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TU Dresden, Fakultät Architektur Prof. Dr. Hans-Georg Lippert Vorlesung Baugeschichte (G+T AKA, WA I/II) Wintersemester 2016/17 Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert Vorlesungsprogramm (Stand: 11.10.2016. Kleinere Änderungen vorbehalten): 11.10. Was ist modern? Einführung/Programm 18.10. Kulturarbeiten. Reformkonzepte um 1910 25.10. Typus und Norm (I): Deutscher Werkbund 1914 / „Baukasten im Großen“ (Gropius) / „Bauordnungslehre“ (Neufert) 01.11. Typus und Norm (II): „Um 1800“ (Mebes) / „Die Gestalt der deutschen Stadt“ (Gruber) / „Das deutsche Wohnhaus“ (Schmitthenner) 08.11. Rappel à l’ordre (I) : Cocteau / Valéry / Perret 15.11. Rappel à l’ordre (II) : Terragni / Le Corbusier / Mies 22.11. Konnte Gropius denken? Darmstädter Gespräche und Bauhaus-Debatte 1951-1953 29.11. Tradition und Nachkriegsmoderne (I) (BRD): Pinnau / Hentrich 06.12. Tradition und Nachkriegsmoderne (II) (DDR): Henselmann / Dullin-Grund 13.12. Tradition und Nachkriegsmoderne (III) Frankreich: Die Städte Saint-Malo und Saint-Dié (Vorlesung Kerstin Zaschke) 20.12. Charta von Athen vs. Europäische Stadt: Max Frisch / Leon Krier Weihnachtspause 10.01. Zeitlose Geometrie (1970er und 1980er): Rossi / Ungers / Reichlin 17.01. Das Essentielle? Berlin nach 1990: Kollhoff / Kahlfeldt / Kleihues 24.01. Resumée

Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert · TU Dresden, Fakultät Architektur Prof. Dr. Hans-Georg Lippert Vorlesung Baugeschichte (G+T AKA, WA I/II) Wintersemester 2016/17 Avantgarde

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TU Dresden, Fakultät Architektur Prof. Dr. Hans-Georg Lippert Vorlesung Baugeschichte (G+T AKA, WA I/II) Wintersemester 2016/17 Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert Vorlesungsprogramm (Stand: 11.10.2016. Kleinere Änderungen vorbehalten):

11.10. Was ist modern? Einführung/Programm 18.10. Kulturarbeiten. Reformkonzepte um 1910 25.10. Typus und Norm (I): Deutscher Werkbund 1914 / „Baukasten im Großen“ (Gropius) / „Bauordnungslehre“ (Neufert) 01.11. Typus und Norm (II): „Um 1800“ (Mebes) / „Die Gestalt der deutschen Stadt“ (Gruber) / „Das deutsche Wohnhaus“ (Schmitthenner) 08.11. Rappel à l’ordre (I) : Cocteau / Valéry / Perret 15.11. Rappel à l’ordre (II) : Terragni / Le Corbusier / Mies 22.11. Konnte Gropius denken? Darmstädter Gespräche und Bauhaus-Debatte 1951-1953 29.11. Tradition und Nachkriegsmoderne (I) (BRD): Pinnau / Hentrich 06.12. Tradition und Nachkriegsmoderne (II) (DDR): Henselmann / Dullin-Grund 13.12. Tradition und Nachkriegsmoderne (III) Frankreich: Die Städte Saint-Malo und Saint-Dié (Vorlesung Kerstin Zaschke) 20.12. Charta von Athen vs. Europäische Stadt: Max Frisch / Leon Krier Weihnachtspause 10.01. Zeitlose Geometrie (1970er und 1980er): Rossi / Ungers / Reichlin 17.01. Das Essentielle? Berlin nach 1990: Kollhoff / Kahlfeldt / Kleihues 24.01. Resumée

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TU Dresden, Fakultät Architektur Prof. Dr. Hans-Georg Lippert Vorlesung Baugeschichte (G+T AKA, WA I/II) Wintersemester 2016/17

Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

1. Vorlesung

Was ist modern? Einführung und Programm

Begriffsbestimmungen:

Avantgarde (frz.: Vorhut, Vorreiter [militärisch]): Ursprünglich: Truppenteil (meist Kavallerie), der als Erster vorrückt und deshalb als Erster

Feindberührung hat. In dieser Bedeutung nicht mehr gebräuchlich.

Heute (allgemein): Kreative und innovative Bewegung, die eine Vorkämpfer- oder Vorreiterrolle einnimmt, bestehende Strukturen bzw. Machtverhältnisse aufbrechen oder überwinden will und neue, wegweisende Entwicklungen anstößt. Avantgarde tritt in der Regel bewusst provokant und stark selbstreflexiv auf, d.h. es gibt eine Programmatik und ein zumindest ungefähres Ziel, das immer als Dienst am Fortschritt verstanden wird. Die Postmoderne („Ende der Großen Erzählungen“ [Lyotard], Abkehr vom Fortschrittsgedanken und von der Utopie) verweigert sich dem Konzept von Avantgarde und kritisiert den dahinter stehenden Führungsanspruch als autoritär. Stattdessen wird das pluralistische, gleichberechtigte und faktisch ziellose Nebeneinander von Entwicklungen und Bewegungen propagiert.

Moderne: Im 17. Jh. („Querelle des Anciens et des Modernes“) noch Gegenbegriff zu „Antike“, seit dem

19. Jahrhundert allgemein eine Bezeichnung für die Abgrenzung der Gegenwart von der Vergangenheit.

Heute (als [westlicher] Epochenbegriff): Primär die Folgezeit der Aufklärung und der industriellen Revolution mit ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen wie Technisierung, Massenproduktion und -konsum, Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und des Arbeiterstandes, Kontingenz (Nicht-Zwangsläufigkeit alles Bestehenden und prinzipielle Offenheit menschlicher Lebenserfahrungen) und dadurch Vielfalt der Lebensentwürfe, Großstadt, neue Verkehrsmittel usw. Je nach Kontext (Kultur/Gesellschaft, Wirtschaft/Politik, Kunst), wird der Beginn der Moderne aber sehr verschieden angesetzt: Geistesgeschichtlich mit der Renaissance etwa ab dem 15. Jahrhundert, technisch und ökonomisch mit der Industrialisierung des mittleren 18. Jahrhunderts, politisch mit der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts und dem Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts, in der Literatur- und Kunstgeschichte als ästhetische Moderne mit dem beginnenden, als „fertiger“ Stil mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Begriff Klassische Moderne bezeichnet avantgardistische Strömungen in den bildenden Künsten und der Architektur zwischen etwa 1910 und 1950, die aus heutigem Blickwinkel als abgeschlossene geschichtliche Epoche gelten.

https://www.docupedia.de/zg/Moderne (ausführliche Begriffsbestimmung)

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Tradition (von lat. tradere „hinübergeben“ bzw. traditio „Übergabe, Überlieferung“): Die lebendige Weitergabe von Handlungsmustern, Überzeugungen, Glaubensvorstellungen usw., bzw. das Weitergegebene selbst (z. B. Gepflogenheiten, Konventionen, Sitten, Techniken oder auch Artefakte). Tradition vollzieht sich innerhalb einer sozialen Gruppe oder zwischen Generationen und kann über Erziehung, Vorbild, nachahmende Aneignung oder materielle Überlieferung erfolgen. Im Sinne der Geistes- und Sozialwissenschaften wird die betreffende soziale Gruppe dadurch zu einer Kultur, d.h. zu einem beschreibbaren, in sich kohärenten System von Wertvorstellungen und Praktiken. Zitate zum Nachdenken:

„Tradition heißt nicht, Asche aufbewahren, sondern Glut am Glühen halten“ (Jean Jaurès [1859-1914 durch Attentat], französischer Historiker und sozialistischer Politiker). Das Zitat wird in ähnlicher Form auch zahlreichen anderen Personen zugeschrieben.

„Tradition ist die Illusion der Dauerhaftigkeit“ (Woody Allen [geb. 1935], US-amerikanischer Filmschauspieler und Regisseur).

„Die Einzigartigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition“ (Walter Benjamin [1892-1940 durch Suizid], deutscher Philosoph und Kulturkritiker „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 1935). Heißt: Nur der Traditionskontext liefert den Vergleichsmaßstab, mit dem sich beurteilen lässt, ob ein Objekt einzigartig, d.h. ein Kunstwerk ist. Avantgardistische, also aus dem Traditionszusammenhang ausbrechende Werke machen es unmöglich zu sagen, ob sie Kunstwerke sind oder nicht.

„Tradition ist bewahrter Fortschritt, Fortschritt ist weitergeführte Tradition“ (Carl Friedrich v. Weizsäcker [1912-2007, deutscher Physiker, Philosoph und Friedensforscher]. Heißt: Der Bruch mit der Tradition (Avantgarde!) erzeugt keinen Fortschritt. Dieser entsteht nur auf der Basis eines stetig wachsenden Schatzes aus Wissen und Überlieferung – eine auch bei vielen Architekten des 20. Jhs. bis in die Gegenwart anzutreffende Überzeugung.

Traditionalismus (im Sinne dieser Vorlesungsreihe): Bewusster, gezielter und häufig auch programmatischer Rückbezug auf Werte,

Geisteshaltungen oder Kulturtechniken vergangener Epochen, die aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen aber nicht mehr als lebendige Tradition präsent sind. Meist Reaktion auf ein tatsächliches oder gefühltes Übermaß an Veränderung. Geht üblicherweise mit dezidierter Kritik am Fortschrittsdenken und an der Moderne einher, erweist sich bei genauerem Hinsehen aber oft als deren Teil bzw. als deren symbiotischer Widerpart.

Hinweis: Traditionalismus ist auch eine Bezeichnung für einige politische oder theologische Strömungen im 19. und 20. Jahrhundert, die das unbedingte Festhalten an bestimmten, für lebendig und wertvoll erachteten Traditionen zum alleinigen Garanten für Zukunftsfähigkeit machten. Diese Strömungen sind im Rahmen dieser Vorlesungsreihe aber nicht oder allenfalls punktuell [Frankreich in der Zeit zwischen den Weltkriegen] Gegenstand der Betrachtung.

Zitate zum Nachdenken: „Traditionalismus bedeutet, dass man einem silbernen Salzstreuer, aus dem kein Salz kommt,

den Vorzug gibt vor einem aus Plastik, der tatsächlich Salz streut.“ (Bertrand Russell [1872-1970], britischer Philosoph, Mathematiker und Logiker).

„Tradition is the living faith of the death. Traditionalism is the dead faith of the living.” (Jaroslav Pelikan [1923-2006], US-amerikanischer Mediävist und Theologiehistoriker):

„Das Elend der Traditionalisten ist, dass sie die Tradition nicht kennen.“ (Anton Rotzetter [1939-2016], Schweizer Kapuzinermönch und Naturschützer).

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

2. Vorlesung

Um 1900. Reformdebatten im Kaiserreich

Biographische Daten:

Hermann Muthesius (1861-1927)

Freiberuflicher Architekt, Buchautor, Beamter im Preußischen Handelsministerium, einflussreicher Theoretiker der (im Kontext von ca. 1910) „modernen“ Architektur und des Produktdesigns, Kritiker des Jugendstils und Mitbegründer des Deutschen Werkbunds.

1882-1883 Philosophie- und Kunstgeschichtsstudium an der heutigen Humboldt-Universität Berlin

1884-1887 Architekturstudium an der TH (Berlin)-Charlottenburg

1887-1891 Im Auftrag des Architekturbüros Ende & Böckmann in Tokyo (Kirchenbau)

1891-1896 Tätigkeit als ministerieller Baubeamter, zwischenzeitlich stellvertretender Chefredakteur beim halbamtlichen Zentralblatt der Bauverwaltung (damals auflagenstärkste Bauzeitschrift Deutschlands).

1896-1903 Attaché für Kultur und Technik an der deutschen Botschaft in London. Aufgabe: Informationen über den Stand der Bautechnik und des Wohnungsbaus in England Buchpublikation Das englische Haus. Entwicklung, Bedingungen, Anlage, Aufbau, Einrichtung und Innenraum. 3 Bände, Berlin 1904–1905.

1906-1926 Beamter im preußischen Handelsministerium, zuständig u. a. für die Reform der Kunstgewerbeschulen. Daneben privates Architekturbüro in Berlin sowie umfangreiche Vortrags- und Publikationstätigkeit (ca. 500 Veröffentlichungen).

1908-1916 Vorstandsmitglied des 1907 unter seiner Mitwirkung gegründeten Deutschen Werkbunds.

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Friedrich Ostendorf (1871-1915)

Architekt und Architekturtheoretiker. Prominenter und auch nach seinem Tod immer wieder rezipierter Verfechter einer angeblich zeitlosen, faktisch aber an den gestalterischen Prinzipien der Renaissance und des Barock orientierten Architektur, die auf Hierarchie bzw. einen umfassenden Ordnungsgedanken setzt und mit doktrinärem Anspruch auftritt. 1890-1895 Architekturstudium an der TH Stuttgart, der TH Hannover und der TH (Berlin)-Charlottenburg, u. a. bei Carl Schäfer, einem der führenden „Neugotiker“ Deutschlands. 1885-1899 Referendariat in der staatlichen Hochbauverwaltung 1899 Schinkelpreis und Reisestipendium 1900-1904 selbstständiger Architekt 1904-1907 Professor für mittelalterliche Baukunst an der neugegründeten TH Danzig 1907-1914 Professor für Entwerfen, Baugeschichte und Gartenbau an der TH Karlsruhe als Nachfolger seines Lehrers Carl Schäfer. Gleichzeitig technischer Referent für Bausachen bei badischen Finanzministerium und freiberuflich tätiger Architekt. 1914-1920 Buchpublikation Sechs Bücher vom Bauen (tatsächlich erschienen sind 3 Bände und ein Supplementband [Haus und Garten] , teilweise posthum). 1915 Als Reserveleutnant im Ersten Weltkrieg gefallen.

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Literatur: Ulrich Klein: Von Carl Schäfer zu Friedrich Ostendorf. Die Tradition der Schäferschule; in: Kai

Krauskopf, Hans-Georg Lippert, Kerstin Zaschke (Hg.): Neue Tradition. Vorbilder, Mechanismen und Ideen, Dresden 2012, S. 41-62 (bei der SLUB als Digitalressource verfügbar).

Hermann Muthesius: Landhaus und Garten. Beispiele neuzeitlicher Landhäuser nebst Grundrissen, Innenräumen und Gärten, München 1910.

Hermann Muthesius: Kleinhaus und Kleinsiedlung, 2. Aufl., München 1920.

Werner Oechslin: „Entwerfen heißt, die einfachste Erscheinungsform zu finden“. Missverständnisse zum Zeitlosen, Historischen, Modernen und Klassischen bei Friedrich Ostendorf. In: Werner Oechslin: Moderne entwerfen. Architektur und Kulturgeschichte, Köln 1999.

Friedrich Ostendorf: Sechs Bücher vom Bauen. Zweiter Band: Die äußere Erscheinung der einräumigen Bauten, Berlin 1914.

Friedrich Ostendorf: Sechs Bücher vom Bauen. Dritter Band: Die äußere Erscheinung der mehrräumigen Bauten (bearb. v. Sackur), Berlin 1920.

Friedrich Ostendorf: Haus und Garten. Erster Supplementband zu den Sechs Büchern vom Bauen, Berlin 1914.

Julius Posener: Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms II., München 1979 (mit ausführlichen Kapiteln zu Muthesius, Ostendorf und Schultze-Naumburg).

Fedor Roth: Hermann Muthesius und die Idee der harmonischen Kultur. Kultur als Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes, Berlin 2001.

Laurent Stalder: Hermann Muthesius 1861-1927. Das Landhaus als kulturgeschichtlicher Entwurf, Zürich 2008.

Internet (Stand: Oktober 2016): https://www.deutsche-biographie.de/gnd12172218X.html#ndbcontent (Ostendorf-

Kurzbiographie von Werner Oechslin)

http://delibra.bg.polsl.pl/Content/30374/BCPS_34240_1914_Sechs-Bucher-vom-Bau.pdf (Ostendorf, Bd. 1, Digitalisat)

http://delibra.bg.polsl.pl/Content/30375/BCPS_34241_1914_Sechs-Bucher-vom-Bau.pdf (Ostendorf, Bd. 2, Digitalisat)

https://www.deutsche-biographie.de/gnd118585983.html#ndbcontent (Muthesius-Kurzbiographie von Julius Posener und Regine Sonntag)

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

3. Vorlesung

Typus und Norm (I). Der Deutsche Werkbund 1907-1914

Gründung des Deutschen Werkbunds, 1907

Aus: Der Deutsche Werkbund 1907, 1947, 1987…, Frankfurt am Main 1987

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Gründungsmitglieder des Deutschen Werkbunds 1907

Aus: Der Deutsche Werkbund 1907, 1947, 1987…, Frankfurt am Main 1987

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Weitere biographische Daten:

Friedrich Naumann (1860-1919) Evangelischer Theologe und Politiker

1879-1883 Theologiestudium in Leipzig.

1883 Tätigkeit in Johann Hinrich Wicherns (1808-1881) Erziehungsstätte "Rauhes Haus" bei Hamburg, dessen Idee der Inneren Mission Naumann stark beeinflusst.

1886 Übernahme einer Pfarrstelle in Langenberg (Erzgebirge).

1896 Naumann gründet den "Nationalsozialen Verein" und als dessen publizistisches Organ die Zeitschrift "Die Hilfe". Unter dem Einfluss des Soziologen Max Weber tritt der "Nationalsoziale Verein" für Demokratisierung, Sozialpolitik und eine expansive deutsche Außenpolitik ein. Naumann gibt sein Pfarramt auf und lebt als freier Schriftsteller in Berlin.

1900 Veröffentlichung seines Programmbuchs "Demokratie und Kaisertum".

1902 In der Studie "Neudeutsche Wirtschaftspolitik" entwirft Naumann das Konzept eines "Industrieparlamentarismus" und plädiert für eine freie Entfaltung der Gewerkschaftsbewegung.

1903 Auflösung des "Nationalsozialen Vereins" und Mitgliedschaft in der linksliberalen Freisinnigen Vereinigung. Er setzt sich für eine Parlamentarisierung der Verfassung und die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts ein.

1907 Mitbegründer des Deutschen Werkbunds.

1907-1918 Mitglied des Reichstags. Naumann betreibt die Vereinigung der zersplitterten linksliberalen Gruppierungen zur Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) und plädiert für eine parlamentarische Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Zu Beginn des Ersten Weltkriegs unterstützt er die Politik der deutschen Regierung, distanziert sich jedoch von aggressiver Annexionspropaganda.

1918 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP).

1919 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung. Als ihr Parteivorsitzender vertritt er die DDP im Verfassungsausschuss. In seiner Partei und in der Öffentlichkeit kämpft er gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrags.

(nach: https://www.dhm.de/lemo/biografie/friedrich-naumann)

Wolf Dohrn (1878-1914) Kulturmanager und Bildungsförderer

1897-1904 Studium von Germanistik, Philosophie, Psychologie, Ästhetik und Staatswissenschaften in Berlin, Leipzig und München. Erste Kontakte zu Friedrich Naumann und Theodor Heuss.

1906 Promotion in München, anschließend Wahlkampfleiter für Friedrich Naumann

1907 Generalsekretär (= Geschäftsführer) bei Karl Schmidt in den Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst in Dresden-Hellerau. Mitbegründer des in München ins Leben gerufenen Deutschen Werkbundes.

1908-1910 Sekretär des Deutschen Werkbunds.

1909-1914 Mitinitiator der Gartenstadt Hellerau und Gründungsdirektor der „Musikalisch-Rhythmischen Bildunsganstalt Hellerau“ (Festspielhaus).

1914 Tod durch Skiunfall.

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Werkbundausstellung Köln 1914: „Typenstreit“ / „Werkbundstreit“ Auf der 7. Jahreshauptversammlung des Deutschen Werkbunds vom 2. bis 6. Juli 1914, die anlässlich der ersten großen Werkbundausstellung in Köln stattfand, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppierungen im Werkbund, die als „Typenstreit“ in die Geschichte einging. Anstoß der Debatte waren zehn von Hermann Muthesius formulierte Leitsätze, die er der Versammlung schriftlich vorgelegt und in einem Vortrag erläutert hatte. Zentral war der Begriff „Typisierung“, mit dem die Entwicklung von „Typen“ in der Architektur und den angewandten Künsten als ästhetische, politische und wirtschaftliche Notwendigkeit gefordert wurde. Nur über diesen Weg einer „heilsamen Konzentration“ auf den Typus sei „harmonische Kultur, (…) sicherer Geschmack“ und „Ausstrahlung auf das Ausland“ zu erreichen. Muthesius’ Forderung provozierte den Protest derjenigen Werkbundmitglieder, die hierhin nur aufgezwungene Vorschriften und Einschränkungen ihrer künstlerischen Freiheit sehen konnten. Stellvertretend für die Gegenseite führte Henry van de Velde zehn Gegenthesen aus, in denen künstlerische Individualität und persönliche Inspiration gegen jede Einmischung von außen verteidigt wurden. Beide Kontrahenten fanden in der anschließenden Debatte ihre lebhaften Fürsprecher. Die „Individualisten“ konnten sich letztlich durchsetzen, Muthesius nahm seine Thesen weitgehend zurück und bot sogar seinen Austritt aus dem Werkbund an. Doch es handelte sich um einen Pyrrhussieg, denn die bald einsetzende Kriegswirtschaft und die wirtschaftliche Not der Kriegs- und Nachkriegszeit erzwangen eine Typisierung der Produktion fast von selbst. Als sich der deutsche Werkbund Mitte der zwanziger Jahre ganz dem Neuen Bauen und der industriellen Massenproduktion zuwandte, hatte sich die Position von Muthesius als die eigentlich zukunftsweisende herausgestellt. (http://riemerschmid.5eins.de/riemerschmid_im_werkbund/museumsrundgang/1914)

Literatur: Michael Andritzky (Hg.): Von der Guten Form zum Guten Leben. 100 Jahre Werkbund,

Frankfurt am Main 2008.

Deutscher Werkbund e.V. Frankfurt (Hg.): Der Deutsche Werkbund – 1907, 1947, 1987…, Frankfurt am Main 1987 (mit zahlreichen Zitaten aus Originaldokumenten).

Hans Eckstein (Bearb.): 50 Jahre Deutscher Werkbund, Frankfurt am Main/Berlin (West) 1958 (mit zahlreichen Zitaten aus Originaldokumenten).

Kurt Junghanns: Der Deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt (Bauakademie der Deutschen Demokratischen Republik, Schriften des Instituts für Städtebau und Architektur), Berlin (DDR) 1982 (mit zahlreichen Zitaten aus Originaldokumenten).

Winfried Nerdinger (Hg.): 100 Jahre Deutscher Werkbund 1907/2007 (Kat. z. Ausst. München 2007), München/Berlin/New York 2007 (monumentaler Katalog mit Essays und unzähligen Abbildungen).

Fedor Roth: Hermann Muthesius und die Idee der harmonischen Kultur. Kultur als Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes, Berlin 2001 (mit einem ausführlichen Kapitel zum Thema Typisierung und Ordnungsvorstellung).

Laurent Stalder: Hermann Muthesius 1861-1927. Das Landhaus als kulturgeschichtlicher Entwurf, Zürich 2008 (mit einem ausführlichen Kapitel zum Thema Typisierung und Ordnungsvorstellung).

Internet (Stand: Oktober 2016): http://www.deutscherwerkbund-nw.de/index.php?id=236 (Seite des Dt. Werkbunds

Nordrhein-Westfalen, mit ausführlicher und gut strukturierter, allerdings stellenweise etwas flapsiger Beschreibung und Bewertung des „Typenstreits“ von 1914)

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

4. Vorlesung

Typus und Norm (II). Der „Werkbundstreit“ und die Folgen

Biografische Daten:

Henry van de Velde (1863-1957) Maler, Architekt und Designer

1882-1884 Studium der Malerei an der Académie des Beaux-Arts in Antwerpen, anschließend ein Jahr in Paris bei Charles Duran.

1887-1888 Mitgründer der Künstlergruppe Association pour l’art indépendant, dann Mitglied der Gruppe Vingt. Unter dem Einfluss der englischen Arts and Crafts -Bewegung beginnt van de Velde, Möbel und Inneneinrichtungen zu entwerfen.

1900 Übersiedlung nach Berlin.

1902 Künstlerischer Berater für Industrie und Kunsthandwerk im Großherzogtum Weimar.

1906-1917 Leiter der Kunstgewerbeschule Weimar. 1906-1911 Errichtung des dazugehörigen Schulgebäudes nach eigenem Entwurf (in puncto Architektur ist van de Velde Autodidakt!)

1907 Mitglied des Deutschen Werkbundes.

1914 „Typenstreit“ auf der Werkbundausstellung Köln.

1914-1916 zunehmende Diskriminierung als „Angehöriger einer kriegsgegnerischen Nation“.

1917 Emigration in die Schweiz, 1920 nach Holland.

1926-1936 Leiter des Institut Supérieur des Arts Décoratifs in Brüssel und zugleich Professor an der Universität Gent.

1941-1944 Conseiller esthétique de la reconstruction (Berater für Wiederaufbau für die deutsche Militärverwaltung in Belgien), deshalb nach der Befreiung Belgiens 1944 erneute Anfeindungen.

1947 endgültige Übersiedlung in die Schweiz, 1957 In Zürich gestorben.

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Paul Schmitthenner (1884-1972) Architekt und Hochschullehrer

1902-1907 Architekturstudium an der TH Karlsruhe und der TH München, u.a. bei Theodor Fischer.

1907-1909 Tätigkeit im Hochbauamt Colmar (Elsass)

1909-1911 Angestellter im Büro des Architekten Richard Riemerschmid (Chefplaner der Gartenstadt Dresden-Hellerau) in München.

1911-1913 Leitender Architekt der Gartenstadt Carlowitz bei Breslau.

1913-1918 Planung der Gartenstädte Spandau-Staaken, Brandenburg-Plaue, Wittenberg-Piesteritz und Kassel-Forstfeld für das Reichsamt des Innern.

1918-1945 Professor für Baukonstruktion und Entwerfen an der TH Stuttgart; zusammen mit Paul Bonatz Hauptvertreter der von Theodor Fischer begründeten, dezidiert handwerklich-konservativ ausgerichteten „ersten“ Stuttgarter Schule.

1928 Mitbegründer der Architektenvereinigung Der Block (konservative Architekten gegen die 1924 von Vertretern der Moderne gegründete Vereinigung Der Ring).

1931 Ehrendoktor der TH Dresden, Mitglied der Preußischen Akademie der Künste Berlin, der Akademie der bildenden Künste Wien und der Kunstakademie München.

1932 Buchpublikation „Das deutsche Wohnhaus“. Mitunterzeichner des Wahlaufrufs „Deutsche Geisteswelt für den Nationalsozialismus“ (51 Hochschullehrer).

1933 Beitritt zur NSDAP und Berufung nach Berlin, wo er die Staatshochschule für Kunst leiten, eine Professur an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg innehaben und das Referat für Kunsterziehung im Reichsministerium besetzen soll. Schmitthenner gilt kurzzeitig als erster Baumeister des nationalsozialistischen Staates, lehnt dann jedoch den Ruf ab und gerät dadurch in eine Art bildungsbürgerlicher Opposition zur Partei.

1944 Aufnahme in die „Gottbegnadeten-Liste“ der wichtigsten Architekten, d.h. Befreiung von jeglichem Kriegseinsatz.

1945 Entlassung aus dem Staatsdienst auf Befehl der amerikanischen Militärregierung.

1947 Formelle „Entnazifizierung“, die Wiedereinsetzung als Professor scheitert jedoch („Stuttgarter Architektenstreit“, Beginn der „zweiten“ [modernen] Stuttgarter Schule).

1949 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

1952 Verdienstorden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste.

1954 Ehrenmitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.

1955 Zweitausfertigung der kriegszerstörten Ehrendoktor-Urkunde der TH Dresden.

1964 Großes Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland.

1972 In München gestorben.

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Wilhelm Hermann Jost (1887-1948) Architekt und Hochschullehrer

1906-1910 Architekturstudium an der TH Dresden und der TH Stuttgart u. a. bei Paul Schmitthenner. Nach dem Diplom in verschiedenen Architekturbüros in Stuttgart tätig (Entwürfe zu Einfamilienhäusern, öffentlichen Bauten und Kirchen im Großraum Stuttgart). Nach dem Ersten Weltkrieg Assistent und Dozent an der TH Stuttgart unter Schmitthenner. Ab 1926 lehrte er dort als Professor.

1926/1927 gleichzeitig in Dresden und Stuttgart tätig (Entwürfe für öffentliche Bauten [Schule]), Kirchen, Villen und Einfamilienhäuser.

1928-1945 Professor für Gebäudelehre an der TH Dresden. Mitwirkung u. a. bei Projekten in der Gartenstadt Hellerau (Bebauungsplan und zwei Häuser der Holzhaussiedlung Am Sonnenhang).

1932-1933 Eintritt in die NSDAP und die SA. Im November 1933 Mitunterzeichner des Bekenntnisses der deutschen Professoren zu Adolf Hitler.

1937-1945 Rektor der TH Dresden. Als solcher u.a. verantwortlich für die Entlassung aller jüdischen Professoren und Studierenden.

1943-1945 nebenamtlicher Gründungsrektor der TH Linz (Österreich). Mitglied im Führungskreis des NS-Dozentenbundes.

1946 Verhaftung und Überführung in ein sowjetisches Internierungslager bei Saratow. Verhaftungsgründe: Aktives NSDAP-Mitglied, SA-Sturmbannführer, Rektor der TH Dresden.

1948 Im Internierungslager gestorben.

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Literatur: Ralph Lindner, Hans-Peter Lühr (Hg.): Gartenstadt Hellerau. Die Geschichte ihrer Bauten,

Dresden 2008. Mit einem Beitrag von Claudia Klinkenbusch zu den Holzhäusern der 1920er und 1930er Jahre (S. 138-153).

Nils Schinker: Die Gartenstadt Hellerau 1909-1945. Stadtbaukunst, Kleinwohnungsbau, Sozial- und Bodenreform, Dresden 2013. Mit einem sehr ausführlichen Kapitel zu Gebäudetypologien und Wohnmodellen in Hellerau sowie zur Konstruktion von Heimat und Tradition (S. 209-458.

Paul Schmitthenner: Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 1932 (1. Auflage), 1950 (3. Auflage) Texte zur Vorlesung.

Wolfgang Voigt, Hartmut Frank (Hg.): Paul Schmitthenner 1884-1972 (Katalogbuch z. Ausst. Frankfurt/Main 2003), Tübingen/Berlin 2003. Texte zur Vorlesung.

Wolfgang Voigt: Vom Ur-Haus zum Ur-Typ. Paul Schmitthenners ‚deutsches Wohnhaus‘ und seine Vorbilder; in: Vittorio Magnago Lampugnani, Romana Schneider (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition (Katalogbuch z. Ausst. Frankfurt/Main 1992), Stuttgart 1992, S. 245-266.

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

5. Vorlesung

Typus und Norm (III). „Befreites Wohnen“.

Biografische Daten:

Walter Gropius (1883-1969) Architekt und Hochschullehrer

1903-1907 Architekturstudium an der TH München und der TH (Berlin)-Charlottenburg

1908 Eintritt in das Architekturbüro von Peter Behrens, über den er Ludwig Mies van der Rohe kennenlernt. Mitarbeit an den Bauten für die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG).

1910 Eröffnung eines eigenen Architekturbüros. Mitglied im 1907 gegründeten Deutschen Werkbund.

1911 Schuhleistenfabrik Benscheidt (Faguswerk) in Alfeld/Leine.

1914 Büro- und Fabrikgebäude im "monumentalen Stil" für die Werkbundausstellung in Köln. Während des Ersten Weltkriegs als Soldat in Frankreich.

1915-1923 Ehe mit Alma Mahler, Witwe des Komponisten Gustav Mahler und Geliebte des Malers Oskar Kokoschka.

1918-1919 Mitglied der "Novembergruppe" an, die die Impulse der Novemberrevolution in den Bereich der Kunst aufnehmen will; Leitung des "Arbeitsrats für Kunst", der sich als Anti-Akademie deutscher Künstler versteht; Teilnehmer der von Bruno Taut initiierten Briefwech-selgemeinschaft "Die Gläserne Kette", die die "Auflösung der bisherigen Grundlagen" der Architektur und das "Verschwinden der Persönlichkeit" des Künstlers fordert.

1919 Gründungsdirektor des Staatlichen Bauhauses in Weimar (Nachfolgeinstitution der von Henry van de Velde geleiteten Kunstgewerbeschule). Parallel dazu Weiterführung des eige-nen Architekturbüros.

1923 Bauhaus-Ausstellung in Weimar (Musterhaus Am Horn, „Baukasten im Großen“)

1924 Mitbegründer der dem Neuen Bauen verpflichteten Architektenvereinigung „Der Ring“.

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1925-1928 Umzug des Staatlichen Bauhauses nach Dessau. In seiner Nebentätigkeit als Privatarchitekt entwirft Gropius das Schulgebäude und die Wohnhäuser der Professoren („Meisterhäuser“); außerdem zahlreiche Wohnungsbauprojekte und Entwurf eines "Total-theaters" für den kommunistischen Berliner Theaterdirektor Erwin Piscator.

1928 Rücktritt als Direktor des Bauhauses und Wiederaufnahme der selbstständigen Architektentätigkeit in Berlin.

1934-1937 Da die Nationalsozialisten den "Ring" als Organisation "jüdisch-bolschewistischer" Architekten und das Bauhaus als "Kirche des Marxismus" bezeichnen, befürchtet Gropius Übergriffe auf seine Person und flieht ins Exil, zunächst nach England.

Ab 1937 Professor für Architektur an der Graduate School of Design der Harvard University in Cambridge, Massachusetts (USA).

1946 Gründer und Leiter der Gruppe "The Architects Collaborative" (TAC).

1955-1957 Scheibenhochhaus für die internationale Bauaustellung „Interbau“ in West-Berlin.

ab 1960 Großsiedlung "Gropiusstadt" in West-Berlin.

Zitat: „der typus ist nicht ein hemmnis kultureller entwicklung, sondern geradezu eine ihrer voraussetzungen. er birgt die auslese des besten in sich und scheidet das elementare, überindividuelle vom subjektiven ab. […] immer war der typus ein zeichen gesitteter gesellschaftlicher ordnung.“ Und an anderer Stelle fügte er hinzu: „die besten stadtbilder der vergangenheit in unserm oder in anderen ländern geben den bündigen beweis, dass sich schönheit und klarheit eines stadtgebildes mit der durchführung des typus, mit der wiederholung typischer hausgebilde steigert. die norm ist immer ein letztes, reifstes ergebnis aus der übereinstimmung sachlicher lösungen verschiedener individuen. sie ist der generalnenner einer ganzen zeit. […] der typus ist nicht erst eine erfindung der heutigen zeit, er war von jeher zeichen kulturellen wohlstandes.“

Walter Gropius: bauhausbauten dessau, München 1930 (Bauhausbücher 12), unveränderte Neuauflage Berlin 1997, S. 162, 163. vgl. auch die Literatur zur Vorlesung

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Ernst Neufert (1900-1986) Architekt und Hochschullehrer

Maurer- und Zimmererlehre, Baugewerkschule in Weimar;

1919-1924 Student am Staatlichen Bauhaus in Weimar; daneben Studienreisen nach Süd-europa und praktische Tätigkeit bei Bauprojekten von Walter Gropius.

1925-1926 Projektleiter für den Neubau des Staatlichen Bauhauses in Dessau.

1927-1929 Professor an der Staatlichen Bauhochschule Weimar (Nachfolgeinstitution des Bauhauses, Leitung: Otto Bartning) bis zur Entlassung des gesamten Kollegiums durch die schon seit 1924 von der NSDAP dominierte Landesregierung von Thüringen.

1929 Eigenes Wohnhaus in Gelmeroda bei Weimar als Prototyp für ein serielles Einfamilienhaus aus vorgefertigten Holzelementen (heute Sitz der Stiftung Ernst Neufert).

1929-1933 Leiter des Bauateliers an der privaten Kunstschule von Johannes Itten (1919-1923 Lehrer am Staatlichen Bauhaus Weimar) in Berlin, die 1933 vom Staat aufgelöst wurde.

1933-1936 Reisen nach Nordeuropa und in die USA, „in der Absicht zu emigrieren, da ich als ehemaliger Bauhäusler nicht in die Reichskammer aufgenommen wurde, und deshalb von 1933 bis 36 keinerlei Bauten ausführen konnte“ (Lebenslauf, 1945). Dabei 1936 auch ein Treffen mit Frank Lloyd Wright in Wisconsin. Den Unterhalt seiner Familie finanzierte Neufert in diesen Jahren allein aus Honorarvorschüssen für sein Buch „Bauentwurfslehre. Handbuch für den Baufachmann, Bauherren, Lehrenden und Lernenden“ (1. Auflage 1936), das zu einem Welterfolg wurde (bis heute in 18 Sprachen übersetzt) und Neufert ab 1937 wieder zahlreiche Planungsaufträge in Deutschland einbrachte.

1936-1944 Selbstständiger Architekt in Berlin und Hausarchitekt der Vereinigten Lausitzer Glaswerke AG, Weißwasser. Wie andere ehemalige Bauhausschüler sah Neufert im Indu-striebau die Möglichkeit, im Sinne einer funktionalistischen Architekturauffassung weiterhin Großbauten erstellen zu können, ohne sich der Kunstdoktrin des Nationalsozialismus anzu-biedern. In eindeutige Systemnähe geriet er aber spätestens ab 1938, als der „General-inspektor für die Reichshauptstadt“ Albert Speer ihn mit der Ausarbeitung von Normen für den künftigen Wohnungsbau beauftragte. Als Resultat veröffentlichte Neufert 1943 den Atlas „Bauordnungslehre, Handbuch für rationelles Bauen nach geregeltem Maß“, in dem sich auch der Entwurf für eine „Hausbaumaschine“ zur seriellen Herstellung mehrgeschossiger Zeilenbauten findet.

1944 Mitarbeiter in Albert Speers „Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte“; Aufnahme in die „Gottbegnadeten-Liste“ der wichtigsten Architekten und Künstler (= Freistellung vom Kriegsdienst).

1945-1966 Professor für Baukunst an der TH Darmstadt und ab 1953 wieder selbstständiger Architekt mit Büro in Darmstadt, vor allem im Bereich Industrie- und Hochschulbau tätig ( „Meisterbauten“ Darmstadt 1951); Hausarchitekt der Firma Dyckerhoff Zement.

1954 Ehrendoktor der TH Darmstadt.

1965: Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

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Ernst Neufert: Bauentwurfslehre (1936), Platzbedarf von Menschen

Normierung im Bauwesen 1917 „Normenausschuss der deutschen Industrie“ (NADI) beim Verein der Ingenieure (VDI);

ab 1926 „Deutscher Normenausschuss“, seit 1975 „Deutsches Institut für Normung“ als Mit-glied der Internationalen Organisation für Standardisierung (ISO).

DIN (Deutsche Industrienorm); in der DDR: TGL (Technische Normen, Gütevorschrif-ten, Lieferbedingungen).

1917 „Filialausschuss für die Normung im Bauwesen“ (Hermann Muthesius, Peter Behrens, Walter Curt Behrendt).

1927 - 1931: Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungs-wesen (RFG); (Mitglieder: Walter Gropius, Ernst May, Bruno Taut, Martin Wagner, Marie-Elisabeth Lüders u.a.).

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Ernst Neufert: Bauentwurfslehre (1936), Hausformen (Nr. 15: Ludwig Mies van der Rohe, „Haus um 2000“ für die Deutsche Bauaustellung Berlin 1931).

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Architektenvereinigung „Der Ring“ (1926) Zusammenschluss von Architekten mit dem Ziel, das Neue Bauen (also die Weiße oder Internationale Moderne) zu fördern. Zehn der Mitglieder nahmen 1927 an der Werkbundausstellung „Die Woh-nung“ in Stuttgart-Weißenhof teil, die durch Ludwig Mies van der Rohe, seit 1926 Zweiter Vorsitzen-der des Deutschen Werkbunds, organisiert wurde. Treibende Kraft hinter der Gründung waren Hugo Häring und Ludwig Mies van der Rohe, die sich zu dieser Zeit ein Büro in Berlin teilten. Sie waren beide bereits Mitglieder des Berliner „Zehner-Rings“, der mit ähnlicher Zielsetzung 1924 gegründet worden war und geographisch wie personell ausgewei-tet werden sollte. Im April 1926 wurden deshalb weitere Architekten in Deutschland und Österreich angesprochen, außerdem die Mitglieder der 1918 gegründeten Novembergruppe, einer Vereinigung von Malern, Bildhauern und Architekten, die die Impulse der Novemberrevolution für den Bereich der Kunst umsetzen wollte ( Walter Gropius, Bruno Taut u.a.). Am 29. Mai 1926 trafen sich 16 Architekten im Büro von Ludwig Mies van der Rohe, gaben sich ein Programm und wählten Hugo Häring zu ihrem Sekretär. Die Werkbundzeitschrift „Die Form“ schrieb in Heft Nr. 10 von 1926 dazu: „Inzwischen haben die deutschen Architekten, die in ihrer Arbeit den neuentdeckten Gesetzen des Gestaltens folgen, ihren Zusammenschluss vollzogen. ‚Der Ring‘ – Figur einer in sich geschlossenen Form ohne Spitze – vereinigt eine Gruppe Gleichgesinnter zu gemeinsa-mer Förderung ihrer idealen Ziele.“ In der konstituierenden Sitzung legte man die Form der Vereini-gung fest: „Kein Verein. Kein Vorstand. Logencharakter, mit allen damit gegebenen Verpflichtungen der Mitglieder untereinander und nach außen.“ Ziele waren: „Stellungnahme zu den Bauproblemen der Gegenwart“, „Stellungnahme zur staatlichen und behördlichen Bau-Politik und Bauwirtschaft“, „Archivierung und Austausch der technischen Erfahrung“, „Ausstellungen. Publikationen“ in der Tagespresse und in Fachzeitschriften. Zur Förderung des Wettbewerbswesens beschloss man die „Einsetzung eines Ausschusses zur Aufstellung bindender Richtlinien für Beteiligung und Preisrichter-amt.“ Die Mitglieder sollten für Vorträge Material aus einem gemeinsam angelegten Dia-Archiv nutzen können. Die vom Ullstein-Verlag herausgegebene Zeitschrift „Bauwelt“ räumte den Mitgliedern des „Rings“ eine regelmäßige Beilage ein. Mit dem Erstarken des Nationalsozialismus und zunehmenden Differenzen zwischen Hugo Häring und den anderen Mitgliedern löste sich „Der Ring“ 1933 auf. Einige der Mitglieder hatten ihm bereits vorher den Rücken gekehrt. „Ring“-Mitglieder (alphabetische Auswahl): Walter Curt Behrendt (Chefredakteur der Werkbundzeitschrift „Die Form“), Richard Döcker (1946 Mitbegründer der „zweiten“ Stuttgarter Schule), Walter Gropius, Otto Haesler, Ludwig Hilberseimer, Hans und Wassili Luckhardt, Ernst May, Adolf Meyer (Büropartner von Walter Gropius), Hans Scharoun, Heinrich Tessenow (eigentlich alles andere als ein Revolutionär), Martin Wagner (SPD-Stadtbaurat von Berlin). Bereits vorher im Berliner „Zehner-Ring“ waren zusammengeschlossen: Otto Bartning, Peter Behrens, Hugo Häring, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe, Hans Poel-zig, Walter Schilbach, Bruno Taut, Max Taut. (Wikipedia, ergänzt u. bearbeitet H.-G. Lippert)

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Architektenvereinigung „Der Block“ Gegründet im Juni 1928 in Saaleck bei Naumburg als Ausdruck des Protests gegen das Neue Bauen (Weiße bzw. Internationale Moderne) in Deutschland und gegen den 1926 gegründeten „Ring“. Federführend bei der Gründung war der Maler, Architekt, Kulturreformer und Kulturkritiker Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), der 1904 auch Gründungsvorsitzender des Deutschen Bundes Heimatschutz und 1907 Mitbegründer des Deutschen Werkbunds gewesen war (als Person und als Vertreter der von ihm geschaffenen „Saalecker Werkstätten“). Er forderte schon seit 1900 die Rückkehr zum traditionellen Bauen bzw. zur vormodernen Auffassung von „Kulturlandschaft“ (ein von ihm wesentlich mitgeprägter Begriff) und propagierte dies in zahlreichen und im Bürgertum viel gelesenen Publikationen (u.a. „Kulturarbeiten“ [7 Bände, ab 1900]). Seine Ziele fasste der „Block“ in einem Manifest zusammen, das im Mai 1928 in der Zeitschrift „Bau-kunst“ veröffentlicht wurde: „Der Block hat eine Reihe von deutschen Architekten vereint, die sich in ihrer Kulturauffassung ver-bunden fühlen und dieser auch in ihren Werken Ausdruck verleihen. Sie glauben, daß bei den Bau-aufgaben unserer Zeit wohl ein eigener Ausdruck gefunden werden muß, daß aber dabei die Lebens-anschauungen des eigenen Volkes und die Gegebenheiten der Natur des Landes zu berücksichtigen sind. Sie gehen allen Anregungen und Möglichkeiten, die neue Werkstoffe und Werkformen betref-fen, mit wacher Aufmerksamkeit nach, ohne aber Ererbtes vernachlässigen und bereits Gekonntes verlieren zu wollen. Eine allzu voreilige Werbetätigkeit für modische Erzeugnisse, die eine gesunde Fortentwicklung gefährden muß, lehnen sie ab.“ Rudolf Pfister, Chefredakteur der „Baukunst“ (später Chefredakteur der bis in die 1960er Jahre betont konservativen Architekturzeitschrift „Baumeister“) kommentierte: „Die Namen, mit denen das Manifest unterzeichnet ist, haben guten Klang, aber es läßt sich schwer denken, daß sich ihre Träger wirklich zu einer gemeinsamen Marschrichtung finden werden. Dazu ist die innere Divergenz − gerade vielleicht in der ‚Kultur-Auffassung‘ − doch wohl zu groß.“ Als Gruppe erzielte der „Block“ keine Wirkung; wichtig waren aber einzelne Mitglieder, die sich darüber hinaus in dem wesentlich einflussreicheren, 1928 durch den NS-Chefideologen Alfred Rosenberg gegründeten „Kampfbund für Deutsche Kultur“ engagierten und in diesem Kontext durch Vorträge auch die Ideen des „Block“ verbreiteten. Paul Schultze-Naumburg selbst, 1930-1945 Direktor der Weimarer Kunstschule (faktisch also Amtsnachfolger von Henry van de Velde, Walter Gropius und Otto Bartning) und 1932-1945 Reichstagsabgeordneter der NSDAP, suchte dabei ausdrücklich das Bündnis mit NS-Ideologie, Rassenlehre und Blut-und-Boden-Kult, kam aufgrund seiner bildungsbürgerlich-aristokratischen Prägung im nationalsozialistischen Staat aber letztlich nicht so zum Zuge, wie er es sich erhoffte. Gründungsmitglieder des „Block“: German Bestelmeyer, Erich Blunck, Paul Bonatz, Albert Geßner, Paul Schmitthenner, Paul Schultze-Naumburg, Franz Seeck, Heinz Stoffregen. Zeitweise war auch der Architekt Werner Hegemann (Autor von „Das steinerne Berlin“ [1930]) mit dem Block assoziiert, er trat aber zusammen mit Paul Bonatz Ende April 1931 aus. Auch Fritz Schumacher (Stadtbaurat von Hamburg, zuvor Professor an der TH Dresden) gab in seinen „Selbstgesprächen“ an, Mitglied dieser Architektenvereinigung gewe-sen zu sein. Außerdem ist die Mitgliedschaft des Architekten Karl Gruber (Professor an der TH Darm-stadt, Autor von „Die Gestalt der deutschen Stadt. Ihr Wandel aus der geistigen Ordnung der Zeiten“ [1937 ff.]) belegt. (Wikipedia, ergänzt u. bearbeitet H.-G. Lippert)

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Literatur:

Herbert Bayer, Walter Gropius, Ise Gropius (Hg.): Bauhaus 1919-1928, Stuttgart 1955.

Walter Gropius: Normierung und Wohnungsnot (1927); in: Stiftung Bauhaus Dessau, Walter Prigge (Hg.): Ernst Neufert. Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert (Edition Bauhaus, Nr. 5), Frankfurt/New York 1999, S. 329-334.

Wulf Herzogenrath (Hg.): bauhaus utopien. Arbeiten auf Papier, Stuttgart 1988.

Barbara Miller Lane: Architektur und Politik in Deutschland 1918-1945, Braunschweig/Wiesbaden 1986.

Winfried Nerdinger, Bauhaus-Archiv Berlin (Hg.): Der Architekt Walter Gropius (Katalog z. Ausst. 1985/86), Berlin 1985.

Walter Prigge: Behrens, Gropius, Neufert. Zur Architektonisierung der Industrie; in: Stiftung Bauhaus Dessau, Walter Prigge (Hg.): Ernst Neufert. Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert (Edition Bauhaus, Nr. 5), Frankfurt/New York 1999, S. 248-264.

Terence Riley, Barry Bergdoll (Hg.): Mies in Berlin. Ludwig Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907-1938 (Katalogbuch z. Ausst. Berlin 2001), München/London/New York 2001.

Wolfgang Voigt: „Triumph der Gleichform und des Zusammenpassens“. Ernst Neufert und die Normung in der Architektur; in: Winfried Nerdinger (Hg.): Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus. Zwischen Anbiederung und Verfolgung, München 1993, S. 179-193.

Wolfgang Voigt: Vitruv der Moderne: Ernst Neufert; in: Stiftung Bauhaus Dessau, Walter Prigge (Hg.): Ernst Neufert. Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert (Edition Bauhaus, Nr. 5), Frankfurt/New York 1999, S. 20-34.

Internet: http://www.bnhof.de/~ho1253/!%20Bauhaus%20HTML/Texte/Gropius%20neue%20Architektur.PDF (Walter Gropius: Die neue Architektur [1967])

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

6. Vorlesung

Rappel à l‘ordre (I). Frankreich 1920-1940.

Biografische Daten:

Paul Valéry (1871-1945) Lyriker, Philosoph und Essayist

Kindheit in der südfranzösischen Hafenstadt Sète, Jugendjahre in Montpellier; dort auch Jurastudium. Schon früh begann er Gedichte zu schreiben.

Ab 1894 in Paris, wo er André Gide und vor allem Stéphane Mallarmé kennenlernte, der ihm zum Vorbild wurde. 1896-1900 Angestellter in verschiedenen Einrichtungen, bis er von seinen Einkünften als freier Schriftsteller leben konnte.

Ab etwa 1920 galt Valéry als der größte französische Lyriker seiner Zeit und genoss hohes Ansehen auch im übrigen intellektuellen Europa. 1923 wurde er zum Chevalier de la Légion d’honneur (Ritter der Ehrenlegion), 1931 zum Komtur und 1938 zum Großoffizier dieses Ordens ernannt. 1925 wurde er in die Académie française aufgenommen, deren Präsident er zeitweilig war. 1937 wurde Valéry mit einer wohldotierten Professur für Poetik am Collège de France ausgezeichnet.

1923 Essay „Eupalinos ou l’architecte“ in der Form eines antiken platonischen Dialogs.

In der Zeit der Besetzung Frankreichs durch deutsche und italienische Truppen weigerte sich Valéry, mit den Besatzungsmächten zusammenzuarbeiten. Als er dann am 9. Januar 1941 in der Sorbonne eine Gedächtnisrede zu Ehren des jüdischen Philosophen Henri Bergson" hielt, kostete ihn dieser Text seine Stellung als Direktor des Centre Universitaire Méditerranéen durch Erlass der Vichy-Regierung.

Valéry war wohl der letzte Autor in Frankreich, der mit Lyrik seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Er hatte den Status eines Dichterfürsten, der mit gut bezahlten Auftragsarbeiten von Verlagen und Zeitschriften bedacht und häufig zu Vorträgen und Lesungen eingeladen wurde. Nach seinem Tod ordnete General Charles de Gaulle ein Staatsbegräbnis an.

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Auguste Perret (1874-1954) Architekt

1891-1901 Studium an der École des Beaux-Arts in Paris; Beendigung der Ausbildung ohne Diplom. Neben dem Studium ab 1894 in der väterlichen Bauunternehmung tätig. Ab 1900 begann er Bauten in Eisenbeton auszuführen und wurde dadurch zu einem der Pioniere des Stahlbetonbaus (parallel zu François Hennebique und Eugène Freyssinet). In seinem Büro arbeiteten Le Corbusier (zwischen 1908 und 1909), René Iché und Patroklos Karantinos.

1904 Wohnhaus 25-2, rue Franklin, Paris. In diesem Gebäude hatte der Architekt auch eine Wohnung im Dachgeschoss.

1905 Gründung eines Bauunternehmens zusammen mit seinen Brüdern Gustave und Claude.

1907 Garage in der Rue Ponthieu, Paris (nicht erhalten). 1911 bis

1913 Théâtre des Champs-Élysées, Paris, als moderne Stahlbetonkonstruktion mit weißer Marmorfassade.

1923 Pfarrkirche Notre-Dame in Le Raincy nördlich von Paris, ein dreischiffiger Hallenbau in Sichtbeton unter Verwendung standardisierter Bauelemente. Die nichttragenden Fassaden sind in farbig verglasten Betonformsteinen ausgeführt, die von Marguerite Huré (1895–1967) gestaltet wurden.

1924 „Tour Perret“ in Amiens, erstes Stahlbeton-Hochhaus in Europa.

1932 Wohngebäude 51-55 rue Raynouard, Paris, in dem sich auch das Architekturbüro Perret befand und wo er bis zu seinem Lebensende wohnte.

1936 Mobilier national (staatliches Möbellager für Behörden und Ministerien), Paris.

1939 Musée des Travaux Publics, heute Palais d‘Iéna, Paris.

Ab 1940 Dozent an der École des Beaux-Arts, Paris (wichtigste Kunst- und Architekturschule Frankreichs) .

Ab 1943 Mitglied der Académie des Beaux-Arts und des Institut français de l’architecture.

1945-1954 Hauptverantwortlicher Stadtplaner für den Wiederaufbau von Le Havre (seit 2005 UNESCO-Weltkulturerbe). Mit einem Team von 60 Architekten entwarf er breite Boulevards und lange Straßenachsen, die von Kolonnaden und klassizistisch inspirierten Wohnblocks in rötlich getöntem Beton gesäumt werden. Die wichtigsten vertikalen Akzente setzen die Türme des Rathauses und der Pfarrkirche Saint-Joseph.

1952 Buchpublikation „Contribution à une théorie de l’architecture“

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Literatur :

Franco Borsi : Die monumentale Ordnung. Architektur in Europa 1929-1929, Stuttgart 1987.

Karla Britton: Auguste Perret, London 2001.

Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die „Konservative Revolution“ in Frankreich 1900 – 1930, München/Berlin 2003.

Zitate:

Le Corbusier: Urbanisme, Paris 1929 (dt. : Städtebau, Stuttgart 1930) [dt. Ausgabe, S. VIII, 16, 20-21, 165] Wir behaupten, dass die Aufgabe des Menschen darin besteht, Ordnung zu schaffen, und daß sein Handeln und Denken regiert werden von der Geraden und dem rechten Winkel. […] „transzendente Geometrie muss herrschen, alle gestalterischen Festlegungen diktieren“. […] In Freiheit neigt der Mensch zur reinen Geometrie. Er schafft dann, was man Ordnung nennt. […] Je vollkommener die Ordnung ist, um so wohler fühlt er sich. […] Im Geist errichtet er Konstruktionen auf der Grundlage der Ordnung, die ihm sein Körper auferlegt, und er wird Schöpfer. [frz. Ausgabe, S. 42, 44-45, Übersetzung H.-G. Lippert] Wir, die wir einen Dichter in uns haben, […] der urteilt und der die Fortdauer der Werke abschätzen kann. […] Jenseits der am Nutzen orientierten Zwecke erforscht er das Unvergängliche: Den Menschen. Gewiss, der Ingenieur ist eine Perle, aber innerhalb des Colliers, er kennt und sieht nur seine beiden Nachbarperlen, […] ein festgelegtes Wesen. Der Dichter sieht das ganze Collier: Er sieht die Individuen mit ihrem Verstand und ihrer Leidenschaft; hinter ihnen findet er den Menschen als Ganzes. Dieses Ganze ist zur Vollkommenheit fähig; es gibt theoretisch keinen Grund, weshalb es nicht erhaben werden könnte.

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Paul Valéry: Eupalinos oder Der Architekt (1923); in: Karl Alfred Blüher (Hg.): Paul Valéry, 2, Dialoge und Theater, Frankfurt am Main 1990 [S. 11] Phaidros: Du würdest es nicht glauben, Sokrates, welche Freude es für mich war, eine so wohlgeordnete Sache kennenzulernen. Ich kann die Idee eines Tempels nicht mehr trennen von seiner Aufrichtung. Wenn ich einen sehe, sehe ich eine wunderbare Handlung, ruhmreicher noch als ein Sieg und im noch größeren Gegensatz zur armseligen Natur. […] Ich war befreundet mit dem, der diesen Tempel gebaut hat. Er war aus Megara und hieß Eupalinos. […] Ich fand in ihm etwas von der Kraft des Orpheus. Er sagte diesen unförmigen Haufen von Steinen und Balken, die um uns herum lagen, ihre gestaltete Zukunft voraus, und diese Stoffe schienen beim Klang seiner Stimme jenem einzigen Platz vorbestimmt zu sein, für den die […] Geschicke sie bezeichnet hatten. Wahre Wunder waren seine Ansprachen an die Werkleute. In ihnen blieb keine Spur von den schwierigen Erwägungen der Nacht. Er gab ihnen nur Befehle und Zahlen. Sokrates: Das ist die Art des Gottes selbst. [S. 80] Sokrates: Wenn also das Weltall die Wirkung ist irgendeines Aktes, dieser Akt selbst die Wirkung eines Wesens, eines Bedürfnisses, eines Gedankens, eines Wissens und einer Macht, die diesem Wesen eignet, so kann man nur wieder in einem Akt den großen Plan erreichen und die Nachfolge dessen, der alle Dinge gemacht hat. Das wäre die natürlichste Art, sich an die Stelle Gottes zu versetzen. Nun ist von allen Akten der vollkommenste der des Bauens. […] Dieses Werk geht aus dem innersten Grund deines Lebens hervor und ist doch nicht eins mit dir. Wenn es mit der Fähigkeit zu denken begabt wäre, würde es deine Existenz erahnen, ohne jemals so weit zu kommen, sie festzustellen oder sie klar zu begreifen. Du wärest ein Gott für es… [S. 82-84] Sokrates: Der Demiurg […] hatte es zu tun mit der Wirrsal des Chaos. Alles vor ihm war gestaltlos. […] Er machte sich tapfer daran, an dieses entsetzliche Gemenge, (…) dessen ungeheure Unordnung die kleinsten Teile erfüllte. Er hat Ordnung gebracht in diesen irgendwie strahlenden Kot, wo es nicht ein Teilchen Reines gab. […] Der [heutige] Baumeister findet sich gegenüber als Chaos und Rohstoff eben diese Ordnung der Welt, die der Demiurg aus der ursprünglichen Unordnung gezogen hat. Die Natur ist gestaltet, die Elemente sind getrennt, aber irgend etwas mutet ihm zu, dieses Werk für unvollendet zu halten. […] Er nimmt den Punkt, wo der Gott stehengeblieben war, zum Ausgangspunkt seines Handelns. […] Da komme ich, sagt der Baumeister, ich bin die Handlung. Ihr seid Stoff, ihr seid Kraft, ihr seid Streben; aber ihr seid getrennt. […] Ich bin der, der versteht, was ihr wollt, es eine Kleinigkeit besser versteht als ihr selbst. […] Ich werde euch sehr viel kosten, ohne Zweifel, aber alle Welt wird dabei gewinnen. Ab und zu werde ich mich irren, und es wird ein paar Ruinen geben, aber man kann immer mit größtem Vorteil ein verfehltes Werk als eine Stufe ansehen, die uns dem Schönen näher bringt.

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TU Dresden, Fakultät Architektur Prof. Dr. Hans-Georg Lippert Vorlesung Baugeschichte (G+T AKA, WA I/II) Wintersemester 2016/17

Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

7. Vorlesung

Rappel à l‘ordre (II). Le Corbusier – Terragni – Mies van der Rohe

Biografische Daten:

Charles Édouard Jeanneret Künstlername: Le Corbusier (1887 – 1965) Architekt und Maler

1904-1911 Ausbildung als Graveur und Ziselierer an der Kunstgewerbeschule seiner von der Uhrenindustrie geprägten Geburtsstadt La-Chaux-de-Fonds (Kanton Jura, Schweiz). Autodidaktische Aneignung von Kenntnissen im Bereich Architektur.

1907-1911 Studienreisen durch Europa und den vorderen Orient. Kurzzeitige Mitarbeit in führenden Architekturbüros in Paris (Auguste Perret), Berlin (Peter Behrens) und Wien; längerer Besuch bei seinem Bruder Albert am Tanzinstitut von Émile Jacques-Dalcroze in Dresden-Hellerau.

1914 Berufung auf eine Professur an der Kunstgewerbeschule von La-Chaux-de-Fonds. Entwicklung des Eisenbetonskelett-Systems "Dom-Ino" für den Wiederaufbau kriegszerstörter Orte in Nordfrankreich.

1917-1919 Übersiedlung nach Paris. Entwurf des Bausystems „ Monol“ für serielle Einfamilienhäuser.

1920 Erstmalige Nutzung des Pseudonyms Le Corbusier (in Anlehnung an einen Vorfahren namens Lecorbezier) im Rahmen seiner Tätigkeit als Architekt. Entwurf des Haustyps „Citrohan“. Gründung der Zeitschrift „L’Esprit Nouveau“ zusammen mit dem Maler Amédée Ozenfant (erscheint bis 1925).

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1922 Eröffnung eines Architekturbüros in Paris, zusammen mit seinem Vetter Pierre Jeanneret (bis 1940). Entwürfe „Ville contemporaine pour trois millions d’habitants“ und „Immeuble-villa“. Le Corbusier entwickelt die darin enthaltenen Grundgedanken später zur Vision der „Ville radieuse“ („Strahlende Stadt“) weiter und erprobt sie in (durchweg unausgeführten) städtebaulichen Projekten für Algier, Antwerpen, Bogotá, Rio de Janeiro usw.

1923 Buchpublikation "Vers une Architecture" (dt.: „Kommende Architektur“, „Ausblick auf eine Architektur“), darin u. a. die „trois rappels“ („drei Mahnungen“) an die zeitgenössischen Architekten. Teilnahme an der Bauhaus-Ausstellung in Weimar; enger Kontakt und Austausch mit deutschen Architekten wie Walter Gropius und Bruno Taut.

1925 „Pavillon de l’Esprit Nouveau“ auf der Exposition des arts décoratifs et industriels in Paris. Projekt „Plan Voisin“ für Paris, Buchpublikation „Urbanisme“.

1927 Zwei Häuser für die Werkbundausstellung „Die Wohnung“ (Weißenhofsiedlung) in Stuttgart; aus diesem Anlass Formulierung der „Fünf Punkte einer neuen Architektur“ (Skelettbauweise, Aufständerung, freier Grundriss, freie Fassade, Dachgarten).

1928 Villa Stein in Garches. Mitinitiator und sogleich auch Leitfigur der "Congrès Internationaux d‘Architecture Moderne" (CIAM), der wichtigsten internationalen Diskussionsplattform für die Anliegen der Architektur-Avantgarde (besteht bis Ende der 1950er Jahre; zuständig für Sekretariat und Öffentlichkeitsarbeit: Sigfried Giedion) „Charta von Athen“ usw.

ab 1929 Als Städteplaner in der ganzen Welt tätig; außerdem bedeutende Großbauten wie das Nachtasyl der Heilsarmee in Paris (1929-1933), das Schweizerische Haus der Cité universitaire in Paris (1930-1932) und das Zentrosojus-Gebäude in Moskau (1928-1936).

1930 LC wird französischer Staatsbürger.

1931 Villa Savoye in Poissy-sur-Seine. Insgesamt herrscht aber Auftragsflaute; in den 1930er Jahren realisiert das Büro von LC (der als Architekt und als Mensch zu dieser Zeit sehr umstritten ist) nur wenige Entwürfe.

1941-1943 Während des Zweiten Weltkriegs kehrt Le Corbusier, Anhänger der mit dem Nationalsozialismus kooperierenden französischen Vichy-Regierung, ins besetzte Paris zurück. Gründung der "Assemblée des Constructeurs pour une Rénovation Architecturale" (Vereinigung der Konstrukteure für eine architektonische Erneuerung), um nach Kriegsende mit jungen Architekten den Wiederaufbau mitzugestalten. Entwicklung des Proportions- und Maßsystems „Modulor“, das vom menschlichen Körper abgeleitet ist und in Architektur und Technik universell anwendbar sein soll.

1945-1946 Wiederaufbauplanung für Saint-Dié (nicht ausgeführt); erste „Unité d’habitation à confort moderne“ in Marseille (typisierte Großwohneinheit für ca. 1600 Bewohner; bis 1962 fünfmal realisiert [Marseille, Nantes, Firminy-sous-bois, Briey-le-forêt, Berlin]).

1947 Entwurf zum UN-Gebäude in New York (Ausführung dann durch Wallace K. Harrison, Oscar Niemeyer u. a.)

1950-1954 Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp; Planung der Stadtanlage und des Kapitols von Chandigarh (neue Hauptstadt der Provinz Pandschab, Indien).

1953-1960 Dominikanerkloster La Tourette bei Lyon

1965 Tod beim Baden im Meer an seinem Wohnort Cap Martin bei Nizza.

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Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969) (ursprünglich: Ludwig Mies) Architekt und Hochschullehrer

1896-1904 Domschule in Aachen und Steinmetzlehre bei seinem Vater an der Aachener Dombauhütte, dann Ausbildung zum technischen Zeichner und Anstellung bei örtlichen Architekturbüros.

1905-1907 Übersiedlung nach Berlin und Mitarbeiter bei Bruno Paul (Mitbegründer des Deutschen Werkbunds). Parallel dazu der erste unabhängige Auftrag (Potsdam, Haus Riehl).

1908-1911 Mitarbeiter von Peter Behrens (ebenfalls Mitbegründer des Deutschen Werkbunds), zeitweise zusammen mit Walter Gropius, Hannes Meyer und Le Corbusier (damals noch Charles-Édouard Jeanneret) Während dieser Zeit arbeitet Mies am Entwurf für die deutsche Botschaft in St. Petersburg (1911) mit, ebenso entsteht das Landhaus für das Ehepaar Kröller-Müller in Den Haag. 1912-1913 Heirat und Gründung eines eigenen Architekturbüros in Berlin. Mies entwirft mehrere Landhäuser in Berlin-Zehlendorf und Potsdam, sämtlich in der Tradition von Klassizismus und Reformarchitektur.

1915-1918 Kriegsdienst

1921 Mies trennt sich von seiner ersten Frau, ergänzt seinen Namen um den Familiennamen seiner Mutter (Rohe) und nennt sich fortan Mies van der Rohe.

1921-1922 Hochhausentwürfe mit (nach damaligem Stand der Bautechnik nicht baubaren) Glasfassaden; Beitritt zur sog. „Novembergruppe“ revolutionärer Künstler.

1923-1924 Teilnahme an der Bauhaus-Ausstellung in Weimar; Beiträge für die Zeitschrift „G – Material für elementare Gestaltung“. Mitgründer der Architektenvereinigung „Der Ring“.

1925 Begegnung mit der Innenarchitektin Lilly Reich (bis 1938 Mies‘ Lebenspartnerin und Mitarbeiterin).

1926-27 Masterplan der Werkbundausstellung "Die Wohnung" in Stuttgart (Weißenhofsiedlung), dort auch ein viergeschossiges Haus mit Mietwohnungen.

1929 Pavillon des Deutschen Reichs auf der Weltausstellung in Barcelona (eigentlich nur ein kleines Gebäude für offizielle Empfänge) mit dazugehörigem Mobiliar (nach Ende der Ausstellung demontiert).

1930 Villa Tugendhat in Brünn (Brno, CZ). Im August wird Mies van der Rohe als Nachfolger von Hannes Meyer Direktor des seit 1926 in Dessau ansässigen Bauhauses. Dessen Schließung durch die NSDAP kann er 1932 durch die Übersiedlung nach Berlin verhindern, 1933 wird das Bauhaus jedoch endgültig geschlossen.

1932 Teilnahme an der von Henry Russell Hitchcock und Philip Johnson kuratierten Ausstellung „Modern Architecture“ ( Begriff „International Style“).

1938 Mit Unterstützung von Philip Johnson emigriert Ludwig Mies van der Rohe in die USA. Er eröffnet in Chicago ein Architekturbüro, zugleich wird er Leiter der Architekturabteilung am Armour Institute of Technology (seit 1940: Illinois Institute of Technology, IIT). In den folgenden Jahren entstehen nach seinen Plänen zahlreiche Hauptwerke des Internationalen

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Stils, darunter das Fox River House (1945-50) und das House Farnsworth (1946-51) in Plano, Illinois, die Lake Shore Drive Appartements in Chicago (1948-51) und die Lafayette-Parksiedlung in Detroit (1955-63). 1958 entsteht das Seagram Building in New York.

1959 Mies van der Rohe zieht sich aus der Leitung des IIT zurück und löst seine Aufträge für weitere Gebäude auf dem Campus.

1962-1968 Neue Nationalgalerie in (West)-Berlin (Vergrößerte Weiterentwicklung eines Entwurfs, der 1958 als Bürogebäude der Bacardi Rum Company in Santiago de Cuba konzipiert und 1961 schon einmal für einen [nicht realisierten] Museumsbau in Schweinfurt adaptiert worden war).

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Giuseppe Terragni (1904-1943) Architekt

1921-1926 Architekturstudium am Mailänder Polytechnikum.

1927 Zusammen mit sechs weiteren Absolventen des Politecnico die Milano (Luigi Figini, Guido Frette, Sebastiano Larco, Adalberto Libera, Gino Pollini, Carlo Enrico Rava) Gründung der Architektenvereinigung „Gruppo 7“ und der Bewegung „Architettura Razionale“. Das dazugehörige Manifest („4 note“) wurde unter dem Titel „Architektur und eine neue Epoche der Klassik“ in der Zeitschrift La Rassegna Italiana veröffentlicht.

1927 Architekturbüro in Como zusammen mit seinem Bruder Attilio Terragni (bis 1939).

1927-1929 Wohngebäude „Novocomum“ (mit Anklängen an die sowjetische Avantgarde [Melnikov]).

1931-1931 Gefallenendenkmäler in Como und Erba (Provinz Como).

1932 Zwei Grabkapellen auf dem Friedhof in Como.

1932-1936 Casa del Fascio (örtliche Zentrale der Faschistischen Partei) in Como.

1937 Kindergarten Sant’Elia in Como. Terragni gilt als einer der wichtigsten Wegbereiter der architektonischen Moderne in Italien. Zu den wesentlichen Gestaltungselementen seiner Architektur zählte die strikte Ablehnung des Historismus sowie die Reduktion auf elementare geometrische Grundformen. Neben der Orientierung an den Leitbildern der internationalen Moderne wurden dabei gemäß der von Benito Mussolini propagierten Konzepte der romanità und mediterraneità aber auch nationale Bautraditionen zum Vorbild. Terragni bezog sich sowohl auf den italienischen Futurismus als auch auf die römische Antike; sein vordergründig konsequent modern erscheinender Klassizismus beruht auf dem Purismus mathematischer Beziehungen und auf der Neuinterpretation traditioneller Funktionsschemata. Typisch für die Situation in Italien war, dass sich Terragni, wie fast alle anderen führenden italienischen Modernisten, offen zum Faschismus bekannte und seine rationalistische Architektur dem (im Unterschied zum Deutschen Reich unter Hitler) auch bei öffentlichen Bauten betont technikaffinen Regime als Staatsstil anzudienen versuchte. Damit war er zunächst auch erfolgreich. Erst im Zusammenhang mit der Schaffung eines italienischen Kolonialreichs in Nordafrika und in der Ägäis sowie mit der Ausrufung eines neuen Imperium Romanum (1936) gewannen in Italien die neoklassischen, monumentalen Tendenzen der sogenannten Scuola Romana (Marcello Piacentini u.a.) schrittweise die Oberhand. Terragni ließ sich davon bis zu seinem frühen Tod nicht beeinflussen. Am 19. Juli 1943 verstarb er in Como an den Folgen seines Einsatzes als Soldat an der deutsch-italienischen Ostfront in der Sowjetunion.

(nach Wikipedia, Ergänzung und Überarbeitung H.-G. Lippert)

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Literatur:

Giorgio Ciucci (Hg.) : Giuseppe Terragni. Opera completa, Milano 1996 (Die derzeit umfangreichste Monographie zu Terragni ; Text italienisch).

Jean-Louis Cohen: Le Corbusier 1887-1965. Die Lyrik der Architektur im Maschinenzeitalter (aus der sehr empfehlenswerten kleinformatigen Architekten-Reihe des Taschen Verlags).

Stefan Germer, Achim Preiß (Hg.): Giuseppe Terragni 1904-43. Moderne und Faschismus in Italien, München 1991 (ergiebige Aufsatzsammlung, leider ohne einen speziellen Beitrag zur Casa del Fascio in Como).

„Miesverständnisse“: ARCH+, Heft 161, Juni 2002. Mit einem sehr lesenswerten Beitrag von Sokratis Georgiadis zur „preußischen Gefangenschaft“, d.h. zur Indienstnahme von Mies für die klassizistische Tradition.

Fritz Neumeyer: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, Berlin (West) 1986. (Ausführliche architekturtheoretische Betrachtung zu Mies und seinen (wenigen) Texten. Sehr anregend, aber auch recht subjektiv und teilweise inhaltlich anfechtbar.)

Colin Rowe: Die Mathematik der idealen Villa und andere Essays, Basel-Berlin-Boston 1998. (deutsche Ausgabe des zuerst 1947 erschienenen Aufsatzes „The Mathematics of the ideal Villa“).

Franz Schulze, Edward Windhorst: Mies van der Rohe. A Critical Biography, Chicago/London 2012 (die fundierteste Biographie zu Mies. Text englisch).

Christian Welzbacher: Schinkel als Mythos. Kanonisierung und Rezeption eines Klassikers – 1841 bis heute, München 2012. (mit einer sehr kritischen Betrachtung der von zahlreichen anderen Autoren behaupteten Bezüge zwischen Schinkel und Mies van der Rohe).

Claire Zimmerman: Mies van der Rohe 1886-1969. Die Struktur des Raumes, Köln 2006 (aus der sehr empfehlenswerten kleinformatigen Architekten-Reihe des Taschen Verlags).

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

7. Vorlesung

Nach 1945 (I). Die BRD

Wichtige Ausstellungen und Diskussionsforen der 1950er Jahre in der BRD:

Darmstädter Gespräche. Eine Reihe von Symposien zu Grundsatzthemen, die in unregelmäßigem Rhythmus ab 1950 stattfanden, anfänglich jeweils im Zusammenhang mit einer großen Ausstellung. Bedeutende Teilnehmer der frühen Veranstaltungen waren u.a. Theodor W. Adorno, Martin Heidegger, Max Horkheimer, José Ortega y Gasset und Hans Sedlmayr. Von Architektenseite nahmen Otto Bartning, Rudolf Schwarz, Hans Schwippert, Max Taut, Ernst Neufert und andere Vertreter der überwiegend modernen Ausrichtung teil. Die teilweise sehr kontroversen Diskussionen wurden öffentlich geführt und richteten sich an ein interessiertes Laienpublikum. Oberthemen waren u. a. „Das Menschenbild unserer Zeit“ (1950), „Mensch und Raum“ (1951), „Mensch und Technik“, „Individuum und Organisation“ (1953), „Ist der Mensch messbar?“ (1958), „Der Mensch und seine Meinung“ (1960), „Angst und Hoffnung in dieser Zeit“ (1963), „Der Mensch und seine Zukunft“ (1966). Die Darmstädter Gespräche dienten als Vorbild für die Frankfurter Römerberggespräche.

Constructa. Schau des Bauens (Hannover 1951)

mensch und form unserer zeit (Recklinghausen 1952). Vom Deutschen Gewerkschaftsbund DGB unterstützte Ausstellung zu Architektur, Produktdesign und bildender Kunst im Rahmen der neu ins Leben gerufenen Ruhrfestspiele.

documenta 1 (Kassel 1955). Erste große und umfassende Ausstellung von moderner Kunst in Westdeutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Interbau. Internationale Bauausstellung ([West]-Berlin 1957) Hansaviertel

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Biografische Daten: Hans-Sedlmayr (1896-1984) Kunsthistoriker und Hochschullehrer

Der Sohn eines Gutsverwalters und späteren Professors für Ökonomie studierte in Wien an der Technischen Hochschule Architektur, anschließend Kunstgeschichte an der Universität bei Max Dvořak und Julius Alwin Ritter von Schlosser , dessen Nachfolge er 1936 antrat. Wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus (besser gesagt: zu dessen spezifisch österreichischer, eng mit dem konservativen katholischen Klerus verbundenen Richtung) 1945 von der Universität Wien entlassen, publizierte Sedlmayr mehrere Jahre als freier Autor unter Pseudonym. 1951 wurde er als Professor für Kunstgeschichte an die Universität München berufen. Nach seiner Emeritierung 1964 war er als Gast- und Honorarprofessor Vorstand des kunsthistorischen Instituts der neu gegründeten Universität Salzburg. Den inhaltlichen Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen bildet die Epoche des Barock, der er sich zeit seines Lebens besonders verbunden fühlte. 1958 erschien seine persönliche Bilanz „Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstwissenschaft“ mit einem Bekenntnis zu den weltanschaulichen Grundlagen seines Wissenschaftsverständnisses, die auf einem vormodernen Gesellschaftsmodell und einer dezidiert christlich-katholischen Prägung basierten.

Das Buch „Verlust der Mitte“ (1948): Ausgehend von seiner Auffassung, die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts sei „Symptom und Symbol der Zeit“ (so der Untertitel), interpretiert Hans Sedlmayr die Gegenwart als das vorläufige Endresultat einer bereits um 1760 beginnenden geistig-gesellschaftlichen Krankheit und „inneren Katastrophe“. Der Titel des Buchs bezieht sich auf ein Wort des Philosophen Blaise Pascal: „Die Mitte verlassen, heißt die Menschlichkeit verlassen“. Im Kern handelte es sich um Vorlesungen, die Sedlmayr ab 1934 an der Universität Wien gehalten hatte und die Einzelinterpretationen etwa der französischen Revolutionsarchitektur (Die Kugel als Gebäude oder „Das Bodenlose“, 1939/40) zum Gegenstand hatten. Im ersten Teil des Buchs behandelt Sedlmayr die „Symptome“, wie z.B. den Wandel der vorrangigen Aufgaben der Architektur von der Kirche, dem Schloss und dem Grabmal über den Landschaftsgarten zum Ausstellungsbau, zum Bürohaus und zur Fabrik. Den Bezugspunkt dieser Entwicklungsreihe bilden die vier nach

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Sedlmayrs Auffassung noch durch „Gesamtaufgaben“ (wie z.B. die Kathedrale oder die Fürstenresidenz) zusammengehaltenen älteren Stilepochen Romanik, Gotik, Renaissance und Barock, sodass im zweiten Teil des Buchs „Diagnose und Verlauf“ die um 1760 beginnende Moderne (als deren Hauptkennzeichen Sedlmayr die Autonomisierung des Menschen und dessen Loslösung von Gott und Religion sah) philosophisch als Auflösung der geistigen Ordnung, moralisch als Absturz ins Unmenschliche und ästhetisch als Ende der Stilgeschichte erscheint. Der abschließende Teil „Zur Prognose und Entscheidung“ formuliert die Erwartung, dass die Moderne „als Ganzes gesehen, gerade auch im Chaotischen, den Charakter eines ‚geschlossenen‘ Zeitalters“ gewinnen kann. Vorläufig erweist sich als ihr einigendes Kriterium aber allein das (von Sedlmayr persönlich wohl tatsächlich so empfundene) Leiden an einer Gottferne, die nirgends so zum Ausdruck kommt wie in Kunst und Architektur. Diese in moralische und religiöse Kategorien eingekleidete leidenschaftliche Kritik an der modernen Kunst und am Neuen Bauen als Ausdruck eines Wertezerfalls fand in den 1950er Jahren die begeisterte Zustimmung konservativer und traditionalistischer Kreise. Sie forderte aber neben fachspezifischer Kritik an der Methode auch ebenso erbitterten Widerspruch heraus (etwa im 1. Darmstädter Gespräch durch Künstler wie den bis 1945 als „entartet“ verfemten Maler Willi Baumeister), der immer wieder erneuert wurde und bis heute anhält. (Angaben nach: http://www.litde.com/autoren/sedlmayr-hans.php)

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Cäsar Pinnau (1906-1988) Architekt

Pinnau stammte aus einer Hamburger Handwerkerfamilie. Nach seiner Schulausbildung machte er ab 1921 eine vierjährige Tischlerlehre in der Werkstatt seines Vaters. Als Tischlergeselle arbeitete er zunächst in einer Hamburger Einrichtungsfirma, danach in einer Berliner Möbelfabrik. Ab 1927 begann er mit dem Studium der Innenarchitektur und Architektur an der Kunstgewerbeschule in Berlin. Noch im selben Jahr ging er nach München, wo er an der Staatlichen Hochschule für Angewandte Kunst bei Richard Berndl, Emil Praetorius und dem Bildhauer Josef Wackerle studierte. Studienaufenthalte in Italien folgten. 1930 wurde er Mitarbeiter von Fritz August Breuhaus de Groot, bis 1932 in Düsseldorf, danach bis 1937 in Berlin. In dieser Zeit traf er zum ersten Mal auf eine exklusive Klientel, für die er Repräsentationsvillen und Inneneinrichtungen entwarf. Daneben gestaltete er 1931-1932 den Passagiertrakt des Luftschiffes LZ 129 “Hindenburg”. „Wegen seiner qualitativen Facharbeit, seines handwerklichen Könnens bei der Ausstattung von Breuhausschen Villen für die Größen aus Wirtschaft und Partei“ wurde Albert Speer auf ihn aufmerksam. Ab 1937 erhielt er als selbständiger Architekt zahlreiche Aufträge von Speer, darunter 1938 die Innengestaltung der Neuen Reichskanzlei und die Planung von Bauten für das Projekt Nord-Süd-Achse in Berlin Anfang der 40er Jahre (2000-Betten-Hotel am geplanten Südbahnhof). Diese Arbeit für Speer und für die Machthaber des Dritten Reichs brachte ihm nach dem Ende des NS-Regimes lebenslange Kritik und Ablehnung ein, schadete seinem Erfolg als Architekt aber nicht wesentlich. Nach 1945 eröffnete er in Hamburg und Frankfurt/Main ein Architekturbüro. Seine Arbeiten basierten meist auf einer eher konservativen formalen Sprache, öffneten sich vor allem in den Bereichen Industriebau und Schiffsdesign aber auch für den International Style (Verwaltungsgebäude der Reederei Hamburg Süd, 1964). Material und Konstruktion seiner Gebäude waren von hoher Qualität und repräsentierten den sozialen Status einer gewöhnlich sehr wohlhabenden Klientel. Zu seinen Auftraggebern gehörten unter anderem die Familie Oetker, der Scheich von Kuwait und die griechischen Großreeder Stavros Niarchos und Aristoteles Onassis. Zu Pinnaus Tätigkeitsfeldern zählten neben Luxushäusern auch Hotels und Schiffe, wie z.B. der Innenausbau der Onassis-Yacht „Christina“ (1952) und die Schnellfrachter der „Cap-San“-Reihe der Reederei Hamburg-Süd (1960). Andere Großprojekte waren 1964 die Honigfabrik von Langnese in Hamburg-Bargteheide, die Binding-Brauerei in Frankfurt/Main und 1970 der Olympic-Tower an der 5th Avenue in New York (für die von Onassis finanzierte griechische Luftfahrtgesellschaft Olympic Airways. Ausgeführt wurde der Bau 1971-75 von SOM, mit diversen Änderungen). 1967 beauftragte ihn die Oetker-Familie mit der Projektleitung für die von Philip Johnson entworfene Kunsthalle Bielefeld. Pinnau baute sich in Hamburg zwei eigene Wohnhäuser: 1951 in Othmarschen (mit Reminiszenzen an US-amerikanische Südstaatenvillen ) und 1986 in Blankenese (als Manifest eines palladianischen Neoklassizisismus). 1973 verlegte er sein Atelier in das 1802 errichtete ehemalige Wohnhaus des königlich dänischen Staatsarchitekten Christian Frederik Hansen in Altona (Palmaille 116), das er zuvor aufwändig restauriert hatte.

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Literatur:

Ulrich Conrads (Hg.): Die Städte himmeloffen. Reden und Reflexionen über den Wiederaufbau des Untergegangenen und die Wiederkehr des Neuen Bauens 1948/49 (Bauwelt-Fundamente 125), Basel/Berlin 2003.

Ulrich Conrads (Hg.): Mensch und Raum. Das Darmstädter Gespräch 1951 mit den wegweisenden Vorträgen und Schwarz, Schweizer, Heidegger, Ortega y Gasset (Bauwelt-Fundamente 94), Braunschweig 1991.

Ulrich Conrads u. a. (Hg.): Die Bauhaus-Debatte 1953. Dokumente einer verdrängten Kontroverse (Bauwelt-Fundamente 100), Braunschweig/Wiesbaden 1994. Dokumentation einer leidenschaftlichen Debatte, die sich 1953 über mehrere Monate in der Zeitschrift „Baukunst und Werkform“ abspielte. Auslöser war ein Artikel von Rudolf Schwarz mit dem Titel „Bilde Künstler, rede nicht“, in dem er das Bauhaus und speziell Walter Gropius heftig und z.T. beleidigend kritisierte.

Hans-Jörg Czech, Vanessa Hirsch, Ullrich Schwarz (Hg.): Cäsar Pinnau. Zum Werk eines umstrittenen Architekten (Begleitbuch z. Ausst. Hamburg-Altona 2016), Hamburg 2016.

Werner Durth: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900 – 1970 (Schriften des Deutschen Architekturmuseums zur Architekturgeschichte und Architekturtheorie), Braunschweig/Wiesbaden 1986 (Taschenbuchausgabe 1992, Neuausgabe 2000). Standardwerk, u. a. mit ausführlicher Darstellung der Auseinandersetzung zwischen den Traditionalisten und Vertretern der Moderne („Stuttgarter Architektenstreit“, „Düsseldorfer Architektenstreit“) in der Frühphase der BRD. Durth weist nach, dass es nach 1945 auch auf dem Gebiet der Architektur eine „Stunde Null“ nicht gegeben hat.

Umberto Eco: Vom Cogito Interruptus; in: ders.: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München 1987, S. 245-265 (eine luzide Abrechnung mit Hans Sedlmayr [„Verlust der Mitte“] und Marshall MacLuhan („Understanding Media“).

Eduard Führ: Identitätspolitik. „Architect Professor Cesar Pinnau“ als Entwurf und Entwerfer, Berlin 2016.

Ulrich Höhns: Zwischen Avantgarde und Salon. Cäsar Pinnau 1906-1988. Architektur aus Hamburg für die Mächtigen der Welt, Hamburg 2015.

Internet: Willibald Sauerländer: Ein fundamentalistischer Jeremias. Über Hans Sedlmayr

(http://www.z-i-g.de/pdf/ZIG_3_2013_sauerlaender.pdf)

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

9. Vorlesung

Nach 1945 (II). Die DDR

Historische Daten

1945 (Potsdamer Konferenz) Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs

1946-1947 Schaffung der heutigen Bundesländer

1949 (Mai) Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone, (Oktober) Gründung der Deutschen Demokratischen Republik auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone. Damit Festschreibung der Teilung Deutschlands (bis 1990).

1950 (Januar) Treffen der Oberbürgermeister aller DDR-Großstädte sowie der wichtigsten Architekten des Landes in Berlin zur Beratung eines DDR-Baugesetzes. Zusammenstellung einer Delegation von Spitzenfunktionären der entstehenden Architektur- und Bauverwaltung der DDR für eine Reise nach Moskau, Kiew, Leningrad und Stalingrad. Ziel: Treffen mit sowjetischen Kollegen und Funktionären zum Kennenlernen des sowjetischen Systems, um daraus Grundlagen für den Wiederaufbau der zerstörten Städte der DDR zu entwickeln. Die Reise fand vom 12. April bis 25. Mai 1950 statt. Teilnehmer waren Kurt Walter Leucht vom städtischen Planungsamt Dresden, Edmund Collein als Leiter des Stadtbauamtes von Ost-Berlin, Aufbauminister Lothar Bolz, Hauptabteilungsleiter Walter Pisternik, Waldemar Alder vom Industrieministerium und Kurt Liebknecht, Direktor für Städtebau und Hochbau im Aufbauministerium. Die sowjetischen Planer kritisierten die bisherigen Wiederaufbaupläne für die DDR heftig und forderten die Anwendung der stalinistischen Kunst- und Architekturdoktrinen (Sozialistischer Realismus, „Nationale Tradition“)

Ihre Vorgaben mündeten in die „16 Grundsätze des Städtebaus“, noch in der Sowjetunion verfasst.

1950 „Gesetz zum Aufbau der Städte in der Deutschen Demokratischen Republik“, das die „16 Grundsätze“ für die Stadtplanung als verbindlich erklärte.Neben Berlin hatten die wichtigsten Industriezentren, Dresden, Leipzig, Magdeburg, Chemnitz, Dessau, Rostock, Wismar und Nordhausen Vorrang beim Aufbau.

1951 Gründung der Deutschen Bauakademie

1953 Tod Josef Stalins. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (1894-1971) wird Parteichef der KPdSU und später (1958) auch Regierungschef der Sowjetunion (bis 1964).Er initiiert zahllose Reformen, vor allem in Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, Bildung und Kultur.

1954 Grundsatzrede Chruschtschows auf der Allunionskonferenz der Bauschaffenden der UdSSR in Moskau; Slogan: „Besser, billiger und schneller bauen“. Programm einer offiziellen Abkehr von den stalinistischen Doktrinen und einer Hinwendung zum industrialisierten Bauen, wird im Folgenden nach und nach auch in den von der Sowjetunion abhängigen Staaten durchgesetzt.

1958 Kongress der Union Internationale des Architectes (UIA) in Moskau; Oberthema „Konstruktion und Rekonstruktion“.

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1960 23. (außerordentliche) Plenartagung der Deutschen Bauakademie (Thema: Die Aufgaben der Bauforschung im Siebenjahrplan und die Veränderung der Arbeitsweise der Deutschen Bauakademie); 25. Plenartagung der Deutschen Bauakademie (Thema: Probleme d. Städtebaus u. d. Architektur im Siebenjahrplan), publiziert als „1. Theoretische Konferenz der Deutschen Baukademie“: Umstrukturierung der Deutschen Bauakademie, offizielle Hinwendung der DDR zur internationalen Architekturmoderne.

Deutsche Bauakademie 1951 Gründung als Zusammenlegung des bis dahin von Hans Scharoun geleiteten Instituts für

Bauwesen bei der Berliner Akademie der Wissenschaften und des 1949 geschaffenen Instituts für Städtebau und Hochbau beim Aufbauministerium der DDR. Ziel: Schaffung einer zentralen Regelungs- und Bewertungsinstanz für das Bauwesen der DDR, die in allen Fragen der Bautechnik und Normung, der Architektur und des Städtebaus das letzte Wort hatte. Gründungsdirektor wird der Architekt Kurt Liebknecht, ein früherer Mitarbeiter von Ludwig Mies van der Rohe und Hans Poelzig, der 15 Jahre seines Berufslebens in der UdSSR verbracht hatte.

Im Gegensatz zu einer traditionellen Akademie der Wissenschaften war die DBA nicht als Beratungsgremium für die Politik konzipiert, sondern als eine straff organisierte Denkfabrik, deren Überlegungen normativen Charakter trugen und möglichst bruchlos in das landesweite Planungsgeschehen übertragen werden sollten. Dem Muster der Moskauer Allunionsakademie für Architektur folgend, war sie zunächst in fünf mit Promotionsrecht versehene Forschungsinstitute untergliedert (Theorie und Geschichte der Baukunst, Städtebau und Landesplanung, Hoch- und Industriebau, Technik und Wirtschaft im Bauwesen, Innenraumgestaltung), deren Personal ab der mittleren Führungsebene die offiziell verliehenen Titel »Wissenschaftliche(r) Mitarbeiter(in)« bzw. »Wissenschaftliche(r) Assistent(in)« führen durfte. Hinzu kamen drei von Hermann Henselmann, Hanns Hopp und Richard Paulick geleitete »Meisterwerkstätten«, deren Aufgabe es war, anhand symbolkräftiger Bauprojekte gestalterisch-technische Vorgaben zu entwickeln und darauf hinzuwirken, dass diese überregional Berücksichtigung fanden. Die große Bedeutung dieser Meisterwerkstätten wird an dem Umstand deutlich, dass sie mit zusammen 359 Beschäftigten personell wesentlich besser ausgestattet waren als die Forschungsinstitute mit 232 Beschäftigten. Aufgrund der anfänglich geringen Organisationstiefe des Akademiebetriebs und der hohen Arbeitsbelastung der drei »Meister«, die neben ihrer praktischen Architektentätigkeit jeweils auch noch eines der Forschungsinstitute leiteten und in keiner der beiden Funktionen ersetzbar waren, scheiterte dieses System aber schon nach sehr kurzer Zeit: Ende 1952 wurden die Meisterwerkstätten aufgelöst und stattdessen drei weitere Forschungsinstitute eingerichtet (Wohnungsbau, Architektur ländlicher Bauten, Nachwuchsentwicklung); die Zahl der Beschäftigten sank auf insgesamt 464. Die bei der Gründung der DBA angestrebte lebensweltliche Verbindung zwischen Theorie und Praxis war damit nicht mehr gegeben, und das Gleiche galt auch für die Außenwirkung in Form von Bauten, die unmittelbar aus der Akademie heraus realisiert wurden. Der Kernauftrag der Akademie, Leitlinien zur Gestaltung der baulichen Umwelt in der DDR festzusetzen, blieb aber unverändert bestehen, was dazu führte, dass die DBA sich neu ausrichten musste. Neben der Konzeption von Ausstellungen, von denen manche auf die Reise gingen, konzentrierte sich ihre öffentlich sichtbare Arbeit fortan vor allem auf den schon bei der Gründung formulierten Publikationsauftrag, der nun zum eigentlichen Daseinszweck der Akademie wurde.

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16 Grundsätze des Städtebaus „Von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik am 27. Juli 1950 beschlossen: Die Stadtplanung und die architektonische Gestaltung unserer Städte müssen der gesellschaftlichen Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik, den fortschrittlichen Traditionen unseres deutschen Volkes sowie den großen Zielen, die dem Aufbau ganz Deutschlands gestellt sind, Ausdruck verleihen. Dem dienen die folgenden Grundsätze:

1. Die Stadt als Siedlungsform ist nicht zufällig entstanden. Die Stadt ist die wirtschaftlichste und kulturreichste Siedlungsform für das Gemeinschaftsleben der Menschen, was durch die Erfahrung von Jahrhunderten bewiesen ist. Die Stadt ist in Struktur und architektonischer Gestaltung Ausdruck des politischen Lebens und des nationalen Bewußtseins des Volkes.

2. Das Ziel des Städtebaues ist die harmonische Befriedigung des menschlichen Anspruchs auf Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung. Die Grundsätze der Methoden des Städtebaues fußen auf den natürlichen Gegebenheiten, auf den sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen des Staates, auf den höchsten Errungenschaften von Wissenschaft, Technik und Kunst, auf den Erfordernissen der Wirtschaftlichkeit und auf der Verwendung der fortschrittlichen Elemente des Kulturerbes des Volkes.

3. Städte ‚an sich‘ entstehen nicht und existieren nicht. Die Städte werden in bedeutendem Umfange von der Industrie für die Industrie gebaut. Das Wachstum der Stadt, die Einwohnerzahl und die Fläche werden von den städtebildenden Faktoren bestimmt, das heißt von der Industrie, den Verwaltungsorganen und den Kulturstätten, soweit sie mehr als örtliche Bedeutung haben. In der Hauptstadt tritt die Bedeutung der Industrie als städtebildender Faktor hinter der Bedeutung der Verwaltungsorgane und der Kulturstätten zurück. Die Bestimmung und Bestätigung der städtebildenden Faktoren ist ausschließlich Angelegenheit der Regierung.

4. Das Wachstum der Stadt muß dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit untergeordnet werden und sich in bestimmten Grenzen halten. Ein übermäßiges Wachstum der Stadt, ihrer Bevölkerung und ihrer Fläche führt zu schwer zu beseitigenden Verwicklungen ihrer Struktur, zu Verwicklungen in der Organisation des Kulturlebens und der täglichen Versorgung der Bevölkerung und zu betriebstechnischen Verwicklungen sowohl in der Tätigkeit wie in der Weiterentwicklung der Industrie.

5. Der Stadtplanung zugrunde gelegt werden müssen das Prinzip des Organischen und die Berücksichtigung der historisch entstandenen Struktur der Stadt bei Beseitigung ihrer Mängel.

6. Das Zentrum bildet den bestimmenden Kern der Stadt. Das Zentrum der Stadt ist der politische Mittelpunkt für das Leben seiner Bevölkerung. Im Zentrum der Stadt liegen die wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten. Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt.

7. Bei Städten, die an einem Fluß liegen, ist eine der Hauptadern und die architektonische Achse der Fluß mit seinen Uferstraßen.

8. Der Verkehr hat der Stadt und ihrer Bevölkerung zu dienen. Er darf die Stadt nicht zerreißen und der Bevölkerung nicht hinderlich sein. Der Durchgangsverkehr ist aus dem Zentrum und dem zentralen Bezirk zu entfernen und außerhalb seiner Grenzen oder in einem Außenring um die Stadt zu führen. Anlagen für den Güterverkehr auf Eisenbahn und Wasserwegen sind gleichfalls dem zentralen Bezirk der Stadt fernzuhalten. Die Bestimmung der Hauptverkehrsstraßen muß die Geschlossenheit und die Ruhe der Wohnbezirke berücksichtigen. Bei der Bestimmung der Breite der Hauptverkehrsstraßen ist zu berücksichtigen, dass für den städtischen Verkehr nicht die Breite der Hauptverkehrsstraßen

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von entscheidender Bedeutung ist, sondern eine Lösung der Straßenkreuzungen, die den Anforderungen des Verkehrs gerecht wird.

9. Das Antlitz der Stadt, ihre individuelle künstlerische Gestalt, wird von Plätzen, Hauptstraßen und den beherrschenden Gebäuden im Zentrum der Stadt bestimmt (in den größten Städten von Hochhäusern). Die Plätze sind die strukturelle Grundlage der Planung der Stadt und ihrer architektonischen Gesamtkomposition.

10. Die Wohngebiete bestehen aus Wohnbezirken, deren Kern die Bezirkszentren sind. In ihnen liegen alle für die Bevölkerung des Wohnbezirks notwendigen Kultur-, Versorgungs- und Sozialeinrichtungen von bezirklicher Bedeutung. Das zweite Glied in der Struktur der Wohngebiete ist der Wohnkomplex, der von einer Gruppe von Häuservierteln gebildet wird, die von einem für mehrere Häuserviertel angelegten Garten, von Schulen, Kindergärten, Kinderkrippen und den täglichen Bedürfnissen der Bevölkerung dienenden Versorgungsanlagen vereinigt werden. Der städtische Verkehr darf innerhalb dieser Wohnkomplexe nicht zugelassen werden, aber weder die Wohnkomplexe noch die Wohnbezirke dürfen in sich abgeschlossene isolierte Gebilde sein. Sie hängen in ihrer Struktur und Planung von der Struktur und den Forderungen der Stadt als eines Ganzen ab. Die Häuserviertel als drittes Glied haben dabei hauptsächlich die Bedeutung von Komplexen in Planung und Gestaltung.

11. Bestimmend für gesunde und ruhige Lebensverhältnisse und für die Versorgung mit Licht und Luft sind nicht allein die Wohndichte und die Himmelsrichtung, sondern auch die Entwicklung des Verkehrs.

12. Die Stadt in einen Garten zu verwandeln, ist unmöglich. Selbstverständlich muß für ausreichende Begrünung gesorgt werden. Aber der Grundsatz ist nicht umzustoßen: In der Stadt lebt man städtischer, am Stadtrand oder außerhalb der Stadt lebt man ländlicher.

13. Die vielgeschossige Bauweise ist wirtschaftlicher als die ein- oder zweigeschossige. Sie entspricht auch dem Charakter der Großstadt.

14. Die Stadtplanung ist die Grundlage der architektonischen Gestaltung. Die zentrale Frage der Stadtplanung und der architektonischen Gestaltung der Stadt ist die Schaffung eines individuellen, einmaligen Antlitzes der Stadt. Die Architektur verwendet dabei die in den fortschrittlichen Traditionen der Vergangenheit verkörperte Erfahrung des Volkes.

15. Für die Stadtplanung wie für die architektonische Gestaltung gibt es kein abstraktes Schema. Entscheidend ist die Zusammenfassung der wesentlichen Faktoren und Forderungen des Lebens.

16. Gleichzeitig mit der Arbeit am Stadtplan und in Übereinstimmung mit ihm sind für die Planung und Bebauung bestimmter Stadtteile sowie von Plätzen und Hauptstraßen mit den anliegenden Häuservierteln Entwürfe fertigzustellen, die in erster Linie durchgeführt werden können.“

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Biografische Daten:

Hermann Henselmann (1905-1995) Architekt

1923-1926 Studium an der Kunstgewerbeschule Berlin

1926-1930 Mitarbeiter bei Arnold Bruhns in Kiel und Leo Nachtlicht in Berlin

1945-1949 Direktor der Hochschule für Bildende Künste in Weimar

1953-1959 Chefarchitekt beim Magistrat von Groß-Berlin (= Ost-Berlin)

1959-1964 Chefarchitekt des Instituts für Sonderbauten der Deutschen Bauakademie

1964-1967 Chefarchitekt des Instituts für Typenprojektierung der Deutschen Bauakademie

1967-1972 Chefarchitekt des Instituts für Städtebau und Architektur der Deutschen Bauakademie

Hermann Henselmann ist Sohn eines Holzbildhauers und soll eigentlich den elterlichen Betrieb übernehmen. Er absolviert eine Tischlerlehre und kommt dadurch mit dem Kunsthandwerk in Kontakt. Nach Abschluss der Lehre beginnt er ein Studium an der Kunstgewerbeschule in Berlin. Nebenher arbeitet er als Zeichner für Architekten und findet bei Arnold Bruhns eine Anstellung für den Bau des Kieler Gewerkschaftshauses, nach dessen Fertigstellung er nach Berlin zurückkehrt und eine Anstellung im Büro von Leo Nachtlicht findet, einem der progressivsten Berliner Architekten in den 1920er Jahren. Ein solcher Werdegang ohne akademisches Studium, dafür mit einer handwerklichen und architektonischen Lehrzeit, ist in diesen Jahren nicht ungewöhnlich ( vgl. Le Corbusier).

Über den befreundeten ungarischen Filmarchitekten Alexander Ferenczy erhält Henselmann 1930 den Auftrag für die Villa Ken-Win, einen radikal modernen, gestalterisch an Le Corbusier orientierten Bau in Montreux (CH), und eröffnet ein eigenes Architekturbüro . In der Folgezeit erhält er weitere Aufträge für Einfamilienhäuser in Berlin und Umgebung. Über das Haus vom Hoff, das 1934 aufgrund "kulturbolschewistischer Haltung" wieder abgerissen werden sollte, gerät Henselmann in Konflikt mit dem NS-Regime und tritt deswegen nicht der Reichskulturkammer bei. Seine selbstständige Tätigkeit muss er daraufhin aufgeben; er wird angestellter Architekt in den auf Industriebau spezialisierten Büros von Carl Brodführer und Werner Issel.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs findet Henselmann eine Anstellung beim Wiederaufbau kriegszerstörter Bauerngehöfte im Wartheland, im Auftrag des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Durch eine Denunziation muss er diese Tätigkeit aufgeben; um dem Kriegsdienst zu entgehen, wird er Büroleiter bei Godber Nissen und leitet den Bau der Avia-Flugzeugmotorenwerke in der Nähe von Prag. Kurz vor Kriegsende flüchtet Henselmann mit seiner Familie nach Gotha, wo er in Kontakt mit kommunistischen Widerstandskämpfern

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kommt. Nach Einrichtung der sowjetischen Besatzungszone beteiligt er sich an der Gründung eines antifaschistischen Komitees und wird Kreisbaurat von Gotha. Bereits im Juli 1945 wird er zum Direktor der Hochschule für Baukunst und bildende Künste in Weimar berufen. Das von Henselmann erarbeitete Lehrkonzept mit je vier Lehr- und Produktionssemestern, das in der Tradition des Bauhauses steht, wird nach heftiger Debatte (u. a. wegen der Entlassung sämtlicher Lehrkräfte aus der NS-Zeit, allen voran Paul Schultze-Naumburg) genehmigt und die Hochschule im August 1946 wiedereröffnet. Henselmann stellt die neuen gesellschaftlichen Aufgaben der Architektur aus sozialistischem Blickwinkel in den Vordergrund, was sich in Aufgabenstellungen für Typen-Entwürfe äußert. Nach nur vier Jahren verlässt Henselmann im Sommer 1949 die Hochschule aber wieder und geht an das Institut für Bauwesen der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, das 1951 in der neugegründeten Deutschen Bauakademie aufgeht. Hier übernimmt er 1951 die Leitung der Meisterwerkstatt I und wird, zusammen mit den Meisterwerkstätten II und III, geleitet von Hanns Hopp und Richard Paulick, zu Entwürfen für die Bebauung der Stalinallee aufgefordert. Sein zunächst der internationalen Moderne verpflichteter Entwurf für das Hochhaus an der Weberwiese erregt Widerspruch in den politischen Instanzen, sodass Henselmann den Entwurf nach traditionellen, am Klassizismus Karl Friedrich Schinkels orientierten Motiven überarbeitet und damit die "nationale Tradition" als offiziellen Architekturstil prägt. Neben dem Bautenensemble an der Weberwiese plant Henselmann an der Stalinallee die Bebauung am Strausberger Platz und am Frankfurter Tor.

1953 wird Henselmann zum "Chefarchitekten von Groß-Berlin" ernannt. Auf der Basis seines 1958 erstellten Raumordnungsplans für Berlin findet 1959 der Wettbewerb zur "sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der Hauptstadt der DDR" statt, bei dem er überraschend einen Entwurf für einen 300 Meter hohen "Turm der Signale" präsentiert. Von der SED zunächst heftig kritisiert, wird dieser Turm zehn Jahre später in abgewandelter Form am Alexanderplatz realisiert. Auf eigenen Wunsch übernimmt Henselmann 1959 die Leitung des Instituts für Sonderbauten der Deutschen Bauakademie. Mit dem "Haus des Lehrers" (1961-1964) am Alexanderplatz leitet Henselmann einen Paradigmenwechsel der DDR-Architektur ein, fort vom stalinistischen Neoklassizismus hin zu einer durch industrielle Bauweisen geprägten internationalen Moderne. Eine verstärkte Auseinandersetzung mit Bedingungen der Vorfertigung leistet Henselmann dann 1964-1967 als Chefarchitekt des Instituts für Typenprojektierung der Deutschen Bauakademie (Wohnbebauung am Leninplatz, heute Platz der Vereinten Nationen in Berlin). Die Bauten, die Henselmann in den 1960er Jahren entwirft, sind im Übrigen sehr zeichenhaft, was die Identifikation mit dem jeweiligen Ort ermöglichen sollte. In der Position als Chefarchitekt des Instituts für Städtebau und Architektur und Leiter der Experimentalwerkstatt der Bauakademie, die er bis zu seiner Emeritierung 1972 innehat, entwirft er markante Hochhaus-Dominanten für mehrere Städte, von denen die Universitäts-Hochhäuser in Leipzig und Jena realisiert werden.

(nach: Jan Lubitz: http://www.architekten-portrait.de/hermann_henselmann/ )

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Literatur:

Publikationen der Deutschen Bauakademie in Berlin (DDR) und der mit ihr verbundenen Verlage, vor allem aus den 1950er Jahren (zusammengefasst bei: Wolfgang Tripmacker: Bibliographie Bauwesen - Architektur - Städtebau : Veröffentlichungen der Bauakademie 1951 bis 1991, München 1993). Beispiele:

o Schöne Städte für ein schönes Leben (Reden des DDR-Aufbauministers Lothar Bolz, 1950),

o Für einen fortschrittlichen Städtebau (1951), o Fragen der deutschen Architektur (1952), o Die Aufgaben der deutschen Bauakademie im Kampf um eine deutsche Architektur

(1952), o Deutsche Baukunst in zehn Jahrhunderten (1952), o Deutsche Architekten sahen die Sowjetunion (1952), o Architektur der Völker der Sowjetunion (1953), o Programmerklärung der Deutschen Bauakademie und des Bundes deutscher

Architekten zur Verteidigung der Einheit der deutschen Architektur (1953), o Deutsche Bauakademie 1951-1953 (1953), o Die nationalen Aufgaben der deutschen Architektur (1954), o Neuzeitliches Bauen I-III (1954), o Besser leben – schöner wohnen. Raum und Möbel (1954), o Der Wohnkomplex (1954), o Architektur und Städtebau in der DDR (1959; hohe Auflage und entsprechend weite

Verbreitung), o Jahrbuch der Deutschen Bauakademie (1961; als Beginn einer Buchreihe geplant, die

aber nicht zustande kam), o Zeitschrift „Deutsche Architektur“ (ab 1951; ab 1971 „Architektur der DDR“)

Publikationen des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei Berlin (institutioneller Nachfolger und Archiv der Deutschen Bauakademie, sammelt und verwaltet auch zahlreiche Nachlässe von DDR-Architekten). Beispiel:

o Holger Barth, Thomas Topfstedt u.a. (Hg.): Vom Baukünstler zum Komplexprojektanten. Architekten in der DDR. Dokumentation eines IRS-Sammlungsbestandes biografischer Daten, Erkner 2000.

Außerdem:

Andreas Butter: Neues Leben, neues Bauen. Die Moderne in der Architektur der SBZ/DDR 1945 bis 1951, Berlin 2006.

Werner Durth, Jörn Düwel, Niels Gutschow: Architektur und Städtebau der DDR; Bd. 1:, Ostkreuz : Personen, Pläne, Perspektiven; Bd. 2: Aufbau : Städte, Themen, Dokumente, Frankfurt am Main 1998 (2. Aufl. 1999).

Bruno Flierl: Gebaute DDR. Über Stadtplaner, Architekten und die Macht. Berlin, 1998.

Thomas Flierl (Hg.): List und Schicksal der Ost-Moderne : Hermann Henselmann zum 100. Geburtstag, Berlin 2008 (Buch und dazu Dokumentarfilm auf DVD).

Alexander Karrasch: Die "Nationale Bautradition" denken : Architekturideologie und Sozialistischer Realismus in der DDR der Fünfziger Jahre, Berlin 2015.

Elmar Kossel, Adrian v. Buttlar (Hg.): Hermann Henselmann und die Moderne : eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR, Königstein im Taunus 2013.

Hans-Georg Lippert: Klassisches Erbe. Zum Begriff der Nationalen Tradition in der frühen DDR; in: Kai Krauskopf, Hans-Georg Lippert, Kerstin Zaschke (Hg.): Neue Tradition (I). Konzepte einer antimodernen Moderne in Deutschland von 1920 bis 1960, Dresden 2009, S. 327-357.

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Wolfgang Schäche (Hg.): Hermann Henselmann. „Ich habe Vorschläge gemacht“, Berlin 1995.

Friederike Schlender: Meister architektonischer Kurswechsel : der Teilnachlass Hermann Henselmann in der SLUB (Online-Ressource SLUB Dresden).

Friederike Schlender: Spezialkatalog zum schriftlichen Nachlass Hermann Henselmann - Mscr.Dresd.App.2817 : Architekt; geboren am 03.02.1905 in Roßla/Harz, gestorben am 19.01.1995 in Berlin (Online-Ressource SLUB Dresden).

Klaus-Jürgen Winkler (Hg.): Neubeginn. Die Weimarer Bauhochschule nach dem Zweiten Weltkrieg und Hermann Henselmann, Weimar 2005.

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TU Dresden, Fakultät Architektur Prof. Dr. Hans-Georg Lippert Vorlesung Baugeschichte (G+T AKA, WA I/II) Wintersemester 2016/17 Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert 10. Vorlesung Nach 1945 (III). Frankreich Historische Daten und allgemeine Informationen Oktober 1944 Schaffung des Ministère de la reconstruction et de l’urbanisme (MRU)

Aufbau des MRU faktisch aus Verwaltungsabteilungen (DGEN + CTRI) der Vichy-Regierung DGEN Délégation générale à l’équipement national (Generaldelegation für nationale Einrichtungen) CTRI Commissariat technique à la reconstruction immobilière (Technisches Kommissariats für Immobilienwiederaufbau)

Aufgaben des MRU: − Kontrolle und Genehmigung der Flächennutzungspläne und des Wiederaufbaus − Überwachung von Ausschreibung und Auftragsvergabe − Vergabe von zweckgebundenen Krediten für Notinstandsetzungen − Einrichtung von provisorischen Barackensiedlungen für Kriegsgeschädigte

Nachfolgend Schaffung der DDR Délegation départementales de la reconstruction (Departement-Delegation für den Wiederaufbau) Hierarchie nach unten

Minister für Wiederaufbau und Städtebau (u.a.) 16.11.1944 - 20.01.1946 Raoul Dautry 11.09.1948 - 07.01.1953 Eugène Claudius-Petit

Ab November 1944 Berufung von Stadtplanern und Architekten für den Wiederaufbau 1945 Einrichtung des Conseil d'architecture (Architekturbeirat) 7 Mitglieder direkt vom Minister ernannt und diesem zugeordnet anfangs alle französischen Architekturströmungen: « moderne »: Le Corbusier (Funktionalist) André Lurçat (Architekt der „Front national des architectes résistants“) « classique »: Félix Madeline + André Leconte (École des Beaux-Arts), Henri Pacon (EdBAs, „Weggefährte“ Dautrys), Pierre Paquet (Monuments historiques et Bâtiments civils) « rationnelle»: Auguste Perret Nachfolgend Institutionalisierung des Architekturbeirats 1950 Gründung der Architectes Conseils de la Construction (Bauberatende Architekten) = Erweiterung und Institutionalisierung der Architekturberatung Genehmigung von Bauanträgen, Beratung je nach Persönlichkeit beratend oder lehrerhaft korrigierend 1954 Schaffung des Corps des architectes conseils (Abteilung der beratenden Architekten) = eigene Abteilung für Bauberatung mit Unterabteilungen auf Département-Ebene Ab der dritten Amtszeit von Charles de Gaulle (1.6.1958 - 8.1.1959) ist Wiederaufbau nicht mehr Bestandteil eines offiziellen Titels eines Ministeriums.

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CIAM

• 1928, CIAM I, La Sarraz, Schweiz – Konstituierung des CIRPAC (Comité International pour la Réalisation du Problème Architectural Contemporain)

• 1929, CIAM II, Frankfurt am Main – „Die Wohnung für das Existenzminimum“ - Verabschiedung der Frankfurter Statuten (Congrès als Hauptversammlung, CIRPAC als Problemlösungskomitee, drei Arbeitsgruppen). Bildung nationaler Sektionen. Den Vorsitz hatte Ernst May

• 1930, CIAM III, Brüssel – „Rationelle Bebauungsweisen“ - Befassung mit dem Problem der Grundstücksbeschaffung

• 1933, CIAM IV, an Bord der Patris zwischen Marseille und Athen – „Die funktionale Stadt“ (ursprünglich „Die Funktionelle Stadt“). Hier wurde außerdem die berühmte Charta von Athen beschlossen.

• 1937, CIAM V, Paris – „Wohnung und Erholung“ • 1947, CIAM VI, Bridgewater, England – „Wiederaufbau der Städte“ • 1949, CIAM VII, Bergamo – „Kunst und Architektur“ • 1951, CIAM VIII, Hoddesdon, England – „The Heart of the City“ („Das Herz der Stadt“) -

Auseinandersetzung mit den von den CIAM zuvor vernachlässigten Funktionen des Stadtzentrums

• 1953, CIAM IX, Aix-en-Provence – „Habitat“ • 1956, CIAM X, Dubrovnik – „Habitat“ - Herausforderung durch die jüngere Architektengruppe

Team X • 1959, CIAM XI, Otterlo, organisiert vom Team X, danach Auflösung des CIAM

Hinweis: MRU + DDR meist Absolventen der École polytechnique + der École des Ponts et Chaussées

− dem Verteidigungsministerium unterstellt − nationale Auswahlverfahren fürs Studium − „Schüler“ = Militärs

− Aufnahmejahr = X (z. B. X1900) 10 Besten = Möglichkeit, an der École nationale supérieure des mines zu studieren Abschluss = X–Mines (polytechnique + Mines), auch corpsarts davon 20-30/Jahr = Möglichkeit, an der École nationale des ponts et

chaussées zu studieren Abschluss = X-Ponts !!! Alle X werden für den hohen Staatsdienst ausgebildet. !!! Auch Ausbildung ohne X (= ohne Militärdienst) möglich ≠ Staatsdienst Privatwirtschaft

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Behandelte Städte Saint-Dié -des-Vosges Chef-Stadtplaner + -Architekt des Wiederaufbaus: Jacques André (1945-12/1945), Raymond Malot

(ab 12/1945) unrealisierte Wiederaufbauplanungen von Le Corbusier im Sinne eines modernen Städtebaus November 1944 von der sich zurückziehenden deutschen Wehrmacht systematisch zerstört

Bitte von Jean-Jacques Duval, Industrieller in Saint-Dié, an Le Corbsier. den Wiederaufbau von Saint-Dié zu übernehmen

Februar 1945 Jacques André, Architekt aus Nancy, vom MRU als Chef-Stadtplaner und -Architekt von Saint-Dié ernannt

1. März 1945 auf Wunsch einer Vereinigung von Industriellen, initiiert von Duval, schlägt das MRU als Kompromiss vor, Le Corbusier als Urbaniste-Conseil de la Ville (Beratender Stadtplaner) zu berufen

Ende März 1945 erste Skizzen von Le Corbusier 20. April 1945 Stadtverwaltung von Saint-Dié ernennt auf Grundlage des Kompromissvorschlages des

MRU Le Corbusier offiziös als Urbaniste-Conseil de la Ville (Beratender Stadtplaner) 14. Mai-28. Juni erstes abgeschlossenes Projekt von Le Corbusier 26. Juli 1945 Pläne dem Ministerium vorgelegt Mai + Juli 1945 Vorentwürfe von Jacques André August 1945 von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt 6. Sept. 1945 Informations- und Meinungsaustausch von André und Le Corbusier Ende 9/1945 Gegenprojekt von Paul Résal auf Initiative einer Kriegsgeschädigtenvereinigung Oktober 1945 Vorlage eigener, vollständiger städtebaulicher Planungen von Le Corbusier von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt 27. Dez. 1945 Rücktritt von Jacques André Nachfolger: Raymond Malot 3. Febr. 1946 Wiederaufbaupläne auf Grundlage der Planungen Andrés (= viertes Vorprojekt)

dem Stadtrat präsentiert 15. März 1946 nach einigen Überarbeitungen von der Commission technique du Comité

national d’urbanisme Oktober 1946 vom Stadtrat endgültig angenommen Saint-Malo (Dep. Ille-et-Vilaine) Chef-Stadtplaner + -Architekt des Wiederaufbaus: Marc Brillaud de Laujardière (1944-1946) Raymond Puthomme (1946-Mai 1947) Chef-Architekt des Wiederaufbaus: Louis Arretche (ab Mai 1947) Wiederaufbau „à l’identique“ August 1944 durch Bombenangriff fast komplett zerstört November 1944 Marc Brillaud de Laujardière zum Chef-Stadtplaner + -Architekt des Wiederaufbaus

von Saint-Malo berufen Dezember 1944 erster Wiederaufbauplan von Marc Brillaud de Laujardière große Straßendurchbrüche, Verbreiterung weiterer Straßen bis auf 8 m,

Zeilenbau max. 3 Obergeschosse plus Dach, sachliche Fassaden Auseinandersetzungen Vereinigung der Geschädigten forderte „Style malouin“ 12 Februar 1946 Stadtrat bestätigt Vor-Entwurf: moderner, zeitgemäßer Wiederaufbau 1946 - städtebaulicher Wiederaufbauplan vom MRU bestätigt - Brillaud de Laujardière als Chef-Stadtplaner des Wiederaufbaus nach Caen berufen Raymond Puthomme, Chef-Architekt des Arrrondissement Saint-Malo, jetzt auch für

die Stadt zuständig Mai 1947 Louis Arretche als Chef-Architekt des Wiederaufbaus berufen Modifikationen der Planung

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Le Havre (Seine-Maritime) Chef-Stadtplaner des Wiederaufbaus: Félix Bruneau (1941-7/1946), Henri Bahrman (7/1946- Chef-Architekt des Wiederaufbaus für das Stadtzentrum: Auguste Perret (1945-1954) ‚rationeller‘ Wiederaufbau nach den Theorien des strukturellen Klassizismus auf einem Raster von 6,24 m

als architektonisches Gesamtkunstwerk 1940, v.a. 1944 v.a. durch allierte Bomberangriffe zerstört Februar 1941 Félix Bruneau mit städtebauliche Wiederaufbauplanungen beauftragt ab 1943 Ideen von den Perret-Schülern Jacques Guilbert und Pierre-Edouard Lambert zur

Gründung eines Wiederaufbau-Ateliers mit Schülern und unter Leitung ihres Lehrers Perret

ab Frühjahr 1944 Gründung des „Atelier de Reconstruction Auguste Perret“ Ende Jan. 1945 das „Atelier de Reconstruction Auguste Perret“ wird von Dautry für die Leitung der

Wiederaufbauplanungen von Le Havre gehandelt die Bevölkerung erfährt dies erst im August Mai 1945 Auguste Perret wird vom MRU inoffiziell zum Chefarchitekten des Wiederaufbaus

ernannt Beginn der Wiederaufbauplanungen 7. Juni 1945 Henri Colboc, Architekt in Le Havre, Rom-Preisträger, präsentiert mit

stillschweigender Zustimmung des Stadtplaners Bruneau und des Bürgermeisters Voisin seinen „streng privaten“ Wiederaufbauplan für das Stadtzentrum, der keinerlei offzielle Bedeutung hat.

20. Juli 1945 die Leitlinien der städtebaulichen Planungen von Bruneau vom Stadtrat bestätigt 26. Sept. 1945 nach Aufforderung durch MRU Präsentation der Wiederaufbauplanungen in einem

Geheimausschuss Bruneau: für die gesamte Stadt akzeptiert Perret: für das Stadtzentrum (auf 3,5m hoher Plattform, 6,5m-Raster…) abgelehnt 30. Nov. 1945 Präsentation von Baumassenplänen für das Stadtzentrum im Stadtrat durch Perret abgelehnt MRU um Vermittlung gebeten 18. Feb. 1946 Wiederaufbauminister François Billoux genehmigt die Planung Bruneau, fordert

Überarbeitung der Planung Perret keine Plattform, da zu aufwändig und kostspielig

28. Feb. 1946 nach Überarbeitungen mit Bahrman, Städteplaner beim MRU, endgültige Planungen von Bruneau durch Stadtrat angenommen, um die Realisierung der Architekturensembles entsprechend der definitiven Planungen Perrets zu ermöglichen

Juli 1946 Henri Bahrman folgt Félix Bruneau als Chefplaner für die Region Le Havre 18. August 1946 Wiederaufbauplanungen im Rahmen einer öffentlichen Anhörung der Bevölkerung

vorgestellt Dezember 1946 der städtebauliche Generalplan wird vom Stadtrat verabschiedet.

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Biographische Daten: Raoul Dautry (1880-1951) Ingenieur Spezialist in d. Leitung v. Verwaltung + Management, Politiker „apolitischer Technokrat“ 1902 Abschluss École polytechnique de Paris (Jahrgang X1900) Compagnie des Chemins de fer du Nord (NORD) = privatrechtlich

organisiertes französisches Eisenbahnunternehmen ab 1919 Gartenstädte für die Bauarbeiter des Wiederaufbaus der NORD 1921 Chefingenieur für den Unterhalt des Streckennetz der NORD 1923 Aufsichtsratmitglied? / Verwaltungsratmitglied? der Gesellschaft für allgemeine,

städtische und soziale Studien und der Liegenschaftsverwaltung der Stadt Paris 1928-1937 geschäftsführender Verwaltungsdirektor der Staatseisenbahn 1938 Gründung der franz. Staatseisenbahn SNCF Dautry Mitglied des Verwaltungsrates 1939-16.6.1940 Rüstungsminister 1940-1944 Besetzung Frankreichs: Vichy-Regierung unter General Pétain Rückzug aus Politik

Lourmarin (Vaucluse/Provence) September 1944 Leitung des Sozialen Hilfswerks (Secours social) 16.11.1944-20.1.1946 Minister für Wiederaufbau und Städtebau 1945-1951 Bürgermeister von Lourmarin (Vaucluse/Provence), Administrateur Général du Commissariat à l'énergie atomique (CEA)

(Geschäftsführer/Allgemeiner Verwalter des Kommissariats für Atomenergie) Eugène Claudius-Petit (1907-1989) Kunsthandwerker, Zeichenlehrer, Politiker 1912 Kunsttischler, Zeichenkurse, 1929-1934 Ecole Boulle, Paris, Ecole nationale supérieure des Arts décoratifs, Paris 1934 CAPES de dessin (Certificat d’Aptitude au Professorat de l’Enseignement du

Second degré) Gymnasiallehrer für Zeichnen, Lyon 1940-1943 in der Résistance 1943-1944 Mitglied der beratenden Versammlung der Exilregierung in London + Alger 1945 Präsident der Nationalen Befreiungsbewegung (Mouvement de Libération

nationale [MLN]) Gründung der Union démocratique et socialiste de la Résistance (UDSR) 1946-1955 Abgeordneter des Departement Loire 9/1948-1/1953 Minister für Wiederaufbau und Städtebau 7/1954-9/1954 Arbeitsminister 1958-1962, 1968-1973 Abgeordneter des Departement Loire 1959-1962, 1968-1973 Vize-Präsident der Nationalversammlung (Assemblée Nationale) 1953-1971 Bürgermeister von Firminy 1958-1970 conseiller général du canton de Firminy (Departementsabgeordneter des

Kreises Firminy) 1961-1972 Président de l'Union centrale des Arts Décoratifs 1973-1978 Abgeordneter des 14. Arrondissement von Paris 1976 Vize-Präsident de l'Assemblée nationale 1956-1977 Präsident der Nationalen Gesellschaft für Wohnungsbau für Arbeiterimmigranten

(Société nationale de Construction de Logements pour les Travailleurs immigrés [SONACOTRA]) und

Mitglied von LICRA (Ligue contre le Racisme et l'Antisémitisme) 1972-1983 Präsident von SOS Amitié

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Jacques André (1904-1985) Stammt aus einer Architektenfamilie in Nancy Architekturstudium an der Ecole d’architecture de Nancy Mitglied der Union des Artistes Modernes Louis Gerald Arretche (1905-1991) Architekt und Stadtplaner 1923-1935 ? Architekurstudium École des beaux arts, Paris (atelier de Georges Gromort) gleichzeitig Mitarbeit in den Büros von Roux-Spitz und Roger-Henri Expert 1935 zweiter Preis für das beste Diplom der Société des Architectes Diplômés par le

Gouvernement ab 1936 Mitarbeiter im Atelier Gromort, EdBA de Paris 1937 Diplom - 1968 Atelierchef (= Professor) zusammen mit Gromort, EdBA de Paris 9/ 1944-4/1947 Chefarchitekt für den Wiederaufbau in Coutances Ab Mai 1947 Chefarchitekt für den Wiederaufbau in Saint-Malo ab 1955 architecte en chef des bâtiments civils et palais nationaux 1968-1977 Professor an der UP3 de Paris = Reform-Architekturschule in Versailles (heute: École

nationale supérieure d’architecture de Versailles) ↔ Ecole de Beaux Arts Paris Marc Brillaud de Laujardière (1889-1973) Architekt und Stadtplaner - 1914 Architekturstudium École nationale supérieure des beaux-arts, Paris 1920 Grand Prix de Rome Mitarbeiter im Büro Raymond Puthomme 1944-1946 Chef-Stadtplaner + -Architekt des Wiederaufbaus in Saint-Malo erster

städtebaulicher Wiederaufbauplan ab 1946 Chefarchitekt des Wiederaufbaus in Caen Raymond Cornon (1908-1982) Architekt, Denkmalpfleger 1933 Architekturdiplom DPLG -1982 eigenes Architekturbüro in Rennes 1937 -1948 Professor für Kunstgeschichte an der l'École régionale d’architecture in Rennes 1942-1970 Technischer Berater des französischen Bildungsministeriums 1942-1973 Architekt der französischen Denkmalschutzbehörde Restaurierungen und

Rekonstruktionen in Saint-Malo

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Graphiken:

Quelle: K. Zaschke

Quelle: K. Zaschke

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Literatur Allgemein Wiederaufbau in Frankreich − Abram, Joseph: L’Architecture moderne en France, Band 2: Du chaos à la croissance. 1940-1966,

Paris 1999 − Andrieux, Jean-Yves / Chevallier, Fabienne: La réception de l'architecture du mouvement

moderne: image, usage, héritage / The Reception of Architecture of the Modern Movement: Image, Usage, Heritage, septième conférence international de DOCOMOMO, Paris, 16 - 19 septembre 2002, Palais de l'UNESCO, Paris, Saint-Etienne 2005

− Barjot, Dominique / Baudouï, Rémi / Voldman, Danièle: Les Reconstructions en Europe 1945-1949, Bruxelles 1997

− Diefendorf, Jeffrey M. (Hg.): Rebuilding Europe‘s Bombed Cities, Houndsmill/London 1990 − Dieudonné, Patrick (Hg.): Villes reconstruites. Du dessin au destin. Actes du deuxième colloque

international des villes reconstruites, 2 Bde., Paris 1994 − Doutriaux, Emmanuel / Vermandel, Frank (Hg.): Le Nord de la France, laboratoire de la ville. Trois

reconstructions: Amiens, Dunkerque, Maubeuge, catalogue de l'exposition présentée à l'Espace Croisé, à Lille, janvier-avril 1997 et du colloque organisé au Centre des Archives du Monde du Travail à Roubaix; Lille 1997 Französische Architektur und Städtebauausstellung 1948/1949, Rastatt 1948

− Gourbin, Patrice: Les Monuments Historiques de 1940-1959. Administration, architecture, urbanisme, Rennes 2008

− Kopp Antole / Boucher, Frédérique/Pauly, Danièle: France. L’Architecture de la Reconstruction. 1945-1955, Paris 1983

− Manfrass, Klaus / Riouy, Jean-Pierre: France-Allemagne 1944-1947. Akten des deutsch-französischen Historikerkolloquiums, Baden-Baden 2.-5. Dezember 1986, Paris 1990 (Cahiers de l’Institut d’Histoire du Temps Present 13-14)

− Plum, Gilles: L’Architecture de la Reconstruction, Paris 2011 − Reconstructions et modernisation. La France après les ruines. 1918… 1845…, Ausstellungskatalog

Archives Nationales, Hôtel Rohan, Januar – Mai 1991, Paris 1991 − Voldman, Danièle (Hg.): Images, discours et enjeux de la reconstruction des villes françaises

après 1945, Paris 1987 (Cahiers de l’Institut d’Histoire du Temps Présent 5) − Voldman, Danièle: La reconstruction des Villes Françaises de 1940 à 1954 : Histoire d’une

politique, Paris 1997 − Zaschke, Kerstin: Rivalen des Schöpfers oder Anwälte der Bevpölkerung ? Das Bild des

Architekten im Wiederaufbau Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Lippert, Hans-Georg / Köth, Anke / Schwarting, Andreas (Hrsg.): unplanbar. Weltbaumeister und Ingenieur: Der Architekt als "Rivale des Schöpfers" (unplanbar 1), Dresden 2012, 196-227

CIAM − Hilpert, Thilo (Hg.): LeCorbusiers "Charta von Athen", Braunschweig/Wiesbaden 1988 (Bauwelt

Fundamente 56) − Steinmann, Martin (Hg.): CIAM. Internationale Kongresse für neues Bauen. Dokumente 1928-

1939, Basel/Stuttgart 1979

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Einzelne Städte betreffend Le Havre − Duteurtre, Vincent: En pleine Lumierère. Le Havre, Paris 2006 − Les Bâtisseurs. L’album de la reconstruction du Havre, Bonsecours 2002 − Liotard, Martine: Le Havre 1930-2006. La renaissance ou l’irruption du moderne, Paris 2007 − Steiner, Claire-Etienne: Le Havre. Auguste Perret et la reconstruction, Rouen 1999 (Images du

Patrimoine 193) − Tournant, Jean-Jacques: Der Wiederaufbau von Le Havre, in: Deutsche Architektur 6 (1957), H. 11,

S. 631-637 Saint-Malo − Bouju, Périg : Le rocher de la discorde architecture et lieux de pouvoir à Saint-Malo, XIXe-XXe

siècles. Online:

https://www.academia.edu/2525183/Le_rocher_de_la_discorde_architecture_et_lieux_de_pouvoirs_%C3%A0_Saint-Malo_XIXe-XXe_si%C3%A8cles

sowie Allgemeine Literatur Saint-Dié − Peter Clericuzio : Le Corbusier and the Reconstruction of Saint-Dié: The Debate over Modernism

in France, 1944-46. Online: https://www.academia.edu/1879022/Le_Corbusier_and_the_Reconstruction_of_Saint-

Di%C3%A9_The_Debate_over_Modernism_in_France_1944-46 − Duval, Jean-Jaques: Le Corbusier, Plan d’urbanisme – Saint-Dié-des-Vosges, Saint-Dié 2006 − Le Corbusier et Sant-Dié, Ausstellungskatalog 14. Okt – 10. Nov. 1987, hrg. vom Musée Municipal

de Saint-Dié, Saint-Dié 1987 − Molina, Mariano: Mahnmale y living memorials en la reconstrucción francesa de posguerra |

Mahnmale and living memorials in postwar French reconstruction, in ZARCH 4 (2016), Nr. 6, S. 44-55. Online: https://papiro.unizar.es/ojs/index.php/zarch/article/view/1451

Biographien und Architektenmonographien − Amouroux, Dominique: Louis Arretche, Paris 2010 (Carnets d’Architectes; Editions du Patrimoine) − Badischer Kunstverein, Karlsruhe (Hrsg.): Le Corbusier, synthèse des arts: Aspekte d. Spätwerks

1945 - 1965; [23. März - 18. Mai 1986, Bad. Kunstverein, Karlsruhe] / [Europ. Kulturtage Karlsruhe 1986 Die Fünfziger Jahre].

− Baudouï, Rémi: Raoul Dautry 1880-1951. Le technocrate de la République, Paris 1992 − Baudouï, Rémi: Raoul Dautry, la conscience du social. In: Vingtième Siècle, revue d'histoire, n°15,

juillet-septembre 1987. Dossier: Quatre visages d'une modernisation française, S. 45-58. Online: http://www.persee.fr/doc/xxs_0294-1759_1987_num_15_1_1883

− Karla Britton: Auguste Perret, New York 2001. − Halpérin, Vladimir: Raoul Dautry. Du rail à l’atome, Paris 1997 − Hommage à Eugène Claudius-Petit, fondateur du corps des architectes-conseils de l'État, Paris 2007

Online: http://www.sarfis.com/actualite/ete-2007/pdf/claudius-petit.pdf − Gérard Monnier: Le Corbusier, Besançon 1992. − Pouvreau, Benoît: Un politique en architecture. Eugène Claudeius-Petit (1907-1989), Paris 2004

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

11. Vorlesung

Charta von Athen versus Europäische Stadt

Stichwort: Umgestaltung von Paris im 19. Jh. Grundlegende Überformung des Stadtkörpers von Paris, beginnend 1853 mit der Ernennung

von Georges-Eugène Haussmann (1809-1891) zum Präfekten des Départements Seine und mit dem Auftrag des Kaisers Napoleon III., die Stadt mit ihren damals ca. 1,5 Millionen Einwohnern zu einer "vorbildlichen, modernen Metropole" umzubauen. Neben repräsentativen Aspekten bewegte die politische Elite dabei auch die Angst, dass die schlechten infrastrukturellen Bedingungen im Stadtzentrum Aufstände hervorrufen könnten. Tatsächlich bewährten sich die Umbauten bereits 1871, als es der "Commune" nicht gelang, die neuen Boulevards wirkungsvoll zu verbarrikadieren.

Haussmann verwirklichte 1853-1869 ein städtebauliches Gesamtprogramm, das in autoritärer Weise durchgeführt wurde. Durch 3.900 Enteignungen, den Ankauf von 2 Mio. m² Baugrund und den Abriss ganzer Straßenzüge - insgesamt 27.500 Wohnungen - wurde die Stadt komplett umgestaltet. Der Kaiser hatte die Anlage breiter Boulevards angeordnet, die einen großen Teil des neuen insgesamt 100 km langen Straßennetzes repräsentierten. Durch den Boulevard Saint-Michel links der Seine und den Boulevard Sébastopol auf dem rechten Ufer erhielt die Stadt eine leistungsfähige neue Nord-Süd-Achse. Neben neuen Infrastruktureinrichtungen (zentrale Markthallen, Trinkwasserversorgung, Kanalisation), öffentlichen Grünflächen , Schmuckplätzen und der Sanierung von Monumentalbauten (z.B. Notre Dame) prägten vor allen die Wohnbauten das Straßenbild des "neuen" Paris. Insgesamt wurden 100.000 Wohnungen neu gebaut, wovon vor allem der Westteil der Stadt profitierte.

Die Umgestaltungen unter Haussmann (der unter dem Vorwurf der persönlichen Bereicherung 1871 entlassen wurde) waren so umfassend, dass bis zum Ende des Ersten Weltkriegs keine neuen Pläne entwickelt werden mussten. Erst die Schleifung der Befestigungen im Jahre 1919 ließ einen Gesamtentwicklungsplan nötig erscheinen. Um den "wilden" Siedlungen entgegenzuwirken, die von Zuwanderern aus ganz Frankreich im Umfeld der Stadt errichtet wurden, forderte man die Schaffung von billigem Wohnraum. Tatsächlich entstanden am Stadtrand neue Miethausquartiere, doch reichte die Zahl der Wohnungen nicht aus, um die Nachfrage zu befriedigen. Die Zwischenkriegszeit stand deshalb im Zeichen einer planlosen Stadterweiterung ("chaotische Urbanisierung"). Gleichzeitig wurden aber auch Visionen zur Umgestaltung der Innenstadt entwickelt. Diese standen unter der von prominenten Architekten entwickelten Vorstellung von der Trennung der Grundfunktionen Wohnen und Arbeiten ( Charta von Athen). Besonderes Aufsehen erregte der "Plan Voisin" von Le Corbusier, der den Abbruch der gesamten Bebauung zwischen der rue de Rivoli und der Gare de l'Est sowie die Neubebauung mit kreuzförmigen Hochhäusern und Rasterstraßen vorsah. Letztlich blieb die Stadt Paris aber bis zur Ausrufung der Fünften Republik durch Charles de Gaulle (1958) ohne zusammenhängende Planung.

(H.-G. Lippert nach http://www.deuframat.de/regionen/paris-berlin-hauptstadtportraets/vom-quartier-goutte-dor-in-die-villes-nouvelles-pariser-stadtentwicklung-als-motor-sozialraeumlicher-differenzierungsprozesse/stadterneuerung-in-paris-vom-19-jh-bis-heute.html)

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Stichwort: Charta von Athen

Chronologie 1922/1925: „Une ville contemporaine“ und „Plan Voisin“

(Le Corbusier)

1928: Gründung der CIAM (Congrès Internationaux d‘Architecture Moderne / Internationale Kongresse für moderne Architektur) unter wesentlicher Mitwirkung von Le Corbusier. Aufstellung eines Forderungskatalogs für den Städtebau (CIAM I in La Sarraz, CH)

1933: CIAM IV (als Schiffsreise Marseille-Athen und zurück). Neuformulierung des Forderungskatalogs, unter anderem:

o Funktionstrennung: Wohnen, Arbeit, Konsum, Erholung o Hierarchisierung des Verkehrs (klar sichtbare Abstufung von der Stadtautobahn bis

zum Fußweg; Bahnverkehr unterirdisch bzw. auf eigenen Trassen) o Schaffung großzügiger Grünflächen, auch als Verbindung der einzelnen

Stadtquartiere o Anlage von Satellitenstädten zur Entlastung der großen Zentren (d.h. Begrenzung der

Großstadtbildung)

1943: Veröffentlichung in veränderter Form als „Charta von Athen“ (Le Corbusier) http://de.wikipedia.org/wiki/Charta_von_Athen_CIAM

Stichwort: Europäische Stadt Aus den Sozialwissenschaften (nicht aus dem Bereich Stadtplanung/Architektur) stammender

Begriff, abgeleitet aus den Theorien von Georg Simmel („Die Großstädte und das Geistesleben“ [1903]) und Max Weber („Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ [1904], „Wirtschaft und Gesellschaft“ [1921/22, posthum]).

Wichtig zum Verständnis: „Stadt ist für Soziologen eine soziale Tatsache, die sich räumlich formt“ (Walter Siebel 2012 [Handbuch Stadtsoziologie] Literatur zur Vorlesung), d.h. für die Sozialwissenschaften ist die Gesellschaft das Primäre; die Artefakte (d.h. Stadtraum und Architektur) sind eigentlich nur das Gefäß des Sozialen bzw. die Illustration dazu. Architekten und Stadtplaner sehen das begreiflicherweise meist genau umgekehrt.

Merkmale der europäischen Stadt (nach Walter Siebel 2004) Politische, wirtschaftliche und soziale Emanzipation (freies , selbstbestimmtes

Stadtbürgertum, weitgehend unabhängig vom Landesherrn bzw. der politischen und/oder religiösen Zentralgewalt).

Die Stadt als politisches Subjekt bzw. als juristische Körperschaft und damit auch als Gegenstand von Planung und gezielter Entwicklung.

Präsenz von Geschichte im Stadtraum, d.h. sichtbare Einbindung der Bürgerschaft in identitätsstiftende Narrative.

Urbane Lebensweise (Arbeitsteilung, Konsumentenwirtschaft [Markt], Trennung von öffentlicher und privater Sphäre usw.).

Aus der städtischen Autonomie abgeleiteter, architektonisch betonter Gegensatz von Stadt und Land bzw. deutlich sichtbare Abgrenzung der Stadt vom Land.

Gleichsetzung von Stadtentwicklung mit Wachstum (gilt schon im Mittelalter, besonders aber seit der Industrialisierung im 19. Jh.).

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Biographische Daten:

Camillo Sitte (1843-1903) Architekt, Stadtplaner und Fachpublizist

C. S. erhielt seine Ausbildung 1864-1869 an der TH Wien. Daneben studierte er Anatomie, Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität Wien und unternahm Studienreisen nach Italien, Griechenland, Kleinasien, Ägypten, Frankreich und Deutschland. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er anfangs im Baubüro seines Vaters. 1875 wurde Camillo Sitte Gründungsdirektor der Staatsgewerbeschule in Salzburg. 1883 erhielt er einen Lehrauftrag an der Staatsgewerbeschule Wien, von 1889 bis 1903 (Tod durch Schlaganfall) war er deren Direktor. In seinen Wiener Jahren war Sitte nebenbei auch als Architekt tätig. Es war jedoch vor allem seine zunehmende Beschäftigung mit der Theorie des Städtebaus, die Camilllo Sitte zu einem der führenden Fachleute auf diesem Gebiet und zu einem vielbeschäftigten Mitglied von städtebaulichen Kommissionen in ganz Europa machte. Er publizierte hierzu etliche Aufsätze und 1889 das Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“, das mehrfach neu aufgelegt und in andere Sprachen übersetzt wurde. 1903 rief er zusammen mit Theodor Goecke die Zeitschrift „Städtebau“ ins Leben, deren Erscheinen er jedoch nicht mehr erlebte. Camillo Sittes Bedeutung liegt vor allem in seinem theoretischen Werk. Beeinflusst von seinen Lehrern, dem Architekten Heinrich Ferstel und dem Kunsthistoriker Rudolf Eitelberger, entwickelte er erstmals stadtgestalterische Theorien auf wissenschaftlicher Basis, unter besonderer Berücksichtigung ästhetischer Prinzipien. In seinem Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ unterzog er, ausgehend von einer retrospektiven Idealisierung der mittelalterlichen Stadt (besonders in Italien), die Bebauung der Wiener Ringstraße einer kritischen Analyse und wandte sich gegen das im späten 19. Jahrhundert gängige, auf dem Vorbild Paris beruhende Raster aus möglichst regelmäßigen Baublöcken. Diese Haltung brachte Sitte in einen scharfen Gegensatz zu Otto Wagner (damals führender Architekt und Stadtplaner in Wien), dessen Planungen auf genau solchen Prinzipien beruhten. Aber auch über den städtebaulichen Diskurs hinausgehend war Sitte in seiner retrospektiven Haltung ein vehementer Gegner der Moderne (wie sie um 1900 verstanden wurde) und der Wiener Secession (Otto Wagner, Joseph Hoffmann, Joseph Maria Olbrich, Adolf Loos…). Sittes Überlegungen leiteten eine Entwicklung ein, die überwiegend erst nach seinem Tod konkret wirksam wurde. Seine bis heute gültige Kritik an einer ausschließlich auf utilitären Prinzipien beruhenden Planung und an ökonomischer Ausbeutung wurde insbesondere seit den 1960er Jahren, als das Unbehagen an der Nüchternheit des funktionalistischen Städtebaus wuchs, wieder entdeckt und seine Schriften fanden von da an weltweit erneut Beachtung und Verbreitung. Nicht zu unterschätzen ist auch Sittes Bedeutung als Lehrer an der Staatsgewerbeschule, wo er mehr als eine Generation von Architekten prägte, ungeachtet deren späterer Ausbildung an der Technischen Hochschule oder an der Akademie. (H.-G. Lippert nach http://www.architektenlexikon.at/de/603.htm)

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Theodor Fischer (1862-1938) Architekt, Stadtplaner und Hochschullehrer

Theodor Fischer studierte 1880-1885 Architektur an der TH München. Er war Schüler von Friedrich Thiersch und dessen Assistenten Karl Hocheder (einem Meister der Architekturzeichnung), setzte sich aber bald von dem bei Thiersch gelehrten Historismus ab und entwickelte einen eigenen, aus den regionalen und soziokulturellen Voraussetzungen der jeweiligen Umgebung abgeleiteten Stil. Fischer arbeitete nach seinem Studium 1886-1889 im Baubüro des Berliner Reichstags unter Leitung von Paul Wallot. Dort besuchte er auch Vorlesungen an der Universität und knüpfte wichtige Bekanntschaften. Nach einer Bürogemeinschaft mit dem Dresdner Architekten Richard Reuter 1889-1892 arbeitete Fischer kurzzeitig mit Gabriel v. Seidl in München zusammen. Als Vorstand des Stadterweiterungsreferats in der kommunalen Bauverwaltung der Stadt München (1893-1901) stellte Fischer einen Generalbebauungsplan für München auf, der bis zum Zweiten Weltkrieg verbindlich war. Seine Staffelbauordnung als frühe Form der Bauleitplanung wurde bis Anfang der 1990er Jahre akzeptiert. 1901 folgte er dem Ruf an die Technische Hochschule Stuttgart und war dort bis 1908 Professor für Bauentwürfe einschließlich Städteanlage. Damit begann Fischers erfolgreichste und intensivste Schaffensperiode als Architekt; zugleich prägte er mit seiner neuen, von Werkkunde und Städtebau dominierten Lehrmethode eine ganze Architektengeneration. Vertreter der in der Weimarer Republik bekannten ersten „Stuttgarter Schule“ (Schmitthenner, Wetzel u.a.) betrachteten Fischer als ihren „geistigen Vater“. In seinem Büro arbeiteten so gegensätzliche Charaktere wie Bruno Taut und Paul Bonatz, der sein Nachfolger auf dem Stuttgarter Lehrstuhl wurde. 1908 kehrte Fischer als Professor für Baukunst an die TH München zurück, wo er schon 1901 als Lehrbeauftragter tätig gewesen war. 1917 veröffentlichte er sein „Manifest für die deutsche Baukunst“, in dem er sich vehement für eine neue Architektenausbildung einsetzte: nach zwei Jahren Hochschule sollten drei Jahre Lehrwerkstatt unter Anleitung eines Meisters folgen. Bruno Taut griff diese Gedanken in seinem „Architektur-Programm“ auf, das Grundlage für das Bauhaus-Manifest von 1919 wurde. Wiewohl skeptisch gegenüber der Radikalität des Neuen Bauens, verteidigte Fischer diese neue Schule: sowohl 1932 in einem Appell zur Erhaltung des Bauhauses wie in seiner denkwürdigen Rede zur Feier des Kampfbundes für Deutsche Kultur im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses im Oktober 1933, zu der die gesammelte NS-Prominenz erschienen war. Damit war er – seit 1928 als Professor in München emeritiert – nach eigenen Aussagen „beiseite gestellt und mißliebig“ geworden. Der Architekt des Erweiterungsbaus der Universität München und des Deutschen Museums, German Bestelmeyer, lief ihm in dieser letzten Münchner Zeit den Rang ab.

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Max Frisch (1911-1991) Architekt und Schriftsteller

Max Frisch wurde 1911 in Zürich als Sohn des Architekten Franz Bruno Frisch und dessen Frau Karolina Bettina geboren. 1930 immatrikulierte er sich an der Universität Zürich, um Germanistik zu studieren. Als sein Vater im März 1932 starb, brach Max Frisch das Studium ab. Lange Zeit schwankte er, welchen Weg er einschlagen sollte. Selbstzweifel veranlassten ihn, nach ersten schriftstellerischen Versuchen seine Manuskripte zu verbrennen, mit dem Schreiben aufzuhören und 1936 an der ETH Zürich ein Architekturstudium zu beginnen, das er 1940 mit dem Diplom abschloss. Danach arbeitete er im Architekturbüro von William Dunkel (1893 – 1980) in Zürich, wo er die Architektin Gertrud ("Trudy") von Meyenburg (1916 – 2009) kennenlernte. Die beiden heirateten 1942. Im folgenden Jahr gewann Max Frisch einen Architekturwettbewerb der Stadt Zürich für den Bau des Freibads Letzigraben. Er eröffnete daraufhin sein eigenes Architekturbüro. Das 1947-1949 gebaute Freibad blieb Frischs einziges größeres Bauwerk, aber er publizierte in den 1950er Jahren zusammen mit Kollegen aus dem Bereich Architektur (Lucius Burckhardt, Markus Kutter) mehrere programmatische Schriften zum Thema Bauen und Stadtplanung bzw. Stadt der Zukunft („Wir bauen selber unsere Stadt“ [1953], „Achtung. Die Schweiz“ [1955], „Die neue Stadt“ [1956]). Der aus Deutschland in die Schweiz emigrierte Dramaturg Kurt Hirschfeld (1902 – 1964) überredete Frisch dann, wieder Theaterstücke zu schreiben. Durch Hirschfeld lernte Max Frisch auch Carl Zuckmayer, Friedrich Dürrenmatt und Bertolt Brecht persönlich kennen. Den Durchbruch als Schriftsteller schaffte er 1954 mit dem Roman "Stiller". Es war sein erster Bestseller; erstmals durchbrach die Auflage eines Buches von ihm die Millionengrenze. Im selben Jahr trennte Max Frisch sich von seiner Frau Trudy und den drei Kindern. 1955 schloss er sein Architekturbüro, denn er verstand sich von nun als freier Schriftsteller. 1957 veröffentlichte Frisch den Roman "Homo faber. Ein Bericht", der ebenfalls eine Millionenauflage erreichte. 1958 wurde sein Theaterstück "Biedermann und die Brandstifter" am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Es zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Bühnenstücken des 20. Jahrhunderts. Im Juli 1958 begegneten sich Max Frisch und Ingeborg Bachmann (1926-1973). Die österreichische Schriftstellerin lehnte zwar seinen Heiratsantrag ab, ließ es jedoch zu, dass er ihr 1960 nach Rom folgte und dort mit ihr zusammenlebte. Es war eine konfliktreiche Liebesbeziehung zwischen zwei schwierigen Menschen. Sie hielt bis zum Winter 1962/1963. Im Sommer 1962 verliebte sich Max Frisch in die damals 23jährige Germanistik- und Romanistik-Studentin Marianne Oellers. Ab 1964 wohnten die beiden in Rom zusammen, im Jahr darauf zogen sie gemeinsam in die Schweiz und 1968 heirateten sie. 1972 nahmen sie sich eine Wohnung in Berlin-Friedenau. Während einer Lesereise in den USA ließ Max Frisch sich im April 1974 auf eine Affäre mit der Amerikanerin Alice Locke-Carey ein, die er zum Thema seiner Erzählung "Montauk" machte. Weil

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er in "Montauk" nicht nur über sein eigenes Liebesleben schrieb, sondern auch auf die Affäre seiner Ehefrau mit dem amerikanischen Schriftsteller Donald Barthelme einging, warf diese ihm vor, er habe Privates in die Öffentlichkeit getragen. 1979 ließen Max und Marianne Frisch sich scheiden. Im Jahr darauf wandte sich Max Frisch erneut an Alice Locke-Carey. Er kaufte ein Loft in New York. Dort lebten die beiden zusammen, bis er 1984 für immer nach Zürich zurückkehrte. 1985 wurde Karin Pilliod, die er seit der Jugend kannte, seine letzte Lebensgefährtin. Im März 1989 erfuhr Max Frisch, dass er unheilbar an Darmkrebs erkrankt war. Er starb am 4. April 1991, sechs Wochen vor seinem 80. Geburtstag.

Zitat: Aus: Max Frisch: Wer liefert ihnen denn die Pläne? (1955); in: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. III-1, 1949-1956, Frankfurt/Main 1976, S. 346-354. Literatur zur Vorlesung „[Man vergisst], dass eine Stadt nicht von Architekten (von Fachleuten), sondern immer nur von der Sozietät aus (von der Polis der Laien) gebaut werden kann. […] So hätte es wenigstens zu sein. Denn Planung ist Ausübung von politischer Macht. Und politische Macht, die nicht im Auftrag der Polis ausgeübt wird und nicht unter Kontrolle der Öffentlichkeit steht, ist – nach demokratischem Begriff – illegale Macht. […] Städtebau ist eine politische Materie, weil dabei Entscheidungen gefällt werden, die zuständigerweise nur der Souverän, wie wir das Volk nennen, zu fällen hat. Dass der Planer, die Rechtschaffenheit in Person, sich dessen nicht bewusst ist, ändert nichts an der Tatsache, dass er als Technokrat […] eine gefährliche Erscheinung ist. […] Unsere Meinung geht dahin, dass Städtebaufragen, die jeden Bürger angehen, nicht als Fachfragen […] vor das Volk gehören, wohl aber als Frage: Welche Art von Gesellschaft wollt ihr? Also enthüllt als politische Alternative, enthüllt an konkreten Problemen, wie der Städtebau sie täglich liefert. Nur so kommen wir zu der Willensbildung, womit die Masse zum Volk wird, der Einwohner zum Bürger, die Demokratie zu einer schöpferischen Realität – und das Häusermeer zur echten Stadt, zu unsrer Stadt, die gewährleistet, was uns wichtig ist, und ausdrückt, wes Geistes wir sind.“

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Literatur:

Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge; Jubiläumsausgabe in sieben Bänden 1931-1985 (hrsg. von Hans Mayer, Mitwirkung Walter Schmitz), Band III 1949-1956, Frankfurt am Main 1986. Darin u. a.: Der Laie und die Architektur (1954), Achtung: Die Schweiz (1954), Wer liefert ihnen denn die Pläne? (1955), Exposé zum Wettbewerb für einen Neubau des Schauspielhauses Zürich (1962).

Thilo Hilpert (Hg.): Le Corbusiers „Charta von Athen“, Texte und Dokumente (Bauwelt-Fundamente, 56), Braunschweig/Wiesbaden 1988.

Rolf Keller: Bauen als Umweltzerstörung : Alarmbilder einer Un-Architektur der Gegenwart, Zürich 1973.

Le Corbusier: Städtebau (Faksimile-Wiedergabe der 1. dt. Auflage 1929), Stuttgart 1979. Einzige deutsche Ausgabe des Buchs; problematisch insofern, als die Übersetzung sehr vom Zeitgeist der 1920er Jahre bestimmt ist: Der Text LC’s wird an einigen Stellen nicht einfach übersetzt, sondern vom Übersetzer interpretiert und vom eigenen Weltbild her aufgeladen. Die Aussagen LC’s sind aus heutiger Sicht dadurch z.T. falsch bzw. sinnverfälschend wiedergegeben.

Josef Lehmbrock: Profitopolis oder Der Mensch braucht eine andere Stadt : eine Ausstellung über den miserablen Zustand unserer Städte und über die Notwendigkeit, diesen Zustand zu ändern, damit der Mensch wieder menschenwürdig in seiner Stadt leben kann, München 1971.

Josef Lehmbrock: Von Profitopolis zur Stadt der Menschen, München 1979.

Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden (1965), 27. Auflage, Frankfurt am Main 2013.

Winfried Nerdinger (Hg.): Theodor Fischer. Architekt und Städtebauer, Berlin 1988.

Michael Petzet (Bearbeiter); Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, Stadtmuseum München: Eine Zukunft für unsere Vergangenheit : Denkmalschutz und Denkmalpflege in der Bundesrepublik Deutschland; Europäisches Denkmalschutzjahr 1975 (Wanderausstellung 1975 - 1976 im Auftrag des Deutschen Nationalkomitees für das Europäische Denkmalschutzjahr), München 1975.

Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer: Die gemordete Stadt : Abgesang auf Putte und Strasse, Platz und Baum (1964), Neuausgabe, Berlin 1993.

Camillo Sitte: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen; vermehrt um „Großstadtgrün“, Reprint der 4. Auflage von 1909, Basel/Boston/Berlin 2001.

Karin Wilhelm (Hg.): Formationen der Stadt: Camillo Sitte weitergelesen (Bauwelt-Fundamente, 132), Gütersloh/Berlin 2006.

Internet: ( Texte zur Vorlesung)

https://www.espazium.ch/stadtbaukunst--heute (Matthias Castorph: Stadtbaukunst heute? Stadt als Raum denken [Beitrag zu Theodor Fischer und dessen Stadtplanungen der 1910er Jahre in München; aus: TEC21, 15/2016].

http://link.springer.com/article/10.1007/s11578-001-0015-9 (Hartmut Häußermann: Die europäische Stadt; aus: Leviathan 2/2001). Sehr gute, kurz gefasste Zusammenstellung der ursprünglichen Begriffsbestimmung durch Georg Simmel (1903) und Max Weber sowie der darauf aufbauenden sozialwissenschaftlichen Denkschulen bis heute.

http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-531-94112-7_10#page-1 (Walter Siebel: Die europäische Stadt; aus: Frank Eckhardt [Hg.]: Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden 2012). Knappe Zusammenfassung der aktuellen sozialwissenschaftlichen Kriterienliste des Begriffs „europäische Stadt“.

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

12. Vorlesung

(Post)Modern?

Begriff: Postmoderne Die Postmoderne (von lateinisch post ‚hinter‘, ‚nach‘) ist im allgemeinen Sinn der Zustand der abendländischen Gesellschaft, Kultur und Kunst „nach“ der Moderne. Im besonderen Sinn ist sie eine politisch-wissenschaftlich-künstlerische Richtung, die sich gegen bestimmte Institutionen, Methoden, Begriffe und Grundannahmen der Moderne wendet und diese aufzulösen und zu überwinden versucht. Die Vertreter der Postmoderne kritisieren das Innovationsstreben der Moderne als lediglich habituell und automatisiert (also ohne tieferen Sinn). Sie bescheinigen der Moderne das illegitime Vorherrschen eines totalitären Prinzips (das dem Ziel folgt, die für das Konzept der Moderne eigentlich wesensbestimmende Idee von Kontingenz und Pluralität zu überwinden), das auf gesellschaftlicher Ebene Züge von Despotismus in sich trage und das bekämpft werden müsse. Maßgebliche Ansätze der Moderne seien eindimensional und gescheitert. Dem wird die Möglichkeit einer Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender Perspektiven gegenübergestellt (Relativismus, Pluralismus, Kontingenz), die lediglich über Austausch, Vernetzung und Kommunikation so etwas wie ein Großes Ganzes erzeugen. In der Postmoderne steht nicht die Innovation im Mittelpunkt des (künstlerischen) Interesses, sondern eine Rekombination oder neue Anwendung vorhandener Ideen. Die Welt wird nicht auf ein Fortschrittsziel hin betrachtet, sondern vielmehr als pluralistisch, zufällig, chaotisch und in ihren hinfälligen Momenten angesehen. Ebenso gilt die menschliche Identität als instabil und durch viele, teils disparate, kulturelle Faktoren geprägt. Massenmedien und Technik spielen eine wichtige Rolle als Träger wie Vermittler von Kultur (siehe auch Medientheorie). Die postmoderne Kunst zeichnet sich unter anderem aus durch einen erweiterten Kunstbegriff aus und durch zitathafte Verweise auf vergangene Stile, die teils ironisch in Szene gesetzt werden. Wo die Ironie misslingt oder nicht beabsichtigt ist, nähert sich postmoderne Kunst dem Eklektizismus des 19. Jahrhunderts bzw. dem kulturkritischen Traditionalismus des 20. Jahrhunderts an. Postmodernes Denken will nicht als bloße Zeitdiagnose verstanden werden, sondern als kritische Denkbewegung, die sich gegen Grundannahmen der Moderne wendet und Alternativen aufzeigt. Die Diskussion über die genaue zeitliche und inhaltliche Bestimmung dessen, was postmodern sei, wird erst etwa seit Anfang der 1980er Jahre geführt, aber der Begriff „postmodern“ entstand schon im 19. Jahrhundert. Das macht deutlich, dass es sich eigentlich nicht um ein Gegenmodell zur Moderne handelt, sondern um eine von Anfang an vorhandene kritische Gegenbewegung innerhalb der Moderne. (H.-G. Lippert nach Wikipedia, ergänzt und verändert)

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Biographische Daten: Jean-François Lyotard (1924-1998) Philosoph und Literaturtheoretiker

Lyotard stammte aus Versailles. 1950 legte er sein Staatsexamen in Philosophie ab. Als Anknüpfungspunkt seines Denkens gilt Edmund Husserl, zu dessen Werk Lyotard die Darstellung La Phénoménologie verfasste. Lyotard unterrichtete zunächst Philosophie an verschiedenen Oberschulen, darunter von 1950 bis 1952 in Algerien (das damals zu Frankreich gehörte). 1954-1966 war er Mitglied der von linken französischen Intellektuellen gegründeten Gruppe Socialisme ou barbarie („Sozialismus oder Barbarei“) die sich 1949 in Abgrenzung zum sowjetischen Sozialismus-Modell gebildet hatte. In der gleichnamigen Zeitschrift veröffentlichte er 13 Artikel, die sich bis auf einen alle mit dem Algerienkrieg beschäftigten. Die Gruppe zerstritt sich, und Lyotard trat 1966 aus. Ab 1968 war er als Professor der Philosophie an der Universität Paris VIII (Vincennes, Saint-Denis) und anderen Hochschulen (u. a. Sorbonne und Nanterre) tätig. Später unterrichtete er Kritische Theorie an der University of California sowie Französisch und Philosophie an der Emory University in Atlanta und an der Yale University, New Haven. Zusammen mit Jacques Derrida gründete Lyotard das Collège international de philosophie in Paris. 1971 wurde er zum Docteur des lettres habilitiert, 1987 emeritiert. 1979 veröffentlichte Lyotard die Studie Das postmoderne Wissen (Originaltitel: La condition postmoderne). Mit seiner These vom Ende der großen Erzählungen bereitete Lyotard hier die Basis für viele Entwicklungen in Philosophie, Kunst, Kultur, sowie den Gesellschaftswissenschaften: „In äußerster Vereinfachung kann man sagen: 'Postmoderne' bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.“ Nach Lyotard gibt es drei „Meta-Erzählungen“: Aufklärung, Idealismus und Historismus. Sie basieren auf wichtigen philosophischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, bieten in der Postmoderne aber keine vereinheitlichende Legitimation und Zielorientierung mehr. Die Emanzipation des Individuums, das Selbstbewusstsein des Geistes, das im Sinne Hegels in eine Ganzheitsideologie mündet, und die Idee eines sinnhaften Fortschritts der Geschichte hin zu einer Utopie sind die großen Erzählungen, denen man nicht mehr glauben kann. Folglich kann es auch kein Projekt der Moderne mehr geben, keine große Idee von Freiheit, Sozialismus oder Fortschritt, der allgemeine Geltung zu verschaffen ist und der sich alles gesellschaftliche Handeln unterzuordnen hat. Es gibt auch keine übergeordnete Sprache, keine verbindliche Wahrheit, die das Ganze eines formalen Systems legitimiert. Wissenschaftliche Rationalität, sittliches Handeln und politische Gerechtigkeitsvorstellungen spielen ihr je eigenes Spiel und können nicht zur Deckung gebracht werden. Allenfalls ein kunstvolles Interchangieren sei. Bekannt unter anderem dafür wurde das Bild der Kreuzfahrt in einem zerklüfteten Archipel. Gegen die gescheiterten Ansprüche allumfassender Erklärungen und Rahmentheorien setzte Lyotard damit eine Form der Vernunft, die sich situationsspezifisch selbst die Regeln gibt. Das Individuum sei „auf sich selbst zurückgeworfen“ und müsse immerzu neue „kleine Erzählungen“ erfinden, um das eigene Handeln in einer Vielfalt gleichwertiger Möglichkeiten fallweise zu begründen. Nach einem „Großen Ganzen“ zu suchen, ist von dieser Position aus unmöglich und sinnlos.

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Umberto Eco (1932-2016) Medienwissenschaftler und Semiotiker, Schriftsteller, Kolumnist, Kulturphilosoph,

Seine Kindheit und Jugend verbrachte Eco in der piemontesischen Provinzhauptstadt Alessandria. Über die Stadt und die Landschaft, den Charakter und die Grundstimmung der dort lebenden Menschen sowie den Alltag in den 1930er und 1940er Jahren unter dem Faschismus ließ Eco sich an mehreren Stellen direkt oder indirekt aus, so z. B. unverhüllt autobiographisch in dem Text „Das Wunder von San Baudolino“ (am Ende des Bandes „Wie man mit einem Lachs verreist“), aber auch literarisch eingekleidet in den Romanen „Das Foucaultsche Pendel“, „Die Insel des vorigen Tages“, „Baudolino“ und (besonders ausführlich) „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“. 1948 begann Eco – entgegen dem Wunsch seines Vaters, der ihn zu einer Karriere als Rechtsanwalt drängte – ein Studium der Philosophie und Literaturgeschichte an der Universität Turin, das er 1954 mit einer Dissertation über die Ästhetik bei Thomas von Aquin abschloss. Danach ging er zu dem gerade erst gegründeten italienischen Fernsehen (RAI) in Mailand, wo er ein Kulturprogramm aufzubauen versuchte. 1956 erschien sein erstes Buch, eine erweiterte Fassung seiner Dissertation. Drei Jahre später verließ Eco das Fernsehen und wurde Sachbuchlektor in dem Mailänder Verlag Bompiani, für den er bis 1975 tätig blieb (und in dem fast alle seine Bücher erschienen sind). Zugleich war er im Umfeld des Gruppo 63 aktiv, einer der literarischen Avantgarde zugerechneten linken Gruppierung. Mit dem 1962 erschienenen Buch „Opera aperta“ (dt. „Das offene Kunstwerk“, 1973) wurde er schlagartig als brillanter Kulturtheoretiker bekannt, der 1963 seine akademische Karriere als Dozent für Ästhetik und visuelle Kommunikation am Polytechnikum in Mailand begann, Sein 1968 (deutsch 1973) erschienenes Buch „Einführung in die Semiotik“ gilt bis heute auch international als wissenschaftliches Standardwerk. 1975 erhielt er eine ordentliche Professur für Semiotik an der Universität Bologna. Seit 1999 leitete er die dortige Scuola Superiore di Studi Umanistici. Im Oktober 2007 zog er sich aus der aktiven Lehrtätigkeit zurück. Mit seinem 1980 (deutsch: 1982) erschienenen ersten Roman „Der Name der Rose“ erregte Eco weltweites und seinerzeit überraschendes Aufsehen als Romancier. Auch sein 1988 erschienener Roman „Das Foucaultsche Pendel“ sowie die vier folgenden Romane wurden in alle Weltsprachen übersetzt. Einem breiteren Publikum ist der Name Umberto Eco daher vor allem durch diese literarischen Werke bekannt, in denen er bei aller Freude am farbigen Erzählen und an spannenden Plots ausgiebig von Zitaten und Montagetechniken Gebrauch macht, was zu ihrer Charakterisierung als postmoderne Romane schlechthin geführt hat. Eco selbst stand dem Begriff der Postmoderne eher skeptisch gegenüber und zog es vor, von Intertextualität zu sprechen, d. h. von der inneren Verflechtung und Verwobenheit aller literarischen Texte miteinander. Er nannte Jorge Luis Borges und James Joyce als die beiden modernen Autoren, „die ich am meisten geliebt habe und von denen ich am stärksten beeinflusst worden bin“

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Zitate von Umberto Eco: „Die Avantgarde zerstört, entstellt die Vergangenheit: Picassos Demoiselles d’Avignon sind die typische Auftrittsgebärde der Avantgarde; dann geht die Avantgarde weiter, zerstört die Figur, annulliert sie, gelangt zum Abstrakten, zum Informellen, zur weißen Leinwand, zur zerrissenen Leinwand, zur verbrannten Leinwand; in der Architektur ist das Ende die Minimalbedingung des Curtain Wall, das Bauwerk als glatte Stele, das reine Parallelepiped, in der Literatur die Zerstörung des Redeflusses bis hin zur Collage à la Burroughs, bis hin zum Verstummen oder zur leeren Seite, in der Musik der Übergang von der Atonalität zum Lärm, zum bloßen Geräusch oder zum totalen Schweigen.“ (Umberto Eco: Nachschrift zum „Namen der Rose“, München 1986, S. 78) „Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld. Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: ‚Ich liebe dich inniglich‘, weil er weiß, dass sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala [italienische Schriftstellerin, 1897-1995] geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung: Er kann ihr sagen: ‚Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich. In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe. Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise eine Liebeserklärung entgegengenommen. Keiner der beiden Gesprächspartner braucht sich naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon Gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen bewusst mit Vergnügen das Spiel der Ironie… Aber beiden ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden.“ (Umberto Eco: Nachschrift zum „Namen der Rose“, München 1986, S. 78-79)

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Heinrich Klotz (1935-1999) Kunsthistoriker, Architekturtheoretiker und Publizist

Heinrich Klotz studierte in Frankfurt, Freiburg, Heidelberg und Göttingen Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie. Nach Gastprofessuren in den USA war er von 1972 bis 1989 ordentlicher Professor am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Marburg. Ab 1979 baute er als Gründungsdirektor das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main auf. Insbesondere mit den Ausstellungen „Revision der Moderne, Postmoderne Architektur 1960–1980“ (1984) und „Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion“ (1986) wurde er international bekannt. Gleichzeitig legte er in Frankfurt eine umfangreiche und extrem vielgestaltige Sammlung zur Architektur des 20. Jahrhunderts an, zu der auch zahlreiche Architektennachlässe gehören. 1988 wurde Klotz zum Gründungsdirektor des Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZIK) in Karlsruhe berufen und war parallel erster Rektor der angeschlossenen HfG Karlsruhe. Sein Ziel war es, die traditionellen Künste um die Möglichkeiten der modernen Medientechnologien zu bereichern. Es sollte gleichermaßen gelehrt, geforscht und präsentiert werden. 1998 gab er diesen Posten auf um sich dem Aufbau des Museums für Neue Kunst Karlsruhe als Sammlermuseum zu widmen.

DAM Frankfurt, Ausstellungskatalog 1984, Cover mit Schnittisometrie des Dt. Architekturmuseums nach Entwurf von O. M. Ungers (IBAD).

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Oswald Mathias Ungers (1926-2007) Architekt und Architekturtheoretiker

Ungers stammte aus Mayen in der Eifel; er studierte von 1947 bis 1950 Architektur an der TH Karlsruhe, unter anderem bei Egon Eiermann. Nach erfolgreichem Abschluss gründete Ungers Architekturbüros in Köln (1950), Westberlin (1964), Frankfurt am Main (1974) und Karlsruhe (1983). Außerdem war Ungers ab 1963 Professor an der TU Berlin und dort 1965-1967 Dekan der Fakultät für Architektur. Kurz vor Ausbruch der in Berlin besonders starken studentischen Unruhen der späten 1960er Jahre verabschiedete er sich für ein Jahrzehnt in die USA: 1967 wurde er Professor an der Cornell University in Ithaca im Bundesstaat New York war 1969-1975 deren „Chairman of the Department of Architecture“. Gleichzeitig erhielt er Professuren an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts (1973) und der University of California in Los Angeles (UCLA) (1974–1975). 1979-1980 war Ungers an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien tätig und 1986-1990 an der Kunstakademie in Düsseldorf (1986–1990). Er zählte zu den maßgeblichen Theoretikern der architektonischen Postmoderne (von Ungers selbst als Zweite Moderne bezeichnet). Ungers’ Bauten (u. a. 1980-1984 der Umbau einer Doppelvilla des späten 19. Jahrhunderts am Schaumainkai in Frankfurt/Main zum Deutschen Architekturmuseum) zeichnen sich durch strenge geometrische Gestaltungsraster aus. Grundlegende gestalterische Elemente seiner Architektur sind elementare Formen wie Quadrat, Kreis bzw. Kubus und Kugel, die er in seinen Entwürfen variiert und transformiert. Dies wird auch in der Fassadengestaltung sichtbar. Als Architekturtheoretiker und Hochschullehrer entwickelte Ungers das, was seine Kritiker „Quadratismus“, seine Bewunderer einen „deutschen Rationalismus“ nannten. Er griff dabei zurück auf die Lehre von Jean-Nicolas-Louis Durand (erster Architekturlehrer an der 1794 gegründeten École Polytechnique in Paris), der 1820 seine Handbücher mit geometrischen Urtypen für „jedes x-beliebige Bauwerk“ publiziert hatte. Ungers berief sich in seiner Formensprache explizit auf elementare und vom jeweiligen Zeitgeschmack unabhängige Gestaltungsmittel bzw. Archetypen der Architektur sowie auf historische Vorbilder aus der römisch-griechischen Antike. Sein Werk wurde deshalb auch gelegentlich als sehr formalistisch kritisiert. Wie kaum ein anderer deutscher Architekt nach Nachkriegszeit ist Ungers seiner einmal gewählten Formensprache jedoch über Jahrzehnte treu geblieben. Schüler von Ungers sind unter anderem Max Dudler, Hans Kollhoff, Christoph Mäckler, Rem Koolhaas und Jürgen Sawade – und an der TU Dresden Thomas Will, der (gleichzeitig mit Kollhoff) in Cornell studiert hat).

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Rob Krier (*1938) Architekt, Stadtplaner und Architekturtheoretiker

Rob Krier, der ältere Bruder von Leon Krier ( 13. Vorlesung), war nach dem Architekturstudium in München (1959–1964) bei Oswald Mathias Ungers in Berlin und bei Frei Otto in Stuttgart tätig. Nach Lehrtätigkeiten in Stuttgart und Lausanne war er 1976-1998 Professor an der TU Wien und 1986 Gastprofessor an der Yale University, New Haven, USA. International bekannt wurde Rob Krier durch seine 1975 erschienene Publikation „Stadtraum“, in der er sich - wie in seiner späteren Praxis - mit der städtebaulichen Rekonstruktion zerstörter urbaner Strukturen und (anknüpfend an Camillo Sitte, Theodor Fischer und die traditionalistische Städtebaulehre der Stuttgarter Schule) der Wiedereinbringung traditioneller Raumkompositionen in den Städtebau der Nachkriegszeit auseinandersetzt. In Anknüpfung an historische Vorbilder und archetypische Städtebaumuster entwickelte er unter anderem Typologien von Straßen- und Platzräumen. Beispiele seiner frühen stadtplanerischen Tätigkeit sind die im Umfeld der Internationalen Bauausstellung (IBA 1987) realisierten Blockrandbebauungen an der Ritterstraße (Kreuzberg, 1977–1980) und die Stadtvillen an der Rauchstraße (Tiergarten, 1980) in Westberlin sowie der Wohnkomplex in der Breitenfurterstraße in Wien (1981–1987). Sein 1976 in Wien gegründetes Büro verlegte er 1993 nach Berlin, da nach einem städtebaulichen Entwurf seines Büros das Projekt Kirchsteigfeld in Potsdam (1992–1997) realisiert wurde. Das in Partnerschaft mit Christoph Kohl geführte Büro zeichnete außerdem von 1993 bis 2010 verantwortlich für städtebauliche Projekte in ganz Europa, hauptsächlich in den Niederlanden: De Resident in Den Haag (1989–2001), Noorderhof in Amsterdam (1995–1999), Meander in Amsterdam (1995–2006), Brandevoort bei Helmond (seit 1996), Citadel Broekpolder in Beverwijk-Heemskerk (seit 2001), Gildenkwartier in Amersfoort (1997–2005) oder Slot Haverleij bei Herzogenbusch (1998–2011). 2010 zog sich Rob Krier aus dem Büro zurück, steht ihm aber weiterhin als Berater zur Seite. Rob Krier ist darüber hinaus als Bildhauer tätig und realisiert überwiegend Skulpturen für öffentliche Räume. 1997 wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft im Bund Deutscher Architekten BDA verliehen.

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Literatur:

Umberto Eco: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München 1986.

Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose, München 1984.

Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, 5. Auflage, Frankfurt/Main 1994.

Heinrich Klotz: Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion (Begleitbuch z. Ausst. DAM Frankfurt/Main 1986), München 1986.

Heinrich Klotz: Revision der Moderne. Postmoderne Architektur 1960-1980 (Begleitbuch z. Ausst. DAM Frankfurt/Main 1984), München 1984.

Heinrich Klotz: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 1960-1980, Braunschweig/Wiesbaden 1984.

Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, 4. Aufl., Berlin 1999.

Maximilian Welsch: Unsere postmoderne Moderne, 7. Aufl., Berlin 2008.

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Avantgarde und Tradition im 20. Jahrhundert

13. Vorlesung

Notizen aus der Provinz

Biografische Daten: Hans Kollhoff (*1946) Architekt und Hochschullehrer

Kollhoff studierte 1968-1974 Architektur an der Universität Karlsruhe und der TU Wien. 1975 diplomierte er in Karlsruhe bei Ottokar Uhl; danach war er Stipendiat an der Cornell University in Ithaca, New York und dort bis 1978 auch Assistent bei Oswald Mathias Ungers. 1979-1983 folgte eine Assistententätigkeit an der TU Berlin und 1984 die Gründung des eigenen Architekturbüro (in Büropartnerschaft mit der Architektin Helga Timmermann), das in Deutschland und Europa tätig ist, vorwiegend im Büro-, Geschäfts- und Wohnungsbau. 1990-2012 war Kollhoff Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich; parallel dazu gründete er ein Atelier in Rotkreuz in der Schweiz. Seinen internationalen Rang unterstreichen mehrere Gastprofessuren und zahlreiche Vortragsreisen im In- und Ausland. Im Gegensatz zu seinen ersten großen Projekten fallen Hans Kollhoffs späte Bauten nicht zuletzt durch die Verwendung althergebrachter Materialien wie Naturstein und Ziegel in traditionell handwerklicher Verarbeitung auf. Seine Architektur entwickelte sich mehr und mehr in Richtung einer betont traditionalistischen Formensprache, bei der er oft klassizistische Motive aufgreift und sich ausdrücklich auf Vorbilder beruft, die über Auguste Perret und die Klassizisten des 19. Jahrhunderts bis in die italienische Renaissance zurückreichen. 2009 scheiterte er mit einer Klage gegen die Vergabe des Neubaus des Berliner Stadtschlosses an den Wettbewerbssieger Franco Stella. Kollhoff hatte mit seinem Büro den dritten Platz im Schlosswettbewerb belegt. Nach dem Urteil forderte er den Neustart des Vergabeverfahrens.

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Leon Krier (*1946) Architekt, Stadtplaner und Architekturtheoretiker

Léon Krier studierte Architektur an der Universität Stuttgart und der Academy of Architecture (AA) in London und arbeitete danach unter anderem bei James Stirling (1968–70) und Josef Paul Kleihues (1973–74); seit 1974 ist er selbstständig. Bei Publikationen kooperiert er häufig mit dem neohistoristischen Architekten Demetri Porphyrios. Krier fordert eine Abkehr von den Prinzipien der Architektur des Neuen Bauens (bzw. der Weißen Moderne oder des International Style) und des Städtebaus im Sinne der Charta von Athen. Stattdessen sieht er im Klassizismus, wie er in Europa zwischen 1770 und 1830 praktiziert wurde, ein zeitlos gültiges Modell für das aktuelle Bauen. Allerdings sollen die Elemente der ehemals durchgehend symmetrisch und hierarchisch gegliederten Bauensembles einzeln und frei (also gewissermaßen postmodern kontingent) verwendet werden können. Insbesondere wendet sich Krier gegen das industrialisierte, kapitalistisch bestimmte Bauen, in welchem er einen Grund für die zunehmende Verhässlichung der Welt sieht. Demgegenüber propagiert er eine handwerklich orientierte, künstlerische Architekturhaltung, die sich stark an modernekritischen Tendenzen des späten 19. Jhs. (Arts & Crafts, Gartenstadtbewegung) orientiert und unausgesprochen auf einer vormodernen Gesellschaftsvorstellung basiert. Kriers Architekturideal ist damit Teil einer konservativ-traditionalistisch bzw. essentialistisch geprägten Kulturkritik, die allerdings teilweise von Missverständnissen ausgeht und ihre gedanklichen Widersprüche durch eine apodiktische Geltungsbehauptung zu überdecken sucht. 1986 betreute Leon Krier die englische Ausgabe einer kurz zuvor auf Deutsch erschienenen Publikation über den NS-Architekten Albert Speer; dass er das Buch zu einem bibliophilen Prachtband ausgestaltete, Speer zum zeitlos gültigen Vorbild erklärte und sich selbst dabei faktisch zum Klassiker stilisierte, trug ihm vehemente Kritik ein, die bis heute anhält. Leon Krier legte viele als Idealentwürfe ausgearbeitete großräumige Stadtplanungen vor. Dabei wandte er immer weniger die Planungsmethoden der technokratischen Moderne an, sondern entwickelte sich in Richtung Neoklassizismus. Als Städtebautheoretiker greift Krier das Dogma von der Aufteilung der Stadt in Funktionszonen an, wie es die CIAM vertreten hatten. Stattdessen fordert er die motivisch, typologisch und funktional durchmischte und gemäßigt verdichtete Kleinstadt nach Vorbildern des 18. und 19. Jahrhunderts. Eine konkrete Umsetzung dieser Ideen ist Poundbury, eine Musterstadt (die wegen der Konkurrenz zum benachbarten Dorchester allerdings administrativ nicht als Stadt gelten darf) in der südwestenglischen Grafschaft Dorset, die auf eine persönliche Initiative des britischen Thronfolgers Prinz Charles zurückgeht und eines der bekannten europäischen Beispiele des sog. „New Urbanism“ darstellt. Hier zeichnet Leon Krier seit 1993 für den Masterplan und die Gestaltungsrichtlinien verantwortlich.

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Paul Kahlfeldt (*1956) Petra Kahlfeldt (*1961) Architekten und Hochschullehrer

Von 1976 bis 1978 machte Paul Kahlfeldt eine Lehre als Bau- und Möbeltischler. 1979-1984 studierte er Architektur an der TU Berlin (Diplom bei Otto Steidle) und arbeitete danach in verschiedenen Berliner Architekturbüros. Seit 1987 ist er in Bürogemeinschaft mit seiner Frau Petra Kahlfeldt selbständig tätig, daneben war 1988-1992 Leiter des Berliner Büros von Josef Paul Kleihues. 1999-2001 arbeitete Kahlfeldt als Koordinator für die bauliche Wiederherstellung des Festspielhauses Hellerau in Dresden. 1999-2005 war er Professor für Entwerfen, Baukonstruktion und Gebäudetechnologie an der TU Kaiserslautern; 2004 promovierte er an der TU Delft (Hinweis: In den Niederlanden unterliegt eine Promotion höhere Anforderungen als in Deutschland; sie entspricht fast einer deutschen Habilitation). Seit 2005 ist Kahlfeldt Professor für Grundlagen und Theorie der Baukonstruktion an der Universität Dortmund. Er ist Mitglied im Vorstand der Internationalen Bauakademie Berlin und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Werkbunds. Petra Kahlfeldt studierte 1979-1985 Architektur an der TU Berlin und der Universität Florenz; seit 1987 ist sie in Bürogemeinschaft mit Paul Kahlfeldt selbstständig tätig. 1990-1995 war sie außerdem wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin, 1997-1998 Stipendiatin der Deutschen Akademie „Villa Massimo“ in Rom. 2000-2014 war sie Mitglied des Landesdenkmalrats der Stadt Berlin; seit 2004 ist sie Professorin im Lehr- und Forschungsgebiet „Historische Baukonstruktionen, Denkmalpflege und Entwurf“ der Hafencity-Universität Hamburg, seit 2008 Mitglied im Kuratorium des Architekten- und Ingenieurvereins (AIV) zu Berlin.

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Literatur: Deutscher Werkbund e.V. (Hg.), Gerwin Zohlen (Bearb.): Dudler Kahlfeldt Kleihues. Projekte

für Berlin, Berlin 2005 (mit einer guten analytischen Einführung von G. Zohlen).

Verena Hartbaum: Der Walter-Benjamin-Platz. Materialien zur Decodierung (Disko 26), Nürnberg 2013 (Masterarbeit an der AdBK Nürnberg) digitale Fassung unter: http://a42.org/154.0.html

Paul Kahlfeldt, Petra Kahlfeldt: Moderne Architektur. Anmerkungen zur Baukunst unserer Zeit. Mit einer Darstellung der Bauten und einem Werkverzeichnis, Berlin 2006 (sehr auf Eigenlob ausgerichtet und mit einer Argumentation, die sich auf einigermaßen problematische Weise gegen Kritik immunisiert).

Hans Kollhoff: Über Tektonik in der Baukunst, Braunschweig-Wiesbaden 1993.

Hans Kollhoff: Kollhoff und Timmermann Architekten. Projekte 2000-2005, Berlin 2016 (mit einem ausführlichen, aber sehr unkritischen Vorwort von Jan Büchsenschuß).

Internet: http://www.thepolisblog.org/2012/09/conversing-with-sketches-of-leon-krier.html (der

Stadtplaner Hector Fernando Burga zu den Cartoons von Leon Krier).

http://www.zeit.de/1987/04/grossartig-und-sublim (der Architekturhistoriker Hartmut Frank über Leon Kriers Buch zu Albert Speer).

https://www.architectural-review.com/rethink/viewpoints/leon-krier-on-sustainable-urbanism-and-the-legible-city/8659343.article (Artikel von Leon Krier zu seinem Ideal von Städtebau [The Architectural Review, Februar 2014]).

https://www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/article154083485/Albert-Speer-Das-war-gute-Architektur.html (Interview mit Leon Krier anlässlich seines 70. Geburtstags [DIE WELT, 07.04.2016]).

https://www.welt.de/print-welt/article228939/Die-Sache-mit-den-Quadraten.html (Hans Kollhoff über seinen Lehrer Oswald Mathias Ungers [DIE WELT, 12.07.2006]).

https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/kb/article/view/11307/5168 (Interview mit Paul Kahlfeldt, der sich selbst dabei als „Speerspitze der Avantgarde“ bezeichnet [aus: A10. new European architecture, Heft 14, 2006 bzw. Kritische Berichte 35/2007, S. 11-17]). auch als elektronische Ressource bei der SLUB.

Außerdem: http://spektakel.blogsport.de/broschur/broschur-1/martin-buesser-von-der-avantgarde-

zur-selbstreferentialitaet/ (Überblick über künstlerische Avantgarden im 20. Jahrhundert, ihr Selbstverständnis und ihre Möglichkeiten)

http://www.zeit.de/2016/51/identitaet-diversitaet-kulturen-kampf (Der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz über den gegenwärtigen Grundsatzstreit zwischen einem (post)modern-kontingenten und einem traditionell-essentialistischen Kulturbegriff. Auf einer allgemeinen Ebene auch sehr erhellend für das Verständnis der aktuellen Architekturdebatte in Deutschland).