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390 Roland Roth 16 Rudi Dutschke, Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf, in: Uwe Bergmann/Rudi Dutschke/Wolfgang Lefevre/Bernd Rabehl (Hrsg.), Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek 1968, S. 89f. 17 Vgl. emphatisch: Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frank- furt a. M . 1990, S. 26. 18 Vgl. Bernd Guggenberger/Claus Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehr- heitsdemokratie, Opladen 1984. 19 Vgl. Eva Kreisky, Bürokratie und Frauen, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 17 (1988) 1, S. 91-102. 20 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt a.M. 1986. 21 Vgl. Herbert Kitschelt, Der ökologische Diskurs, Frankfurt a. M. 1984. 22 Vgl. Manfred Küchler, Ökologie statt Ökonomie. Wählerpräferenzen im Wandel?, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und Wähler, Opladen 1990, S. 417-444; Bernhard Weßels, Erosion des Wachs- tumsparadigmas: Neue Konfliktsstrukturen im politischen System der Bundesrepublik, Opladen 1991. 23 Vgl. Ursula Hoffmann-Lange, Eliten zwischen Alter und Neuer Politik, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß, Opladen 1986, S. 108-150. 24 Ulrich Beck, Der ökologische Gesellschaftskonflikt, in: WSI-Mitteilungen, 43 (1990) 12, S. 750-755, hier S. 752. 25 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986. 26 Renate Damus, Wir kommen nicht wieder, wir bleiben da, 1991 (Ms.). 27 Vgl. Franz Urban Pappi, Die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B26/1989, S. 17-27. 28 Vgl. Rüdiger Schmitt (Anm. 13), S. 241. 29 Ulrich Beck (Anm. 24), S. 753. 30 Vgl. John D. McCarthy/Mayer N. Zald, The Trend of Social Movements in America: Professionalization and Resource Mobilization, in: Dies. (Hrsg.), Social Movements in an Organizational Society, New Brunswick 1987, S. 337-391. 31 Peter J. Katzenstein (Hrsg.), Industry and Politics in West Germany, To- ward the Third Republic, Ithaca 1989, S. 15. 32 Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung, Berlin 1990, S. 87f. 33 Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skan- dals, Frankfurt a. M. 1989. 34 Ulrich Beck, Die Industriegesellschaft schafft sich selber ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Oktober 1990, S. 35. 35 Ebd. 36 R. J. Dalton/Manfred Kuechler (eds.), Challenging the Political Order. New Social Movements in Western Democracies, Cambridge 1990, S. 298. 37 Vgl. Dietrich Herzog u.a., Bürger und Abgeordnete, Opladen 1990. Avantgarde und Gruppenprozesse von Rolf Schwendter Begriff und Sachverhalt „Elite" weisen einen eigenartig statuarischen Charakter auf, etwas wie für eine Ewigkeit Gefügtes, und es scheint mir nicht gerade ein Zufall zu sein, daß der meistbedeutende Elitenforscher des 20. Jahrhunderts, Vilfredo Pareto, ein italieni- scher Faschist war. Auch die Unterscheidung zwischen „politi- schen Eliten" und „nicht politischen Eliten" stammt von ihm, und zwar, um die Spitzenpolitiker von den Spitzenprostituierten diffe- renzieren zu können. Immerhin löst Pareto mit Differenzierungen dieser Art den bis dahin positiv gesetzten normativen Anspruch, „Elite" sei nicht nur das Ensemble der machtausübenden Grup- pierungen in einer gegebenen Gesamtgesellschaft (also, wie bei C Wright Mills, synonym zum „Establishment"), sondern auch noch der Inbegriff des Wahren, Guten, Schönen und Vorbildli- chen in dieser, durch eine wertfreie Haltung ab. Letztlich um den Preis einer Tautologie: Elite ist, wer an der Spitze steht - wer an der Spitze steht, ist Elite. 1. Eliten und soziale Bewegungen Für das Engagement der und innerhalb der sozialen Bewegungen scheint es dann sinnvoll, von „Eliten" zu sprechen, wenn es um, wie Roland Roth es nennt, Kooptation von Personen in die herr- schenden Eliten geht, oder - beides Ausdrücke von Pareto - um ihre Fusionen, oder gar um ihren Friedhof. Im Binnenverhältnis der sozialen Bewegungen und ihrer Drehpunktpersonen hat der „Eliten"-Begriff nichts verloren. Brüsker formuliert: Wo soziale Be- wegungen als solche fungieren, ist der .Eliten'-Begriff gegenstands- los - und wo der ,Eliten'-Begriff in sein Recht tritt, ist dies ein untrügliches Anzeichen dafür, daß die betreffende soziale Bewe- gung zu existieren aufgehört hat.

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390 Roland Roth

16 Rudi Dutschke, Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf, in: Uwe Bergmann/Rudi Dutschke/Wolfgang Lefevre/Bernd Rabehl (Hrsg.), Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek 1968, S. 89f.

17 Vgl. emphatisch: Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frank­furt a. M. 1990, S. 26.

18 Vgl. Bernd Guggenberger/Claus Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehr­heitsdemokratie, Opladen 1984.

19 Vgl. Eva Kreisky, Bürokratie und Frauen, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 17 (1988) 1, S. 91-102.

20 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt a.M. 1986. 21 Vgl. Herbert Kitschelt, Der ökologische Diskurs, Frankfurt a. M. 1984. 22 Vgl. Manfred Küchler, Ökologie statt Ökonomie. Wählerpräferenzen im

Wandel?, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und Wähler, Opladen 1990, S. 417-444; Bernhard Weßels, Erosion des Wachs­tumsparadigmas: Neue Konfliktsstrukturen im politischen System der Bundesrepublik, Opladen 1991.

23 Vgl. Ursula Hoffmann-Lange, Eliten zwischen Alter und Neuer Politik, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß, Opladen 1986, S. 108-150.

24 Ulrich Beck, Der ökologische Gesellschaftskonflikt, in: WSI-Mitteilungen, 43 (1990) 12, S. 750-755, hier S. 752.

25 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986. 26 Renate Damus, Wir kommen nicht wieder, wir bleiben da, 1991 (Ms.). 27 Vgl. Franz Urban Pappi, Die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen,

in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B26/1989, S. 17-27. 28 Vgl. Rüdiger Schmitt (Anm. 13), S. 241. 29 Ulrich Beck (Anm. 24), S. 753. 30 Vgl. John D. McCarthy/Mayer N . Zald, The Trend of Social Movements

in America: Professionalization and Resource Mobilization, in: Dies. (Hrsg.), Social Movements in an Organizational Society, New Brunswick 1987, S. 337-391.

31 Peter J. Katzenstein (Hrsg.), Industry and Politics in West Germany, To-ward the Third Republic, Ithaca 1989, S. 15.

32 Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung, Berlin 1990, S. 87f.

33 Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skan­dals, Frankfurt a. M. 1989.

34 Ulrich Beck, Die Industriegesellschaft schafft sich selber ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Oktober 1990, S. 35.

35 Ebd. 36 R. J. Dalton/Manfred Kuechler (eds.), Challenging the Political Order.

New Social Movements in Western Democracies, Cambridge 1990, S. 298. 37 Vgl. Dietrich Herzog u.a., Bürger und Abgeordnete, Opladen 1990.

Avantgarde und Gruppenprozesse

von Rolf Schwendter

Begriff und Sachverhalt „Elite" weisen einen eigenartig statuarischen Charakter auf, etwas wie für eine Ewigkeit Gefügtes, und es scheint mir nicht gerade ein Zufall zu sein, daß der meistbedeutende Elitenforscher des 20. Jahrhunderts, Vilfredo Pareto, ein italieni­scher Faschist war. Auch die Unterscheidung zwischen „politi­schen Eliten" und „nicht politischen Eliten" stammt von ihm, und zwar, um die Spitzenpolitiker von den Spitzenprostituierten diffe­renzieren zu können. Immerhin löst Pareto mit Differenzierungen dieser Art den bis dahin positiv gesetzten normativen Anspruch, „Elite" sei nicht nur das Ensemble der machtausübenden Grup­pierungen in einer gegebenen Gesamtgesellschaft (also, wie bei C Wright Mills, synonym zum „Establishment"), sondern auch noch der Inbegriff des Wahren, Guten, Schönen und Vorbildli­chen in dieser, durch eine wertfreie Haltung ab. Letztlich um den Preis einer Tautologie: Elite ist, wer an der Spitze steht - wer an der Spitze steht, ist Elite.

1. Eliten und soziale Bewegungen

Für das Engagement der und innerhalb der sozialen Bewegungen scheint es dann sinnvoll, von „Eliten" zu sprechen, wenn es um, wie Roland Roth es nennt, Kooptation von Personen in die herr­schenden Eliten geht, oder - beides Ausdrücke von Pareto - um ihre Fusionen, oder gar um ihren Friedhof. Im Binnenverhältnis der sozialen Bewegungen und ihrer Drehpunktpersonen hat der „Eliten"-Begriff nichts verloren. Brüsker formuliert: Wo soziale Be­wegungen als solche fungieren, ist der .Eliten'-Begriff gegenstands­los - und wo der ,Eliten'-Begriff in sein Recht tritt, ist dies ein untrügliches Anzeichen dafür, daß die betreffende soziale Bewe­gung zu existieren aufgehört hat.

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Rolf Schwendter

Natürlich gibt es innerhalb der sozialen Bewegungen so gut wie immer stratifikatorische Unterschiede. Einige wissen mehr, einige können mehr, einige machen mehr, einige reden mehr mit Leuten (oder reden mit mehr Leuten), einige können oder wollen mehr Zeit für die gemeinsamen Normen ihrer Subkulturen, Teil­kulturen, sozialen Bewegungen einsetzen als andere (in meiner Begrifflichkeit sind soziale Bewegungen nichts anderes als auf einen gemeinsamen Gegenstand orientierte Agglomerationen von Subkulturen, Teilkulturen und Drehpunktpersonen). Diese Dinge sollten weder unter den Tisch gefegt noch zur Elite hinaufdefiniert werden.

Bei der Erörterung von Stratifikationen oder Prestigerangord­nungen in sozialen Bewegungen soll in diesem Beitrag, je nach Kontext, von Interaktionsrentner/inne/n, von Gurus, von Bonzen oder von den Avantgarden die Rede sein.

Der Unterschied zwischen „Elite" und „Avantgarde", von mir bereits 1970 thematisiert („Modelle zur Radikaldemokratie") ist ein erheblicher:1 „Elite" ist die herrschende, besitzstandswahrende Gruppierung, die zum Zwecke der Beibehaltung ihrer Privilegie­rungen daran interessiert ist, den Zugang zu ihr so beschränkt wie nur irgend möglich zu halten - beginnt sie zu kooptieren, oder gar zu fusionieren, muß sie damit gleichzeitig die in ihr (und sei es zeitweilig) eingetretene Krise feststellen. Demgegenüber ist „Avantgarde" eine subkulturelle Gruppierung, die danach trach­tet, die Umstände ihrer stratifizierenden Privilegierungen im Laufe der Bewegung auf soviele Personen wie irgend möglich auszu­dehnen - etwa auch das Streben nach fundamentaler Demokra­tisierung. Freilich ist dieser Gegensatz selbst kein statischer. Elite kann Avantgarde werden (oder doch wenigstens ein Teil von ihr: siehe die Entwicklung der Generalstände zur Nationalversammlung im Frankreich des Jahres 1789) und, häufiger, Avantgarde zur Elite. Um dies plakativ zu verdeutlichen: Als im nachzaristischen Rußland die Avantgarde zur Elite geworden war (zur „Nomenkla­tura", wie sie später genannt werden sollte), war, im selben Akt, der Sozialismus zum Realsozialismus verkommen; und den Fried­hof dieser Elite haben wir ja soeben erlebt.

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Georg Bollenbeck, von dessen weitergehenden Reflexionen (etwa über das Verhältnis von Historisierung und Aktualität des ,,Avantgarde"-Begriffs) ich hier abstrahieren muß, weist auf die Militärsprache, auf die metaphorische Wendung während der Fran­zösischen Revolution, auf die Gesellschaftslehre Saint-Simons und auf Ansprüche von Künstlergruppen zwischen 1900 und ca. 1935 als Momente der Begriffsgeschichte von Avantgarde hin. Für un­seren Gegenstand ansatzweise verallgemeinert, bedeutet „Avant­garde": - die Absicht, als kleine, jedoch potentiell zunehmende Gruppe

die „Grundsätze aller von morgen zu vertreten"2; - die Ablehnung des Zwanges der Tradition, einschließlich der

Provokation etablierter Normen und Wahrnehmungsweisen; - entsprechend eine große Innovationsbereitschaft, bis hin „zu

einer produktiven Rücksichtslosigkeit"3 gegenüber den jeweils herrschenden gesamtgesellschaftlicher Normen. Für das künstlerische, in der Subkultur der Boheme zentrierte

Feld der Avantgarden, welches dem besonderen Interesse Georg Bollenbecks entspricht, mag nun eingewendet werden, die poten­tielle Ausweitung sei, ironischerweise, abgesehen vom Kunstmarkt, bloßes Programm geblieben. Oft genug haben sich ästhetisch­avantgardistische Bewegungen eher immer weiter dissoziiert als ausgebreitet (zu denken ist etwa an Dada, an die Surrealisten, seit den sechziger Jahren auch an die Situationistische Internationale); oft genug sind sie die Kleingruppen geblieben, als die sie begon­nen hatten. Gerade für die Avantgarden im Kontext sozialer Be­wegungen scheint indes dies nicht, oder doch wenigstens erheb­lich seltener zu gelten - wenigstens, wenn wir von einer Reihe besonders immobiler Subkulturen absehen.

Der Regelkreis der Entstehung, Verbreitung und Innehaltung (bis hin zur Selbstauflösung) von Avantgarden im Kontext sozia­ler Bewegungen läßt sich folgendermaßen grob skizzieren:

Eine Kleingruppe entsteht und übt, zunächst weithin von der Öffentlichkeit unbeachtet, ihre abweichenden Normen ein. Teils durch Gruppenprozesse, die sowohl einzelne, vordem eher iso­lierte Personen als auch benachbarte Kleingruppen umfassen, teils

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durch von außen auftretende Ereignisse, weitet sich diese ursprüng­liche Kleingruppe aus. Im ersten Fall geschieht dies eher allmäh­lich, im zweiten Fall eher schlagartig (zuweilen auch so schlagar­tig, daß die ursprünglich entstandenen Kleingruppen damit über­fordert sind).

In der so zur Großgruppe ausgeweiteten Kleingruppe (wenn sie nicht schon Züge einer Subkultur oder einer sozialen Bewe­gung angenommen hat) entsteht eine Ausdifferenzierung der Nei­gungen und Schwerpunkte der Präferenzen und Prioritäten. Gleich­wohl bleiben Normen bestehen, die für die Gesamtheit der Teil­nehmenden einen verbindlichen Charakter behalten. Durch diese Ausdifferenzierung (oft in Verbindung mit der anhaltenden Be­deutung der von außen aufgetretenen Ereignisse) erweitert die Gruppe/Subkultur/soziale Bewegung sich noch stärker und ver­stärkt ihre Rolle als Avantgarde - spätestens jetzt auch in der Außenwirkung auf die Öffentlichkeit. Ab hier verzweigen sich ihre Möglichkeiten:

- Die entstandene Öffentlichkeit mobilisiert die Herrschenden, welche umgehend so repressiv reagieren, daß die Gruppe zer­schlagen werden kann. (Eine Repression, die diese Folgen nicht zeitigt, kann allerdings auch die Funktion eines zusätzlichen, von außen auftretenden Ereignisses annehmen, welches die Ausbreitung der Avantgarde, wenigstens vorerst, eher noch be­schleunigt).

- Hinsichtlich der verbindlich gebliebenen Normen im Kontext der anhaltenden Bedeutung der von außen aufgetretenen Er­eignisse erleidet die soziale Bewegung eine als entscheidend wahrgenommene Niederlage. Theoretisch oder praktisch ist sie die nächsten Jahre so sehr damit beschäftigt, Konsequenzen aus den angenommenen Ursachen dieser Niederlage zu zie­hen, daß sie mindestens faktisch in eine Vielzahl von Gruppen zerfällt.

- Die Ausdifferenzierung und damit verbundene Ausbreitung hat eine Erosion der bislang als verbindlich wahrgenommenen ge­meinsamen Normen zur Folge, so daß die Gruppe/Subkultur/ soziale Bewegung sich allmählich, und sei es faktisch, auflöst.

Avantgarde und Gruppenprozesse 395

Im Extremfall bleibt der Name der sozialen Bewegung beste­hen, auf welchen auch Hunderttausende unter Umständen sich weiterhin beziehen, wobei eine jede Person oder Gruppe indes etwas anderes darunter zu verstehen neigt.

- Im Laufe der Jahre des Bestehens der Gruppe/Subkultur/sozia-len Bewegung kommt es zu einem Widerspruch zwischen ih­ren Normen und denen des Alltags (Berufstätigkeit, Familien­gründung etc.), der schleichend zugunsten der letzteren aufge­löst wird. Dies wäre der logische Ort des Umstands, daß Perso­nen für die herrschenden Eliten kooptiert werden. Für die vier hier skizzierten Stränge kann es von nun an zu Institutionalisie­rungen kommen, die gleichzeitig erforderlich sind, um die ehedem verbindlichen Normen zu bewahren (oder doch einige von diesen, oder doch zumindest die Erinnerung an diese) -die jedoch so gut wie immer das Ende der Großgruppe als soziale Bewegung markieren. Es kommt zur Gründung neuer Kleingruppen, die, weithin von der Öffentlichkeit unbeachtet, ihre abweichenden Normen einzuüben beginnen. Und jeden­falls sind Personen, manchmal weniger, manchmal mehr, manch­mal sehr viele, zu Avantgarden im Laufe dieses Regelkreises geworden, welche ihrerseits abweichende Normen einzuüben beginnen. Manche von ihnen sind in die Elitenzirkulation ein­gegangen, die meisten indes mit Sicherheit nicht. Sie sind, auf welche in sich widersprüchliche Weise auch immer, politisch geblieben, und viele von ihnen auch „kontinuierlich aktiv". Ei­ner „politischen Klasse" allerdings lassen sie sich kaum zuordnen. Aus der langen Kette sozialer Bewegungen, Subkulturen und

Gruppen (historische Jugend- und Lebensreformbewegung, histo­rische Arbeiterbewegung, Ostermarsch vor 1968, Außerparlamen­tarische Opposition, Ökologiebewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung, Gesundheitsbewegung, AG SPAK, amnesty international, SDS vor 1969, Sozialistisches Patientenkollektiv Heidelberg, Berliner und niederländische Hausbesetzungsbewe­gung, Partei Die Grünen, Sozialistisches Büro) möchte ich im fol­genden als Fallbeispiel aus autobiographischem Interesse eine informelle Gruppe in Wien hervorheben. In länger andauernden

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Gruppenprozessen hat sich hier eine Avantgarde gebildet, die ich auch nach mehr als 20 Jahren später zu guten Teilen immer noch als eine solche wahrnehme, ohne daß sie zu Teilen einer „Elite" oder gar einer „politischen Klasse" geworden ist.

2. Die „Informelle Gruppe"

Die „Informelle Gruppe" oder auch der „Freundeskreis" bestand in den Jahren 1959-1969 in Wien. Nach schlechten Erfahrungen mit einer Vereinsgründung 1957 verzichtete sie konsensuell auf eine weitere formelle Konstituierung. Diese Gruppe war mit Si­cherheit keine „soziale Bewegung" wie die Ökologie-, Frauen­oder Friedensbewegung - doch lassen sich an diesem Beispiel gerade wegen seiner Überschaubarkeit einige Mechanismen der Herausbildung von Avantgarden in Gruppenprozessen einfacher darstellen als an solchen, die den Namen „soziale Bewegung" eher verdienten.

Einige äußere Fakten: Bei ihrer Konstituierung im November 1959 umfaßte die „Informelle Gruppe" etwa zehn bis fünfzehn Personen. Ihr Anwachsen, insbesondere seit 1963, erfolgte derart kontinuierlich, daß sie zur Zeit meines Weggangs aus Wien im September 1967 aus ungefähr 300 Personen bestand; hinzu ka­men etwa 1500 Interessenten, die informiert werden wollten, aber (noch) nicht hinlänglich oft an Veranstaltungen teilnahmen, um der „Informellen Gruppe" selbst zugezählt werden zu können (als Indikator zählte durchschnittlich eine wahrnehmbare Aktivität in 14 Tagen). In diesen acht Jahren fungierte ich als das, was in Ivan Illichs Theorie später als „Bildungskoordinator" aufscheinen soll­te - ein Umstand, von dem ich freilich damals ebensowenig ahn­te, wie jene Figur Molieres, die erfuhr, ihr Leben lang Prosa ge­sprochen zu haben. (Nachdem ich Wien verlassen hatte, wurde die „Informelle Gruppe" noch zwei Jahre lang von anderen Perso­nen koordiniert - auf anderer Ebene zwar, die indes immerhin die soziale Innovation der späteren Alternativzeitschriften (Stadt­zeitungen) vorwegnahm. Während dieser Zeit kam es zu den wich-

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tigen theoretischen Arbeiten „Modelle zur Radikaldemokratie" und „Theorie der Subkulturen" und praktischen Ergebnissen (For­schungsprojekt Soziale Innovationen und Offenes Wohnzimmer Kassel).

Einige strukturelle Anmerkungen im Sinne des oben skizzier­ten Regelkreises: Ab 1957 gab es fluktuierende Kleingruppen, die sich, wie es ex post sich darstellt, in ihre abweichenden Normen einübten. Anfang November 1959 erfolgte als „von außen eintre­tendes Ereignis" die vorübergehende Verhaftung von zwölf Grup­penmitgliedern, die in einem aufgelassenen Bunker Texte von Villon, Poe, Artmann und anderen gelesen hatten (Schlagzeilen der Boulevardpresse: „Halbstarke feierten Orgie im Kobenzl-Bun-ker"). Zwar blieb die Verhaftung folgenlos, schuf indes aber eine Art konsensstiftenden Gruppenmythos. Das allmähliche Anwachsen der Gruppe zog sich über acht Jahre hin; Ausdifferenzierung der Prioritäten und Außenwirkung traten, wie geschildert, ein. Schließ­lich führte hier die Ausdifferenzierung zu einer normativen Erosion: erst fiel (etwa 1967/68) das Selbstverständnis als „Informelle Grup­pe" weg, dann fungierten die l4tägig erscheinenden „Informatio­nen an den Freundeskreis" nur noch als Dach für heterogene Ansprüche, bis sie auch dafür entbehrlich geworden waren. Viele gingen zu benachbarten Bewegungen (der Außerparlamentarischen Opposition in Österreich, der Ökologiebewegung) über. Neue Kleingruppen entstanden; viele wirken noch heute ihrerseits als Avantgarden zu den verschiedenartigsten Verbänden, Projekten und Bürgerinitiativen.

Womit ich zu den Normen der „Informellen Gruppe" überge­he, die auch bereits geeignet sind, die avantgardefördernden Gruppenprozesse zu veranschaulichen:

1. Jede Person konnte zu nahezu jeder Zeit ihre Anschrift hinter­lassen, um von den Aktivitäten der „Informellen Gruppe" infor­miert zu werden. Gelegentliche Teilnahme und Spenden­bereitschaft sollten dieses Interesse dann allerdings begleiten.

2. Jede Person konnte jede beliebige Aktivität vorschlagen, für die sie (Mit-)Verantwortung zu übernehmen die Absicht hatte.

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Den Themen waren keine Grenzen gesetzt. Doch konnte es vorkommen, daß nach der schwierigen Koordinierung von Terminen und Örtlichkeiten der Zulauf eher gering war.

3. Entsprechend konnten Treffen in Privatwohnungen und in de­ren Kellern ebenso stattfinden wie auf öffentlichen Plätzen, im Wald, am Strand, zeitweilig auch an privilegierten Orten wie Kulturzentren, Jugendhäusern, Kleinbühnen (indes gab es frü­her oder später eigentlich immer einen normativen Dissens über den Träger der Räume.)

4. Selbstverständlich gab es keine öffentlichen Zuschüsse, von Professionalisierung nicht zu reden - für Porto- und Vervielfälti­gungsausgaben wurde bei jeder Veranstaltung mit einer Blech­büchse gesammelt.

5. In dem Maße, in dem der Verteiler anstieg, gab es I4tägige Produktionssitzungen, bei welchen die Aussendungen herge­stellt, adressiert, kuvertiert, anfangs auch frankiert wurden. Zu diesen wurde teils mit der Bitte um freiwillige Mitarbeit aufge­rufen, teils rotierte diese Arbeit auch.

6 Alle Entscheidungen, die über die erwähnte Produktionsroutine hinausgingen, wurden einer Urabstimmung unterzogen, m deren Ergebnis ich mich zu halten hatte.

7. Aus dem Gesagten ergibt sich stimmig, daß Normen, die bevor­zugte Art der Veranstaltungen betreffend, erst im nachhinein festgestellt werden können. Am relativ häufigsten handelte es sich um Lesungen, politische und wissenschaftliche Diskussio­nen (auch in Form von Symposien), spontane Leseaufführungen von Theaterstücken (1961-63 gab es eine Zeitlang auch eine Theatergruppe), musikalische Experimente, Happenings, Ak­tionen (z.B. Demonstrationsteilnahme), Ausstellungen, Oster­marschvorbereitung, seltener Kochen, Wanderungen, Feste. Im Laufe der Jahre gab es Arbeitsgruppen zu Utopien (hier wurde z.B. 1962 die damals völlig unakzeptable Utopie einer Wohn­gemeinschaft formuliert), zu Lyrik, Film, Literatur, Brecht, zur Friedenspolitik, Hochschulpolitik, Radikaldemokratie, zu Zu­kunftsfragen, zu Methoden der Verbesserung von Kreativität, aber auch zur Gastronomie, seit 1966 zu Wilhelm Reich.

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8. Es gab grundsätzlich keine Zensur, nicht einmal für Rechts­radikale. Im Laufe der Zeit waren aus so gut wie allen damals in Wien bestehenden Subkulturen Leute in der Informellen Gruppe.

Die Gruppenprozesse lassen sich aufgrund der skizzierten Nor­men relativ leicht zur Darstellung bringen. In ihrem verhältnismä­ßig geschützten Progressionsraum konnte nahezu alles erprobt werden; gleichzeitig war jedoch im allgemeinen wenigstens jenes Minimum an Gegenstandsbezogenheit gegeben, das die entste­hende Avantgarde vor allzu weitgehender Beliebigkeit bewahrte. Auf jeden kreativen und innovativen Versuch gab es ein umge­hendes Feedback, das euphorisch ausfallen konnte, aber auch harsch - und das im schlimmsten Fall aus der Abstimmung mit den Füßen bestand. Es gab ein permanentes Probehandeln auf dem Feld der unmittelbaren Demokratie, gleichzeitig eine ambi­valente Führungsfigur. Schwierig war es, die Dynamik der entste­henden Untergruppen und die das Ganze speisenden Sub- und Teilkulturen zu überblicken. Besonders das Jahr i960 war durch einen äußerst schwierigen Umgang mit zwei konkurrierenden Untergruppen geprägt. Jedoch waren die skizzierten allgemeinen Normen kaum umstritten, auch wenn der Umgang mit der Offen­heit, mit der Nicht-Ausgrenzung, häufig schwerfiel und auch schon mal zu Konsequenzen im Detail führte.

Weniger gruppendynamische Spannungen gab es hinsichtlich der ökonomischen Grundlage. Das Einkommen war allgemein eher gering. Wenn eine Professionalisierungsdiskussion aufkam, meist im Zusammenhang umfangreicherer Projekte (Theater, Art-Center), war sie immer von mehrheitlicher Ablehnung und Pein­lichkeit gekennzeichnet (Professionelles gab es wirklich genug in Wien) und schlief bald wieder ein. Die Spendenhöhe wurde durch Mitteilungen in den „Informationen an den Freundeskreis" gesteu­ert: „Die Spenden reichen noch für 3, noch für 2, noch für 1 Aussendung" - letzteres Alarmzeichen reichte immer.

Da ich fast die ganze Zeit, in der die „Informelle Gruppe" von mir koordiniert worden war, gleichzeitig ein Sozialwissenschaft-

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liches Fach studierte, ergab sich naturwüchsig das, was heute mit einem etwas technokratischen Wort „Begleitforschung" genannt wird. Die Interaktionslisten, ursprünglich zum Zwecke einer eini­germaßen effizienten Karteileichenstreichung angelegt, wurden zu deren primären Grundlage. Spätestens, als ich an einer Disser­tation im Umfeld der Faschismusforschung schrieb, begann ich dabei auch auf das Problem von Elitenbildung und Avantgarden­bildung zu focussieren. Die Empirie bis September 1967 ergab, daß, obwohl die Liste stets stratifiziert war (und, sozialwissen­schaftlich überraschungsfrei, mit Zunahme der Gruppengröße die Stratifikation sich leicht erhöhte), die Bildung einer Gruppenelite sich sehr in Grenzen hielt. Die Herausbildung der Avantgarde indes vollzog sich nach einem Muster, das mich - der ich als de-zidierter Nicht-Sportler die Sportmetapher schätze - an Prozesse im Feld von Radrennfahrern bei einem Langstreckenrennen erin­nerte: bald leistete eine Gruppe Führungsarbeit, bald ließ sie sich ins Feld zurückfallen, um andere die Führungsarbeit machen zu lassen. Da ja die „Informelle Gruppe" beständig ihre Gruppen­größe steigerte, ja zuweilen verdoppelte, spielte die Fluktuation eine bei weitem geringere Rolle als die Ausbreitung - jedoch nahm je nach Ökonomie der Zeit, Motivation, Aktivität, Passivität und inhaltlichen Angeboten, die Mitarbeit der Personen in der „Infor­mellen Gruppe" einen sehr unterschiedlichen Stellenwert ein.

Es ist mir bewußt, daß ich die gruppendynamische Funktion meiner eigenen Person nicht ausklammern kann, auch wenn es narzißtisch klingen mag, wenn ein Autor Jahrzehnte später als Wissenschaftler über seine eigene ehemalige Rolle als Gruppenlei­ter reflektiert. Bald lernte ich - mit Max Weber im sozialwissen­schaftlichen Studium - daß die Trennung, gar die Abfolge, von charismatischer und bürokratischer Gruppenleitung eine ausge­sprochen künstliche war. Mag ja sein, daß etwas Charisma-ähnli­ches Leute bewog, mir auf gut Glück ihre Adresse für den Rund­brief zu geben, oder gar, ihre angebliche oder tatsächliche Schwel­lenangst zum Betreten einer fremden Privatwohnung zu überwin­den, - auch die Witze, die über mich gemacht worden sind, zeu­gen davon, daß auch Momente von charismatischer Gruppen-

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leitung vorgekommen sein müssen. Schwer verzichtbar scheine ich indes in meinen bürokratischen Funktionen gewesen zu sein. Das wurde vor allem dann ersichtlich, wenn infolge meiner län­geren Auslandsreisen Vertretungen in meiner bürokratischen Funk­tion erforderlich wurden: nicht zufällig, und auch das spricht für Avantgardenherausbildung statt für Elitenbildung, ist es selten vorgekommen, daß zweimal dieselbe Person mich vertrat, bzw. eine Mitgliedschaft im (ebenso informellen) vertretenden Gremi­um übernahm. Zwar wurde mir jedesmal auch zurückgemeldet, es sei ein Lernprozeß gewesen zu erfahren, wie das überhaupt ginge: Kontakt zu den anbietenden Leuten und zu den Raumin­habern aufnehmen, die Aussendung zusammenstellen und durch­führen, aber nun sei frau/man froh, daß ich wieder im Lande sei und die „Sauarbeit" wieder übernähme. Als ich dann, wie erwähnt, von einer dieser Auslandsreisen nicht mehr auf Dauer zurück­kehrte, ging es zwar noch einige Jahre weiter - es wurde aber der Stil gewechselt, und die Zeitschrift als Informationsmedium wur­de wichtiger als das „Tender Loving Care" des koordinierten Gruppenzusammenhangs. (Vielleicht liegt eine Lösung des Pro­blems der Herausbildung von Avantgarden, die kreativ und flexi­bel genug sind, auf Dauer in politischen Verlaufsprozessen zu stehen, ohne zu einer politischen Klasse zu verhärten, ohnehin in diesem Paradox: mit „Tender Loving Care" jenes notwendige Mi­nimum an bürokratischen Vorgängen zu versehen, welches zur Effizienz der Gruppe erforderlich ist.)

Wenn es zuträfe, daß jeder Mensch ein/e Intellektuelle/r ist (Gramsci), auch ohne Funktionen eines Intellektuellen inneha­ben zu müssen, daß jeder Mensch ein/e Künstler/in ist (Beuys), auch wenn er/sie eher an der „sozialen Plastik" mitwirkt als individualisierbare Kunstprodukte zu schaffen, dann könnte es auch sein, daß jeder Mensch ein/e Politiker/in wäre - jedenfalls, solange er/sie durch avantgardistische Gruppenprozesse dazu in­standgesetzt - und durch Alltag, Reproduktionsnotwendigkeiten sowie durch die Lohnabhängigengleichgültigkeit und durch die eigenständigen Interessen der politischen Klassenströmungen nicht daran gehindert wird.

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Zwar habe ich kaum je das gesamte Syndrom in einer ver­gleichbaren Idealtypik wiedergefunden - aber jeden einzelnen Indikator gleich mehrfach; und dies auch noch häufig ergänzt durch weitere Momente, die in der „Informellen Gruppe" nur eine geringe Rolle gespielt hatten (beispielsweise Räteelemente, die, obschon sie vorgeschlagen worden waren, sich in der Praxis nicht durchsetzen konnten).

Da ansonsten zumeist schon eine thematische Einschränkung des Gegenstandes zu den Gründungsbedingungen gehörte, lag und liegt die Bedingung der jederzeitigen Vorschlagbarkeit und Verantwortlichkeit einer Aktivität am ehesten in den politisch­kulturellen Clubs vor - ich habe dies 1968 im Club Voltaire Stutt­gart (in dem beispielsweise Josef Fischer und Willi Hoss mitarbei­teten) ebenso erlebt wie seit 1982 im Kasseler Offenen Wohnzim­mer. In thematisch notwendigerweise eingeschränkterer Form fand und findet Vergleichbares in Frauenzentren, in Ortsgruppen von amnesty international und von Greenpeace statt, um nur wenige zu nennen.

Die systematische Einübung in kreative, innovative und flexi­ble Aktivitäten erfolgte und erfolgt unter anderem in Zukunft"" Werkstätten, in jenem minoritären Teil von Therapiegruppen, die einen politischen Anspruch haben, in Geschichtswerkstätten, in gewaltfreien Trainingsgruppen der Friedensbewegung, in gesell­schaftlich bezogenen Theaterübungsgruppen, sei es nach Bertolt Brecht, Jakob Moreno, Agostino Boal oder Giuliano Scabia.

3. Avantgarden und Rotation

Ebenso ist mir ein gutes Dutzend auch größerer Gruppen be­kannt, die entweder überhaupt nicht als eigenständig-formelles Rechtssubjekt organisiert sind oder keine Einzelmitgliedschaft kennen, oder letztere zwar für Förderer, aber nicht für Aktive vorsehen. Um nur ein, allerdings herausragendes Beispiel zu nen­nen: bis vor ganz kurzer Zeit hat es bei amnesty international, we­nigstens in Deutschland, keine formelle Einzelmitgliedschaft für

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Aktive gegeben. Zu ai gehörte, wer in einer ai-Gruppe kontinuier­lich aktiv mitarbeitete - und das war es. Ähnliches galt für eine Reihe ökologischer Bürgerinitiativen.

Für das Hervor- und Wiederzurücktreten von Avantgarden (for­malisiert könnte auch von Rotation gesprochen werden) gibt es tausende Beispiele. Die Pointe besteht hier darin, daß die Rota­tion nicht aus den Lebensumständen der Subkulturen oder der sozialen Bewegungen entstanden ist, sondern aus zeitökonomisch so intensiven etablierten Inszenierungen, daß die Rotation sich naturwüchsig daraus ergab. Jede Schülerselbstverwaltung, jeder ASTA, jede Fachschaft, jedes Selbstverwaltungsgremium an einer Hochschule oder jeder zweite Vereinsvorstand sind ein Übungs­feld für Rotation. Strukturalistisch gesprochen gerät Rotation erst in dem Augenblick ins Hintertreffen, in dem die geldökonomischen Vorteile der Ämterbeibehaltung die zeitökonomischen Vorteile des Ämterloslassens überwiegen (Komischerweise entstand ein zwei­tes massenhaftes Einübungsfeld für Rotation im Kontext der Arbeit­smarktverwaltung: ABM-Stellen, Zeitverträge...).

Auch die Abhaltungen von Urabstimmungen hat in den ver­gangenen 25 Jahren erheblich an Popularität gewonnen. Als Öster­reicher bin ich in der Lage festzustellen, daß wenigstens zwei Mal mittels dieses Mediums die Mehrheit der Aktivbevölkerung jener der „politischen Klasse" eine Niederlage beibrachte (Atomkraft­werk Zwentendorf, Weltausstellung Wien 1995); erinnert sei auch an die Schweizer Äußerung zur Abschaffung der Armee und an die einer Volksabstimmung zuvorgekommene italienische Psychia­triereform. Auch diese Form wird in Vereinen, studentischen Gre­mien, informellen Gruppen eingeübt (und, wenn auch leider sel­ten, in Gewerkschaften) - und wenn ihr auch zu Recht nachge­sagt wird, zumeist nur zehn bis 40 Prozent des Wahlkörpers zu erreichen, überschreitet doch diese Zahl jene der „politischen Klasse", der „Eliten", erheblich (um nur ein herausragendes Bei­spiel zu nennen: In der Grazer Autorenversammlung findet seit 1973 die Vorstandswahl per Urabstimmung statt).

Das Phänomen der Ausbreitung hat bereits Roland Roth implizit in der Wahrnehmung von Protestgenerationen veranschaulicht.

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Die devianten Honoratioren der sechziger Jahre von Abendroth bis Zwerenz, die APO, die neuen sozialen Bewegungen, die Grü­nen, schließlich die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung: sie alle bringen tausende neuer Namen hervor, die, auf der Ebene politi­scher Avantgarde und „kulturellen Kapitals" (Bourdieu), zueinan­der nicht in Konkurrenz gestellt werden, sondern zu einer Auswei­tung des Aktivitätsspektrums beitragen. Es wäre reizvoll, dies in einer empirischen Totalerhebung seit 1965 zu untersuchen.

In diesen empirisch-phänomenologischen Ausführungen mit autobiographischem Kolorit mußten historische Tendenzen und die „Ursachen", die zu den bezeichneten Erscheinungsformen führten, zu kurz kommen. Die Authentizität jener Erscheinungen werde ich demnächst in Veröffentlichungen zur Struktur der Zu­kunft thematisieren. Zu berücksichtigen wäre dann etwa die Heraufkunft der Klassenströmungen mehrfältiger Massenintellektu­eller, welche „organische Intellektuelle" (Gramsci) nur in para­doxer Weise herausbilden können, nämlich „als organische Intel­lektuelle ihrer selbst"

Anmerkungen

1 Rolf Schwendter, Modelle zur Radikaldemokratie, Wuppertal 1970. 2 Georg Bollenbeck, in: Erkundungen, Festschrift zu Helmut Krenzers

60. Geburtstag, S. 12. 3 Ebd., S. 20. 4 Rolf Schwendter, Theorie der Subkultur, Frankfurt a.M., 3. Aufl. 1978.

Elite ohne Frauen. Erfahrungen von Politikerinnen mit einer männlich geprägten Alltagswirklichkeit

in Parteien und Parlamenten1

von Bärbel Schöler-Macher

Die Maßnahmen zur Frauenförderung und Quotierung - so wur­de jüngst auf einer Tagung zur Rekrutierung der politischen Klas­se2 argumentiert - seien eine einzige „success-story": Durch sie sei erstmalig und nachhaltig erreicht worden, die starren Rekru­tierungsmuster für politische Spitzenpositionen zu durchbrechen. Daß auch Erfolgsgeschichten ab und zu Mißerfolge aufweisen -zwei aktuelle tagespolitische Ereignisse müssen in diesem Zu­sammenhang zu denken geben3 - , ändert nichts an der grund­sätzlich positiven Bedeutung von Maßnahmen zum Abbau der Geschlechterungleichheiten in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zweifellos stellen der in diesen Maßnahmen geronnene Anspruch von Frauen auf einen gleichberechtigten Zugang zu entscheidungsbefugten Positionen sowie überhaupt die verstärk­te Einmischung von Frauen in die Politik - erkennbar z.B. an dem insgesamt gestiegenen Anteil von Frauen in Parteien und Parla­menten, aber auch an kommunalen Gleichstellungsstellen sowie außerinstitutionellen Frauen-Netzwerken und Projekten - eine Herausforderung für das herrschende politische System dar.

Ein Ergebnis der Frauenbewegung wie auch der feministischen Forschung der letzten 20 Jahre verdient in diesem Zusammen­hang besondere Beachtung: Es ist inzwischen eine spürbare Sensi­bilisierung dafür festzustellen, daß die sich als universell gültig und geschlechtsneutral ausgebenden Strukturen, Organisiationen und Institutionen der Politik in einer patriarchalischen Kultur wie der unsrigen in Wahrheit das männliche Prinzip repräsentieren -in ihnen sind ausschließlich männliche Interessen und Erfahrungs­welten sedimentiert. In diesem Sinne hat Eva Kreisky jüngst4 von einer „feministischen Institutionenarchäologie" als vordringlicher