen, um Prozesse zu beschreiben, bei denen Menschen Probleme lösen, Computersysteme benutzen, Computer programmieren... Sie berücksichtigen nicht, wie Lernende sich tatsächlich Aufgaben oder Systeme vorstellen.

92 Konzeptuelle Modelle verdeutlichen dem Lernenden, wie die Begriffe einer Domäne untereinander zusammenhängen und wie sie sich ein System vorstellen sollen.

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 221

Konstruktion eines mentalen Modells einer Stadt einerseits durch die progressive Verinnerlichung eines Stadtplanes erfolgen oder andererseits durch eigene Erfahrungen in der Stadt. Angesprochen auf eine Wegbeschreibung zu einem bestimmten Ort können wir uns auf einer inneren Landkarte orientieren oder gedanklich eine Fahrt an vertrauten Plätzen entlang durch die Stadt beschreiben. Ein gutes Verständnis der Stadt beruht, in Anlehnung an COLLINS (1990), auf der Konstruktion der beiden Typen mentaler Modelle sowie ihrer Integration. Inwieweit wir unterschiedliche mentale Modelle in Anlehnung an spezifische Darstellungsmodi entwerfen, ist eine Frage, die wir in Laufe unserer Ausführungen noch ansprechen werden.

MENTALE MODELLE SIND DYNAMISCHE KONSTRUKTIONEN Mentale Modelle werden oft als Netzwerke oder Karten konzipiert, die eng an sprachliche Ansätze angelehnt sind (vgl. CARLEY & PALMQUIST, 1992). JONASSEN (1995) hält entsprechende Annahmen für notwendig aber keinesfalls für ausreichend, um mentale Modelle zu definieren. Sie sind mehr als nur strukturelle Karten der Komponenten und beschränken sich keinesfalls nur auf – � das Bewusstsein der strukturellen Anordnungen der Komponenten des

Systems inklusive ihrer Beschreibungen, ihrer Funktionen und ihres spezifischen Zusammenwirkens;

– � ein Kausalitätsmodell, das die Performanzen des Systems beschreibt und voraussagt;

– � ein ausführbares Modell, das die Funktionsweise des Systems veranschaulicht.

Mentale Modelle sind dynamische Konstruktionen. Sie sind multimodal und multi-dimensional.

"Mental models are complex and inherent epistemic, that is, they form the basis for expressing, how we know what we know."

Gerade ihr dynamischer und emergenter Charakter macht sie zu interessanten Werkzeugen geistiger Tätigkeit, da unterschiedliche Repräsentationsmodi und -formate eines präzisen Sachverhalts wie propositionale, bildlich–räumliche... Vorstellungen mit anderen psychologischen Werkzeugen kontextspezifisch in Interaktion treten (siehe unsere näheren Ausführungen ab S.230). Ihre epistemische Natur erklärt, wieso sie für andere nicht ganz durchschaubar sind und auch vom Erkennenden selbst nicht unbedingt verstanden werden. Ähnlich wie jedes Wissen müssen sie von Performanzen aus abgeleitet werden. Mentale Modelle sind prozessorientiert und recht schwierig zu fassen. Da sie nur über multiple Datenquellen erfasst werden können, definierte JONASSEN (1995)

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 222

Evaluationskriterien, um die Qualität und die Nützlichkeit individueller mentaler Modelle zu beurteilen (siehe Abbildung 63).

CHARACTERISTIC MEASURE

Coherence Structural knowledge, Think-aloud

Purpose/Personal Relevance Self-report, Cognitive interview

Integration Cognitive simulation

Fidelity with Real World Comparison to expert

Imagery Generating metaphors, analogies

Complexity Structural knowledge

Applicability/Transferability Teach back, think aloud

Inferential/Implicational Ability Running the model

Abbildung 62: Evaluationskriterien für mentale Modelle (JONASSEN, 1995).

Eine Reihe von Lehr–Lern-Ansätzen (vgl. u.a. ASTOLFI ET AL., 1997a,b; GIORDAN ET AL., 1997; GLYNN, 1997) ermuntern die Schüler, ihre mentalen Modelle von bestimmten Sachbereichen zu zeichnen bzw. mit leicht zu beschaffenden Alltagsmaterialien nachzubauen. Dies hilft den Schülern, ihre Denkweisen zu einem Konzept zu konsolidieren und eigentümliche Vorstellungen ('misconceptions') zu identifizieren. Diese Produkte des Malens und des Bauens sind aus handlungstheoretischer Perspektive Vergegenständlichungen93 individueller Sinnauslegungen. Das Kind erfährt sich dabei als Akteur, erkennt sein Einwirken auf die Umwelt und kann sich so der Umwelt gegenüberstellen. Der Akteur wir so zum Schöpfer und erweitert seine Kontrolle über die Umwelt. Im Laufe der Unterrichtsarbeit evoluieren diese Bilder von sehr einfachen zu kontinuierlich ausgefeilteren Darstellungen. Bildliche Darstellungen stellen demnach durchaus ein adäquates Einschätzungsinstrument für das Verstehen der Schüler dar. Entscheidend ist auf jeden Fall, dass die Kinder ihre Bilder ausführlich kommentieren und diesbezügliche Fragen beantworten können. In Zusammenhang mit dem Enkulturieren de Schüler in bestimmte wissenschaftsnahe Praktiken fällt auch dem Lehrer die Aufgabe zu, die eigenen Erklärungsmodelle mittels graphischer Darstellungen zu explizieren und zu erläutern. Einerseits wird den Schülern die Bedeutung dieser Tätigkeit im Rahmen der Diskussion verschiedener Erklärungsansätze bewusst, andererseits können auf diese Weise unterschiedliche Modelle für ein bestimmtes Konzept einander gegenübergestellt werden. Den Schülern wird zudem klar, dass

93 Handlung als Gegenstandsbezug bzw. als Ich–Umwelt-Bezug konstituiert sich im Sinne der Tätigkeitstheorie

von LEONTJEW durch dynamische Komponenten dieses Bezugs, die als zwei dialektische Begriffspaare gefasst werden können: Aneignung–Vergegenständlichung sowie Subjektivierung–Objektivierung. Sie beschreiben die Dynamik der Handlung als quasi-räumliche Bewegungen (OERTER, 1997, S.183).

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 223

Modelle hier als flexible (Denk-)Werkzeuge aufgefasst werden, die je nach Gesichtspunkt unterschiedliche Merkmale des Konzepts in den Vordergrund rücken. Sie geben Anlass für kontroverse Auseinandersetzungen zu strukturellen und funktionalen Dimensionen physikalischer Sachverhalte.

MODELLIERUNGEN UND DENKWEISEN AM BEISPIEL DES ELEKTRISCHEN STROMES Am Beispiel des Stromflusses in einem Stromkreis lassen sich die mentalen Modelle der Kinder sowie die beabsichtigte Modellierung mittels einer Analogie (siehe S.245) sehr eindrucksvoll verdeutlichen. Die Idee des geschlossenen Kreislaufs ist Kindern kaum vertraut, bevor sie im Rahmen von konkreten Versuchen auf diesen Sachverhalt hingewiesen werden. Das liegt vor allem daran, dass der Umgang mit elektrischen Apparaten, der heute allen Kindern geläufig ist, die Konstruktion einer solchen Vorstellung kaum anregt: – � zum einen gibt es weder umgangssprachliche Redewendungen noch

technische Termini, welche die Idee eines Stromkreises generieren würden; – � zum anderen weiß das Kind aus Erfahrung, dass die Geräte mit einem

einzigen Kabel an das elektrische Stromnetz angeschlossen werden. Die beiden Stifte des Steckers bzw. die Drähte im Anschlusskabel lassen kaum auf einen Stromkreis schließen.

Wie haben bereits darauf hingewiesen (siehe S.178ff.), dass eine Vielzahl der unterschiedlichen Erklärungsansätze zum Stromkreis auf der Metapher basiert, Strom sei eine stoffliche Substanz, die in der Batterie (Quelle) produziert bzw. gelagert wird. Vom Minus- bzw. Pluspol aus fließt er – auf unterschiedliche Weise) – über beide bzw. einen der Drähte zum Lämpchen (Verbraucher), wo er verbraucht wird. Bei dieser Vorstellung handelt es sich um eine bedeutsame kognitive Konstruktion des Kindes – MAICHLE (1979) spricht vom „Geben-Schema“ bzw. „Nehmen-Schema" – und keinesfalls um eine naive Beschreibung einer Wahrnehmung. Ein Kind hat keine empirische Möglichkeit, den Strom in einem Kabel 'fließen' zu sehen. Es muss diese Annahme schon konstruieren. Wie schwierig es ist, solche Denkweisen zu verändern verdeutlichen u.a. die Untersuchungen von OSBORNE (1983). Ausgehend von der Frage, warum man zwei Drähte zwischen Batterie und Verbraucher (Glühlampe / Klingel) benötigt, belegt der Autor vier unterschiedliche Kindervorstellungen (siehe Abbildung 63). OSBORNE (1983) konfrontierte die Kinder anschließend mit diesen 4 Modellen, die sie kommentieren mussten hinsichtlich ihres aktuellen Interpretationsrahmens, aber auch bezüglich früherer vertretener Erklärungsansätze. Dabei stellte man ein häufiges Wanken bzw. Hin- und Herwechseln zwischen unterschiedlichen Modellen bei den Kindern fest.

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 224

Während Modell C den Kinder noch einleuchtete, lehnten z.B. sämtliche Kinder das wissenschaftlich korrekte Modell D als unzulänglich ab mit der Begründung: – � Wie kann dieses Modell die Glühlampe am Leuchten halten? – � Das ist falsch. In der Glühlampe wird Elektrizität verbraucht. – � Auf diese Weise würde ja die Batterie nie leer werden..., was doch der Fall

ist.

a. ein Ein-Draht-Modell

Der Strom fließt über einen Draht (den oberen bei der Rundbatterie), der zweite Draht ist vorerst sinnlos und überflüssig. Das Kind betrachtet demnach lediglich einen Pol der Batterie als aktiv, so dass im 2. Draht kein Strom fließt. Lenkte man die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Existenz des 2. Drahtes, so änderten sie ihre Meinung nicht und erklärten diesen Draht als ‚Sicherungsdraht‘ bzw. als eine Art Katalysator, der erforderlich ist, um die Glühlampe am Leuchten zu halten.

b. ein Zwei-Fluss-Modell (35 von 40 Kindern)

Bei diesem Modell strömt der Strom aus zwei Polen zur Glühlampe. Das Leuchten erfolgt durch den Zusammenstoß zweier Elektrizitätsströme (im Sinne einer positiven und negativen Elektrizität, wie sie auch der französische Physiker AMPERE 1775 – 1836 ins Auge gefasst hat). GÖTZ, DAHNCKE & LANGENSIEPEN (1992) sprechen auch von einer „Reaktionshypothese bzw. Zweistoffhypothese“.

c. ein Rund-Fluss-Modell (5 von 40 Kindern)

Bei diesem Modell fließt der Strom in eine einzige Richtung. Da die Schüler annehmen, dass Strom in der Glühlampe verbraucht wird, führt der Rückfuhrdraht weniger Strom als der Zulieferungsdraht.

Die Notwendigkeit eines zweiten Drahtes begründen Viertklässler u.a. durch die beiden Laschen an der Flachbatterie oder durch die Möglichkeit, dass der Strom abfließen kann, weil sonst das Lämpchen verstopfe und kaputt gehe (QUAST 1984).

d. ein Rund-Fluss-Modell

Bei diesem Modell wird die Stärke des Stroms in den beiden Drähten als gleich stark aufgefasst.

Abbildung 63: Stromfluss-Modelle von Kindern (OSBORNE & FREYBERG, 1985/1994, S.23f.).

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 225

Die folgende Grafik von OSBORNE verdeutlicht, inwiefern die verschiedenen Vorstellungen der Kinder mit fortschreitendem Alter evoluieren:

Abbildung 64: Results of survey of electric current 'models' (OSBORNE & FREYBERG, 1985, p.26)

Das steigende Einverstandensein mit Modell C (bis etwa 15 Jahre) trotz gleichzeitigen Physikunterrichts belegt, inwiefern Kinder neue Informationen auf eine an sich ‚wissenschaftlich unkorrekte Art und Weise‘ interpretieren und in ihre eigenen Erklärungsansätze übernehmen. Dieser Umstand verdeutlicht sehr gut, dass nicht etwa punktuelles Faktenwissen für die Veränderungen der Vorstellungen entscheidend ist, sondern vielmehr die grundlegenden Denkweisen in einem Bereich. Das zugrundeliegende Denkschema der Kinder, mit dem sie den Stromfluss in einem Schaltkreis zu interpretieren versuchen, besteht in der Annahme eines sequentiellen Ablaufs von verschiedenen Ereignissen, die zeitlich nacheinander im Schaltkreis ablaufen: Der Strom verlässt die Batterie, durchwandert dann auf unterschiedliche Weise (siehe die Modell A – C) die einzelnen Komponenten in der entsprechenden Reihenfolge. Meisten kehrt er anschließend in die Batterie zurück. SHIPSTONE (1985) belegt diese Vorstellung bei 80% der 13jährigen. Viele Alltagserfahrungen in Zusammenhang mit Ursache und Wirkung generieren und unterstützen ein sequentielles Denkschema, das man als kulturelles Modell im Sinne von GEE (1997) bezeichnen kann. Es erschwert, dass Kinder einen Stromkreis als zusammenhängendes System auffassen bzw. die Interaktionen berücksichtigen, welche durch eine lokale Veränderung im Stromkreis wie z.B. durch Einfügen eines weiteren Lämpchens erfolgen. Solche Veränderungen wirken sich ja auf den gesamten Stromkreis aus und nicht nur auf den betreffenden Teil 'stromabwärts' ab der Stelle der Veränderung. Auch GAULD (1985) belegte die Schwierigkeiten, um Kinder zu einer Weiterentwicklung eines stromkonsumierenden Rundflussmodells (Modell C) zu bewegen. Sogar das Ablesen von zwei Stromstärkemessgeräten, die rechts und links vom Glühlämpchen eingebaut wurden und die gleiche Stromstärke in beiden Schaltkreissegmenten anzeigten, führte allenfalls zu einem temporären

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 226

Aufgeben ihrer Vorstellung. Nach einer bestimmten Zeit kamen die Schüler auf ihr Initialmodell zurück. Das erwähnte Hin- und Herwechseln konnte auch ASSELBORN (1997) in einer Untersuchung mit zehnjährigen Kindern beim Bau eines einfachen Stromkreises mit den Materialien der luxemburgischen Versuchskartei belegen. Dabei bauten die Kinder zuerst einen Stromkreis, in den sie anschließend einen Schalter einfügten. Zuletzt bauten sie mehrere Glühlampen in Serie im Sinne einer einfachen Weihnachtsbaum-Beleuchtung ein.

"Diane (10 Jahre) verhält sich wie folgt (Schalter eingebaut, vorerst noch nicht geschlossen):

Zuerst als der Stromkreis offen ist, glaubt sie, der Strom käme von 2 Seiten: von der Batterie bis zur Glühlampe und von der Batterie bis zum Schalter. Zwischen Schalter und Glühlampe wäre überhaupt kein Strom.

Dann als der Stromkreis geschlossen ist, sagt sie, der Strom würde im Kreis gehen. Bei der Konfrontation der ‚Kreistheorie‘ mit der Theorie ‚der Strom trifft sich in der Glühlampe‘ glaubt sie, es wäre ja nun anders als vorher, weil der Schalter eingebaut ist, und weil dieser ja ‚da irgend etwas auseinander drückt‘. Wenn der Schalter eingebaut ist, macht der Strom einen Kreis, und wenn der Schalter wieder ausgebaut ist, geht der Strom wieder von zwei Seiten fort und trifft sich in der Glühlampe” (ibid., S.121).

Später nach dem Einbau mehrerer Glühlampen in den Stromkreis ändert sie dann ihre Vorstellung, sogar rückwirkend:

„Beim dritten Versuch spricht sie wieder vom Kreis, aber im Gegensatz zu den beiden vorigen Kindern behält sie den Kreis bei94 ... Sie sagt nun, der Strom würde immer im Kreis gehen, auch schon beim 1. Experiment (ohne Schalter), eine Vorstellung, gegen die sie sich vorher noch gewehrt hatte” (ibid., S.147).

Beim Einbau mehrerer gleicher Komponenten in einen Kreislauf spielen das Quelle–Verbraucher-Modell und die sequentielle Vorstellung des Stromflusses auf interessante Art und Weise zusammen, wie es aus den beiden Illustrationen von SHIPSTONE (1985) hervorgeht.

Abbildung 65: Abbildung aus SHIPSTONE (1985, S.36)

94 Diese Kinder zeigen bei der Serienschaltung den Weg des Stroms nach der Kreistheorie. Wurden sie aber auf

die Meinungsänderung angesprochen, so kamen sie wieder auf ihren ursprünglichen Ansatz zurück: Der Strom kommt von 2 Seiten und trifft sich in der Glühlampe.

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 227

Fügt man eine zweite Glühlampe in einen Stromkreis ein, so vermuten Kinder mit Erklärungsmodell C (siehe S.224), dass die zweite Glühlampe weniger hell leuchtet, da sie weniger Strom erhalten wird. Leuchten jetzt alle beiden Glühlampe weniger hell, so erklären die Kinder dies damit, dass sich die Glühlampen den verbleibenden Strom teilen. Die Leuchtkraft der Glühlampen wird als gleich angesehen, die Stromstärken allerdings nicht. Auch hier behalten die Kinder zuerst einmal ihre vertrauten Denkweisen bei, um anfallende Phänomene zu deuten. Dies äußert sich darin, dass die Kinder Mühe haben den Stromkreis als ein Ganzes bzw. als ein System aufzufassen, in dem alle Elemente in kontinuierlicher Interaktion sind. Das Phänomen, dass die Leuchtkraft der im Schaltkreis eingebauten Glühlampen mit dem Anstieg der Anzahl dieser Lampen immer weiter abnimmt, versuchen Kinder mit allen möglichen Erklärungen zu deuten, wie es ASSELBORN (1997) belegt: Kinder (12) Äußerungen (Mehrfachaussagen erlaubt)

8 zu viele Glühlampen für den Strom in der Batterie.

4 Kinder präzisieren, der Strom müsse sich auf die verschiedenen Glühlampen verteilen

2 davon ergänzen noch, dass jede einzelne Glühlampe deshalb weniger Strom bekäme.

5 geben dem Material die "Schuld".

3 Vermuten, dass die Batterie platt sei.

1 es würde nun weniger Strom von der Batterie fortgehen,

1 die Batterie hätte nun weniger Strom.

3 von der Batterie geht immer noch die gleiche Menge Strom fort

3 es wären diesmal andere Glühlampen.

1 Glaubt oder hofft, die Glühlampen würden mit der Zeit noch heller werden, wenn sie einmal wärmer sind (Analogie mit Sparlampen).

2 Längerer Weg, den der Strom jetzt gehen muß.

3 Zweifeln an ihren eigenen Fähigkeiten:

2 glauben, sie hätten irgend etwas nicht richtig festgeschraubt,

ein Kind meint, es hätte irgend etwas falsch gemacht (ibid., S.128f.).

Abbildung 66: Kinderaussagen zu Serienschaltungen (ASSELBORN, 1997)

Die angeführten Beispiele verdeutlichen, dass kindlichen Vorstellungen weder durch Belehrung, noch durch demonstrierte Evidenz in Versuchssituationen bzw. durch Aneinanderreihung von isolierten Wissensbestandteilen behoben werden können. Bestenfalls übernimmt der Schüler einige Bruchstücke der

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 228

Lehrererklärungen in seine 'Eigenvorstellung'. Das Richtigstellen zusammenhängender Systeme von Überzeugungen bzw. die Weiterentwicklung naiver Theorien setzt eine Korrektur des gesamten Denkens innerhalb einer Disziplin voraus. Die an wissenschaftliche Modelle gebundenen Denkweisen liegen oft soweit von den augenblicklichen Denkmodi der Kinder entfernt, dass es wiederholter, abgestufter Brüche und zwischenzeitlicher Anwendungsphasen bedarf, um die beiden einander anzunähern Die Veränderung des kindlichen Interpretationsrahmens ist demnach ein langwieriger Prozess, der offenbar mehrere Jahre in Anspruch nimmt. Die kindlichen Denkweisen müssen deshalb immer wieder in den verschiedenen Unterrichtsgraden aufgegriffen werden und durch aktiven Gebrauch im Sinne von 'Werkzeugen' erweitert und ausdifferenziert werden.

KONSTRUKTION EINER PARTIKULARISIERTEN REPRÄSENTATION EINE SITUATION Angesichts der bereits erwähnten Kontextabhängigkeit menschlicher Kognition ist das Verstehen eines Sachzusammenhangs bzw. das erfolgreiche Bewältigen einer Aufgabe oft nur möglich, wenn dem Subjekt die genauen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Elementen der Situation bewusst sind. Dieser Umstand kann durch die Ausbildung einer partikularisierten Repräsentation erheblich gefördert werden, wie es z.B. Untersuchungen zum Problemlösen belegen. Ausgehend von den in der Aufgabenstellung wie z.B. in einem Text enthaltenen allgemeinen Informationen wird dabei ein spezifisches, bis ins letzte Detail partikularisierte Situationsbild konstruiert, einschließlich räumlicher Merkmale und individualisierter Objekte. In diesem Punkt unterscheidet es sich von einem relationalen Netz, dessen Inhalte nur propositionaler Natur95 sind. Die Konstruktion wird durch partikularisierende Inferenzen realisiert. Eine partikularisierte Deutung einer Situation, die sowohl auf Erinnern als auch auf Handeln ausgerichtet sein kann, charakterisiert sich für den Kognitionsforscher RICHARD (1995) durch vier Hauptkriterien: – � Es handelt sich um eine Partikularisierung der im Text enthaltenen

Informationen, und von dieser fundamentalen Charakteristik hängen alle anderen ab. Sie kann jede der beiden Formen der Beziehung ‚Kategorie–Exemplare‘ einnehmen, auf die RICHARD verweist: Genre–Spezies (allgemein–partikular) bzw. Funktion–Realisierungsmodus (Ergebnis der Handlung–Ablauf der Handlung). Man kann deshalb davon ausgehen, dass bei diesem Prozess bevorzugt auf typische Vertreter einer Kategorie bzw. typische Realisierungsmodi zurückgegriffen wird. Für RICHARD leiten sich

95 vgl. die Präzisierungen von SCHNOTZ im Anschluss (S.231ff.).

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 229

die Typizitätseffekte vom Prozess der Partikularisierung ab. Das Bedürfnis nach Partikularisierung motiviert die Auswahl typischer Fälle und entsteht dadurch, dass wir vor allem in bezug auf partikulare Situationen gut überlegen können.

– � Eine partikularisierte Repräsentation basiert auf einer propositionalen Repräsentation und stellt demnach ein tieferes Verarbeitungs- und Verstehensniveau dar. Verstehen erfolgt in einer ersten Etappe vom oberflächlichen Verstehen der Angaben zu einer propositionalen Repräsentation. In einer zweiten, optionalen Etappe geht das Verstehen dann vorwiegend, aber nicht exklusiv von den propositionalen Repräsentationen aus hin zur Konstruktion eines mentalen Modells, dessen Struktur analog zu dem im Text beschriebenen Situationszustand ist.96

– � Die Partikularisierung erfordert Inferenzen, die im Gegensatz zur Konstruktion propositionaler Repräsentationen nicht automatisch, sondern optional erfolgen und von anderen Kontrollmodi zeugen als beim Erstellen der textuellen Kohärenz.

– � Die Partikularisierung benutzt bildliche Repräsentationen. Die bildlichen Repräsentationen konservieren die räumlichen Relationen, welche eine wesentliche Rolle in der Fixierung des Rahmens spielen, in dem die Szene sich abspielt. Zum anderen erlauben sie, auf ökonomische Art und Weise Inferenzen zu machen. Diese Konstruktion der bildlichen Repräsentationen wird nicht durch die Wahrnehmung gesteuert, auch wenn sie auf abgespeicherte bildliche Informationen zurückgreift. Sie ist die Ausführung eines Partikularisierungsprozesses und von Natur aus absteigend.

Ein typisches Beispiel der Konstruktion einer partikularisierten Repräsentation im schulischen Kontext ist die bildliche Darstellung eines Geometrie- oder Flächenumwandlungsproblems, die in allen Details kompatibel zu den Angaben der Problemangabe sein muss. Solche Konstruktionen sind sehr komplex für den Schüler – ein Umstand, der oft vom Lehrer falsch eingeschätzt wird. Sie sind hoch konzeptualisiert, d. h., wenn der Schüler nicht über die Konzepte verfügt, welche den zugrundeliegenden propositionalen Repräsentationen entsprechen, so ist er nicht in der Lage, sie zu verstehen. Es genügt auf keinen Fall 'zu sehen, um zu verstehen‘, was an die von den Gestaltpsychologen betonte Problemrepräsentation erinnert und diese zugleich um die konzeptuelle Dimension erweitert. RICHARD (1995) weist darüber hinaus darauf hin, dass bei mathematischen Problemen die Repräsentation zudem oft präziser sein muss als die zu repräsentierende Information. Müssen z.B. bei einer Geometrieaufgabe drei 96 Ähnliche Unterscheidungen machen auch KINTSCH & VAN DIJK (1983) in ihrem Situationsmodell zum

Textverstehen und RICHARD (1986), für den die Bearbeitung der Vorbedingungen und der Realisierungsmodi einer Handlung immer das Bearbeiten des Resultats der Handlung mit einbezieht – ein Umstand, der umgedreht nicht der Fall ist. Für die Interpretation genügt das Resultat einer Handlung, weshalb und nicht auf welche Weise sie realisiert wurde.

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 230

Punkte auf einer Geraden festgelegt werden, wobei B rechts von A ist und C links von B, so kann C an zwei unterschiedlichen Stellen plaziert werden. Die Konstruktion der Repräsentation wird demnach oft durch im Laufe der Ausführung auftauchende Informationen in Frage gestellt, was zu einer Umstrukturierung der ganzen Situation führt.

Abbildung 67: Positionieren von Punkten auf einer Gerade bei einer Geometrie-Aufgabe

ZUSAMMENSPIEL DER KOMPONENTEN IM RAHMEN MENTALER MODELLE Zur Zeit werden in der kognitiven Psychologie zwei theoretische Konzeptionen zum Lernen in multimedialen Lehr–Lern-Systemen diskutiert, die eine Reihe struktureller Ähnlichkeiten aufweisen, sich aber hauptsächlich hinsichtlich einzelner Annahmen über interne kognitive Prozesse der Wissensrepräsentation unterscheiden. MAYER ET AL. gehen von einem mehrstufigen Verarbeitungsprozess aus, bei dem textuelle bzw. bildliche Informationen zunächst getrennt zu kodalitätsspezifischen97 Oberflächenrepräsentationen verarbeitet werden. In einem zweiten Verarbeitungsschritt erfolgt dann die inhaltliche Weiterverarbeitung der Information, die in zwei verschiedene mentale Modelle mündet. Eine rein textuelle Informationspräsentation führt zu einem verbal basierten mentalen Modell, eine nur bildliche Informationspräsentation zu einem visuell basierten mentalen Modell. Werden Informationen sowohl bildlich als auch textuell vorgestellt, kommt es zu referenziellen Verknüpfungen zwischen beiden mentalen Modellen98. Auch SCHNOTZ ET AL. (1999) postulieren einen mehrstufigen Prozess der Informationsverarbeitung, bei dem textuelle und bildliche Information zunächst getrennt zu Oberflächenrepräsentationen ('text surface representation vs. visual image') verarbeitet werden. In einer zweiten Phase erfolgt wiederum kodalitätsspezifisch die inhaltliche Weiterverarbeitung der Information. Beim 97 In Anhängigkeit vom verwendeten Symbolsystem (Code) wie etwa Text, Ziffern, Bilder.. 98 Nach BRÜNKEN ET AL. (2001) sind mentale Modelle in dieser Auslegung entweder textuell oder bildlich

basierte Repräsentationen, deren wesentliches Merkmal in der kohärenten Repräsentation von Elementen und deren (Ursache–Wirkungs-)Beziehungen besteht ('runnable mental models').

C B A A B C

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 231

Verstehen eines Textes generiert dabei das Individuum auf der Basis der mentalen Repräsentationen der Textoberflächenstruktur eine propositionale Repräsentation und konstruiert ausgehend von dieser Textbasis ein mentales Modell (vgl. die Arbeiten von KINTSCH & VAN DIJK). Beim Verstehen des Bildes hingegen generiert das Individuum ausgehend vom 'visuellen Bild' durch semantische Verarbeitungsprozesse ein mentales Modell und eine propositionale Repräsentation des dargestellten Gegenstandes. Demnach konstruiert das Individuum sowohl bei der Verarbeitung textueller als auch bei der Verarbeitung bildlicher Informationen eine mentale Repräsentation in Form eines mentalen Modells und einer propositionalen Repräsentation. Propositionale Repräsentation und mentales Modell interagieren dabei, sowohl beim Text- als auch beim Bildverstehen, mittels schemageleiteter Prozesse der Modellkonstruktion und Modellinspektion. Das permanente Zusammenspiel propositionaler Repräsentationen und mentaler Modelle beim Wissenserwerb anhand von sprachlichen und bildlichen Informationen verdeutlicht SCHNOTZ (1996) grafisch in der Abbildung 68. Den Rückgriff auf Schemata begründet der Autor durch den breiten Konsens in der Kognitionswissenschaft, dass das allgemeine begriffliche Wissen in Form von kognitiven Schemata gespeichert ist, welche die typischen Zusammenhänge innerhalb eines Realitätsbereichs repräsentieren. Wenn ein Subjekt einen Sachverhalt versteht, konstruiert es mit Hilfe dieser Schemata bzw. seinem allgemeinen Weltwissen eine spezifische mentale Repräsentation dieses Sachverhalts,

"indem über ein Wechselspiel von Top-Down- und Bottom-Up-Prozessen eine Schemakonfiguration herausgefunden wird, die am besten zu den vorliegenden Daten paßt" (ibid., S.24).

Abbildung 68: Schema der durch kognitive Schemata geleiteten Interaktion zwischen propositionalen Repräsentationen und mentalen Modellen beim Wissenserwerb anhand von Texten und Bildern (SCHNOTZ 1996, S.25).

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 232

Dabei geht man davon aus, dass beim Verstehen von Sachverhalten oder bei ihren Beschreibungen unterschiedliche Repräsentationen konstruiert werden, die sich in ihrer Form, ihrer Speicherungs- und Nutzungseffizienz und ihrer Anwendungsmöglichkeiten voneinander unterscheiden. Dabei wird vor allem zwischen propositionalen Repräsentationen und mentalen Modellen differenziert, die der Autor wie folgt beschreibt:

„Propositionale Repräsentationen bestehen aus komplexen mentalen Symbolen, die ähnlich wie die Sätze und Phrasen einer natürlichen Sprache nach bestimmten syntaktischen Regeln aus einfacheren Symbolen zusammengesetzt sind und insofern eine bestimmte Konstituentenstruktur besitzen. Durch eine Proposition wird zum Ausdruck gebracht, dass zwischen bestimmten Sachverhalten eine bestimmte Relation besteht. Eine propositionale Repräsentation ist insofern eine Beschreibung des repräsentierten Gegenstands in einer hypothetischen mentalen Sprache. Bei einem mentalen Modell hingegen handelt es sich um ein internes (hypothetisches) objektartiges Gebilde, das in einer Struktur- oder Funktionsanalogie zu dem dargestellten Gegenstand steht und den Gegenstand aufgrund dieser Analogie repräsentiert. Wie bei anderen analogen Modellen – ... – können dabei repräsentierte und repräsentierende Merkmale durchaus voneinander verschieden sein. Es muss sich bei mentalen Modellen also keineswegs um bildhafte Vorstellungen des jeweiligen Gegenstands handeln“ (ibid., S.24).

Mentale Repräsentationen sind demnach spezifische kognitive Werkzeuge, die der Orientierung über präzise Sachverhalte dienen. Sie werden aus allgemeineren kognitiven Werkzeugen, nämlich dem begrifflichen Wissen bzw. den ihm zugrundeliegenden kognitiven Schemata konstruiert. Dabei geht man davon aus, dass propositionale Repräsentationen und mentale Modelle für verschiedene kognitive Leistungen unterschiedlich gut geeignet sind. Ausgehend von sprachlichen Informationen, erfordert die Konstruktion einer propositionalen Repräsentation weniger Aufwand als die Konstruktion eines mentalen Modells. Zudem eignet sie sich aufgrund ihrer Nähe zur natürlichen Sprache gut dazu, den semantischen Gehalt solcher sprachlichen Informationsangebote zu speichern. Die Konstruktion eines mentalen Modells, basierend auf sprachlichen Informationen, erfordert dagegen einen höheren kognitiven Aufwand, besitzt aber den Vorteil, dass die größere Nähe zum repräsentierten Gegenstand besser geeignet ist, neue Informationen über diesen Gegenstand zu inferieren. SCHNOTZ ET AL. definieren demnach mentale Modelle als grundsätzlich analoge (depiktionale) Repräsentationen99, die einen Sachverhalt auf Grund einer strukturellen Übereinstimmung darstellen.

"Im Gegensatz zu visuellen Wahrnehmungen oder Vorstellungen handelt es sich bei mentalen Modellen um eine sensorisch unspezifische Form der depiktionalen Repräsentation. Außerdem unterscheiden sich mentale Modelle von visuellen Vorstellungen hinsichtlich ihres Informationsgehalts, da nur jene Teile der grafischen Konfiguration in die Modellbildung

99 interne Quasi-Objekte

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 233

einbezogen werden, die für die Bewältigung antizipierter Anforderungen relevant sind. Darüber hi-naus enthält das mentale Modell durch Aktivierung von Weltwissen auch Informationen, die im Bild nicht dargestellt sind" (BRÜNKEN ET AL, 2001, S.18).

Bei mentalen Modellen handelt es sich also keinesfalls um fertige, im Langzeitgedächtnis gespeicherte Strukturen, sondern

"um temporäre analoge Repräsentationen im Arbeitsgedächtnis, die aktuell konstruiert werden müssen und nur eine begrenzte Stabilität besitzen“ (SCHNOTZ, 1996, S.32).

Diese Brüchigkeit kann zu inkonsistenten Ergebnissen bei der Wissensanwendung führen. Konsistenz setzt demnach eine ausreichende Stabilität der mentalen Modelle voraus. SCHNOTZ (1996) verdeutlicht den Zusammenhang von mentalen Modellen und dem Erwerb bereichsspezifischen konzeptuellen Wissens im naturwissenschaftlichen Bereich. So muss man die u.a. von VOSNIADOU & BREWER (1992) aufgezeigten eigenwilligen Kompromissmodelle der Kinder (siehe S.111) als aktive, erfolgreiche Versuche werten, ihre 'naiven' Vorstellungen näher an fachdidaktische Vorstellungen anzulehnen und dabei sowohl den alten Wissensbeständen als auch den neuen Informationen gerecht zu werden. Der Grund für die falschen Modellkonstruktionen der Kinder liegt also nicht in einem mangelnden Verständnis der neuen Informationen oder an metakognitiven Defiziten, vorhandene Inkonsistenzen zu erkennen, sondern darin, dass sie Teile ihres bisherigen naiven Wissens aufgeben und auf diese Weise ihre Modellkonstruktion von inadäquaten Einschränkungen befreien müssen. Entgegen dem Anschein besteht bei diesen Erklärungsmodellen keine Inkonsistenz, denn diese ist nicht mit dem Nebeneinander von korrekten und inkorrekten Wissensbeständen gleichzusetzen. Entscheidend für Konsistenz oder Inkonsistenz von Wissen ist, ob die jeweils vorliegenden Propositionen miteinander kompatibel sind oder nicht, d.h., ob es gelingt, alle vorliegenden Propositionen über den betreffenden Erkenntnisgegenstand in ein mentales Modell zu integrieren.

„Kognitive Konflikte entstehen aus der Interaktion zwischen mentalen Modellen und propositionalen Repräsentationen, und sie manifestieren sich nicht auf der Modellebene, sondern auf der propositionalen Ebene“ (ibid., S.30).

Betrachtet man konzeptuelles Wissen als ein Werkzeug zur Erzeugung spezifischer mentaler Repräsentationen – propositionaler Repräsentationen und mentaler Modelle –, so werden den Schülern Unzulänglichkeiten und Defizite des eigenen konzeptuellen Wissens bei der Anwendung dieses Werkzeugs, d.h., der Interaktion und Konstruktion von verschiedenen mentalen Repräsentationen in bestimmten Kontexten offensichtlich – eine Tatsache, die erneut die

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 234

Kontextualisierung der Konstruktion und Interaktion der verschiedenen mentalen Repräsentationen hervorstreicht. Die Wahrscheinlichkeit des Aufdeckens konzeptueller Defizite hängt einerseits von der Variabilität der Nutzung des Wissens ab und andererseits, in enger Anlehnung an den eben erwähnten Punkt, von den kontextuellen Anforderungen, die der Lernende mit diesem Wissen (Werkzeug) zu bewältigen sucht. Hat z.B. der Lernende ein inadäquates mentales Modell konstruiert, was er dann auf variable Weise nutzt, so zeigen sich die Defizite darin, dass widersprüchliche Propositionen gleichzeitig ins Arbeitsgedächtnis gelangen und festgestellt werden können. Braucht er mit diesem Modell nur Anforderungen in einem partikularen Kontext zu bewältigen, welche die Widersprüchlichkeit der Propositionen nicht aufdecken, so bleiben diese Defizite unerkannt. Aufgrund der Situiertheit des Lernens verwenden Lernende zudem häufig in einem Kontext nur einen bestimmten Teil ihres Wissens und in einem anderen Kontext einen anderen Teil, so dass die Möglichkeit besteht, dass sie unterschiedliche kontextspezifische Modelle konstruieren, an denen sie dann einander widersprechende Informationen ablesen.

„Wenn nun zwischen diesen Kontexten aber eine so große ‚Distanz‘ besteht, dass die einander widersprechenden Propositionen niemals gleichzeitig ins Arbeitsgedächtnis gelangen, so bleiben die betreffenden Inkonsistenzen unbemerkt“ (ibid., S.33).

BRÜNKEN ET AL. (2001) verwenden die Modelle von SCHNOTZ und MAYER als theoretische Erklärungsansätze von Untersuchungsbefunden, die belegen, dass beim Lernen mit multimedialen Lehr–Lern-Systemen der Wissenserwerb und der -abruf von der Kodierungsform des präsentierten Lehrmaterials und der Testaufgaben abhängen. Dabei wurde deutlich, dass eine bildliche Aufgabenpräsentation zu höheren Leistungen als eine textuelle führt, wobei sich der Vorteil vor allem dann zeigt, wenn die zu bearbeitenden Testaufgaben auch bildlicher Natur sind. Eine generelle Überlegenheit bildlicher Lehrmaterialpräsentation konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Überträgt man die Befunde von BRÜNKEN ET AL. auf die Gestaltung von Unterricht, so muss man sich als Lehrender insgesamt fragen, inwieweit die von den Lernenden zu bewältigende Arbeitsaufträge effektiver auf der Ebene propositionaler oder depiktionaler Repräsentationen bearbeitet werden können. Für bestimmte Aufgabentypen gibt es in der Tat einen spezifischen Bildüberlegenheitseffekt (vgl. PAIVIO, 1986). Zudem wirft die angesprochene Problematik die Frage auf, mit welchen Instrumenten und unter welchen Umständen der Wissenserwerb evaluiert werden soll. Die Leistung beim Wissenserwerb in multimedialen Lehr–Lern-Systemen scheint nämlich auch von der Passung von Informationsdarbietung und -abruf abzuhängen100. BRÜNKEN ET AL. folgern daraus:

100 TULVING (1973) hat dies als "Enkodierspezifität" beschrieben.

Mentale Modelle als Werkzeuge geistiger Tätigkeit 235

"Hängt der Wissenserwerb beim Lernen in multimedialen Lehr–Lern-Systemen auch von der Art der zu lösenden Aufgaben und damit implizit von der Art des Lehrziels ab, wird die Aufgabenart selbst bedeutsam für die Methode der Wissensaneignung" (ibid., S.25).

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 236

K A P I T E L 6

ANALOGIEN UND METAPHERN ALS WERKZEUGE FÜR DAS VERSTEHEN

Bei der detaillierteren Besprechung mentaler Modelle haben wir bereits auf die Rolle des analogen bzw. metaphorischen Denkens für die Genese entsprechender Verstehensinstrumente hingewiesen (siehe S.218). Verstehen heißt in diesem Fall: in Analogie zu einer bekannten Situation überlegen. Die Konstruktion einer Repräsentation durch Analogie apelliert hauptsächlich an aktivierte Kenntnisse. Dabei greift sie zum einen auf allgemeine Kenntnisse zurück wie z.B. solche, die in Schemata repräsentiert sind. Die aktivierten Erinnerungen leiten dann die Konstruktion der Beziehungen zwischen den Objekten der aktuellen Situation, was vor allem dann der Fall ist, wenn eine Repräsentation konstruiert wird, um einen Sachzusammenhang zu verstehen. Zum anderen kann sich die Erinnerung auch auf spezifische Kenntnisse beziehen wie z.B. auf solche, die in einem partikularisierten Situationsmodell repräsentiert sind (siehe S.228). Dies ist vor allem der Fall, wenn die Repräsentation konstruiert wird, um Probleme in Analogie zu bekannten Prozeduren zu lösen. Entscheidend ist in beiden Fällen das Nichtvorhandensein eines präzisen Wissens für die zu bearbeitende Situation, da sie lediglich ähnlichen, nicht aber den exakten Anwendungsbedingungen eines bekannten Schemas entspricht. Die Interpretation der Situation kann demnach nicht einfach nur mittels einer Partikularisierung eines Schemas101 erfolgen. Sie erfordert zusätzlich Korrekturen, um die Unterschiede in Betracht zu ziehen zwischen den Charakteristika der aktuellen Situation und jenen, welche die Klasse der Situationen charakterisieren, für die ein bestimmtes Schema Gültigkeit hat. Nach KINTSCH & VAN DIJK (1978) spielt die Analogie eine wichtige Rolle bei der Konstruktion eines textbasierten Situationsmodells. Diese wird erstellt, indem ein für ähnliche Situationen bekanntes Modell auf den zu erklärenden Text angepasst wird. Die Analogie mit einer bekannten Situation ist allerdings auch für die Entwicklung von bereichsspezifischem Wissen fundamental. Die

101 Das Verstehen unter Verwendung eines Schemas basiert auf der Selektion eines abgespeicherten Schemas und dem Ersetzen seiner Variablen durch spezifische Informationen der aktuellen Situation. Das Ergebnis ist ein partikularisiertes Schema. Dieser Prozess ist wissensgeleitet, d. h., man greift auf präkonstruierte Zusammenhänge zurück, um anfallende Informationen untereinander zu verbinden. So erlaubt z.B. ein partikularisiertes Schema beim Verstehen eines Textes – � � Textpassagen zu interpretieren, wenn man über genug Informationen verfügt, das angemessene Schema auszuwählen.

Es ermöglicht ebenfalls, fehlende bzw. im Text nicht explizit erwähnte Informationen zu inferieren. – � � verschiedene Informationselemente in eine übergeordnete Bedeutung zu integrieren wie z.B. spezifische Aussagen

einer Erzählung in eine allgemeinere, zusammenfassende Aussage (vgl. MAX, 1999).

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 237

Situationsspezifität des Erkennens würde Wissenselemente stets an die jeweilige Aneignungssituation binden und so jedesmal einen neuen, partikularen Konstruktionsprozess erfordern, wäre das Subjekt nicht in der Lage, sein Wissen kontinuierlich auf neue Situationen auszuweiten und auf diese Weise die Familie der Situationen ständig zu erweitern. Ein solcher Prozess ist eng mit PIAGETs Assimilation und Akkomodation verknüpft, so dass die Konstruktion und der Transfer von Wissen sich eng an analoges Vorgehen anlehnen. Vieles deutet darauf hin, dass die Bedeutung der Analogie bisher unterschätzt wurde und stärker erforscht werden muss. Für BASTIEN (1997) macht die enge Abhängigkeit zum Vorwissen des Subjekts und zu dessen Organisation im Gedächtnis die Komplexität des Phänomens 'Analogie' aus und erklärt die Retizenz im Forschungsbereich. Darüber hinaus sind es auch die sich im Spiel befindlichen Prozesse, da man seines Erachtens nach nicht von einem einzelnen, sondern von einer Vielzahl beteiligter Prozesse ausgehen muss. Außerdem sind die getätigten kognitiven Operationen in der ‚didaktischen Verwendung der Analogie‘, d. h., wenn explizit auf die zur Lösung erforderliche Ausgangssituation hingewiesen wird und diese somit nicht aktiviert werden muss, nicht identisch mit den spontanen Analogien im Rahmen des Problemlösens, d. h., wenn eine entsprechende Ausgangssituation weder bekannt ist noch erwähnt wird und erst einmal gefunden werden muss. Selbst innerhalb einer gleichen Klasse von Situationen ist es für BASTIEN nicht sicher, dass es sich nur um einen einzigen, gleichen Prozess handelt. Beim Bewältigen neuer Situationen im Rahmen unserer Alltagsaktivitäten greifen wir oft spontan und völlig selbstverständlich auf Analogien zurück. Deshalb erscheint es uns aufschlussreich, den Rückgriff auf die Analogie und die Bedingungen ihres Auslösens, so wie sie die kognitive Psychologie bislang erforscht hat, genauer zu betrachten. Die Forschungsergebnisse zur Rolle der Analogie für die Entwicklung von Verstehen im schulischen Bereich sind nicht sehr umfangreich und betreffen einzig und allein den mathematisch–physikalischen bzw. technischen Bereich (vgl. RICHARD, 1995, S.139). Dabei stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit ein Subjekt auf spontane Analogien zurückgreift, um seinen Handlungen Sinn zu verleihen, bzw. inwieweit man durch angemessene Analogien die Konstruktion der Zusammenhänge, welche einen Sachverhalt oder ein System charakterisieren, fördern könnte.

ANALOGIEN Der Begriff 'Analogie' ist in der Tat ein Oberbegriff und gruppiert laut RICHARD (1995) eine Reihe unterschiedlicher Bearbeitungsmodi, die formale externe

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 238

Gemeinsamkeiten aufweisen, die sich aber, bezogen auf die psychologischen Mechanismen, stark voneinander unterscheiden. Er erwähnt: – � Analogiedenken als allgemeiner Heurismus zum Erstellen von Hypothesen; – � jene Denkform, die in vielen psychometrischen Tests verwendet wird nach

dem Muster "Pferd–Hafer entspricht Auto–...", – � der Transfer der Bedeutungen eines Bereichs auf einen anderen, wobei die

Zusammenhänge eines Bereichs verwendet werden, um die Elemente eines anderen in Beziehung zu setzen (siehe 'structure-mapping' S.218);

– � das Übertragen einer bekannten Prozedur für eine Situation oder für eine Klasse von Situationen auf eine ähnliche Situation, die aber nicht alle Merkmale aufweist, um dieser Klasse zugeordnet zu werden (ibid., S.137).

RICHARD geht von der Existenz von zwei verschiedenen Formen der Analogie aus, deren Auslösebedingungen sich stark unterscheiden: – � Die Analogie basiert auf der Analyse der sich im Spiel befindlichen

Beziehungen in den zwei Bereichen. Sie wird deswegen auf einem ziemlich abstrakten Niveau in bezug auf die spezifischen Charakteristika der Situation vollzogen. Diese Form unterliegt einem kontrollierten Prozess und wird durch ein explizites Aufsuchen der Beziehungen zwischen den beiden Bereichen produziert. In dieser Situation hat man es mit der Konstruktion eines relationalen Netzes zu tun;

– � die Analogie wird vor allem von Oberflächenmerkmalen der aktuellen Situation bedingt. Ihre Durchführung unterliegt einem nicht kontrollierten Prozess vom Typ der automatischen Aktivierung. In dieser Situation hat man es mit Paarassoziationen zwischen Elementen der aktuellen Situation und abgespeicherten Kenntnissen zu tun.

Diese Unterscheidung wird durch Untersuchungsbefunde Transferprozessen zwischen isomorphen Problemen gestützt, welche folgendes Paradoxon ergaben: Es konnte kaum Transfer zwischen wirklich isomorphen Problemen festgestellt werden, wenn diese ganz verschiedene Oberflächenmerkmale aufwiesen. Häufige Transfers ergaben sich allerdings zwischen strukturell total verschiedenen, aber oberflächlich sehr ähnlichen Problemen. Ein analoger Transfer mittels Paarassoziationen scheint nach RICHARD auf drei erforderlichen Bedingungen zu basieren: – � Beide Situationen müssen ein gemeinsames Ziel aufweisen; – � es besteht eine bekannte Prozedur für eine der beiden Situationen; – � die Vorbedingungen der Durchführung der Prozedur sind in der aktuellen

Situation erfüllt, für die es noch keine Prozedur gibt, so dass die bekannte Prozedur sofort in der neuen Situation angewendet werden kann, ohne dass die Situation in bezug auf die Vorbedingungen verändert werden müßte.

Demzufolge beginnt man angesichts eines neuen Problems damit, nach ähnlichen Situationen zu suchen, in denen man über eine Prozedur verfügt, um

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 239

ähnliche Fragestellungen zu beantworten oder ein gleiches Ziel zu realisieren. Dann erst untersucht man, ob die Bedingungen der neuen Situation ermöglichen, diese Prozedur anzuwenden. Die so beschriebenen Bedingungen des Auslösens einer Analogie führen dazu, dass je nach der Art und Weise, wie ein Problem gestellt wird, sehr unterschiedliche analoge Lösungen erfolgen, besonders wenn die Oberflächenmerkmale in krassem Gegensatz zur eigentlichen Struktur des Problems stehen. So führt z.B. eine Rechenaufgabe wie: "X besitzt 6 Murmeln. Wieviel Murmeln hatte X heute morgen, wenn er schon 3 Murmeln verloren hat?" häufig zu Lösungen wie: "6 – 3 = 3 Murmeln". In Untersuchungen verschwanden solche Effekte, wenn die Schüler Fragen stellen konnten zu den ihrer Meinung nach pertinenten Informationen (vgl. BASTIEN).

DER RÜCKGRIFF AUF DIE ANALOGIE BEIM AUSARBEITEN VON VORGEHENSPROZEDUREN

Der Aufbau einer flexiblen Wissensbasis im Bereich der Naturwissenschaften und der elementaren Technik erfolgt durch Engagieren in authentische Praktiken. In diesem Bereich belegen unterschiedliche Forschungsergebnisse die äußerst wichtige Rolle der Analogie für das Zustandekommen von Lösungsversuchen in einer neuen Situation. Dabei übertragen die Schüler einerseits ihnen bekannte Prozeduren aus ähnlichen Situationen auf die aktuelle Problemstellung und berichtigen sie andererseits aufgrund der anwendungsspezifischen Resultate. In bezug auf die Auslösekriterien einer Analogie interessieren uns in diesem Fall vor allem die Kriterien der Ähnlichkeit zwischen den beiden Situationen.

Abbildung 69: analoger Transfer aufgrund spezifischer Problemstellung (MENFPS, in press)

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 240

Aufgrund der Unterschiede zwischen der aktuellen und der Referenzsituation, der die Prozedur entlehnt ist, unterscheidet RICHARD mehrere Fälle von analogem Transfer: – � Sämtliche Charakteristika der aktuellen Situation überlagern sich mit der

Referenzsituation, außer eventuell numerischen Werten oder semantischen Aspekten, die aber sowieso keine pertinenten Informationen für den Lösungsprozeß darstellen. Hier erlaubt das semantische Netzwerk leicht, die entsprechenden Äquivalenzen zu erstellen. Es handelt sich folglich um das Aktivieren eines abgespeicherten Lösungsprozesses, den man auf das aktuelle Problem übertragen kann, außer für die erwähnten Charakteristika. Im Gegensatz zur Partikularisierung eines Schemas wird hier kein allgemeines Schema erinnert, das sich auf eine Klasse von Situationen anwenden lässt, sondern ein spezifischer Lösungsprozess. Dieses Vorgehen trifft auch für alle schulischen Übungs- oder Anwendungsprobleme zu, die nach dem gleichen Muster gelöst werden wie die zuvor gemeinsam in der Klasse behandelten Aufgaben. Eine Reihe von Untersuchungen102 (LUCHINS 1942; CHEVALLARD 1985; BASTIEN 1997) belegen, dass die Kinder in der Regel keine Analyse des neuen Problems machen, sondern sofort den Lösungsprozess anwenden, der bei vorausgegangenen Problemen erfolgreich war. Ein solches Vorgehen wird durch rigide und stereotype schulische Übungs- und Wiederholungsverfahren, bei denen einzig und allein die numerischen Werte eines Aufgabentyps variieren, geradezu induziert und führt zu den beschriebenen Fehlschlüssen.

– � Das zu erreichende Ziel ist das gleiche wie in einer bekannten Situation,

aber die aktuelle Situation weist Einschränkungen auf, so dass die bekannte Prozedur aus der Referenzsituation nicht direkt übertragbar ist. Das Subjekt versucht Beziehungen zu erstellen zwischen den Elementen der neuen und der alten Situation (z.B. welche Handlungen sind erlaubt). Gelingt ihm dies, so übersetzt es die Prozedur in die neue Situation unter Verwendung dieser Korrespondenzen, wie man es z.B. beim Anschließen einer Rund- bzw. einer Flachbatterie in einen Stromkreis feststellen kann. Gelingt dies nicht und ist zudem keine alternative Prozedur in der Referenzsituation auszumachen, welche einer Eins–zu–eins–Entsprechung zwischen den Schritten der Prozedur und den erlaubten Handlungen in der vorliegenden Situation entspricht, so führt das Subjekt erstaunlicherweise keine neue Analyse der Situation durch, sondern behält die erstellte Strukturierung des Problems in bezug auf die bekannte anfängliche Prozedur bei. Es versucht jetzt, jedes der einzelnen Unterziele dieser Prozedur als neue zu lösende Teilprobleme im neuen Kontext zu realisieren. Aus Untersuchungen (vgl. Übers. in RICHARD S.145f.) geht hervor, dass das Subjekt so lange wie

102 Besonders LUCHINS Umfüllaufgaben mit Krügen verschiedener Größen liefert interessante Einsichten in den

vorliegenden Zusammenhang.

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 241

möglich die alte inadäquate Zielstruktur beibehält, auch wenn die neuen Bedingungen eine Realisierung der Unterziele stark erschweren.

– � Das zu erreichende Ziel ist das gleiche wie in einer Situation, für die man

eine Prozedur kennt. Diese Prozedur könnte in der aktuellen Situation angewendet werden, aber es gibt fundamentalere Unterschiede als numerische oder semantische. Diese Differenzen betreffen die relationale Struktur des Problems und stellen pertinente Elemente des Problems dar. Die bekannte Prozedur erweist sich demnach als inadäquat, da das vorliegende Problem von dem bekannten Problem abweicht. Ein analoger Transfer der Prozedur führt unausweichlich zu Irrtümern.

Ein unangemessener analoger Transfer könnte möglicherweise das eigentümliche Verhalten von Kindern in einer Situation erklären, das sich als erstaunlich hartnäckig gegenüber Veränderungsversuchen erweist. Die gleiche Hypothese könnte auch grobe Irrtümer erklären, die auf ein totales Unverständnis des Problems hindeuten bei Kindern, die aber über die notwendigen Kompetenzen und bereichsspezifischen Kenntnisse verfügen, um das Problem korrekt zu interpretieren. Die zahlreichen Fehler, welche Subjekte beim Lernen von Dispositiven machen, ließen sich auch mittels einen unangemessenen analogen Transfers erklären. Dabei werden Prozeduren, die für vertraute Dispositive Gültigkeit haben, angewendet, welche aber inadäquat für das aktuelle Dispositiv sind. Dies wurde z.B. in Untersuchungen zum Transfer der Prozeduren mentalen Rechnens auf das Rechnen mit einem Taschenrechner oder bei der Verwendung eines Texteditors auf dem PC in Analogie mit einer Schreibmaschine festgestellt. Den analogen Transfer von einer bekannten Prozedur aus kann man zudem beobachten, wenn das Subjekt einem Problem zum ersten Mal gegenübersteht. Erwachsene sind dabei im Gegensatz zu Kindern oft vorsichtiger in der Anwendung einer Prozedur; sie evaluieren das Resultat der Anwendung und nehmen Feinanpassungen vor beim Entdecken von Widersprüchen zu den im Problem enthaltenen Informationen. Die Subjekte gehen dabei nach dem folgenden Prozess vor, der zugleich erlaubt, etwaige Irrtümer zu diagnostizieren: – � Das Subjekt wendet die Prozedur des Referenzproblems an; – � es macht Anpassungen, um die Kluft zwischen Ergebnis und angestrebtem

Ziel zu reduzieren; – � aus der konstruierten Lösung des Problems zieht es eventuell eine

Handlungsregel, die es im Gedächtnis abspeichert und beim nächsten Mal aktiviert... (ESCARABAJAL & RICHARD 1986, zit. in ibid., S.152f.).

BASTIEN (1997) untersucht den Zusammenhang Ausgangsproblem–Zielproblem in Zusammenhang mit dem Mobilisieren einer partikularen Lösungsprozedur für ein bestimmtes Problem. In der klassischen Konzeption von Analogie wird die

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 242

bekannte Lösung von einem Ausgangsproblem auf das Zielproblem übertragen. Das Ausgangsproblem wird analysiert, und dessen Struktur wird dann auf das Zielproblem übertragen. Den Autor interessiert allerdings, wie das Erinnern des Ausgangsproblems erfolgt, wenn dies nicht explizit erwähnt wird. Er nimmt im Gegensatz zur konventionellen Sichtweise an, dass unter gewissen Bedingungen aufgrund der Analyse des Zielproblems das identifizierte Ziel die Analyse des Ausgangsproblems bestimmt. Die Ausrichtung des ‚In-Korrespondenz-Setzens‘ (Basis–Ziel oder Ziel–Basis) hängt seiner Auffassung nach von der Natur, aber auch von der Anzahl der vorhandenen Beziehungen in dem einen und anderen Problem ab103 (ibid., S.140f.). Andere Untersuchungen (vgl. ibid.) weisen der Repräsentation des Ziels eine entscheidende Rolle bei der Bearbeitung von analogen Situationen zu, und so ist es verständlich, dass diese Repräsentation den respektiven Charakteristika des Basis- und des Zielbereichs Rechnung trägt. Auch SCHWEDES (1996, S.278) verweist auf die Symmetrie in Analogierelationen. Der Basisbereich ist bezüglich gewisser Beziehungen und Eigenschaften analog zum Zielbereich sowie es der Zielbereich wieder zum Basisbereich ist. Dies bedeutet, dass auch der Zielbereich benutzt werden kann um reziprok eventuell neue Zusammenhänge im Basisbereich zu entdecken.

Abbildung 70: Analogierelation (SCHWEDES, 1996, S.278)

Im angeführten Beispiel von SCHWEDES haben die Elemente aA und cC gleiche 'Oberflächeneigenschaften', nämlich rund bzw. viereckig zu sein. Eine strukturelle Analogie besteht allerdings nur zwischen den Elementen bcc und BCC, die Beziehung zwischen ab gibt es nur im Basisbereich und umgekehrt, die Beziehung zwischen CD gibt es im Zielbereich, aber nicht im Basisbereich.

103 Versuchspersonen, die zuerst die Basissituation (A B) → (b a) (umfaßte zwei Beziehungen)

betrachteten und dann die Zielsituation (kreis, quadrat) → (? ?) (umfaßte nur eine der beiden Beziehungen), brauchten mehr Zeit zum Lösen der Zielsituation als Versuchspersonen, welche diese Reihenfolge in umgekehrter Richtung (Ziel vor Basis) durchliefen.

D C C c c

b a A

B Analogie- relation

Zielbereich Basisbereich

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 243

METAPHERN In diesem Zusammenhang kann man auch näher auf den Begriff der Metapher eingehen.

"The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another" (LAKOFF & JOHNSON, 1980 zit. in ZALTMAN & COULTER, 1995, p.38).

Nach den Autoren ist eine Metapher eine wesentliche Einheit des Denkens und der Kommunikation. Metaphern bilden ein kohärentes System, in dem Erfahrungen konzeptualisiert werden, so dass man sie als einen Mechanismus hochrangiger mentaler Repräsentation auffassen kann (vgl. Übers. in ibid., S.38). Nach HILL & LEVENHAGEN (1995) helfen uns Metaphern,

"to operate on the edge of what we do not know" (ibid., p.1068).

Auf diese Weise erlauben sie uns Dinge, die wir nicht vollständig und genau verstehen, zumindest annähernd und teilweise zu begreifen. Metaphern sind allerdings nicht gleichbedeutend mit einem mentalen Modell. Sie existieren als bedeutsame Ebene zwischen der Formulierung eines intuitiven Modells und der Fassung eines stärker formalen mentalen Modells (ibid., S.1059) und können so eine wichtige Brücke schlagen zwischen "espoused theory and theory-in-use"104 Der Rückgriff auf Metaphern erfolgt oft implizit. Eine Metapher verstehen heißt, die pertinente Eigenschaft für den Begriff finden, auf den sie angewandt wird. Da Metaphern formaleren mentalen Modellen vorausgehen, sieht JONASSEN (1995) in der Fähigkeit Metaphern zu bilden, ein vielversprechendes Mittel, die Qualität und den Nutzen mentaler Modelle bei Handelnden zu erforschen und zu verstehen. Auch ZALTMAN & COULTER (1995) gehen davon aus, dass mentale Modelle sehr gut durch Metaphern, besonders visuelle, verstanden werden können. Der Hintergrund entsprechender Ansätze liegt in dem Umstand, dass viele mentale Werkzeuge nicht sprachlicher Natur sind, auch wenn wir dazu tendieren, sie auf sprachliche Termini zu reduzieren (siehe S.221 mentale Modelle). Wir wissen in der Regel mehr als wir sprachlich artikulieren können, quälen uns allerdings oft, Ereignissen Sinn zu verleihen, welche die semantischen Begrenzungen unserer Sprache übersteigen.

104 'Expoused theory' ist das mentale Modell, das Leute angeben, wenn sie aufgefordert werden, eine bestimmte

Tätigkeit näher zu erklären oder zu legitimieren. 'Theory-in-use' ist dagegen der implizite Anteil der Performanz dieser Tätigkeit. Man kann sie nicht genau beschreiben, sondern lediglich von den beobachteten Handlungen aus inferieren (ARGYRIS & SCHÖN, 1996).

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 244

ERLERNEN WISSENSCHAFTLICHER KONZEPTE MITTELS ANALOGIEN UND METAPHERN

Die Alltagssprache ist reich an Metaphern und Analogien, auf die wir im alltäglichen Sprachgebrauch so selbstverständlich zurückgreifen, dass wir sie oft nicht als solche erkennen. Auch die wissenschaftliche Sprache macht in diesem Sinne keine Ausnahme. Auch in der wissenschaftlichen Terminologie sowie in den domänspezifischen Genres sind Analogien intensiv aber meist verdeckt am Werk. Wissenschaftliche Bezeichnungen wie z.B. 'Zelle', 'Moleküle'... sind keinesfalls arbiträr; ihre Kreation wurde durch die spezifischen Interessen des Erfinders dieser Metapher gestaltet. SUTTON (1992) gibt uns einen umfassenden Überblick über solche Metaphern und ihre Genese im Bereich der Wissenschaften. So führte z.B. Robert HOOKE den Begriff 'Zelle' in die biologische Terminologie ein als er beim Betrachten eines Stück Korks unter dem Mikroskop kleine Strukturen ausmachte, die ihn an die Zellen einer Honigwabe erinnerten. Ein anderes Beispiel ist das Wort 'Moleküle', das soviel heißt wie 'winziger Klumpen'. Metaphern sind demnach keine neutralen Beschreibungen, sondern starke Hinweise (Indexe) wie die Dinge sind. Wenn z.B. HOOKE die elementaren Bausteine der Lebewesen 'Zellen' bezeichnete, so suggeriert dieser Name sofort auch Fragen nach der Beschaffenheit der Wände, dem Innenleben und dem Austausch zwischen innen und außen. SUTTON (1992) plädierte für ein stärkeres Berücksichtigen der Metaphern und Analogien, um wissenschaftliches Denken bei Schülern anzukurbeln und humaner zu gestalten. Auch OGBORN ET AL. (1996) verweisen auf die bedeutsame Rolle der Metaphern und Analogien, um neue Bedeutungen im wissenschaftlichen Bereich zu kreieren.

"analogy and metaphor are always crucial in the thinking of new thoughts and the having of new ideas“ (OGBORN ET AL., 1996, p.72).

Neues Wissen entsteht durch Überarbeiten bestehenden Wissens. Während bei rezenten innovativen Ideen allen die analoge Basis noch offensichtlich ist, gerät bei älteren bzw. familiäreren Ideen die Bezugsmetapher oft in Vergessenheit, wie es z.B. die angeführten Beispiele von SUTTON verdeutlichen. Analogien und Metaphern werden folglich zu Unrecht auf Verzierungen der Sprache reduziert, deren Wert darin besteht, Ideen interessanter, lebendiger oder zugänglicher zu machen. Statt sie lediglich als dekorative, elegante und gefällige, aber nicht essentielle Aspekte beim Verstehen wissenschaftlicher Ideen zu betrachten, verweisen OGBORN ET AL. (1996) auf ihren tieferen literarischen Ausdruck, der in Erwägung gezogen werden muss. Analogien und Metaphern dürfen demnach weder auf Zierrat noch auf spezifische Denkhilfen reduziert werden:

„They are thinking. And they are the making of meaning“ (ibid., p.76).

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 245

BEWUSSTER EINSATZ INNERHALB DES UNTERRICHTS Alltagserfahrungen verleiten dazu, die spontane, unbewusste Verwendung der Analogie als eine geläufige Praktik zu betrachten, wenn man sich einem neuen Bereich zuwendet. Systematisch greift man dagegen auf die Verwendung der Analogie zurück, wenn Modellvorstellungen im naturwissenschaftlich–physikalischen Bereich aufgebaut werden sollen, wie wir es am Beispiel eines Modells des Stromkreislaufes erläutern wollen. Im Rahmen schulischer Lehr–Lern-Arrangements stellt der bewusste Einsatz von Analogien einen interessanten Rahmen dar, in dem produktive Fragen gestellt sowie Antworten gesucht werden können. Vergleicht man z.B. das Auge mit einer Kamera und die Kamera wieder mit einem Auge, so liegen in der Spannung zwischen den beiden Objekten, Möglichkeiten produktiven Denkens. Analogien und Metaphern lassen die Schüler dabei besser erkennen, über was sie nachdenken bzw. was sie verstehen müssten. Sie wirken vor allem durch ihre Imaginations- und Anregungskraft. Diese Kraft stammt nach OGBORN ET AL. von ihrer Konkretheit:

„That power derives from their concreteness, which allows thought to get to work without yet knowing everything it needs to know“ (ibid., p.74).

Lehrer greifen auf Modelle bzw. Analogien zurück, um Schülern konkrete und anschauliche Hilfen anzubieten, die ihnen das Erstellen wissenschaftlicher Konzepte erleichtern. Neben dreidimensionaler Modelle kommen dabei auch vereinfachte zweidimensionale Darstellungen zum Einsatz (siehe S.170). Um z.B. die Vorstellungen der Kinder im Bereich der Elektrizität zu modellieren, wurde in der Vergangenheit auf mehrere Analogien zurückgegriffen, insbesondere um das sequentielle Modell105 der Kinder zu überwinden und eine systemischere Sichtweise des Stromkreises zu begünstigen: – � hydraulischer Wasserkreislauf mit Pumpe (WILKINSON, 1973; SMITH &

WILSON, 1974; SCHWEDES, 1984); – � Heizungskreislauf (SHIPSTONE & GUNSTONE, 1984); – � thermischer Kreislauf (DUPIN, 1984); – � Fahrradkette (CLOSSET, 1983); – � Blutkreislauf (OSBORNE, 1983); – � Dopplewassersäule (DUDECK & SCHWEDES, 1990). Die pädagogische Verwendung der Analogie weckt viele Polemiken und reicht von systematischen Einsatz bis zum gänzlichen Verzicht. Insgesamt ist die Analogie ein doppelschneidiges Schwert: Sie kann Lernen fördern aber auch 105 Das zugrundeliegende Denkschema besteht in der Annahme eines sequentiellen Ablaufs von verschiedenen

Ereignissen, die zeitlich nacheinander im Schaltkreis ablaufen: Der Strom verlässt die Batterie, durchwandert dann auf unterschiedliche Weise die einzelnen Komponenten in der entsprechenden Reihenfolge und kehrt anschließend in die Batterie zurück.

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 246

behindern. Der Hauptvorwurf betrifft vor allem die Tatsache, dass in keiner Analogie die Entsprechung vollständig ist. Sie umfasst immer nichtpertinente Aspekte, und der Lernende hat kaum die Möglichkeit, zu entdecken, was pertinent ist und was nicht. Was sich so eventuell am Anfang eines Lernprozesses als vorteilhaft erweist, kann sich im weiteren Verlauf als gewichtiges Hindernis entpuppen. Dies ist u.a. der Fall bei der Metapher 'Strom als Elektronen in Bewegung' (siehe Abbildung 71 ). Entsprechend ausgeformte bereichsspezifische Werkzeuge der geistigen Tätigkeit erfordern intensive Umstrukturierungsprozesse, um sie an wissenschaftsnahe Denkmodi anzunähern.

Abbildung 71: Stromkreislauf als Elektronenkreislauf mit Pumpe aus CHEEK (1993, S.24).

Die von JOHSUA & DUPIN (1989) vorgeschlagene Analogie des Stromkreises mit dem mechanischen Fortbewegen einer geschlossenen Kette aus Zugwaggons (ohne Lokomotive) wurde z.B. in der luxemburgischen Experimentierkartei als Erklärungsmodell für die 5. und 6. Klasse zurückbehalten. Sie erschien den Autoren aus vielerlei Gründen angebracht, einige grundlegende Zusammenhänge (Gleichheit des Stromes, Kreislauf der Materie...) in seriell angeordneten Stromkreisen zu verstehen.

Abbildung 72: Modell des Stromkreislaufes aus

JOHSUA & DUPIN (1989, S.110)

Die Analogie mit mechanischen Prozessen in Spielzeugeisenbahnen ist für Kindern dieser Altersstufe verständlich und angemessen, so dass das analoge Modell an sich die Schüler vor keine Verständnisprobleme stellen dürfte106. 106 Analogien funktionieren sehr schlecht, wenn die Prozesse im Analogmodell wie z.B. einem Wasserstromkreis

den Schülern selbst nicht vertraut sind (vgl. WILKINSON. 1973). So kann es vorkommen, dass der analoge Bereich noch komplexer als der Initialbereich ist. Diese Schwierigkeiten gesellen sich dann noch zu den spezifischen Übertragungsproblemen zwischen zwei nicht genau korrespondierenden Bereichen (vgl. auch KIRCHNER, 1984).

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 247

Andererseits hilft es typische Fehlvorstellungen der Kinder (sequentielles Modell, Quelle–Verbraucher-Modell...) zu berichtigen und kann zu einem späteren Zeitpunkt – etwa beim Bearbeiten der Problematik in der Sekundarschule – weiterentwickelt bzw. ohne größere Schwierigkeiten ersetzt werden. Damit eine entsprechende Analogie auch für weitere Problemsituationen im Laufe der Schulzeit genutzt werden kann, bedarf es nach JOHSUA & DUPIN eines soliden strukturellen Isomorphismus zwischen den beiden Modellen. Die Autoren verstehen ihr Modell nicht als simples Analogiemodell sondern als 'modellierenden Analogie' d.h., als Hilfestellung für die kognitive Modellierung der Problematik beim Schüler (ibid., S.108). Das Modell kann, wie auch andere Modelle, nicht sämtliche Partikularitäten in einem Stromkreis erklären. Probleme gibt es u.a. beim Einbringen eines Schalters bzw. bei der Erklärung des Begriffs 'Spannung'107. Für dieses Vorhaben eignet sich besser das Modell der Doppelwassersäule, wie es aus Untersuchungen von SCHWEDES (1996) bzw. von LEGILL (2001) hervorgeht.

Abbildung 73: Wassermodell mit der Doppelwassersäule (SCHWEDES, 1996, S.279)

In de folgenden Tabelle werden Elemente des Stromkreislaufes mit bestimmten Vorzügen des Modells sowie zu überwindenden Fehlvorstellungen der Schüler verglichen.

ELEMENTE DES STROMKREISLAUFS

ELEMENTE DES ANALOGEN MODELLS ZU ÜBERWINDENDE FEHLVORSTELLUNG

Elektrischer Stromfluss (Kreisen von Materie)

Bewegen der Waggons (Elektrischer Strom ist bewegte Substanz)

elektrischer Strom wird mit einer Substanz gleichgesetzt

Batterie 'Arbeiter' schieben permanent die auf einem geschlossenen Schienenkreis vorbeifahrenden Waggons an.

Batterie ist ein Gefäß, das Strom oder Elektronen in flüssiger Form enthält

Geschlossener Stromkreis (Stromkreis als ein geschlossenes System)

Geschlossene Kette aus Waggons auf Bahngleis Schaltkreis besteht aus voneinander unabhängigen Teilen

Elektromotorische Kraft der Batterie

die Arbeiter schieben die Waggons im Bahnhof mit konstanter (gleiche) Kraft an.

Spannung ist eine Eigenschaft des elektrischen Stroms

Widerstand, Klingel, Glühbirne Ein Hindernis im Kreis wirkt sich auf den gesamten Stromkreis aus und behindert den Durchfluss-Strom. (Dies kann als sinnvolles Präkonzept für den elektrischen Widerstand betrachtet werden.)

Lokale Auswirkungen wie Verbrennung... im Stromkreis. Das Lämpchen nimmt sich den Strom, den es braucht nach dem "Geben–Nehmen-Schema" (MAICHLE 1979)

107 Der Begriff 'Spannung' wurde nicht für die Primarstufe zurückbehalten..

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 248

Abnutzung der Batterie Arbeiter ermüden beim Anschieben der Waggons. Haben sie nicht mehr genügend Kraft, so erstarrt der Stromfluss. Sind mehrere Geräte im Kreislauf, so erhöht sich der Widerstand. Folglich müssen sie schwerer arbeiten und sind auch schneller ‚am Ende‘.

Batterie ist ein Stromreservoir, das leer wird in Analogie zu einem Flüssigkeitsspeicher;

Gleiche Stromstärke im gesamten Kreislauf

Die Durchflussmenge der Waggons ist an jeder Stelle des Kreises gleich

Verschiedene Stromstärken in einzelnen Segmenten des Schaltkreises

Gleiche Bewegung im gesamten Kreislauf

Die fest miteinander verbundenen Waggons bewegen sich alle gleich schnell und sind stets gleich weit voneinander entfernt

Zwei–Fluss–Vorstellung Ein–Draht-Modell Quelle–Verbraucher-Modell

Sofortiger Stromfluss innerhalb des ganzen Schaltkreises

Sämtliche Waggons setzen sich gleichzeitig in Bewegung

Sequentielles Strommodell

Chemische Reaktion in der Batterie bewirkt Stromfluss

Unterscheidung zwischen Subjekt (Arbeiter), Objekt (Waggonkette), Effekt (In–Bewegung–Setzen) kann als basales kausales Denkschema aufgebaut werden

"Geben–Nehmen-Schema" (MAICHLE 1979)

Intensität, Widerstand im Kreislauf und elektromotorische Kraft sind von Anfang an miteinander verbunden

Verknüpfung von elektromotorischer Kraft der Batterie (Arbeiter) und Stromfluss (Geschwindigkeit der Waggons)

Voneinander isoliert gedachte Konzepte

Abbildung 74: Zusammenhänge zwischen Ziel- und Basismodell sowie den zu verändernden Fehlvorstellungen der Kinder durch das Schienenmodell vom Stromkreislauf

Entsprechende Modelle können dazu beitragen, dass Schüler ihre lebensweltlich

geprägten Vorstellungen den fachlichen Vorstellungen annähern. Dabei muss den Kindern bewusst gemacht werden, dass ein solches Modell keine wirklichkeitsgetreue Kopie ist, sondern lediglich ein Konstrukt mit einen bestimmten Gültigkeitsbereich. Die Kinder müssen ein solches Modell als Veranschaulichung108 und Beschreibung109 unsichtbarer und komplexer physikalischer Prozesse auffassen, das ihr Denken in dem spezifischen Bereich leitet und ihnen hilft, die einzelnen Begriffe und Konzepte aufeinander zu beziehen. Sie können es nicht beliebig auf andere Problemsituationen übertragen und müssen es auch irgendwann zugunsten eines adäquateren Modells aufgeben. Wie Unterrichtsprotokolle zeigen, darf man derartige Modelle den Schülern nicht 'überstülpen': sie müssen vielmehr nach und nach von den Kindern selbst entwickelt werden (vgl. QUAST, 1984).

Abbildung 75: TWA-Modell von GLYNN, DUIT & THIELE (1995)

108 Hierunter verstehen wir den metaphorischen Aspekt im Sinne einer bildlich–räumlichen Modellierung des

Sachverhalts. 109 Hierunter verstehen wir die Plausibilität der erklärenden Darstellung der neuen Vorstellung, die man auch mit

dem Satz beschreiben könnte: "Das System verhält sich ähnlich wie..."

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 249

GLYNN, DUIT & THIELE (1995) haben in ihrem 'Teaching With Analogies'–Modell einige Leitideen für den Einsatz von Analogien zusammengefasst. Der didaktische Einsatz dieses Modells umfasst folgende sechs Operationen, die wir am Beispiel des Schienenmodells von JOHSUA & DUPIN für einen elektrischen Stromkreis (siehe Abbildung 72) erläutern: 1) Der Zielbegriff wird eingeführt: der elektrische Stromkreis. 2) Der analoge Begriff wird analysiert: der Schienenstrang. 3) Relevante Attribute des Analogs und des Ziels werden identifiziert: z.B.

Waggons und Elektronen. 4) Die Gemeinsamkeiten werden hervorgehoben: z.B. der geschlossene Kreis. 5) Die Grenzen der Analogie werden aufgezeigt: z.B. einfacher Stromkreis 6) Etwaige Folgerungen werden abgeleitet. Bei Schülern der Primarstufe dient die Analogie dazu, ein initiales Konzept des Sachverhalts aufzubauen, das an verfügbarem Wissen der Kinder ansetzt wie etwa einem Schienenkreis. Wenn die Schüler ihr Wissen über den Lerngegenstand nach und nach erweitern, werden sie diese Analogie zugunsten ausgefeilterer Modellierungen ablegen.

Folgerungen für die Unterrichtspraxis Vorstellungen werden vor allem durch die zugrunde liegenden Denkstrukturen im betreffenden Bereich bestimmt, welche die Fragestellungen unter der Kinder die Welt sehen, bestimmen. VERGNAUD spricht vom ‘champ questionnemental’. Die psychologischen Werkzeuge bilden einen Interpretationsrahmen dar mit dem Kinder sich angebotenen Unterrichtsaktivitäten, -inhalten und -erklärungen nähern und Wissensangebote, Antworten und Modellvorstellungen in ihre eigenen Erklärungstheorien übernehmen. Der Lernprozess hin zu 'genaueren' Konzepten muss mit den bestehenden Denkinstrumenten der Schüler arbeiten und nicht gegen sie. Dies verlangt vom Lehrer, dass er sich mit diesen Initialvorstellungen der Kinder auseinandersetzt, sie zu verstehen versucht und sie als legitime, aktuelle, temporäre und ernst zu nehmende Interimsansätze bzw. Erklärungsmodelle des Schülers anerkennt Traditionell wurden die Initialkonzepte der Schüler nicht berücksichtigt, um Wissen in naturwissenschaftlichen Bereichen zu entwickeln. Meistens wurde versucht die bestehenden Vorstellungen der Schüler mittels Lehrerinstruktion auszuradieren. Sie wurden einfach als faktisch falsch dahingestellt und es wurde versucht, sie durch 'richtige' zu ersetzen. Dies geschah in einer Unterrichtsauffassung, die eindimensional auf die Bildung von Fachwissen abzielte. Der Erwerb von physikalischen Konzepten beschränkte sich auf die

Analogien und Metaphern als Werkzeuge für das Verstehen 250

sprachliche Ebene, d.h., auf das Vermitteln neuer Worthülsen bzw. präziser Definitionen. Eine andere Vorgehensweise ließ die Schüler bestimmte Situationen durchleben, in denen ihre 'intuitiven' Vorstellungen an ihre Grenzen stießen und sich als unzureichend herausstellten. Der Lehrer stellte nun wissenschaftlich richtige Begriffe parallel zu den Initialvorstellungen der Schüler, ohne aber beide aufeinander zu beziehen. Im Hinblick auf eine erfolgreich Annäherung der Kindervorstellungen an wissenschaftsnahe Konzeptionen setzen beide Vorgehensweisen voraus, dass Kinder fähig sind, die expliziten wissenschaftlichen Modelle aufzunehmen und selbstständig mit ihren eigenen Erklärungsmodellen zu vergleichen. Einerseits mangelt es den Schülern an den psychologischen Werkzeugen des kritischen Hinterfragens und Vergleichens alternativer Erklärungsansätze, die sie auf der interpersonellen Ebene in schulischen Kontexten kaum erfahren. Andererseits sind die Unterschiede zwischen den 'offiziellen' Modellen und den eigenen Initialvorstellungen meistens so groß, – � dass es den Schülern nicht gelingt formales und eigenes Wissen aufeinander

zu beziehen. Die angebotenen Konzepte werden ohne Verständnis memorisiert und ihren bisherigen Sichtweisen gegenüber gestellt.

– � dass es tiefgreifendere Veränderungen im Denken der Kinder bedarf, um die neuen Modell zu verstehen – ein Vorhaben, das nur über längere Zeit zu realisieren ist.

In beiden Fällen behalten de Schüler ihre Initialvorstellungen bei und wenden sie auch in den entsprechenden Kontexten weiter an. Lernen in der Schule erfolgt nur im Hinblick auf schulische Aufgabenstellungen und kann kaum auf Alltagssituationen übertragen werden. Dies führt zu Wissenskompartmentalisierungen, einem Nebeneinander unterschiedlicher Wissenskonstruktionen. Für den Schüler manifestieren sich diese allerdings nur selten als Widersprüche (siehe S.233 Inkonsistenz), da Unterricht und Alltag als zwei getrennte Welten interpretiert werden. Sinn, Bedeutsamkeit und Interesse an naturwissenschaftlichen und technischen Schulinhalten oder Sachinhalten nehmen allerdings ab oder kommen gar nicht erst auf. Eine wirksame Veränderung der Initialvorstellungen erfordert ein evolutives, etappenmäßiges Vorgehen über einen längeren Zeitraum, bei dem sich progressive interne Restrukturierungen in dem entsprechenden Wissensbereich vollziehen. Diese beziehen sich einerseits auf die Begriffe und Konzepte sowie andererseits auf die bereichsspezifischen Denkwerkzeuge der Kinder.

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 251

K A P I T E L 7

LERNEN ALS ENKULTURATION IN PRAKTIKERGEMEINSCHAFTEN Aus unseren bisherigen Erläuterungen geht hervor, dass die Gestaltung einfacher Versuchssituationen im schulischen Kontext versuchen muss, eine naturwissenschaftliche Praxis zu generieren, bei der Schüler – � sich in Aktivitäten engagieren, in denen sie authentische, weitgehend

unscharf definierte Problemstellungen mittels materieller und psychologischer Artefakte und Werkzeuge bearbeiten;

– � sich selbst als Mitglieder von Forschungsgemeinschaften erleben, in denen Wissen, Praktiken, Ressourcen und Diskurse geteilt sind und kontinuierlich ausgehandelt werden;

– � ausgehend und angetrieben von ihren aktuellen (Interims-)Werkzeugen, ständig anspruchsvollere Herausforderungen in Angriff nehmen;

– � Ungewissheiten, Ambiguitäten sowie die soziale Natur wissenschaftlichen Arbeitens und Erkennens erfahren.

Gegenwärtige Unterrichtsformen im naturwissenschaftlich–technischen Bereich bieten den Schülern kaum Gelegenheit, an entsprechenden kulturellen Aktivitäten teilzunehmen. Sie begnügen sich damit, den Schülern im Laufe ihrer Schulzeit didaktisch ausgewählte materielle, vor allem aber semiotische Artefakte vorzustellen. Vom Schüler verlangen sie, dass er abstrakte Konzepte im Sinne starrer, präzise definierter Entitäten memorisiert, exemplarische Anwendungsaufgaben bearbeitet oder vom Lehrer gestellte Probleme 'richtig' löst. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass es Schüler am Ende eines längeren Ausbildungszyklus nicht schaffen, die Werkzeuge einer Domäne adäquat zu verwenden wie z.B. 'einen kritischen Versuch in den Naturwissenschaften entwerfen' (siehe die beschriebenen Defizite im höheren Können S.123). Analysieren muss man deshalb, inwieweit sie überhaupt Gelegenheit hatten, an einer Kultur teilzunehmen, in der sie solche spezifischen Werkzeuge, Überzeugungen, Werthaltungen... entwickeln konnten. Die einzige Kultur, in der die Schüler mehr oder weniger teilnehmen, bleibt das Schulleben selbst, das effizientem domänspezifischen Lernen zwar nicht absichtlich, aber dennoch antithetisch gegenübersteht. Die Art und Weise, wie Schule historische Analysen, Nachschlagewerke bzw. mathematische Formeln einsetzt, unterscheidet sich beträchtlich von der Art und Weise, wie Praktiker dies tun (vgl. u.a. SÄLJÖ & WYNDHAMN, 1993).

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 252

PRAKTIKERGEMEINSCHAFTEN Nach ROTH (1995, S.29f.) charakterisieren sich 'Praktikergemeinschaften' durch geteilte Praktiken, (linguistische) Konventionen, ethische Standards, bestimmte Verhaltensmuster und Sichtweisen... In solchen Gemeinschaften wird das Wissen nicht länger als Besitz des einzelnen betrachtet, das gemessen, quantifiziert und tradiert werden kann. Das Wissen ist verteilt und in physikalischen, sozialen und psychologischen Kontexten situiert. Sinn und Vorgehensweisen werden ausgehandelt bzw. demokratisch bestimmt oder von einem Menschen, der über die sozialen und materiellen Ressourcen verfügen kann, diktiert. Praktikergemeinschaften, ob nun in akademischen Wissensdisziplinen oder in Berufskorporationen, verbindet weitaus mehr als lediglich die scheinbaren Aufgaben. Sie werden durch komplizierte soziale Netzwerke von Meinungen, und Anschauungen zusammengeschweißt, welche wesentlich sind, um die Essenz ihres Tuns zu verstehen (vgl. GEERTZ, 1983). Dabei sind die Aktivitäten vieler Gemeinschaften kaum zu ergründen, bis man sie innerhalb ihrer jeweiligen Kultur näher betrachtet.

"The culture and the use of a tool act together to determine the way practitioners see the world; and the way the world appears to them determines the culture's understanding of the world and of the tools. Unfortunately, students are too often asked to use the tools of a discipline without being able to adopt its culture. To learn to use tools as practitioners use them, a student, like an apprentice, must enter that community and its culture. Thus, in a significant way, learning is, we believe, a process of enculturation" (BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989).

Aus der Sichtweise der Lernforschung verlagert sich das Lernen in Praktikergemeinschaften aus dem Kopf des einzelnen Subjekts heraus in die Prozesse sozialer Kopartizipation (vgl. WENGER, 1998). Das Paradigma des situierten Lernens stellt weniger das Aufdecken der beteiligten kognitiven Prozesse und Strukturen in den Forschungsmittelpunkt, sondern vielmehr die Suche nach Formen und Qualitäten des sozialen Engagements im Hinblick auf die Gestaltung optimaler Lehr-Lern-Umwelten. Der Fokus liegt nicht mehr auf dem Vermitteln spezifischer Wissensfundi von Wissenden an Nichtwissende, sondern auf dem Lernen durch Engagieren in authentische Aktivitäten.

"Authentic here means that the activities in which learners engage, have a large degree of resemblance with the activities in which core members of a community actually engage" (ROTH, 1995, p.29)

Demnach müssten naturwissenschaftliche Lehr-Lern-Umwelten Aktivitäten anbieten, in denen sich Schüler mit Physik oder elementarer Technik auf gleiche Weise auseinandersetzen wie dies Physiker oder Techniker tun110. 110 Erwähnen muss sicher, dass weder die Gesellschaft noch die Kultur der Schule bestimmte Lerngegenstände

aufgedrängt haben, sondern dass akademische Disziplinen eine Formalisierung von spezifischem Wissen zum

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 253

In 'apprenticeship'–Szenarien kooperieren Novizen mit Experten bzw. Meistern an gemeinsamen Aktivitäten. Solche Praktiken finden u.a. im Rahmen der Enkulturierung in Akademien, in Post-Graduierten-Kolloquien oder in Praktika von Medizinern, Anwälten, Architekten, Lehrern... statt. In diesen Situationen beteiligen sich bereits Novizen am Lösen relevanter, komplexer Probleme, die sich aus der authentischen Praxis ergeben. Sie nehmen teil an spontanem, naturwissenschaftlichem Denken und erleben so Naturwissenschaften als eine sinngebende Tätigkeit. Solche Aufgaben kontrastieren mit den aus der Schulzeit bestens vertrauten, geschlossenen und präzise beschriebenen Anwendungsaufgaben in Schulbüchern und schulischen Leistungstests. In diesen Situationen verhalten sich Neulinge nicht länger als Schüler, sondern als Praktiker und entwickeln ein konzeptuelles Verständnis durch Interaktionen und Kollaboration in der domänspezifischen Kultur. Im dynamischen Gefüge einer Kultur werden ständig Ideen ausgetauscht und modifiziert, Weltansichten, Meinungen... entwickelt und durch Gespräche und Erzählungen angeeignet, so dass man derart essentiellen Komponenten sozialer Interaktionen – und demnach auch von Lernen – stärkeres Gewicht einräumen muss. Lernen findet in der Verknüpfung von Aktivität, Werkzeugen und Kultur statt und die Wissensvermehrung erfolgt durch soziale Konstruktionsprozesse. In dieser Kopartizipation evoluieren die Novizen von Ausführenden einfacher, randständiger Aufgaben am Anfang zu zentralen Verantwortungsträgern der Domäne – einen Prozess, den LAVE & WENGER (1991) als 'legitimate peripheral participation' beschrieben haben. Das Arbeiten an authentischen Aufgaben in Kooperation mit unterschiedlich kompetenten Mitgliedern einer Gemeinschaft fördert bei Novizen nicht nur das Gefühl, wie sich domänspezifische Expertise in Interaktionen, Problemlöseprozessen und anderen Aktivitäten manifestiert. Es steigert auch kontinuierlich die eigenen Kompetenzen und parallel dazu, den Grad der Verantwortungsübernahme. Entsprechende Entwicklungen werden durch Tätigkeiten wie aktives Beobachten, Leiten durch erfahrene Partner, gemeinsames Partizipieren an Arbeitsaktivitäten, Übernehmen der Vorgehensweisen eines Experten... gefördert.

"The central element of all these situations is that meaning, understanding, and learning are all defined relative to actional contexts rather than to self-contained, mental, and linguistic structures. As a consequence of these view of knowing and learning, improvisation, actual cases of interaction and emergent processes all play a constitutive role in learning and cannot be reduced to generalized structures" (ROTH, p.30).

Erkennen und Lernen reduzieren sich aus dieser Perspektive nicht auf a priori festgelegte, verallgemeinerte Strukturen, sondern weisen der Improvisation, momentanen Interaktionssituationen und emergenten Prozessen eine große Bedeutung zu. Eine wichtige Rolle fällt ebenfalls den produktiven Beiträgen des

alleinigen Zweck der Unterrichtung, ohne Bezug zu Referenzwissenschaften oder sozialen Praktiken vorgenommen haben – eine Konstruktion der Schule für die Schule so CHERVEL (1998).

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 254

Handelnden für das Interaktionsgefüge zu, die durch Aushandlungen, eine bestimmte Strategien und nicht vorhersagbaren Handlungen erfolgen. Dieser Zugang zu interaktiven Prozessen weist nach ROTH Parallelen zum ethno-methodologischen Ansatz auf:

"Rather than using a priori structures to explain and theorize interactions, we study interactional phenomena as emergent products" (ibid., p.30)

LERNEN IN GEMEINSCHAFTEN Ab ihrer Geburt und über das ganze Leben hinweg nehmen Menschen an Aktivitäten unterschiedlicher Gemeinschaften teil. Diese Partizipation erlaubt ihnen die Handlungsformen der Teilnehmer in situ zu erfahren und selbst zu praktizieren. Sie übernehmen, bewusst oder unbewusst, in der Regel ohne explizite Unterweisung, ziemlich rasch und erfolgreich die Sprache, unterschiedliche Verhaltensformen, Annahmen, Einstellungen, Fertigkeiten und die Handlungsmuster in Einklang mit den kulturellen Regelungen und Normierungen. Diese Elemente bilden ein spezifisch organisiertes Gefüge, das man als die Persönlichkeit eines Menschen bezeichnen kann. Dem Lernen fällt somit eine existentielle Dimension zu, die sich im komplexen Zusammenspiel von Werden, Zugehören, Tun und Erfahren abspielt, so wie es WENGER (1998) in einer Übersichtsgrafik (siehe Abbildung 76) verdeutlicht.

Abbildung 76: a social learning theory (WENGER, 1998, p.5)

Lernen als Prozess der Enkulturation verweist auf das Lernen in Gemeinschaften, bei dem vielfältige soziale und kollaborative Prozesse ablaufen. BROWN, COLLINS & DUGUID (1989) erwähnen in diesem Zusammenhang folgende vier Schwerpunkte, die sich auch besonders gut für einfache Versuchssituationen im naturwissenschaftlich–technischen Unterricht eignen. – � Kollektives Problemlösen: Gruppen akkumulieren nicht einfach nur das

individuelle Wissen ihrer Mitglieder. Auf interaktive Weise und mittels Synergien führen sie zu Einsichten und Lösungen, die ohne sie nicht

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 255

zustande kämen (siehe auch S.270). – � Ausweisen multipler Rollen: Zum erfolgreiches Ausführen einer

authentischen Aktivität bedarf es vieler verschiedener Rollen. Im Gegensatz zum einzelnen Individuum, das oft Probleme hat, diese verschiedenen Rollen einzunehmen, bietet die Gruppe die Gelegenheit, diese Rollen aufzuzeigen und Reflexionen und Diskussionen über die jeweiligen Anforderungen und Fähigkeitsprofile zu führen.

– � Konfrontation unwirksamer Strategien und 'Fehlvorstellungen': Angesichts der zahlreichen impliziten Vorstellungen der Kinder zu physikalischen Phänomenen ist es schwer für den Lehrer, hinter vordergründigen, schulkonformen Äußerungen des Schülers ein tieferes Verständnis bzw. weiterbestehende Initialvorstellungen zu identifizieren (siehe auch S.173). Gruppen gestatten dagegen auf effizientere Weise, unangemessene Vorstellungen und Strategien aufzudecken, sie einander gegenüberzustellen und zu diskutieren.

– � Kollaborative Arbeitsformen entwickeln: Beim Arbeiten in Gruppen bekommen die Schüler die Gelegenheit, kollaborative Arbeitsformen und -haltungen zu entwickeln. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um später unter den kollaborativen Arbeitsbedingungen im Berufsfeld weitere wichtige kooperative Fertigkeiten zu erwerben.

AUTHENTISCHE AKTIVITÄTEN Betrachtet man Lernen als einem Prozess der Enkulturation, dann wird es möglich, die oft angeführte Unterscheidung zwischen authentischen und schulischen Aktivitäten zu präzisieren und zu klären. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang lautet: "Weshalb sind viele schulische Aktivitäten wenig authentisch und demzufolge unproduktiv für nützliches Lernen?" Entscheiden sich z.B. Menschen im Alltag, eine bestimmte Praktik zu erlernen, so haben sie folgende zwei Möglichkeiten: – � Sie enkulturieren sich in einem 'apprenticeship'-Kontext, wobei diese

Aktivität sich mehr oder weniger an das anlehnt, was sie auch in anderen Alltagskontexten tun.

– � Sie besuchen eine formale Ausbildung, die sich dagegen erheblich von ihren Alltagstätigkeiten abhebt. Sie werden jetzt nämlich mit einer Schulkultur konfrontiert, welche die Strategien für intuitives Denken, Lösen von Aufgaben, Aushandeln von Bedeutung..., wie sie Menschen in Alltagstätigkeiten ausformen, durch eng und präzise definierte Aufgaben, formale Definitionen und Manipulationen von Symbolen ersetzt.

Die spezifische Kultur stellt den Rahmen für die Aktivitäten einer Domäne, deren Bedeutung und Zweck zwischen aktuellen und früheren Mitgliedern

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 256

ausgehandelt und sozial konstruiert werden. Die Aktivitäten weisen dabei eine Kohäsion auf, die den Mitgliedern, die sich innerhalb dieses sozialen Rahmens bewegen, theoretisch, wenn auch nicht immer praktisch zugänglich ist. BROWN, COLLINS & DUGUID (1989) bezeichnen solche kohärenten, bedeutsamen und zweckmäßigen Aktivitäten als authentisch im Sinne von:

" Authentic activities, then, are most simply defined as the ordinary practices of the culture."

Dies heißt aber nicht, dass nur Experten authentische Aktivitäten ausführen können. Zahlreiche Untersuchungen (vgl. PALINCSAR & BROWN, 1984; LAVE, 1988) belegen auch solche Aktivitäten bei Einsteigern oder Novizen, die von allen Teilnehmern einer Gemeinschaft anerkannt werden.

Authentizität statt Ersatzaktivitäten

"School activity too often tends to be hybrid, implicitly framed by one culture, but explicitly attributed to another. Classroom activity very much takes place within the culture of schools, although it is attributed to the culture of readers, writers, mathematicians, historians, economists, geographers, and so forth. Many of the activities students undertake are simply not the activities of practitioners and would not make sense or be endorsed by the cultures to which they are attributed. This hybrid activity, furthermore, limits students' access to the important structuring and supporting cues that arise from the context. What students do tends to be ersatz activity" (BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989).

Ethnographische Studien zum Lernen in Schul- und Alltagssituationen (vgl. LAVE, 1988b; CHAIKLIN & LAVE 1993) belegen eindrucksvoll, inwieweit Unterricht sich von Aktivitäten und der Kultur, welche Lernprozessen in anderen Umfeldern Sinn und Zweck geben, unterscheidet. Typische Schulaktivitäten weichen beträchtlich von dem ab, was praktizierende Experten in authentischen Tätigkeiten tun. Es genügt allerdings nicht, entsprechende Tätigkeiten einfach in den Klassensaal zu verlegen, um schulischen Aktivitäten einen authentischen Charakter zu verpassen. Eine entsprechende Verlagerung verändert oder mutiert unausweichlich ihren Kontext; sie werden zu Klassenraumaufgaben und zu einem Teil der Schulkultur. Klassensaalprozeduren werden demzufolge auf etwas angewendet, das zu einer Klassenraumaufgabe geworden ist. Der schulspezifische Zirkel von Lernen, Anwenden und Testen übernimmt die Oberhand. Es zeigt sich in der Tat, dass Erfolge im Rahmen dieser sich selbst bestätigenden Schulkultur, entgegen der eigentlichen Zielsetzung der Schule, kaum positive Auswirkungen auf Performanzen in anderen Situationen aufzeigen. Der Umstand, dass Schulaktivitäten in der Regel im Rahmen einer eigenen schulspezifischen Kultur stattfinden, erklärt die geringe Übertragung schulischer Lernprozesse auf Alltagssituationen. So werden z.B. physikalische Probleme im

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 257

Schulalltag in einer Syntax und Diktion enkodiert, die sie nur mit anderen bereichsspezifischen Aufgaben gemeinsam haben. Solche Probleme sind soweit von authentischen Mathematik- und Physikpraktiken entfernt wie in MILLER & GILDEA'S Untersuchung das Lernen von Eintragungen im Wörterbuch zu den Praktiken von Lesen und Schreiben. Die Partizipation an solchen Ersatz-Aktivitäten verzerrt darüber hinaus auch noch die Vorstellungen von dem, was Naturwissenschaftler in der Regel wirklich tun. Die so erzeugten formalistischen Sichtweisen naturwissenschaftlicher Praktiken lösen bei vielen Schülern Desinteresse aus und generieren so eher eine Kultur des Vermeidens als die einer authentischen naturwissenschaftlichen Aktivität. Der Kontext einer Aktivität (siehe S.63) ist ein außergewöhnlich komplexes und vielschichtiges Gefüge, aus dem erfahrene Praktiker wesentliche und vielfältige Unterstützungen und Anregungen ziehen (siehe die Rolle der Ressourcen im Aktivitätssystem). Der Ursprung bzw. die Natur solcher Unterstützungen wird oft nur auf implizite, tazite Weise wahrgenommen. Schulische Lehr–Lern-Situationen vernachlässigen aufgrund des individualistischen Charakters der Lernprozesse und der diesbezüglichen Regeln systematisch die peripheralen Besonderheiten authentischer Praktiken wie etwa extralinguistische Unterstützungen, die den Beteiligten helfen, Äußerungen zu interpretieren (siehe S.140). Interaktionen zwischen Schülern werden bei schulischen Tätigkeiten als störendes 'Geräusch' abgetan und vom Lehrenden mittels disziplinarischer Maßnahmen unterdrückt, statt als aufschlussreiche Indikatoren für Veränderungsprozesse näher betrachtet zu werden. Dies wird mit fortschreitender Schuldauer auch weitgehend von den Schülern hingenommen, da die gestellten Aufgaben, im Gegensatz zu relevanten Alltagsproblemen, die Schüler nur geringfügig berühren. Entsprechenden Aufgaben fehlt die Tragweite und das Ausmaß, welche die ganze Persönlichkeit herausfordern und eine existentielle Dimension verkörpern. Klassenraumaufgaben garantieren nur in geringem Maße, die kontextuellen Partikularitäten, welche authentische Aktivitäten charakterisieren. Umgedreht können sich Schüler, eventuell ganz unbewusst, auf typische Merkmale des Klassenkontexts, in den eine Tätigkeit jetzt eingebettet ist, verlassen, die aber authentischen Aktivitäten völlig fremd sind. So begrenzt sich vieles, was in der Schule gelernt wird, lediglich auf schulische Ersatzaktivitäten, da es halt im Rahmen entsprechender Aktivitäten erworben wurde. Für die Gestaltung von Lernsituationen umfasst Authentizität im Sinne von ROTH (1996) die Forderung, dass die Schüler sich in ähnliche Aktivitäten engagieren können, wie jene, die sie in außerschulischen Gemeinschaften antreffen. In solchen Kontexten – � greift das Subjekt auf Praktiken zurück, um selbstgesteckte Ziele zu

erreichen;

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 258

– � identifiziert es sich mit dem Lernprozeß bzw. dem Produkt seiner Aktivität; – � evaluiert es das Ausmaß, in dem die Ziele verfolgt wurden (ibid., S.175). Dem Prinzip der Authentizität liegt aber auch die Überlegung zugrunde, dass ein Transfer von Wissen auf neue, komplexe Probleme, ein Lernen in komplexen Situationen erfordert (vgl. HONEBEIN, DUFFY & FISHMAN, 1993; PERRENOUD, 1996). Die Konstruktion von nutzbarem und übertragbarem Wissen erfolgt nicht durch vorschnelle Vereinfachung und Abstrahierung, wie es bevorzugt in schulischen Lernkontexten praktiziert wird. Sie basiert bewusst und von Anfang an auf Lernsituationen, welche die Komplexität des Umweltkontextes aufrecht halten und vom Schüler verlangen, multiple Sichtweisen und Perspektiven bei der Bewältigung der Aufgabe mit einzubeziehen sowie eine gemeinsame Vorgehensweise auszuhandeln. In einer solchen Situation erfolgt Lernen an authentischen Problemen, d. h., an reellen, kontextualisierten, zeitlich und räumlich situierten Problemen, deren Lösung die Gruppe im Feld der spezifischen Beschränkungen und der zur Verfügung stehenden Ressourcen finden muß. Eine wichtige Rolle spielen dabei sicher die Wahrnehmung der Situation und die Überzeugungen des Lernenden (vgl. auch Übers. in REINMANN–ROTHMEIER & MANDL 1998, S.469f.).

Unterricht als Aktivitätssystem Vom historischen Standpunkt aus betrachtet belegt die Geschichte der Schule die hartnäckig überdauernde Annahme bei den leitenden Verantwortlichen der jeweiligen Schulsysteme, dass ein als verbindlicher (Lern-)Gegenstand ausgewiesener curricularer Inhalt auf einer größeren Basis zu gleichen (Lern-)Resultaten bei Schülern in vergleichbaren Klassen führen werde. Offiziell unterstützt und 'abgesichert' werden entsprechende Vorhaben durch verbindliche Lehrmaterialien in Form 'gradspezifischer Textbücher'. Sie regulieren den Unterricht und fungieren als Hauptwerkzeuge bei der Übermittlung eines homogenen Curriculums (MIETTINEN, 1999). Solche traditionellen Ansätze, die man im Volksmund mit "Schule halten" oder "in die Schule gehen" bezeichnet, weisen laut ENGESTRÖM (1987) eine eigenartige Umkehrung des Objekts und des Instruments der Aktivität auf:

"In school-going text takes the role of the object. This object is molded by pupils in a curious manner: the outcome of their activity is above all the same text reproduced and modified orally or in written form" (ibid., p. 101).

Am Beispiel des Lehrens der Mondphasen zeigt ENGESTRÖM (1991), wie das Lernen dieses Sachverhalts sich vor allem darauf beschränkt die zwei-dimensionale Buchdarstellung der Konstellation Sonne–Mond–Erde zu konstruieren. Das Lernen beschränkte sich im wesentlichen darauf, diese Darstellung angesichts bestimmter Testfragen zu reproduzieren. In Anbetracht der Unangemessenheit der Darstellung im Schulbuch war es weiter nicht

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 259

verwunderlich, dass ein großer Anteil der Schüler falsche Vorstellungen dieses Zusammenhangs aufbaute. WELLS (n.d.) verweist darauf, dass Unterricht trotz der unternommenen Anstrengungen zur Homogenisierung des Unterrichts doch sehr verschieden ist. Die Gründe für diese Varianz liegen seiner Meinung nach in den folgenden Punkten: A. Das Verkapseln von Unterricht, womit ENGESTRÖM (1991) das Abspalten schulischer Praktiken von alltagsweltlichen Aktivitäten einklagt, deren Verstehen ja der eigentliche Zweck der Schule sein müsste. B. Das Resultat bzw. die Natur einer ko-konstruierten Interaktion, die beide nicht voraussagbar sind. Selbst für den rigidesten Lehrenden und die passivsten Schüler kann man keine sicheren Voraussagen machen, wie sich die Interaktion zwischen den Beteiligten entfalten wird bzw. welche Bedeutungen konstruiert werden. C. Ein dritter, entscheidender Punkt, der die Dürftigkeit schulischen Lernens mit zu verantworten hat, betrifft die Interaktionsmodi in Unterrichtsgesprächen (LEMKE, 1990; WERTSCH & TOMA, 1995; MIETTINEN, 1999). So hat z.B. MEHAN (1979) in einer ethnographischen Studie gezeigt, dass in Grundschulen viele Interaktionen in standardisierter Form nach dem Schema 'Initiation–Reply–Evaluation' erfolgen. – � Initiation (Lehrer): "Wie heißt die Hauptstadt der Vereinigten

Staaten?" – � Reply (Schüler): "Washington". – � Evaluation (Lehrer): "Gut!". Für LEMKE (1990) verkörpert die angeführte Sequenz 'Lehrerfrage–Schülerantwort–Lehrerevaluation' das wohl bekannteste Beispiel der 'Initiation–Response–Follow up'–Struktur (IRF) im Rahmen schulischer Diskursanalysen (vgl. SINCLAIR & COULTHARD, 1975). Solche rhetorischen Strukturen oder Formationen finden sich in genau der gleichen Form in unterschiedlichen Genres wieder. LEMKE (1988) siedelt sie auf einer Zwischenstufe zwischen genrespezifischen und grammatikalischen Einheiten an. D.h., zusätzlich zur Struktur ihrer grammatikalischen Einheiten verfügen entsprechende Formationen über eine interne funktionale oder rhetorische Struktur. Die angeführte 'Frage–Antwort–Evaluation'–Sequenz könnte durchaus genrespezifisch für Klassenraumaktivitäten sein. Da man sie aber auch in vielen anderen Episoden antrifft wie etwa im Gerichtssaal-Diskurs, handelt es sich eher um eine rhetorische Formation.

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 260

"More common and widespread examples include the simple Question-Answer pattern, or Examples-Generalisation, Event-Consequences, syllogisms, etc. They are, in effect, portable mini-genres" (LEMKE, 1997).

THARP & GALLIMORE (1988) sprechen vom "recitation script", bei dem wissende Lehrer unwissenden Schülern Fragen zu Texten oder Sachverhalten stellen und ihre Antworten dann evaluieren oder kommentieren WELLS (n.d.) sieht in diesen Interaktionsformen

"the antithesis of the way in which knowledge is co-constructed in settings in which knowing-in-action is consequential for the activity in progress".

Seiner Auffassung nach soll Unterrichten als eine fundamentale Form von "semiotic apprenticeship" (1999, p.138ff.) konzipiert werden, bei der Schüler subjektiv bedeutsame Fragestellungen sowie persönliche und kulturelle Interessen erforschen. Anschließend sollen sie ihren Prozess sowie die erhaltenen Befunde ihres handlungsleitenden Wissens ('knowing–in–action') mittels multi-modaler Beiträge äußern, die zu einem Dialog zusammengestellt werden. Dieser zielt darauf ab, ihr individuelles und kollektives Verstehen der Lösungen und der angegangenen Probleme zu erweitern. Dieser Dialog ist für WELLS absolut wesentlich, um das angestrebte Resultat zu erreichen. Dieser schreitet besonders gut voran, wenn er auf einen gemeinsamen Gegenstand (Objekt) hin ausgerichtet ist, den es zu konstruieren und weiterzuentwickeln gilt. Ein solches Objekt kann viele Formen einnehmen, wobei besonders der Sachunterricht viele Möglichkeiten zulässt. So kann etwa das Konstruieren einfacher Fahrzeuge auch das Explorieren–im–Spiel ihrer Gesetzmäßigkeiten, was Beschleunigung, Rollwiderstand, Abbremsen angeht, umfassen. Dabei können die Erfahrungen sowohl mündlich bzw. schriftlich als auch bildlich zusammengetragen und diskutiert werden. Der gemeinsame Gegenstand kann demnach sowohl materiell wie auch symbolisch sein – für COLE (1996) ist er stets beides. Ein selbst konstruiertes einfaches Fahrzeug ist deshalb einerseits ein Modell und andererseits eine Verkörperung–in–der–Handlung des Prinzips der kinetischen Energie. Schriftliche Notizen zum Ablauf der Versuche oder zu bestimmten Zusammenhängen bestimmter Phänomene sind sowohl schriftliche Texte als auch hypothetische Erklärungen. Für WELLS ist dieser doppelte Status des Objekts sehr bedeutsam. Die Materialität des Objekts ist entscheidend, damit es zum Fokus der gemeinsamen Aktivität wird – etwas, das sensorisch erfasst und manipuliert werden kann. Zur gleichen Zeit erlaubt der symbolische Aspekt des Gegenstandes, dass er in den Überlegungen des Schülers präsent ist, anhand derer er versucht, das

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 261

untersuchte Phänomene besser und umfassender zu verstehen. Die Kombination der Modi macht das Objekt so wichtig, denn dies erlaubt dem Lehrenden, zwischen dem abstrakten, von externen Experten zusammengestellten Curriculum und den Interessen und Kompetenzen der anwesenden Schüler, für deren Entwicklung er zuständig und verantwortlich ist, zu mediieren.

Materielle und symbolische Werkzeuge

Vorgegebenes Curriculum

Aufgaben, Fragestellungen,

Didaktisches Material, Merktexte, Tests,

Sprache, Grafiken, Zeichen, Symbole...

Lehrer

OUTCOME:

Didaktisch aufbereitetes Wissen vermitteln,

Programm bewältigen,

Leistungen ausweisen

Individualistisch ausgelegte vom Lehrer bestimmte, Klassenraumregeln für Arbeiten, Interaktion,

Teilnahme...

Schüler als Einzellerner

Selektive, gruppennormierte Evaluationsformen

Leistung bestimmt Aufstieg

Jahrgangsklasse

Andere Lehrer der Klasse

Lehrer lehrt , Schüler lernen, Lehrer als Wissender,

hierarchisch festgelegt,

leistungsgebunden,

in gleichmäßige Zeittakte zerlegt,

fachspezifisch aufgetrennt,

Abbildung 77: Schulische Ersatzaktivitäten als Aktivitätssystem ('Lehrer im Kontext' als Analyseeinheit)

Eine Zusammenfassung der einzelnen Punkte unserer Analyse schulischer Ersatzaktivitäten haben wir mittels einer Grafik nach aktivitätstheoretischem Paradigma dargestellt (siehe Abbildung 77). Wir haben dabei den 'Klassenlehrer im Kontext' als Analyseeinheit gewählt; den angeführten Sachverhalt könnte man allerdings auch am Beispiel 'Schüler im Kontext' ausführen.

Unterschiede zwischen Schule und Alltagssettings BRANDSFORD ET AL. (1999) erwähnen drei wesentliche Unterschiede zwischen schulischen Lernumwelten und Alltagssettings.

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 262

Schule konzentriert sich überwiegend auf das individuelle Arbeiten der Schüler und steht damit im Kontrast zu vielen Berufssituationen, die verstärkt an kollaborative Arbeitsformen mit verteilten Entscheidungsträgern appellieren. Belege dazu liefern Studien zur Navigation von Schiffen, Entdeckungen in Genforschungs-Laboratorien oder Entscheidungen in Notaufnahmebereichen von Krankenhäusern (vgl. Übers. in ibid., S.62) Ein zweiter wesentlicher Unterschied liegt im starken Rückgriff auf Werkzeuge, um Probleme im Alltag zu lösen gegenüber dem überwiegenden Konzentrieren auf 'reine' mentale Arbeit in der Schule. Befunde zeigen, dass Werkzeuge den Leuten in praktischen Umfeldern helfen, weitgehend fehlerfrei zu arbeiten (vgl. Übers. in ibid., S. 62). Schule konzentriert sich dagegen vor allem auf 'Papier–Bleistift'-Aufgaben und misst Werkzeugen, man nehme nur den Taschenrechner als exemplarisches Beispiel, lediglich eine geringe Bedeutung zu. Dabei bieten z.B. Informationstechnologien den Schülern die Möglichkeit, Werkzeuge ganz ähnlich zu nutzen, wie Professionelle ihre spezifischen Werkzeuge am Arbeitsplatz einsetzen. Tüchtigkeit mit solchen Werkzeugen könnte eine Möglichkeit sein, Tranferleistungen über Domänen hinweg zu steigern. Als dritten wesentlichen Unterschied legt Schule den Fokus auf abstraktes Denken, wogegen im Alltag oft kontextualisiertes Denken erfolgt. Untersuchungen dazu betreffen u.a. die Problemlösestrategien von 'weight watchers', auf die wir gleich noch näher eingehen werden, der Rückgriff auf nichschulische Rechenstrategien bei Kunden im Supermarkt oder die mentalen Strategien von Molkereiarbeitern, die ihre Denkprozesse durch das Einbeziehen der Größe der Milchkästen effizienter machen (ibid.). Fasst man Wissen als situiert auf, so ergibt sich ein interessanter Ansatz, um geistige Tätigkeiten von Menschen über Situationen und Kulturen hinweg zu vergleichen. Nimmt man sich die Zeit, Forscher oder Wissenschaftler bei ihrer Arbeit, Berufstätige in ihrem Umfeld, Menschen in Alltagssituationen oder Menschen in anderen Kulturen bei ihren Aktivitäten genauer zu beobachten, so stellt man erstaunliche Gemeinsamkeiten bei den, auf den ersten Blick so unterschiedlichen Gruppen fest. Zahlreiche Studien (vgl. Übers. in ROTH 1995, S.28) belegen in der Tat, dass sich solche Gruppen nicht nur im Erfinden und Einsetzen von Werkzeugen hervortun, sondern auch im klugen Nutzen der Ressourcen ihres Umfeldes. Als interessantes Beispiel lässt sich in diesem Zusammenhang der Vergleich von BROWN, COLLINS & DUGUID (1989) anführen, die in einer Tabelle die unterschiedlichen Vorgehensweisen von drei Gruppen – Menschen im Alltag ('just plain folks' – JPFs), Schüler und Praktiker – einander gegenüberstellen (siehe Abbildung 78). Alltägliche und berufliche Aktivitäten weisen dabei erstaunliche Gemeinsamkeiten auf. Diese Tätigkeiten sind in den jeweiligen Kulturen verankert, in denen die Akteure arbeiten, Bedeutungen aushandeln und

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 263

Verstehen konstruieren. Die Beschränkungen der jeweiligen Aktivität generieren und definieren die aufkommenden Probleme und bestimmen die jeweiligen Lösungswege.

JPFs Students Practitioners

Reasoning with: Causal stories laws causal models

Acting on: Situations symbols conceptual situations

Resolving: Emergent problems and dilemmas

well-defined problems ill-defined problems

Producing: Negotiable meaning and socially constructed

understanding

fixed meaning and immutable concepts

negotiable meaning and socially constructed

understanding

Abbildung 78: JPF, Practitioner, and Student Activity (BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989)

Eine interessante Illustration der erfinderischen Strategien von JPFs beim Ausführen einer authentischen Tätigkeit sowie dem Einbeziehen kontextspezifischer Ressourcen bei der Lösung eines anfallenden Problems, zeigt LAVE (1988b, S.165) an den Rechenstrategien von 'weight watchers'. Die zu lösen de Aufgabe lautete: Wie erhält man 3/4 eines zu 2/3 mit Hüttenkäse gefüllten Bechers? Währen die formale Schulmathematik mittels der Multiplikation 2/3 * 3/4 = 1/2 zum richtigen Ergebnis kommt, griffen 'weight watchers' in ihrem häuslichen Umfeld auf folgende Vorgehensweisen zurück: a) sie füllten einen Becher zu 2/3 mit Hüttenkäse; b) sie schütteten den Inhalt auf ein Brett und formten daraus einen Kreis; c) sie teilten ihn mit einem Messer in 4 gleiche Teile; d) sie entfernten ein Viertel und benutzten den Rest.

"Thus, "take three-quarters of two-thirds of a cup of cottage cheese" was not just the problem statement but also the solution to the problem and the procedure for solving it. The setting was part of the calculating process and the solution was simply the problem statement, enacted with the setting. At no time did the Weight Watcher check his procedure against a paper and pencil algorithm, which would have produced 3/4 cup x 2/3 cup = 1/2 cup. Instead, the coincidence of the problem, setting, and enactment was the means by which checking took place" (BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989).

Die Lösung des Problems hing von der Art und Weise ab, wie die 'weight watchers' das Problem im partikularen Kontext sahen. Ihr Lösungsansatz privilegierte bestimmte Zugänge, die in eine vertraute Tätigkeit eingebettet waren. Auf diese Weise waren sie in der Lage, das Problem und die Lösung in Termini von Messbechern, Schneidebrett und Messer zu sehen. Aktivität – Werkzeug – Kultur (Kochen – Haushaltsgeräte – Diät) bewegten sich im Gleichschritt durch die gesamte Prozedur als Folge der Art und Weise, wie das Problem aufgefasst und die Aufgabe erledigt wurde. Die ganze Mikroroutine

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 264

stellte einfach einen Schritt auf dem Weg zu einer Mahlzeit dar. Wissen und Tun waren kombiniert und nicht zu trennen. Ein ähnliches Vertrauen auf Elemente der Situation wurde auch bei anderen Ausführenden beobachtet wie etwa bei Physikern, welche physikalische Situationen durch bestimmte Formeln sehen (DEKLEER & BROWN, 1984); bei Praktikern, die komplexe Rechenaufgaben lösen (SCRIBNER, 1984); bei Navigationscrews von Schiffen, bei denen sich die Aufmerksamkeit auf das Umfeld und die Gruppe verteilt (HUTCHINS, 1993); bei vorschulischen Schreibprozessen von Kleinkindern (KRESS, 1997).

"This sort of problem solving is carried out in conjunction with the environment and is quite distinct from the processing solely inside heads that many teaching practices implicitly endorse. By off-loading part of the cognitive task onto the environment, the dieter automatically used his environment to help solve the problem" (BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989).

Ignoriert man den Kontext der Kognitionen, so ist es nach HUTCHINS (1993) unmöglich zu erkennen, wie das Umfeld, die Artefakte sowie andere Personen an der Organisation mentaler Prozesse strukturell beteiligt sind.

"Instead of taking problems out of the context of their creation and providing them with an extraneous framework, JPFs seem particularly adept at solving them within the framework of the context that produced them. This allows JPFs to share the burdens of both defining and solving the problem with the task environment as they respond in "real time." The adequacy of the solution they reach becomes apparent in relation to the role it must play in allowing activity to continue. The problem, the solution, and the cognition involved in getting between the two cannot be isolated from the context in which they are embedded" (BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989).

Auch wenn man von Schülern erwartet, dass sie sich in schulischen Umfeldern an festgelegte Vorgaben halten, so stellt man immer wieder fest (vgl. SCHOENFELD, 1991), dass sie viele Probleme in Einklang mit den eigenen situativen Strategien lösen. Wir erwähnen zum einen Korrelationen zwischen der Position eines Problems in einer Aufgabenliste und der Vermutung der Schüler, in welchen Kapiteln des Referenzprogrammes relevante Informationen zu lokalisieren sind, oder zum anderen, die Zusammenhänge zwischen bestimmten Index-Wörtern in der Angabe einer Aufgabe und den auszuwählenden mathematischen Operationen. Auch wenn kontextspezifische Anhaltspunkte und Hilfestellungen in der Schule gewöhnlich nicht thematisiert werden (siehe S.257), analysieren Schüler stets, inwiefern der Kontext nutzbare Hilfen für das Bewältigen einer Aufgabe anbietet. Hier könnte es sich demnach um ein Vorgehen der Kinder handeln, das sie aus außerschulischen Alltagssituationen gewohnt sind und implizit auf schulische Aktivitäten übertragen. Umgedreht kann dagegen von einem Übertragen 'schulischer' Lösungsstrategien auf Alltagsprobleme weitgehend abgesehen werden, da außerschulische Aufgaben in der Regel kaum mittels schriftlicher Angaben

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 265

gestellt werden. Handelnde ziehen demnach die spezifischen kontextuellen Besonderheiten jedesmal genau mit in Betracht.

integratives Curriculum,

Lehrer- und schülerbestimmte materielle und symbolische Werkzeuge,

Selbstinitiierte Aufgaben und Fragestellungen,

Didaktische Materialien inklusive IT-Tools,

Sprache, Grafiken, Zeichen, Symbole...

Lerngemeinschaft

OUTCOME:

Selbstverwirklichung, Anerkennung,

aktive Wissenskonstruktion, Entwicklung von Interesse,

Kollaborative Lern- und Kommunikationsformen,

intra- und interkontextuelles Vorgehen,

Mitgestaltung statt Festgelegtheit,

Solidarität,

kulturelle Pluralität,

authentische Evaluationsformen,

Andere Schüler der Schule,

Andere Lehrer der Schule,

Eltern,

Externe Partner,

Praktikergemeinschaften

Selbstorganisation und selbstinitiiertes Arbeiten,

flexible Zeitrhythmen,

eigenes Zeitmanagement,

horiz. + vert. Kooperation,

Raumvariationen,

multiple Zugänge,

Prozess-Steuerung,

Abbildung 79: authentische schulische Aktivitäten als Aktivitätssystem

Zum anderen werden vertraute und absichernde Heurismen der Kinder in schulischen Lernsituationen größtenteils vernachlässigt und nicht als fruchtbar aufgegriffen. Dies wertet nicht nur die individuellen Such- und Vorgehensweisen gegenüber verbindlichen Prozeduren bzw. Algorithmen ab. Dies wirkt sich zudem noch hemmend auf die kreativen Leistungen des Schülers aus. Der Schüler verheimlicht dem Lehrenden seine originalen, tatsächlich eingesetzten Strategien, so dass dieser oft in falschem Glauben von einer adäquaten Anwendung seiner formalen Modelle ausgeht (LAVE, 1988 a). Aufgrund der angeführten Erläuterungen und Diskussionen haben wir den schulischen Kontext als Aktivitätssystem dargestellt, so dass er authentische Aktivitäten begünstigt (siehe Abbildung 79). Als Analyseeinheit wählen wir 'Lerngemeinschaft im Kontext'.

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 266

WISSENSBILDUNG IM KONTEXT Lernprozesse sind stets in spezifische Situationen eingebettet, sie sind kontextualisiert, d. h., Lernende erwerben nicht nur Wissen, sondern erfahren auch gleichzeitig die besonderen Charakteristika, Zielsetzungen und Bedingungen des Anwendungskontextes. Kontextualiserte Problemlösestrategien sind allerdings oft nur für eine schmale Bandbreite von Situationen wirksam. Diese Situiertheit des Wissens hat demnach einen großen Einfluss auf den Einsatzbereich und die Verfügbarkeit des Wissens; – � sie erleichtert eine Wiederverwendung in Situationen, die eine große

Ähnlichkeit mit dem Lernkontext haben, – � sie erschwert und behindert das Ausweiten auf andere, neue Kontexte. Wenn wir uns noch einmal das erwähnte 'weight watcher'–Problem vor Augen führen (siehe S.263), so funktioniert z.B. die eingesetzte "pat–it–out"–Strategie erfolgreich bei Hüttenkäse. Die Person hätte aber sicher seine liebe Mühe und Not, wenn er auf die gleiche Weise Melasse oder Flüssigkeiten aufteilen müsste. Die Frage drängt sich natürlich auf, ob er angesichts veränderter Anforderungen auch neue Strategien generieren kann. Die Lösung hängt sicher vom Grad ab, wie er seine Lösungsprozedur von der spezifischen Situation ablösen und zu allgemeineren Lösungsstrategien in Beziehung setzen kann. Untersuchungen zum Transfer (vgl. Übers. in BRANDSFORD ET AL., 1999) haben gezeigt, dass Wissen und Vorgehensweisen ohne besondere Vorkehrungen nur sehr schwer aus dem Aneignungskontext zu lösen sind. Zudem wird der Schüler mit diesem Prozess in der Regel allein gelassen, so dass ein Transfer eher Wunschdenken als belegte Realität ist. Anstatt vom Transfer des Gelernten auszugehen, muss man das Lernen des Übertragens konsequent in die Lernprozesse mit einbinden. Dies bedeutet konkret: Man muss die Anwendungskontext, die Klassen von bearbeitbaren Situationen, die augenblicklichen Grenzen und die kontinuierliche Ausdehnung der Anwendungssituationen aktiv in den Aneignungsprozess integrieren. Der schulische Lernkontext muss auf jeden Fall als ein Alltagskontext unter anderen betrachtet werden und nicht als ein privilegierter ‘Non-Kontext’ (vgl. LAVE, 1988b; HOLZKAMP, 1995), in dem Schüler ein neutrales, allgemeines Wissen erwerben, das sie ohne weiteres auf andere schulische und außerschulische Situationen übertragen können.

Wissen dekontextualisieren und rekontextualisieren Die bestehenden Vorstellungen der Kinder zur physikalischen Umwelt werden entscheidend durch außerschulische Erfahrungen in Übermittlungs- und

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Anwendungsaktivitäten geprägt. Diese Vorerfahrungen beschränken sich sehr oft auf einige vertraute Situationen und konzentrieren sich vor allem auf Eigenschaften, Funktionen bzw. Finalitäten der Dinge. So dient Strom z.B. zum Betreiben elektrischer Apparate; Wasser zum Waschen; Luft zum Kühlen oder Trocknen der Wäsche… Sie sind stark in authentische Lernsituationen im familiären Umfeld gebunden und mit entsprechenden affektiv–emotionalen und ich–gebundenen Empfindungen assoziiert, die sich auf ganz besondere Weise in den kindlichen Vorstellungen verankern. Um die Lernenden aus dieser Abhängigkeit von den situativen Bedingungen ein Stück weit zu befreien, müssen die Schüler sowohl Erkenntnisse als auch Prozeduren dekontextualisieren, d. h., aus dem originalen Aneignungskontext herauslösen. Dabei versuchen die Schüler schulisch organisierte, aber mit einem bereits bekannten Lernkontext verwandte Aufgaben mit ihren verfügbaren psychologischen Werkzeugen zu bewältigen. Durch ein intensives Vergleichen der spezifischen Vorgehensweisen und Erklärungsmodelle in verwandten Situationen werden situationsspezifische Attribute expliziert und invariante Gemeinsamkeiten treten aus der Verschiedenheit der situativen Einkleidungen hervor. Im Sinne der angesprochenen mentalen Modelle (siehe S.217ff.) werden allgemeinere Elemente im Sinne von Bezügen zwischen situativen Besonderheiten bzw. Repräsentationen erkannt, die angesichts veränderter Aufgabenstellungen in die Tätigkeiten reinvestiert werden können. Verdeutlichen lässt sich dies z.B. an zwei Beispielen aus der luxemburgischen Versuchskartei (MENFPS, in press). a) Im Rahmen einfacher Versuchssituationen in der Schule erhält das Kind die Gelegenheit, Vorerfahrungen aus Alltagssituationen noch einmal mit anderem Material, in einer anderen Situation und unter anderen Bedingungen zu erfahren und zu reflektieren. Dabei umfasst das Material ganz bewusst verbale und bildliche Verweise (Indexe) auf Alltagssituationen, welche die Kinder anregen, von Anfang an, beide Situation aufeinander zu beziehen (siehe Abbildung 80). b) Oft sind die Schüler nicht in der Lage, ihre intuitiven Vorstellungen zu äußern, da diese durch implizites Alltagswissen geprägt sind, das sprachlich nicht verfügbar ist. Versuche im Rahmen einer schulisch organisierten Versuchsreihe erlauben diese Vorstellungen gezielt anzusprechen, wobei die Aufmerksamkeit der Schüler durch die Versuchsanordnung und die bildlichen Indexe auf die zentralen Punkte gelenkt wird. Diese werden somit expliziert, d. h., ein Stück weit bewusst, verfügbar und entwicklungsfähig gemacht. Dieses Vorhaben wird noch zusätzlich durch die soziale Organisationsform entsprechender Versuchssituationen unterstützt.

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Abbildung 80: Infokarte mit Verweis auf Alltagssituation (MENFPS, in press)

Abbildung 81: Versuchskarte, auf der aufsteigende Luftblasen im Aquarium auf die Problemlösung hinweisen (MENFPS, in press)

Geschieht eine Übertragung auf andere Situationen zu abrupt, so kann der gemeinsame Bezug abreißen; die Gemeinsamkeiten zwischen zwei Situationen oder Sachverhalten werden nicht erkannt. Der Schüler muss daher das Gefühl haben, die Situation zu kennen und dennoch etwas Neues darin vorzufinden. Es kommt so zu einer progressiven Ausdifferenzierung seines Initialmodells, das Informationen aus unterschiedlichen Kontexten artikuliert und kombiniert111. Zudem erweitert sich so ständig die Palette der Problemsituationen, auf die sich die entwickelten symbolischen Werkzeuge anwenden lassen. Ein solches Vorgehen berücksichtigt auch die affektive Dimension der Situation. Sie verlagert sich vom situativen Erleben, das einen spezifischen Vorgang partikularisiert, hin zur Freude, die Situation zu beherrschen und durch ein erklärendes Modell sowie vielfältige kulturelle Repräsentationen zu deuten. Hinsichtlich der Unterrichtspraxis muss sich dabei das Augenmerk vor allem auf die Natur sowie auf die Vielfalt der bedeutsamen Situationen richten, damit die Schüler eine angemessene Übertragung durchführen können. Andere Punkte, die es zu berücksichtigen gilt, sind die Tragweite und die Abgrenzung der erarbeiteten Konzepte und Prozeduren. Schulische Lernkontexte kommen allerdings oft nicht daran vorbei, Aktivitäten ein Stück weit aus ihrem komplexen Alltagskontext herauszulösen und sie in 111 Das Aufgreifen solcher Fragestellungen in schulischen Situationen muss den angeführten Bedenken zu

Klassenraumaufgaben (siehe S.256) Rechnung tragen.

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einem didaktisch vereinfachten Rahmen zu beleuchten zwecks Strukturierung (Bewusstmachen der Eigenarten, Attribute, Prinzipien...) und Modellierung mittels der kulturellen Repräsentationsmodi. Ein entsprechendes Herauslösen erfordert die anschließende Rekontextualisierung112 der entwickelten Konzepte, Vorstellungen und Denkweisen. Wichtig ist, dass die Schüler die relevanten Anwendungssituationen selbständig aufsuchen. dass dies nicht ein anderer wie etwa der Lehrer an ihrer Stelle tun darf (siehe S.192 WITTGENSTEIN). Vermag ein Schüler dies nicht zu leisten, so bleibt sein Wissen an den spezifischen Erwerbskontext gebunden. Lässt der Unterricht den Schüler mit der 'spontanen' Anwendung des Gelernten allein, so findet sie bei einem großen Teil der Schüler nicht statt; ihr Wissen bleibt ‘träge’.113 Möglichkeiten bieten sich indem, – � die Schüler sich an andere, ihnen bereits bekannte Situationen und

Gegebenheiten erinnern, die ähnliche Struktur-Indikatoren aufzeigen und die auch mit den gleichen mentalen Werkzeugen und Symbolsystemen bearbeitet werden können;

– � sie gezielt nach neuen, ihnen bisher unbekannten Anwendungskontexten des untersuchten Sachverhalts im Alltag suchen;

– � sie ähnliche Phänomene aufsuchen, die erfolgreich mit dem gleichen Erklärungsmodell gedeutet werden können;

– � sie Situationen und Probleme klassifizieren, die ein ähnliches Vorgehen verlangen bzw. nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren;

– � sie andere Fragestellungen in Erwägung ziehen, die mit den entwickelten Denkwerkzeugen gelöst werden können...

Bei der Konstruktion eines Konzeptes werden bekanntlich auch angrenzende Konzepte aktiviert, in Frage gestellt, verändert und neu vernetzt. Verschiedene Konzepte weisen dabei eine bereichsübergreifende Bedeutung auf, so dass dieses Hineinwirken in andere Bereiche sich als lernförderlich oder -hemmend herausstellen kann. In diesem Sinne muss der Lehrer im Rahmen der Vorbereitungen des Unterrichts eine bereichsübergreifende Analyse des Sachthemas erstellen und die Elemente, Notionen und Konzepte mit in Erwägung ziehen, auf die Schüler bei der Veränderung ihrer Vorstellungen zurückgreifen. Zusätzlich müssen/können diese Beziehungen durch Visualisierungswerkzeuge explizit gemacht werden (siehe S.168). Soziale Aneignung von Wissen Wissenserwerb ist kein isolierter, individueller Vorgang, er bezieht immer auch soziale Interaktionen mit ein. Die Realitäten, welche die Schüler konstruieren sind soziale Realitäten, die gemeinsam mit Lernpartnern ausgehandelt und geteilt werden, d. h., von ihnen ebenfalls als gültig anerkannt werden. 112 Es handelt sich um die entgegengesetzte und komplementäre Operation zur Dekontextualisierung. 113 Wissen, über das man verfügt, das man aber nicht angemessen anwenden kann und abstrakt bleibt, bezeichnet

man als ‘träge’ (siehe S.186).

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Wissenserwerb als sozialen Prozess betont das kooperative bzw. kollaborative Lernen. Dabei arbeiten die Lernpartner zusammen an einer auf ein Ziel ausgerichteten Aktivität. Viele Forschungsbefunde, sowohl vom soziokulturellen als auch vom soziokonstruktivistischen Standpunkt aus (vgl. u.a. Übers. in STEFFE & GALE, 1995), zeigen, dass das Zusammenarbeiten der Kinder sich positiv auf die Entwicklung ihrer mentalen Tätigkeiten wie etwa der Problemlösefähigkeiten auswirkt. Angesichts der Schwierigkeit den polysemantischen Begriff 'Kollaboration' präzise zu definieren, legt DILLENBOURG (1999) Kriterien fest, mit denen er vier zentrale Aspekte des Lernens als wenig oder ausgeprägt 'kollavorativ' qualifizieren kann (ibid., S.9ff.): – � die Situation: a) Symmetrie in den Interaktionen (gleiches Level der

Teilnehmer, Ausführen gleicher Tätigkeiten); b) gemeinsame statt konkurrierende Ziele der Teilnehmer; c) die Art der Arbeitsaufteilung.

– � die Interaktionen: a) Interaktivität; b) Gleichzeitigkeit ('synchronicity'); c) Grad des Aushandelns ('negotiabiltiy').

– � Spezifische Lernmechanismen: a) Induktion; b) 'cognitive load'; c) Erklärung; d) Konflikt; e) Verinnerlichen, Aneignen, Modellieren.

– � Das Erheben der Effekte kollaborativen Lernens: Forschungsmethoden. Die angesprochenen Symmetrien in Interaktionen erfordern eine Präzisierung des Begriffs 'Symmetrie'. DILLENBOURG unterscheidet u.a. zwischen:

"Symmetry of action is the extent to which the same range of actions is allowed to each agent (...)

Symmetry of knowledge (or skills or development) is the extent to which agents possess the same level of knowledge (or skills or development). Actually, symmetry is often confused with heterogeneity: two learners may have a similar degree of expertise but different viewpoints of the task.

Symmetry of status is the extent to which agents have a similar status with respect to the community (...)" (ibid., p.9).

Symmetrien können objektiv gegeben sein, aber auch subjektiv empfunden werden (Über- bzw. Unterlegenheit...). Reine Wissenssymmetrien gibt es nicht, da keine zwei Menschen auf der Welt die gleichen Wissensbestände konstruiert haben. Eine leichte Wissensasymmetrie erweist sich in der Regel als förderlich, – � da sie fruchtbare konfliktuelle Interaktionen zwischen den Partnern generiert

– ein Aspekt, den insbesondere sozio-konstruktivistische Ansätze aufgreifen.

– � da sie ein Lernen in der 'Zone der nächsten Entwicklung' gestattet – ein Aspekt, den insbesondere sozio-kulturelle bzw. sozio-historische Ansätze aufgreifen.

Symmetrien können sich im Laufe der Arbeit verändern, wenn Partner sich die Arbeit nach individuellen Fähigkeiten aufteilen.

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Dabei hat sich u.a. herausgestellt, dass der Grad der Mutualität ein wichtiger Faktor für eine erfolgreiche Kollaboration darstellt. Ein Hauptaugenmerk für erfolgreiches Lernen unterliegt folglich den Kommunikationsprozessen zwischen den Teilnehmern. GILLY ET AL. (1988) haben Interaktionen in kollaborativen Lerngruppen untersucht und unterscheiden vier verschiedenen Szenarien: die einwilligende Kollaboration: ein Schüler (A) erarbeitet alleine eine Lösung

und schlägt sie dem Lernpartner (B) vor, der eine entsprechende Zustimmung macht. Der Lernpartner (B) ist dabei allerdings nicht passiv, sondern folgt der Aktivität seines Partners und scheint ‘parallel’ dazu eine ähnliche Antwort zu konstruieren. Das Einwilligen von B hat eine Kontrollfunktion und bewirkt eine positive Verstärkung der von A vorgeschlagenen Lösung.

die Ko-Konstruktion: In diesem Fall alternieren die Initiativen der beiden Partner, – jeder verstärkt den anderen. Die augenscheinliche Harmonie schließt nicht aus, dass die Aussagen des einen den anderen ‘stören’ und ihn auf Aspekte hin orientieren, die er alleine nicht berücksichtigt hätte.

die Konfrontation und der Missakkord: Der Vorschlag von Partner (A) wird durch (B) missbilligt, ohne dass dieser allerdings eine entsprechende Argumentation oder einen Gegenvorschlag vorbringt. Dieses Eingreifen wirkt sehr störend. A kann sich dem zu Folge zurückziehen oder seinen Lösungsentwurf entsprechend argumentieren

die kontradiktorische Konfrontation: Dieser Situation entspricht der vorherigen, nur dass (B) seine Gegenposition argumentiert oder eine andere Lösung vorschlägt. Der einzige Weg aus dieser Situation führt über die Konfrontation. Dies kann zu einem Festfahren führen, wenn die beiden Partner auf ihren jeweiligen Positionen beharren und jeder für sich weiter arbeitet oder zu einer Übereinkunft, wenn dabei ein Vorschlag oder ein neuer Vorschlag angenommen wird.

In allen angeführten Beispielen der interaktiven Dynamik ereignen sich andere Verarbeitungsmodi der Situation als bei einem rein individuellen Arbeiten. Die Lernenden entwickeln zusätzlich zu den spezifischen Erfahrungen und Erkenntnissen am Sachthema Kontrollprozeduren ihrer Handlung, formulieren Hypothesen auf Grund ihrer eigenen Sichtweisen, antizipieren Resultate, werfen Widersprüche auf, explizieren ihre Antworten und interagieren mit ihren Partnern. Dies ist weit entfernt von einer klassischen individuellen Versuchssituation vom Typ 'Versuch – Irrtum'.

"Individual systems do not learn because they are individual, but because they perform some activities (reading, building, predicting...) that trigger some learning mechanisms (induction, deduction, compilation...). Similarly, peers do not learn because they are two, but because they perform some activities, that trigger specific learning mechanisms. This includes the activities/mechanisms performed individually, since individual cognition is not suppressed in peer interaction. But in addition, the interaction among subjects generates extra activities (explanation, disagreement, mutual regulation...) that trigger extra cognitive mechanisms (knowledge elicitation, internalisation, reduced cognitive load...)" (DILLENBOURG,1999, p.6).

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Ein solches Lernen ist anderen Lernformen überlegen, weil die Lernpartner – � gezielt vielfältige geistige Werkzeuge einsetzen, die wirksame mentale

Tätigkeiten garantieren114; – � komplexe Situationen statt vereinfachter Problemstellungen erfolgreich

bearbeiten; – � Wissen nicht einfach abspeichern sondern instrumentelles Wissen im

Kontext erwerben analog zu Problemlöseprozessen in Alltagssituationen. Voraussetzung ist allerdings, dass alle Beteiligten das gleiche Ziel verfolgen, und dass sie versuchen zu harmonieren, um dieses Ziel zu erreichen. Unseren Handlungen ist laut LEONTJEW stets eine sinnstiftende Tätigkeitsebene vorgeordnet, welche den subjektiven Sinn als auch die objektive Bedeutung menschlichen Tuns liefert. Der subjektive Sinn bezieht sich auf die Bedeutung des Handelns für das Subjekt selbst und dient der Befriedigung des Ich. In diesem Sinne gilt es das angeführte 'Lehren als Enkulturieren in die wissenschaftlichen Praktiken' als übergeordneten Gegenstandsbezug unseres Lehrhandelns, sozusagen als Sinn- und Motivationsebene der Lehrtätigkeit, neu zu definieren. Dieser übergeordnete Gegenstandsbezug reguliert insbesondere dann unsere Handlungen, wenn unser Selbst sowie unserer Stellung in der Welt mitbetroffen sind (vgl. OERTER, 1997, S.183). Deshalb müssen wir Gesprächsrunden, Klassendiskussionen über Problemsituationen oder Klassenkonferenzen ein großes Gewicht bei der Durchführung und Auswertung von Versuchssituationen im naturwissenschaftlichen Unterricht beimessen. Wissen in sozialen Kontexten aneignen heißt hier, wissenschaftliche Debatten im Schulsaal initiieren. Dabei argumentieren die Schüler, welche Gründe für oder gegen eine Vermutung sprechen. Im Sinne der angesprochenen Mutualität (siehe S.271) kommt es zu transaktiven Diskussionsformen, auf deren Rolle und Bedeutung wir kurz eingehen wollen.

TRANSAKTIVE DISKUSSIONEN Unter transaktiven Gesprächsformen versteht man eine Form des wechselseitigen Gesprächs bei dem jedes Kind in seinen eigenen Äußerungen auf die Überlegungen eines Lernpartners eingeht bzw. die eigenen Ansichten oder die des Partners zu klären versucht. So charakterisieren sich transaktive Äußerungen durch Weiterführen, Paraphrasieren, Verfeinern, Präzisieren, Komplettieren oder Kritisieren der eigenen bzw. fremden Standpunkte.

114 GILLY ET AL. (1988) sprechen von ‚koelaborativem‘ Lernen.

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BERKOWITZ & GIBBS (1983) erwähnen verschiedene Typen transaktiver Äußerungen sowie Beispiele des jeweiligen Transaktionsmodis (siehe Abbildung 82).

TYP TRANSAKTIVER MODUS

Aufforderung zum Feedback "Verstehst du meine Position?"

Paraphrase "Ich kann deine Position oder Meinung verstehen." (bzw. paraphrasieren).

Aufforderung zur Begründung "Weshalb behauptest du das?"

Juxtaposition "Deine Meinung ist so (X), meine Meinung ist so (Y)."

Vervollständigung "Ich kann deine unvollständigen Gedanken weiterführen oder aufgreifen."

Klärung "Nein, was ich sagen will, ist folgendes..."

Verfeinerung "Ich kann meinen Standpunkt ausbauen, um ihn gegen deine Kritik zu verteidigen."

Weiterführung "Hier sind weitere Gedanken..."

Kritik "Deiner Argumentation fehlt eine wichtige Unterscheidung, oder weist eine fragwürdige Annahme auf."

Integration "Wir können unsere Ansichten zu einer gemeinsamen Stellungnahme zusammenführen."

Abbildung 82: Measuring the development of features of moral discussion (BERKOWITZ & GIBBS, 1983)

Die verschiedenen Transakte können als spontane Äußerung erfolgen oder als Frage–Antwort-Sequenz. Jeder Transakt kann sowohl fremdbezogen (auf die Sichtweisen des Partners) als auch selbstbezogen (auf die eigenen Sichtweisen) sein, wobei interpersonale Transakte effektiver zu sein scheinen als selbstbezogene. Insgesamt zeigen Forschungen, dass Kinder, die mittels transaktiver Diskussionsformen ihre Ideen und Ansichten äußern, verstärkt höhere mentale Funktionen – im Bereich des moralischen, konzeptuellen oder mathematischen Denkens – in kollaborativen Lernformen (Paar- oder Vierergruppen) entwickeln als solche, die das nicht tun (vgl. Übers. in TEASLEY, 1997, S.364). Bereits PIAGET (1932/1965) hatte auf den theoretischen Bezug zwischen transaktiven Äußerungen und kognitiver Entwicklung hingewiesen: Wenn Kinder gegenseitig an Gedanken und Überlegungen arbeiten, werden ihnen Widersprüche zwischen eigenen Sichtweisen und denen ihrer Partner bewusst. Das Lösen dieses kognitiven Konflikts (Disäquilibration – Äquilibration) stellt die Basis dar für eine neue, höhere Verständnisebene, die gleichbedeutend mit kognitivem Wachstum ist. Die relative Symmetrie der Beziehung Kind–Kind im

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Gegensatz zur Beziehung Erwachsener–Kind erleichtert nach Auffassung von PIAGET solche Prozesse (siehe auch die Anführungen von DILLENBOURG, S.270). Wie aus der oben abgeführten Tabelle hervorgeht beziehen sich allerdings transaktive Diskussionsformen nicht nur auf kontroverse, konfliktuelle Standpunkte (Kritik, Aufforderungen, Begründung...) wie es PIAGET betont hat, sondern auch auf gegenseitige Zustimmung (Integration, Weiterführung, Paraphrase...), wie es im Rahmen der Ko-Konstruktion von Wissen beschrieben wird (vgl. u.a. YOUNISS, 1994). Das verstärkte Konzentrieren auf Formen transaktiver Äußerungen in den Gesprächen der Lernpartner kann dem Lehrenden wertvolle Hinweise geben, ab wann kooperierende Partner in das gleiche Hier und Jetzt eintreten, wenn sie an gemeinsamen Aufgaben arbeiten.

ZUM FUNKTIONALEN DUALISMUS VON TEXTEN LOTMAN (1988) unterstreicht den funktionalen Dualismus von gesprochenen und geschriebenen Texten115. Jeder Text wird dabei durch zwei Funktionen, eine univokale sowie eine dialogische, charakterisiert: Die erste Funktion rückt das Problem, wie Bedeutungen adäquat übertragen werden können, in den Mittelpunkt. Dies trifft auf bestmögliche Weise zu, wenn der Kode von Sprecher und Zuhörer so perfekt harmonieren, dass ein Text die größtmögliche Univokalität aufweist. Idealtypisch müsste eine entsprechender Übertragungsprozess mittels einer künstlichen Sprache erfolgen. Differenzen in der Informationsübertragung zwischen Sender und Empfänger können demzufolge nur aufgrund eines Defekts im Kommunikationssystem eintreten und müssen den möglichen technischen Unzulänglichkeiten des Systems angelastet werden. Texte wurden bislang vor allem in bezug auf diese erste Funktion untersucht, so dass andere Aspekte unberücksichtigt blieben (ibid., S.34f.). Die zweite Funktion eines Textes beschäftigt sich mit dem Generieren neuer Bedeutungen. Hier wird der Text nicht länger als eine passive Verbindung aufgefasst, die eine Information unverändert von einem Absender an einen Empfänger übermittelt. Eine Differenz zwischen Input und Output wird nicht länger als Defekt, sondern als die eigentliche Essenz der Funktion eines Textes aufgefasst – der Text als 'Denkvorrichtung ('thinking device').

"difference is the very essence of a text's function as a 'thinking device' " (LOTMAN, 1988, p. 37).

115 Ein Text ist aus LOTMANs Sicht jeder semiotische Korpus der Bedeutung trägt. Er kann sowohl verbal sein

wie z.B. eine einzelne Äußerung oder aber eine wissenschaftliche Abhandlung als auch nonverbal wie etwa ein Gemälde, ein Kostüm.... Im vorliegenden Zusammenhang konzentrieren wir uns auf verbale Texte, insbesondere auf jene, die im Rahmen vom intermentalen Zusammenwirken geäußert werden.

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Wenn ein Text eine dialogische Funktion innehat, so kann er nicht von Autor und Zuhörer als identisch aufgefasst werden, in Übereinstimmung mit dem Übermittlungsmodell menschlicher Kommunikation. Es handelt sich hier nicht um einen univokalen, sondern um einen multivokalen Prozess. LOTMANs Angaben zum funktionalen Dualismus von Texten wirken sich tiefgreifend auf die Analyse des intermentalen Funktionierens und der diesbezüglichen Ergebnisse aus. So verweisen u.a. WERTSCH & TOMA (1995) auf die Diskurse in Grundschulklassen und verdeutlichten an Interaktionen im naturwissenschaftlichen Unterricht die beiden, von LOTMAN betonten Funktionen. Im Sinne der ersten Funktion erfolgten Äußerungen vor allem, um dem Lehrer oder den Mitschülern präzise, eindeutige und unmissverständliche Informationen zu übermitteln. In Kontrast dazu basierten Äußerungen im Rahmen von Schüler–Schüler-Interaktionen auf der dialogischen Funktion. Schüler griffen dabei Wörter oder Satzteile ihrer Gesprächspartner als eine Art formbares 'Rohmaterial' auf, die sie dann kommentierten, veränderten oder weiter ausführten. Im Sinne von 'thinking devices' oder 'generators of meaning' mediierten diese die Kreation neuer Ideen sowie das Aushandeln einer gemeinsamen Bedeutung. Hier handelte es sich demnach nicht um abgeschlossene Mitteilungen, die präzise übermittelt werden mussten, sondern um eine Interaktion von Stimmen ('voices') im Rahmen eines Textes. Dieses Phänomen veranlasste LOTMAN einen Text als semiotischen Raum zu qualifizieren.

"a text is a semiotic space in which languages interact, interfere and organize themselves hierarchically" (ibid., p. 37).

KINDER ALS VERANTWORTLICHE IHRES EIGENEN LERNPROJEKTS

Die Selbststeuerung von Lernprozessen hängt vom Verstehen und Wissen über die eigenen geistigen Tätigkeiten ab, und inwieweit man dieses Wissen nutzen kann, um das eigene Vorgehen zu überwachen und zu steuern. Dieses Bewusstsein ist eng an den Lernkontext gebunden und ohne besonderen Vorkehrungen nur bedingt wiederverwendbar. Strategien zur Selbstregulation werden dann beibehalten, wenn die Individuen bewusst erfahren haben, wie, wann, wo und warum sie zu gebrauchen sind. Experimentieren in der Schule darf nicht nur darauf abzielen, die bislang entwickelten psychologischen Werkzeuge der Schüler wie Begriffe, Vorstellungen, mentale Strategien... sowie ihr Methodenrepertoire weiter zu entwickeln. Es muss auch den einzelnen Schüler befähigen, sich selbst besser kennen zu lernen, sein Vorgehen bewusst zu erfahren, das eigene Handeln selbst zu planen, zu regulieren und zu überwachen. In Anbetracht der postulierten Soziogenese höhere mentaler Funktionen müssen entsprechende Prozesse

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unumgängliche Bestandteile der sozialen Praktiken im naturwissenschaftlich–technischen Unterricht werden. Die Entwicklung dieser höheren mentalen Funktionen können wir auf der kollektiven Ebene des Aktivitätssystems in Anlehnung an ENGESTRÖMs expansiven Zyklus (siehe Abbildung 83) erklären. In diesem Fall bewirkt das systematische Explizieren der Regulation von Handlungen auf der interpersonellen Ebene zuerst eine intensive Phase der Verinnerlichung. Sind solche Reflexionsprozesse Bestandteil der Routinen in naturwissenschaftlich–technischen Lerngemeinschaften, so sozialisieren sich Novizen nach und nach zu kompetenten Teilnehmern an der Forschungsaktivität. Kreative Externalisierungen erfolgen im Anschluss in Form zaghafter individueller Innovationen. Stellen die Widersprüche und die Brüche innerhalb der Aktivität höhere Anforderungen, so wandelt sich die Internalisierung zunehmend in kritische Selbstreflexion. Die Externalisierung, im Sinne des Suchens nach Lösungen, nimmt zu. Sie erreicht ihren Höhepunkt, wenn ein neues Modell für die Aktivität gestaltet und implementiert ist. Hat sich das neue Modell dann stabilisiert, werden die Vorgehensweisen und Mittel wieder verinnerlicht. Die Internalisierung wird so wieder zur bestimmenden Form des Lernens und der Entwicklung.

Abbildung 83: The expansive cycle (ENGESTRÖM, 1999, p.34)

Auf der individuellen Ebene erfolgt dabei das Lernen in der jeweiligen ZNE (siehe S.48). Neben dem eigentlichen Experimentieren am Material muss der Schüler sich immer wieder Zeit nehmen, das eigene Vorgehen zu dokumentieren und es, allein oder mit anderen, zu reflektieren, zu vergleichen und zu evaluieren. Der Lernprozess wird dabei bewusst unterbrochen, um über das eigene Lernen bzw. das weitere Vorgehen nachzudenken. Eine solche Reflexion des eigenen Vorgehens und des Lernergebnisses kann nicht ohne stützende Hilfsinstrumente erfolgen. Instrumente wie die angesprochene Visualisierungswerkzeuge (siehe S.168), Lerntagebücher oder

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Aufzeichnungsbögen, in denen der Schüler erste Deutungen, identifizierte Zusammenhänge, Anekdoten, Gefühle, freudige und traurige Erlebnisse, Gedanken, erfolgreiche Ansätze dokumentiert, dienen als Grundlage für die spätere gemeinsame Evaluation des Vorgehens. Solche Hilfsinstrumente können im Laufe der Zeit auf eine zunehmend komplexere Art und Weise eingesetzt werden. Es geht also hier weder um das Festlegen eines stereotypen Bearbeitens von Problemsituationen – sozusagen einer identischen ‘Vorgehensweise für alle’ in einer bestimmten Situation –, noch um die Aneignung eines standardisierten Strategierepertoires, sondern um das Bewusstmachen des individuellen Vorgehens in einer spezifischen Situation, des Erkennens der eigenen Schwächen und Stärken, des Verstehens des eigenen Prozesses. Verstehen bezieht sich somit nicht nur auf die äußeren Ebene der Sachverhalte und Verfahren, sondern ebenfalls auf die innere Ebene der geistigen Prozesse im Umgang mit diesen Objekten.

Abbildung 84: Auszug aus einem Lernjournal einer Viertklässlerin

REFLEKTIEREN IM KONTEXT SCHÖNs (1987) Ansatz des 'reflective practitioner' verweist mit den Dimensionen 'reflecting–on–action' und 'reflecting–in–action' auf Sinn und Sinnzusammenhänge. Zentral ist dabei das Konzept der Handlung als eine Form des Engagierens in eine laufende Aktivität. 'Reflection–on–action' findet statt wenn der Ausführende im Nachhinein über seine Tätigkeit nachdenkt.

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'Reflection–in–action' als Nachdenken während des Handelns ist eng an 'knowing–in–action' gebunden. Dabei handelt sich um tazite Wissenselemente, die nicht leicht vom Handelnden expliziert werden können. 'Knowing–in–action' muss als implizite Dimension intelligenten Handels betrachtet werden und bietet so einen interessanten Ansatzpunkt, um Unsicherheit, Instabilität, Einzigartigkeit und Wertekonflikte in bestimmten Situationen zu analysieren. Ethnomethodologen interessieren sich seit langem für diese Dimension, um präzisere Informationen über das handlungsleitende Wissen des Akteurs zu erhalten. Im Bereich der Kompetenzforschung versucht man ebenfalls die spezifischen Charakteristika von beruflichen Aktivitäten auf diese Weise zu erfassen, um die Finalitäten und Konturen eines Ausbildungsdispositivs zu entwerfen (vgl. MAX, 1999). In Anlehnung an SCHÖN sowie TURKLE & PAPERT beschreibt ROTH (1995) die Qualitäten von Praktikern, die während der Ausführung ihrer Handlungen über ihr Tun nachdenken. Sie weisen Gemeinsamkeiten auf mit – � Brikoleuren und Tüftlern, die ihre Ziele interaktiv erreichen, indem sie auf

kreative Weise auf ihre physikalischen und sozialen Kontexte zurückgreifen; – � Jazz-Musiker, welche ihre Improvisationen kollaborativ elaborieren; – � Küchenchefs, die nicht nach Rezepten vorgehen, sondern eine Serie von

Entscheidungen abhängig vom momentanen Geschmack des Gerichts treffen;

– � Maler, deren Kunstwerke aus Folgen zufälliger Entscheidungen zu Form und Farbe entstehen;

– � Virtuosen Computerprogrammierern (ibid., S.9).

Reflektieren in der Unterrichtspraxis In Zusammenhang mit der Gestaltung von Lehr–Lern-Situationen diskutiert ROTH (ibid.) 'reflecting-in-action' auf zwei unterschiedliche Ebenen: (a) der Lehrende, der sein Lehren in der Situation überdenkt und (b) der Lehrende als Wissenschafter, der authentisches Problemlösen im naturwissenschaftlichen Unterricht gestaltet. Die erste Form des Nachdenkens ist eher didaktischer Natur und bezieht sich auf Verstehensprobleme zwischen dem Schüler und dem Lehrer. Reflexive Lehrer interpretieren Kommunikationsprobleme dabei nicht in Termini von Verständnisproblemen des Schülers, sondern in Termini des eigenen Nichtverstehens der Schülerperspektive. Auf dieser Ebene beschreibt SCHÖN (1988) reflexives Lehren als einen Prozess, der versucht, auf die Schüler einzugehen, ihnen Rede und Antwort zu stehen und angemessene Hilfen zu entwerfen, damit sie lernen (1) ihre Schwierigkeiten zu bewältigen;

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(2) ihr Vorwissen gezielt als Ankerpunkte für neue Wissenskonstruktionen zu nutzen; (3) Ausdrucksformen zu finden, um über ihre Intuitionen zu sprechen; (4) ihr 'Wissen–in–der–Handlung' mit ihrem 'Wissen–über–die–Handlung' zu koordinieren. Auf der zweiten Ebene sind Lehrer Vertreter der kanonischen Wissenschaft in der Klasse und als solche wissenschaftliche Praktiker, die versuchen, die Schüler in naturwissenschaftliches Denken, Handeln und Argumentieren einzuführen. Schüler und Lehrender engagieren sich dabei in mehr oder weniger authentische Aktivitäten. Die Schüler erwerben dabei Normen praktischen und diskursiven Handelns, welche den Standards der wissenschaftlichen Gemeinschaft entsprechen. Dies kann u.a. dann erfolgen, wenn Schüler eigene Projekte durchführen dürfen und dabei auf Problemstellungen stoßen, für die auch die Lehrenden nicht sofort eine entsprechende Antwort bereit haben. Hier engagieren sich Lehrer in 'reflecting-in-action' als Wissenschaftler. Beide Formen der 'reflecting-in-action' können nicht strikt getrennt werden, so dass das 'Reflektieren–während–der–Handlung' sowohl didaktischer als auch bereichsspezifischer Natur sein kann. Während die erste Form sich stärker auf das Lehren an sich konzentriert, mündet die zweite in eine Art 'apprenticeship'–Verhältnis. Gegenüber einem 'action-research'–Ansatz wie etwa 'the teacher as a researcher' hat die Reflexion der eigenen Lehrpraxis, die in beiden Ebenen vorhanden ist, noch zusätzlich einen Vorteil in der zweiten Leseart: Dem Lehrer fällt dabei zusätzlich die Rolle eines Experten in Naturwissenschaft zu, der die praktische und diskursive wissenschaftliche Kompetenz im Kontext einer kontinuierlichen Tätigkeit modelliert.

"The implied epistemology is clearly one, that centers on activity that contextualizes interactions in the material and social worlds. Reflection-in-action overcomes the breach between theory and practice, by situating itself squarely in the practice and by developing theory grounded in this practice through reflection-on-action" (ROTH, ibid. p.10).

'Reflecting-in-action' hängt auf diese Weise nicht von a priori festgelegten Kategorien und Theorien ab, sondern versucht eine exemplarbezogene Theorie zu entwickeln. Mittel und Ziele werden bei dieser Forschung interaktiv mit der Situation entwickelt.

"This analysis of practitionners' work enphasizes a rationality in which problems are constituted and resolved through a dialectical approach between means and ends (...). Because the emerging theoretical understanding has developed out of practice, and is somewhat contingent on the particular case, its practical implementation is built into the reflective inquiry by design. Thus the gulf between research and practice has been bridged" (ibid.).

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ROTH integriert diese beiden Aspekte von SCHÖNs 'reflecting-in-action' in einen soziokulturellen Lernansatz, wobei er auf VYGOTSKYs Konzept der ZNE für die Klasseninteraktionen verweist.

"During activity, reflection-in-action is designed to further learning in two ways. First, by reflecting-in-action in matters of science, teachers model the type of inquiry and science talk that they want students to appropriate into their own repertoires of useable knowledge and skills. Then, in matters of teaching, reflection-in-action is designed to facilitate the interactions in the zone of proximal development created by the collaboration of teacher and student" (ROTH, p.10).

Die Schüler und der Lehrer als 'reflective practitioner' engagieren sich gemeinsam in eine authentische Aktivität. Ein solches Setting stellt nach ROTH einen idealen Kontext dar, wo Schüler und Lehrer nach Übereinstimmungen in ihren jeweiligen Sinndeutungen suchen können, indem sie – � auf die Ressourcen des Settings zurückgreifen; – � die Möglichkeiten aus ihrem situierten Gespräch nutzen; – � auf den Kontext vertrauen, um die stets vorhandenen Störungen in der

Konversation und die Lücken in der Instruktion zu beheben. In eine solchen Umfeld brauchen Schüler die anfallenden Aufgaben nicht verstanden zu haben bevor sie beginnen sie auszuführen. Das Arbeiten mit Schülern in der ZNE verlangt vom Lehrer, dass er zuerst das Management der Aufgabe und des Gesprächs übernimmt und diese Verantwortung dann progressiv im Laufe der Interaktionen an die Schüler abgibt. Bei den Interaktionen in der ZNE mediieren Lehrende als Praktiker dabei nicht zwischen dem eigenen Verstehen und demjenigen der Schüler, sondern führen die Schüler in die Kultur ein, in der beide als Mitglieder teilnehmen.

"In this sense, the interactions between practitioners (science teachers as representatives of the scientific community) and newcomers have to be seen as part of an overall culturally-coherent activity in which old and new members engage each other" (ibid., p.11).

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 281

AUTHENTISCHES ARBEITEN MIT DER EXPERIMENTIERKARTEI

Beschreibung der Phasen des Ablaufs und der Schüleraktivitäten Überträgt man die angeführten Erläuterungen auf die Arbeit mit der Versuchskartei, so lässt sich der Ablauf der Aktivitäten wie folgt zusammenfassen: 1. Freie Probierphase 2. Einführungsphase 3. Experimentier- und Forschungsphase 4. Auswertungsphase 5. Ausweitungsphase In der freien Probierphase beschäftigen sich die Schüler auf ihre ganz persönliche Art und Weise mit dem Material in der Experimentierecke oder an den Versuchstischen. Das freie Bearbeiten verfolgt folgende Absichten: – � Vertrautwerden mit dem Material; – � Einarbeiten in Thematik; – � Aufwerfen von Fragen und Problemen; – � Überprüfen und Realisieren von bestehenden eigenen Vorstellungen. Diese freie Versuchsphase umfasst Tätigkeiten wie – � freies Forschen, Entdecken, Ausprobieren; – � erstes Erleben und Einsehen; – � spontanes Erfassen von Phänomenen; – � spielerisches Auseinandersetzen mit dem Material; – � Auftauchen von Problemstellungen; – � fakultatives Festhalten in Form von Skizzen, Stichwörtern... In der Einführungsphase erläutern die Schüler ihre Initialvorstellungen während eines gemeinsamen Gesprächskreises. Im Anschluss werden die Versuchskarten sowie einzelne technische Fertigkeiten vom Lehrenden vorgestellt. Diese Phase steht in Zusammenhang mit folgenden Absichten: – � allgemeine Einführung des Themas; – � Entwickeln der zum selbständigen Bearbeiten der Kartei notwendigen

Fertigkeiten; – � Kennenlernen der Karteikarten; – � Fragestellungen und Vorstellungen der Schüler bewusst machen Die Einführungsphase umfasst folgende Tätigkeiten: – � Einbringen des Vorwissens der Kinder; – � Schildern der bereits gemachten ersten Erfahrungen und Entdeckungen; – � Kennenlernen der Techniken und Arbeitsweisen wie z.B. Abisolieren,

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 282

Schrauben ein- und ausdrehen,.... – � Vorstellen der einzelnen Karten (Untergrad) In der Experimentier- oder Versuchsphase arbeiten die Schüler die in Frage kommenden Experimentierkarten nach einer festgelegten Arbeitsform durch (siehe im Anschluss). Sie halten ihre Fragen, Beobachtungen, Einsichten, Versuchsergebnisse... in einem Lernjournal, auf Arbeitsbögen oder einem Wandposter fest. Eine Arbeitsübersichtstabelle, auf der die Kinder die schon bewältigten Aufgaben eintragen, gibt Auskunft über den jeweiligen Bearbeitungsstand. Die anschließende Auswertungsphase peilt folgende Absichten an: – � Klären und Ordnen der gemachten Erfahrungen; – � Diskussion der Lernergebnisse; – � Einblicke in das Verstehen der Schüler; – � Modellieren mittels grundlegender Erklärungsmodelle; – � Übertragen auf Alltagsanwendungen. In dieser gemeinsamen Gesprächsrunde finden folgende Tätigkeiten statt: – � Die Schüler beschreiben und erläutern die Ergebnisse der realisierten

Versuche; – � sie vergleichen ihre Aufzeichnungen mit denen ihrer Klassenkameraden; – � sie präzisieren eigene Theorien und Erklärungsmodelle und konfrontieren

diese mit anderen Erklärungsansätzen; – � sie explizieren die Phänomene durch Erklärungen und Illustrationen am

konkreten Versuchsaufbau; – � sie suchen Anwendungen der Prinzipien an bekannten Beispielen wie z.B.

Toaster, Föhn, magnetischer Schraubenzieher, Wasserwaage...; – � sie vergleichen die unterschiedlichen Vorgehensweisen. In der Ausweitungsphase sollen die Schüler – � gemeinsam erarbeitete Einsichten in neuen Situationen anwenden,

aufsuchen, ausprobieren; – � gemeinsame Produktionen entwerfen, bauen und gestalten; – � ihre gemeinsames Vorgehen aushandeln und evaluieren. Vorgesehene Tätigkeiten sind: – � Beispiele der Spielkarten nachbauen sowie selbstgebaute Vorrichtungen

benutzen; – � Ausstellungen zum Thema zusammentragenM – � Lerngänge durchführen.

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 283

Einsatzmöglichkeiten der Kartei Das Arbeiten mit der Kartei lässt sowohl ein lehrergesteuertes als auch ein schülergesteuertes Vorgehen zu, die wir nun präziser erläutern werden. a. vom Lehrer gelenkte Vorgehensweisen Ein gemeinsames, vom Lehrer bestimmtes Vorgehen mit der ganzen Klasse lässt kaum Platz für eigenes Forschen sowie das Beschäftigen mit individuell bedeutsamen Aspekten. Problemstellungen, Arbeitsrhythmus und -tempo werden vom Lehrer vorgegeben, so dass eine solche Arbeitsform sich in keiner Weise mit den von uns skizzierten authentischen Forschungspraktiken überschneidet. Von einem rein individuellen Arbeiten der Kinder ist auf jeden Fall abzusehen, einerseits aufgrund der aufgezeigten Bedeutung der intermentalen Prozesse für die intramentale Entwicklung wie etwa bei der Aushandlung der Vorgehensweisen, der Diskussion der Ergebnisse, der Verinnerlichung von Gruppenerfahrungen..., andererseits wegen des zu hohen erforderlichen Materialaufwands (1 Experimentierset pro Schüler).

Abbildung 85: gemeinsam organisiertes Arbeiten in Partnergruppen, wobei sämtliche Gruppen synchron den gleichen Versuch bearbeiten

Als mögliche Formen des lehrergesteuerten Vorgehens kann man das Experimentieren in Partner- oder in Vierergruppen erwähnen. Auch wenn wir hier wesentliche Einschränkungen im Bereich der individuellen Sinndimensionen sowie der Regulation der Schülertätigkeiten in Kauf nehmen

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 284

müssen, ist bei diesem Vorgehen ein kollaboratives Experimentieren sowie wissenschaftsnahes Debattieren der Versuchsbefunde möglich. Dieses Bearbeiten erfordert allerdings ein Vorgehen im Sinne des Lernens in der Zone der nächsten Entwicklung, wie wir es im Laufe der vorliegenden Arbeit erwähnt haben (siehe S.48).

Abbildung 86: gemeinsam organisiertes Arbeiten

in Vierergruppen, wobei alle Gruppen parallel am

gleichen Versuch arbeiten

b. von den Schülern gesteuerte Vorgehensweisen Gemeinsam ist sämtlichen Formen eine freie Experimentierphase zu Beginn der Arbeit und eine abschließende Diskussionsrunde. Außerdem wird bei sämtlichen Varianten den Kindern klar gemacht, dass sie einerseits das Sachthema und andererseits ihre eigenen Arbeits- und Lernerfahrungen dokumentieren sollen. Arbeiten an einer Versuchsstation Hier erfolgen die Versuche an einer Materialstation in Form einer Experimentierecke oder eines -tisches. Diese Arbeitsform muss mit der Gesamtorganisation der Klasse in Einklang gebracht werden und integriert sich in der Regel in offenere Arbeitsformen wie z.B. Wochenplanarbeit, Werkstatt-Unterricht... Die Station bleibt so oft über Wochen im Klassenzimmer aufgebaut. Sie kommt mit einem recht geringen Materialbedarf aus; in der Regel genügen hier oft schon 1 bis 2 Experimentiersets. Bei diesem Vorgehen arbeiten die Kinder, alleine oder in Partnergruppen, zu unterschiedlichen Zeiten, nach individueller Lust, nach eigenem Lerntempo und in eigener Regie mit dem

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 285

Versuchsmaterial. Zur besseren Übersicht der individuellen Arbeitsstände tragen die Schüler ihren momentanen Stand in eine Arbeitsübersicht ein.

Abbildung 87: Experimentieren als freies Arbeiten an einer Experimentierstation

Nach einem gewissen Zeitraum, wenn die Kinder die besprochene Arbeit beendet haben, werden die Beobachtungen, Erfahrungen, Ergebnisse und Erkenntnisse gemeinsam ausgewertet und besprochen. Solche Lernstationen können sowohl kontinuierlich über die ganze Woche als auch einzig und allein im Rahmen der 'éveil aux sciences'–Stunden stattfinden. Lernen an Stationen, Lernzirkel Im Klassensaal befinden sich gleich mehrere Versuchsstationen an denen die Schüler entweder frei oder nach einer dort vorhandenen Karteikarte experimentieren können. Die Bearbeitungsfolge und die Verweildauer an den einzelnen Stationen legen sie selbst fest. Ihren aktuellen Arbeitsstand tragen sie auf einer gemeinsamen oder persönlichen Übersichtstafel ein. In geräumigen Klassensälen können solche Stationen, die ganze Zeit über auf einzelnen Tischen, Fensterbänken... aufgebaut bleiben. In kleineren Sälen können sie stundenweise im Rahmen des 'éveil aux sciences' aufgebaut werden. Ein Übersichtsplan wie z.B. ein Klassengrundriss mit den einzelnen Standorten und Stationenbezeichnungen kann den Kindern bei der Orientierung behilflich sein.

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 286

Abbildung 88: Experimentieren als Lernzirkel

Die Kinder können beim Lernen an Stationen auch selbst neue Versuchsstationen zu interessanten Entdeckungen oder Fragestellungen entwerfen, die sie ihren Mitschülern zur Verfügung stellen und an freien Orten im Klassenraum aufbauen. Arbeiten in Lernpartnerschaften Bei dieser Ausführung wird vor allem Wert auf das Bewusstmachen der individuellen und gemeinsamen Vorgehensweise gelegt. Diese Arbeitsform kann sowohl in Rahmen eines Wochenplanes als auch begrenzt auf die 'éveil aux sciences'–Stunden ablaufen. In der Einführungsphase werden die individuellen Vorstellungen, Vorerfahrungen und weiterführenden Fragestellungen, die mit dem Material und den Karteikarten realisiert werden sollen, besprochen. Für das weitere Vorgehen teilen sich die Kinder in Partnergruppen auf. Alle Gruppen führen ein Lernjournal in Form eines dünnen Heftes in das sie Aufzeichnungen zu ihrem eigenen und zum gemeinsamen Vorgehen eintragen sowie persönliche Erfahrungen, unbeantwortete Fragen, Probleme... Die Selbstbeobachtung kann durch lautes Denken gefördert werden. Sie können aber auch auf digitale Aufzeichnungsverfahren zurückgreifen wie etwa Filmsequenzen zum gemeinsamen Vorgehen, Fotos, Tonaufnahmen... Falls die Schüler nicht wissen wie sie sich bei einem Versuch anlegen sollen, stehen ihnen unterschiedliche Hilfen zur Verfügung: – � sie schauen in den Hilfekarten nach; – � sie fragen einen Experten um Rat wie z.B. den Lehrer oder einen

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 287

Mitschüler, die sich auf einer Liste anbieten; – � sie beobachten das Vorgehen anderer Mitschüler, die ihre Vorgehensweise

außerdem kommentieren können. Durch dieses Beobachten werden andere Schüler angeregt, andere Strategien auszuprobieren und die eigenen weiterzuentwickeln.

Während der Versuche können die einzelnen Schüler ihre Lernprozesse immer wieder reflektieren, sowohl während als auch nach der Tätigkeit. Die Notizen im Lernjournal erlauben ihnen, – � einen differenzierten Rückblick auf das persönliche Vorgehen zu werfen; – � eine kritische Distanz zur gewählten Vorgehensweise einzunehmen und dem

eigenen Lernprozess gegenüber zu treten; – � sich mit dem Lernpartner, aber auch mit dem Lehrer, den Mitschülern oder

den Eltern... über die Lernprozesse zu unterhalten.

Abbildung 89: Experimentieren in Lernpartnerschaften

Während und auch nach Abschluss der Versuche besprechen die beiden Lernpartner ('peer-coaching') so immer wieder ihre Vorgehensweise sowie ihr Lernergebnis. In diesen Gesprächen findet eine gemeinsame Evaluation der Arbeits- und Lernerfahrungen, der Erkenntnisse, Probleme und offenen Fragen statt. Die Partner entscheiden, was sie aufgrund dieser Evaluation in die gemeinsame Klassenkonferenz einbringen wollen und halten diese Punkte im Lernjournal fest. In der abschließenden Klassenkonferenz werden die Ergebnisse der einzelnen Gruppen vorgestellt und einander gegenübergestellt. Dabei beschränkt sich die

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 288

Debatte nicht nur auf Sachaspekte, sondern schließt auch die Regulation des persönlichen Vorgehen aufgrund der Eintragungen aus den Lernjournals mit ein. Projektorientiertes Arbeiten Diese Arbeitsform bedarf aufgrund ihres projektartigen Charakters größere zusammenhängende Zeiteinheiten. Hauptziel ist das Erstellen eines gemeinsamen Klassenproduktes zum Sachbereich, was auf dem eigenständigen Erforschen und Entdecken der Klassengemeinschaft basiert. Die Konstruktion einer gemeinsamen Wissensbasis wird dabei sowohl von den Schülern als auch vom Lehrer gleichermaßen getragen. Die Kinder planen, organisieren und führen ihr Projekt selbständig durch. Unterschiedliche Meinungen, Kontroversen und Konflikte gehören dabei zum intendierten Ablauf.

Abbildung 90: Experimentieren als projektorientiertes Arbeiten

Wir wollen dabei einzelne Punkte kurz andeuten: – � Brainstorming zum Vorwissen und zu den Interessen der Schüler; – � Formulieren interessanter und bedeutsamer Fragestellungen zu

unterschiedlichen Schwerpunkte des Themas; – � Bearbeiten der zu erforschenden Aspekte in Kleingruppen, wobei auch

mehrere Gruppen parallel an einer Fragestellung arbeiten können; – � Einbeziehen andere Materialien zusätzlich zum vorhandenen

Experimentiermaterial; – � gelegentliche Diskussions- und Austauschrunden zum Fortgang der

Arbeiten; – � Formulieren der Zwischenergebnisse;

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 289

– � Austausch, Kommentieren und Kritisieren der Ergebnisse durch Mitglieder anderer Gruppen;

– � Synthese der Produktionen zu einem einheitlichen Klassenprodukt, das z.B. via Schulzeitschrift, Homepage, Online-Forum...veröffentlicht werden kann.

Diskussionen und Debatten spielen bei dieser Arbeitsform eine wichtige Rolle. Im Laufe ihrer Arbeit finden immer wieder Plenarsitzungen satt, bei denen die Forschergruppen ihre Interimserkenntnisse der Gesamtgruppe vorstellen und die Meinungen anderer zu den aufgestellten Theorien und entwickelten Vorstellungen einholen. Aussagekräftige Unterlagen können dabei die Argumentationen stützen bzw. den anderen Gruppen zur Einsicht und Begutachtung unterbreitet werden. Im Sinne der angesprochenen transaktiven und dialogischen Gesprächsformen (siehe S.272ff.) werden die Arbeitsergebnisse von den anderen Gruppen bestätigt oder widerlegt, indem sie z.B. Aspekte auflisten, die Sichtweisen hinterfragen oder verstärken. Mit den neu gewonnenen Informationen arbeiten dann die einzelnen Autorengruppe in ihren Forscherteams weiter. Arbeiten mehrere Gruppen an der gleichen Fragestellung, so können sie untereinander über einen spezifischen Zusammenhang ihre unterschiedlichen bzw. gemeinsamen Sichtweisen austauschen. Die Schüler müssen dabei den eigenen Standpunkt durch persönliche Theorien, Fakten... begründen. Für den Austausch der Informationen, das Kommentieren und Weiterverarbeiten von Textentwürfen eignen sich hervorragend Computer oder sogar Computernetzwerke, da Textdateien leicht weiterverarbeitet werden können und nachher zu einem Ganzen zusammengefügt werden können. Außerdem kann der so erstellte Wissensfundus, im Sinne der historischen Genese der Mediationsmittel, Dritten oder Folgeklassen zu Weiterverarbeitung überlassen werden. Die Idee der Wissensbildungsgemeinschaft kann allerdings auch ohne computergestützten Informationsaustausch stattfinden.

AUSWERTUNGSMÖGLICHKEITEN DER VERSUCHSREIHE

A. Artikulationsmöglichkeiten der Schüler: a. gemachte Erfahrungen darstellen Die Schüler stellen ihre Erfahrungen und Erkenntnisse aus den Versuchen mittels unterschiedlicher Repräsentationsmodi vor: handelnd: – � sie bauen Versuchsanordnungen auf, führen Vorgänge und Prozesse mit

dem Material vor; grafisch:

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 290

– � sie zeigen Illustrationen, Bilder, Pläne, angefertigte Listen zu verschiedenen Experimentierkarten, Zeichnungen von Vorgängen und Prozessen, die sie bei den Versuchen erstellt haben bzw. Illustrationen, die sie in Büchern zum Thema nachgesucht haben;

sprachlich: – � sie beschreiben Prozesse, kommentieren Versuche, die sie wiederholen; – � sie äußern Vermutungen zu ablaufenden Prozessen; – � sie verwenden spontane oder adäquate Bezeichnungen; – � sie erweitern gemeinsam Begriffe um ihre spezifische Bedeutung; – � sie stellen ihre spezifischen Erklärungsmodelle und subjektiven Theorien

vor und vergleichen sie mit denjenigen ihrer Mitschüler; – � sie stellen originale Lösungsvorschläge vor oder äußern aufgesuchte

Informationen wie z.B. jene aus den Infokarten; – � sie vergleichen Listen mit Ergebnissen, die sie festgehalten haben, bzw.

kurze Texte, die sie zu einzelnen Versuchen verfasst haben. b. das Versuchsvorgehen explizit machen – � Die Kinder stellen ihr eigenes Vorgehen vor bzw. versuchen es beim

Nachbauen eines Experiments zu artikulieren, zu explizieren und gezielt zu erweitern;

– � sie besprechen ihr mentales und praktisches Vorgehen aufgrund persönlicher Aufzeichnungen (siehe Variante: Arbeiten mit Lernjournal).

c. die Vorstellungen konfrontieren und weiterentwickeln – � Die Schüler konfrontieren ihre persönlichen Theorien untereinander und

versuchen sie durch Argumente oder durch konkrete Versuche zu belegen und gegenüber alternativen Ansätzen zu verteidigen;

– � sie erweitern Begriffe um ihre spezifische Bedeutung wie z.B. 'Kreis' für Stromkreis, der von der geometrischen Figur ja beträchtlich abweicht;

– � sie übernehmen von andern Mitschülern Vorgehensweisen und Strategien; – � sie modellieren bzw. reorganisieren ihre internen Repräsentationen der

Phänomene, Zusammenhänge und Vorgänge anhand gemeinsam erarbeiteter Modellierungen (Teilchenmodell, Fluß der Elektronen...).

d. Vorstellungen auf Alltagssituationen bzw. neue Kontexte übertragen – � Sie verbinden die Erfahrungen aus den Versuchssituationen mit bereits

bekannten Anwendungen; – � Sie suchen selbständig weitere Anwendungen in ihrem Umfeld in nächster

Zeit auf; – � Sie suchen andere Versuchssituationen oder Problemsituationen, deren

Lösung ein ähnliches Vorgehen erfordert.

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 291

e. Weiterführende Arbeiten am Thema – � Sie artikulieren weiterführende Fragestellungen und Interessen am

Sachthema und planen weitere Nachforschungen; – � sie schlagen Ausweitungen des Themas vor; – � sie realisieren Ausstellungen zum Thema; – � sie bauen spielerische Anwendungen des Prinzips nach (vgl. Spielkarten); – � sie integrieren das neue Wissen in andere Konstruktionen wie z.B. einen

parallelen Stromkreis als Beleuchtung einer Puppenstube.

B. vielfältige Interventionsmöglichkeiten für den Lehrer: a. Einblicke in den Prozess der Theoriebildung ermöglichen – � Der Lehrer kann den Schülern den Sinn, die Methode und die

Vorgehensweise der experimentellen Vorgehensweise ein Stück weit bewusst werden lassen, indem Ergebnisse in Bezug auf Rahmentheorien interpretiert sowie die Wichtigkeit der Überprüfung von Vermutungen gezeigt werden.

– � Der Lehrer kann gezielt die Schüler auffordern, verschiedene Versuche zu wiederholen und dabei die für Veränderungen verantwortlichen Parameter zu isolieren und getrennt zu manipulieren.

– � Einfache kausale Verknüpfungen, besonders solche der räumlich–zeitlichen Nähe oder der Kovarianz, können gezielt in Frage gestellt werden.

– � Der Lehrer kann die Kinder auffordern, Vermutungen zu bestimmten Problemstellungen zu entwerfen und eine adäquate Versuchsanordnung vorzuschlagen. Die Kinder können so Sinn und Zweck einfacher Vermutungen (Hypothesen) an einfachen Problemstellungen praktisch erfahren.

– � Das Diskutieren von Ergebnisses und das Weiterentwickeln von Aussagen und Theorien kann den Schülern bewusst gemacht werden durch Gegenüberstellung individueller Vorstellungen bzw. Herauslösen bestimmter Fragestellungen.

b. die Veränderungen der Schülervorstellungen deutlich machen – � Der Lehrer kann sich Einblick in die erreichte Verstehensgüte der Schüler

machen, wenn er sich ein differenzierte Bild mittels unterschiedlicher Repräsentationsmodi über die allmähliche Veränderung der Schülervorstellungen im Laufe der Versuchssequenz macht.

– � Die Lernhandlungen der Schüler sollen womöglich auf die gleiche Art und Weise angesprochen werden, wie sie diese im Rahmen der Versuche selbst ausgeführt haben – also vorwiegend handelnd am realen Versuchsaufbau.

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 292

Zu diesem Zweck können gezielt ausgesuchte Experimente gemeinsam mit der ganzen Klasse wiederholt werden, welche einzelne Schüler dann laut kommentieren. Auf diese Weise werden die sprachlichen Artikulationsschwierigkeiten über Vorgehensprozeduren, sowie spezifische Sprachschwierigkeiten ein Stück weit umgangen.

– � Die Kinder konfrontieren bei solchen Versuchen ihre Erwartungen (Vermutungen, Hypothesen) mit den eintretenden Ergebnissen oder Abläufen.

– � Der Lehrer kann die Schüler ebenfalls auffordern, bestimmte Versuchsaufbauten zu entwerfen, um z.B. eine bestimmte Eigenschaft der Luft nachzuweisen.

– � Er kann die Kinder auffordern, intuitives Wissen mit formalem Wissen zu vergleichen und Gemeinsamkeiten / Differenzen zu identifizieren.

– � Das so wichtige ‘bridging’ – das Verknüpfen mit außerschulischen Lernsituationen – kann der Lehrer nur initiieren; es muss von den Schülern selbständig vorgenommen werden. Es soll sich nicht auf die Auswertungsstunde begrenzen, sondern durch Ausstellungen, Nachbauen von Spielkarten noch über längere Zeit gepflegt werden.

c. Schwerpunkt des Grades ansprechen Jeder Grad verfügt über spezifische Schwerpunkte, die spiralisch aufeinander abgestimmt sind. Am Ende der Versuchsreihe können die jeweiligen Schwerpunkte gezielt angesprochen und geklärt werden. Nähere Hinweise hierzu findet man in der methodisch–didaktischen Erläuterungen der einzelnen Experimentierbereiche. d. Repräsentationen modellieren – � Durch das Einführen ausgewählter Modellvorstellungen wie z.B. des

Teilchenmodells kann der Lehrende den Denkweisen der Kinder eine neue Qualität geben.

– � Die Kinder müssen Sachverhalte mit Hilfe der vorgeschlagenen Modelle darstellen und erklären. Wichtig ist, dass eine unmittelbare Korrespondenz zwischen der symbolischen Darstellung und dem entsprechenden Versuchsaufbau erfolgt (realer Aufbau eines Schienenkreises mit einer Spielzeugeisenbahn – aufgebauter elektrischer Schaltkreis)

– � Zudem müssen oft Beziehungen zwischen verschiedenen Repräsentationsmodi hergestellt werden bzw. Darstellungen aus einem Symbolsystem (etwa eine Kinderzeichnung vom Stromkreis) in ein anderes übertragen werden.

Lernen als Enkulturation in Praktikergemeinschaften 293

e. Wissen über sich selbst entwickeln – � Die anschließende Klassenkonferenz muss über den Sachaspekt hinaus auch

die Entwicklung des Wissens der Schüler über sich selbst, die Förderung der Selbstregulationsfähigkeiten und das Fähigkeitsselbstbild als wichtiges Ziel von 'Experimentieren in der Schule' anstreben.

Verzeichnis der Abbildungen 294

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN Abbildung 1: Gesamtzeitaufwand für technisch–naturwissenschaftliche Lerninhalte in der luxemburgische

Primarstufe.............................................................................................................................................10 Abbildung 2: Übersicht über den technischen Erfahrungsbereich in den Klassen 1 bis 4 der luxemburgischen

Grundschule. ..........................................................................................................................................11 Abbildung 3: Zahl der Unterrichtsstunden in den Bereichen Physik und Chemie in der Oberstufe des klassischen

Sekundarunterrichts (naturwissenschaftliche Sektionen B und C).....................................................12 Abbildung 4: Übersicht über die Zahl der Unterrichtsstunden in den Bereichen Physik und Chemie in der

Unterstufe des technischen Sekundarunterrichts.................................................................................13 Abbildung 5: Zahl der Unterrichtsstunden in den Bereichen Physik und Chemie in der Oberstufe des technischen

Sekundarunterrichts ('enseignement technique général'). ..................................................................13 Abbildung 6: Schülerzahlen und Erfolgsquoten in der Ausbildung der verschiedenen Technikerberufe auf der

Oberstufe des technischen Sekundarunterrichts (MENFPS, 2002, S.82).............................................14 Abbildung 7: Zahl der naturwissenschaftlichen Unterrichtsstunden im 'régime préparatoire' des technischen

Sekundarunterrichts. .............................................................................................................................14 Abbildung 8: Unterrichtsstunden für physikalisch–chemische und elementar technische Lerninhalte von der

Primarstufe bis zum jeweiligen Schulabschluss. .................................................................................15 Abbildung 9: Gesamtschülerzahlen des klassischen und technischen Lyzeums im Vergleich (MENFPS, 2002,

S.41)........................................................................................................................................................15 Abbildung 10: Aufteilung der Schüler in der Oberstufe der klassischen Sekundarstufe (MENFPS, 2002, S.49).....16 Abbildung 11: Verteilung der Jungen und Mädchen auf die technische und klassische Sekundarschule (MENFPS,

2002, S.43) .............................................................................................................................................17 Abbildung 12: Aktiv-, Hilfe- und Infokarten aus der luxemburgischen Experimentierkartei (MENFPS, in press).26 Abbildung 13: grundlegendes Mediationsdreieck von VYGOTSKY..............................................................................39 Abbildung 14: überarbeitetes Mediationsdreieck von COLE & ENGESTRÖM (1993) inklusive Zeit als

Analyseeinheit ........................................................................................................................................41 Abbildung 15: Hierarchische Ebenen einer Aktivität in Anlehnung an LEONTJEW (1978) ..................................53 Abbildung 16: basic structure of an activity system (ENGESTRÖM, 1987, p.87)........................................................56 Abbildung 17: Erweitertes Modell eines 'activity system' nach ENGESTRÖM (1987) ................................................58 Abbildung 18: Artikulation multipler Aktivitätssysteme (BØDKER, 1996, S.151)......................................................59 Abbildung 19: Darstellung des Aktivitätssystems der Krankenpflege mit aufgeführten Spannungen und

Konflikten (COLE & ENGESTRÖM, 1993, S.36) .....................................................................................60 Abbildung 20: 'coin tossed in the air' problem (CLEMENT, 1982, in BRUER, 1997, p.127).......................................95 Abbildung 21: Experimentelle Bedingungen zur Untersuchung des Wissens über Kontinuität und Solidität von

Objektbewegungen bei Säuglingen (SPELKE ET AL., 1992)............................................................... 101 Abbildung 22: Experimentelle Bedingungen zur Untersuchung des Wissens über die Solidität von Objekten bei

Säuglingen (SPELKE, 1990, S.34). ...................................................................................................... 102 Abbildung 23: Experimentelle Bedingungen zur Untersuchung der Objektpermanenz bei Säuglingen

(BAILLARGEON, 1986).......................................................................................................................... 103 Abbildung 24: Experimentelle Bedingungen zur Untersuchung des Verstehens möglicher und unmöglicher

physikalischer Ereignisse bei Säuglingen (NEEDHAM & BAILLARGEON, 1993)............................... 106

Verzeichnis der Abbildungen 295

Abbildung 25: Experimentelle Bedingungen zur Untersuchung des Verstehens möglicher und unmöglicher physikalischer Ereignisse bei Säuglingen (BAILLARGEON, NEEDHAM & DE VOS, 1992). ............... 106

Abbildung 26: Mentale Modelle der Erde von Grundschülern (VOSNIADOU & BREWER, 1992)........................... 111 Abbildung 27: Die Erde als 'hohle Kugel' – Synthesemodell nach VOSNIADOU & BREWER (1992). ..................... 112 Abbildung 28: Learning tools and transfer tools (BROWN 1990, p.116)................................................................. 114 Abbildung 29: Einfluss der mentalen Modelle der Erde auf die Erklärung des Tag-Nacht-Zyklus aus VOSNIADOU

ET AL. (2001, S.389) ............................................................................................................................ 128 Abbildung 30: Tetraeder-Modell des Zeichens VON KLINKENBERG (1998, S.21) ................................................... 136 Abbildung 31: Kategorien von Zeichen nach KLINKENBERG (1998, S.22).............................................................. 138 Abbildung 32: Bildkärtchen für das Anzeigen der Wetterphänomene.................................................................... 163 Abbildung 33: Hilfekarte aus der luxemburgischen Experimentierkartei (MENFPS, in press). ............................ 163 Abbildung 34: Symbole für Gefahren ....................................................................................................................... 163 Abbildung 35: Schilder als Symbole für Gefahren, Verbote, Empfehlungen oder Hinweise................................ 164 Abbildung 36: Chemische Elemente und ihre Symbole ........................................................................................... 164 Abbildung 37: Elektrizitätsdiagramm....................................................................................................................... 164 Abbildung 38: Elektrizitätsdiagramm in Kombination mit Foto eines real aufgebauten Stromkreises (HANN,

1992, S.155). ....................................................................................................................................... 165 Abbildung 39: Schematische Darstellung und Kinderzeichnung (AMIGUES ET AL., 1996, S.87ff.) ....................... 166 Abbildung 40: Querschnitt durch eine Glühlampe mit Legende (MENFPS, in press) ............................................ 166 Abbildung 41: unterschiedliche Diagramme zur Darstellung statistischer Daten ................................................ 167 Abbildung 42: geometrische Darstellung in Form einer sigmoiden oder S-förmigen Kurve ............................... 167 Abbildung 43: Tabelle mit Ergebnissen eines kritischen Versuchs ........................................................................ 168 Abbildung 44: Konzeptkarte eines Schülers zu Wasser (NOVAK, 1998) ................................................................. 169 Abbildung 45: Konzeptkarte zu Bedeutungen (NOVAK, 1998)................................................................................. 169 Abbildung 46: Modellierungen des Stromkreislaufes in Analogie zu einem bekantnen Phänomen..................... 170 Abbildung 47: Luftdruck als komprimierte Luftteilchen (MENFPS, in press) ......................................................... 171 Abbildung 48: Standard-Maßeinheiten..................................................................................................................... 171 Abbildung 49: Magnituden bestimmter standardisierter Einheiten........................................................................ 172 Abbildung 50: Begriffe im Zusammenhang mit dem Wechsel der Aggregatzustände des Wassers...................... 176 Abbildung 51: Die Weinbergschnecke (HEILIGMANN, JANUS & LÄNGE, 1979, S.164) ........................................... 177 Abbildung 52: Hierarchische Organisation der Mineralien (BOWER, 1970)......................................................... 177 Abbildung 53: die etymologische Abstammung bestimmter Prä- und Suffixe ....................................................... 178 Abbildung 54: Kindervorstellungen zum elektrischen Strom (ASSELBORN, 1997, S.94f.)...................................... 179 Abbildung 55: Interview aus QUAST (1984, S.212) .................................................................................................. 182 Abbildung 56: aus OSBORNE & FREYBERG (1994, S.22)........................................................................................... 183 Abbildung 57: Zeichnungen 10jähriger Grundschulkinder bezüglich ihres Vorwissens zum Aufleuchten einer

Glühlampe ........................................................................................................................................... 200 Abbildung 58: Components, processes and sub-processes of conceptual learning (CHENG, 1999, p.115). ........ 204 Abbildung 59: The dynamic and interactive nature of the mind at work in forming concepts (GEE, 1997, p.241).

.............................................................................................................................................................. 209 Abbildung 60: The mind–world–society system and the role of values and appreciations (GEE, 1997, p.242).. 210 Abbildung 61: Stromkreislauf in Analogie mit Wasserkreislauf (GLYNN, 1997).................................................... 218 Abbildung 62: Evaluationskriterien für mentale Modelle (JONASSEN, 1995)......................................................... 222 Abbildung 63: Stromfluss-Modelle von Kindern (OSBORNE & FREYBERG, 1985/1994, S.23f.). ............................ 224

Verzeichnis der Abbildungen 296

Abbildung 64: Results of survey of electric current 'models' (OSBORNE & FREYBERG, 1985, p.26) ..................... 225 Abbildung 65: Abbildung aus SHIPSTONE (1985, S.36)............................................................................................ 226 Abbildung 66: Kinderaussagen zu Serienschaltungen (ASSELBORN, 1997)............................................................ 227 Abbildung 67: Positionieren von Punkten auf einer Gerade bei einer Geometrie-Aufgabe................................. 230 Abbildung 68: Schema der durch kognitive Schemata geleiteten Interaktion zwischen propositionalen

Repräsentationen und mentalen Modellen beim Wissenserwerb anhand von Texten und Bildern (SCHNOTZ 1996, S.25). ........................................................................................................................ 231

Abbildung 69: analoger Transfer aufgrund spezifischer Problemstellung (MENFPS, in press)............................ 239 Abbildung 70: Analogierelation (SCHWEDES, 1996, S.278)..................................................................................... 242 Abbildung 71: Stromkreislauf als Elektronenkreislauf mit Pumpe aus CHEEK (1993, S.24). ............................... 246 Abbildung 72: Modell des Stromkreislaufes aus JOHSUA & DUPIN (1989, S.110)................................................. 246 Abbildung 73: Wassermodell mit der Doppelwassersäule (SCHWEDES, 1996, S.279)........................................... 247 Abbildung 74: Zusammenhänge zwischen Ziel- und Basismodell sowie den zu verändernden Fehlvorstellungen

der Kinder durch das Schienenmodell vom Stromkreislauf............................................................. 248 Abbildung 75: TWA-Modell von GLYNN, DUIT & THIELE (1995) ............................................................................ 248 Abbildung 76: a social learning theory (WENGER, 1998, p.5)................................................................................. 254 Abbildung 77: Schulische Ersatzaktivitäten als Aktivitätssystem ('Lehrer im Kontext' als Analyseeinheit)........ 261 Abbildung 78: JPF, Practitioner, and Student Activity (BROWN, COLLINS & DUGUID, 1989) .............................. 263 Abbildung 79: authentische schulische Aktivitäten als Aktivitätssystem................................................................ 265 Abbildung 80: Infokarte mit Verweis auf Alltagssituation (MENFPS, in press)...................................................... 268 Abbildung 81: Versuchskarte, auf der aufsteigende Luftblasen im Aquarium auf die Problemlösung hinweisen

(MENFPS, in press) .............................................................................................................................. 268 Abbildung 82: Measuring the development of features of moral discussion (BERKOWITZ & GIBBS, 1983) ......... 273 Abbildung 83: The expansive cycle (ENGESTRÖM, 1999, p.34) ............................................................................... 276 Abbildung 84: Auszug aus einem Lernjournal einer Viertklässlerin ...................................................................... 277 Abbildung 85: gemeinsam organisiertes Arbeiten in Partnergruppen, wobei sämtliche Gruppen synchron den

gleichen Versuch bearbeiten .............................................................................................................. 283 Abbildung 86: gemeinsam organisiertes Arbeiten in Vierergruppen, wobei alle Gruppen parallel am gleichen

Versuch arbeiten ................................................................................................................................. 284 Abbildung 87: Experimentieren als freies Arbeiten an einer Experimentierstation.............................................. 285 Abbildung 88: Experimentieren als Lernzirkel ........................................................................................................ 286 Abbildung 89: Experimentieren in Lernpartnerschaften ......................................................................................... 287 Abbildung 90: Experimentieren als projektorientiertes Arbeiten ........................................................................... 288

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