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Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Deutsche Literatur Sozialistischer Realismus? Zum Verhältnis von `Authentizität´ und `Symbolismus´ in Anna Seghers’ Roman „Das siebte Kreuz“ Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Bachelor of Arts eingereicht von: Inga Knörig

Bachelor Thesis Literaturwissenschaften

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Titel: Sozialistischer Realismus? Zum Verhältnis zwischen Authentizität und Symbolismus in Anna Seghers' "Das Siebte Kreuz"Die mit "sehr gut" bewertete Bachelor-Abschlussarbeit untersucht die Literaturprogrammatik der deutschen Schriftstellerin Anna Segehers anhand eines ihrer bekanntesten Romane - einer Parabel über die gesellschaftliche Verfassung während des Nationalsozialismus.

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  • Humboldt-Universitt zu Berlin Institut fr Deutsche Literatur

    Sozialistischer Realismus? Zum Verhltnis

    von `Authentizitt und `Symbolismus in

    Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz

    Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des

    akademischen Grades eines Bachelor of Arts

    eingereicht von:

    Inga Knrig

  • Inhaltsverzeichnis

    Einleitung ............................................................................................................... 1

    1. Die marxistische Literaturkonzeption zeit- und literaturwissenschaftliche

    Kontextualisierung .................................................................................................. 6

    1.1 Die Konzeptionalisierung einer proletarisch-revolutionren Literatur zum

    Ende der Weimarer Republik (1924-1933) ......................................................... 6

    1.2 Die Kunstprogrammatik(en) einer sozialistisch-realistischen Literatur ...... 9

    1.3 Konsolidierung antifaschistischer Schriftsteller im Exil und das Programm

    einer nationalen Dichtung ................................................................................. 11

    1.4 Die Expressionismusdiskussion im Exil divergierende Anstze einer

    realistisch-kritischen Literatur .......................................................................... 15

    2. Anna Seghers Romankunst im Kontext der Konzeptionalisierung einer

    antifaschistischen Literatur ................................................................................... 19

    2.1 Anna Seghers Beitrag zur Expressionismusdebatte Der Briefwechsel mit

    Georg Lukcs .................................................................................................... 19

    2.2 Anna Seghers poetologisches Credo: verzaubern` und erhellen` ........... 21

    2.3 Anna Seghers Deutschlandbild: Vaterlandsliebe .................................... 23

    2.4 Die Dialektik vom gewhnlichen und gefhrlichen Leben ................. 25

    3. Authentizitt und Symbolismus im Roman Das siebte Kreuz .......................... 29

    3.1 Die Sache mit dem Kreuz Dokument und Fiktion innerhalb der

    Materialgrundlage ............................................................................................. 29

    3.2. Die Flucht als Strukturmittel Das siebte Kreuz als Gesellschaftsanalyse?

    ........................................................................................................................... 31

    3.3. Die Relativitt der Gegenwart berzeitliche Evokationen im Siebten

    Kreuz ................................................................................................................. 35

    3.4. [] in jenen wilden Zeiten eine unwirkliche Zeit nacherlebbar

    gestalten ............................................................................................................. 38

    Synopsis ................................................................................................................ 44

  • 1

    Einleitung

    Die Stabilisierung des Faschismus zwischen 1933 und 1935 zwang viele deutsche

    Schriftsteller und Schriftstellerinnen zum Auszug ins Exil, wo sie unter

    erschwerten materiellen Bedingungen und in Isolation neue Strategien der

    literarischen Gegenwartsbewltigung entwickelten. In dieser Zeit der sthetischen

    Neuorientierung der Exilautoren und deren Bemhungen um eine Romantheorie,

    die in geeigneter Weise fhig wre, Kritik am Faschismus zu ben, entstand eines

    der wirkungsmchtigsten und zugleich erfolgreichsten Werke der deutschen

    Exilliteratur: Anna Seghers2 Roman Das siebte Kreuz. Ein Roman aus

    Hitlerdeutschland 3.

    Die Fluchtgeschichte des KZ-Hftlings Georg Heisler ist einer der

    meistinterpretierten Texte der deutschen Literatur und wurde auf vielfltige

    mediale Weise verarbeitet: Nach Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe in

    den USA im Jahr 19424 und der Umsetzung als Comic strip Version sowie als

    Armee-Ausgabe, wurde der Roman 1944 durch den amerikanischen Regisseur

    Fred Zinnemann verfilmt5.

    1 Anna Seghers: Brief an Iwan Anissimow vom 23. September 1938. In: ber Kunstwerk und

    Wirklichkeit, Bd.2, S. 16. 2 Eigentlich Netty Radvanyi, geb. Reiling. 3 Anna Seghers: Das siebte Kreuz. Aufbauverlag Berlin u. Weimar 1966. In der vorliegenden

    Arbeit wird nach dieser Ausgabe zitiert, da keine Vernderungen im Vergleich zu frhren

    Ausgaben festgestellt wurden. 4 Die englischsprachige Ausgabe erschien unter dem Titel The seventh cross im Verlag Little,

    Brown & Co. Vgl. Stephan, Alexander: Anna Seghers Das siebte Kreuz. Welt und Wirkung

    eines Romans, Berlin 1997, S. 354. 5 Vgl. (u.a) Zehl-Romero, Christiane: Anna Seghers, Hamburg 1993, S. 64 f.

    Ich werde einen kleinen Roman beenden, etwa 200 bis 300 Seiten,

    nach einer Begebenheit, die sich vor kurzem in Deutschland zutrug.

    Eine Fabel also, die Gelegenheit gibt, durch die Schicksale eines

    einzelnen Menschen sehr viele Schichten des faschistischen

    Deutschlands kennenzulernen.1

  • 2

    Wenige Monate nach der Verffentlichung der amerikanischen Ausgabe erschien

    im Januar 1943 die erste deutschsprachige Ausgabe im mexikanischen Exilverlag

    El Libro Libre.6

    Das Siebte Kreuz teilte das Schicksal vieler anderer Werke der Exilliteratur der

    abenteuerlich anmutende Weg von Frankreich aus ins auereuropische Ausland

    ist symptomatisch fr die Zeit seiner Entstehung.7 Zudem erreichte der Roman

    erst Jahre nach seiner Entstehung und Verffentlichung das Leserpublikum in

    Deutschland und erfuhr bis in die siebziger Jahre hinein zunchst nur in der

    damaligen DDR grere Beachtung.8 Innerhalb der literaturwissenschaftlichen

    Auseinandersetzung mit Seghers Roman Das siebte Kreuz wurde wiederkehrend

    Erstaunen darber geuert, dass es gerade einer Schriftstellerin aus der Distanz

    des Exils gelungen war, ein authentisch wirkendes, zeitgenssisches Bild der

    Menschen in Hitlerdeutschland zu gestalten, das zeigt, was [..] das deutsche

    Volk, in den zwlf Jahren der Naziherrschaft an Qualen und Leiden

    durchgemacht hat[]9. Die noch bis in die heutige Gegenwart anhaltende

    Popularitt des Romans erklrt sich demnach nicht nur aus einer spannend

    inszenierten Fluchtgeschichte, sondern grndet vor allem auf den erzhlerischen

    Einfall der Autorin, das gesellschaftliche Spektrum dieser Zeit knstlerisch

    darzustellen. Die Beobachtung, Anna Seghers habe mit ihrem Roman einen

    Querschnitt durch Nazideutschland literarisch umsetzen wollen10, impliziert die

    Nhe zu einer realistischen Schreibweise. Bei der Lektre des Siebten Kreuzes

    wird jedoch deutlich, dass sich der Roman nicht in einer wirklichkeitsabbildenden

    Darstellungsweise erschpft. Bereits innerhalb der Titelmetaphorik wird der

    Bezug zu einer Anverwandlung jdisch-christlicher Terminologie deutlich und

    verweist auf eine poetisch erweiterte Sinngebung, in welcher das mythische

    6 Vgl. (u.a.) Stephan, S. 30. 7 Vgl. Bernhardt, Rdiger: Erluterungen zu Anna Seghers Das siebte Kreuz, Hollfeld 2004, 3.

    Auflage, S. 5. 8 Die deutschsprachige Nachkriegsausgabe des Siebten Kreuzes erschien 1946 im Berliner

    Aufbauverlag. Vgl. Sonja Hilzinger: Anna Seghers Das siebte Kreuz. Stuttgart 2004, S. 63. 9 Kurt Heyd: Rede anlsslich der Verleihung des Georg-Bchner-Preises fr Anna Seghers 1947,

    in: Argonautenschiff 7 (1998), S. 53. 10 Vgl. (u.a.) Stephan, S. 35.

  • 3

    Element mit dem realen Grundstoff, das realistische Element mit dem mythischen

    Inhalt []11 eine unlsliche Verbindung eingeht.

    Die scheinbare Vielschichtigkeit des Romans wirft die Frage auf, ob und

    inwiefern Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz die literatursthetischen

    Forderungen nach Abbildung der Wirklichkeit erfllt, wie sie im Rahmen der

    Debatten um Formalismus und Sozialistischen Realismus whrend der dreiiger

    Jahre im Exil festgelegt wurden.12

    Diese Arbeit folgt daher dem Interesse, der Fragestellung nachzugehen, ob und

    inwiefern es Anna Seghers versteht, die literarisch-sthetische Vermittlung der

    vermeintlichen Dichotomien Symbolismus` und Authentizitt` zu realisieren.

    Der Terminus Symbolismus` versteht sich in dieser Arbeit als Oberbegriff fr die

    im Roman Das siebte Kreuz motivisch und episodisch montierten knstlerischen

    Elemente, welche ber eine unmittelbare Sinngebung hinausgehen und das

    Dargestellte in einem erweiterten Bedeutungszusammenhang erscheinen lassen. In

    diesem Zusammenhang soll die hier aufgestellte These verteidigt werden, dass

    Anna Seghers symbolische Evokationen nicht nur als erzhlerische Mittel in ihren

    Roman Das siebte Kreuz montiert werden, sondern, dass diese auch konstitutiv

    fr eine inhaltliche Aussage des Romans sind. Hinsichtlich einer potentiellen

    Authentizitt` des Romangeschehens soll erkennbar werden, inwieweit sich Anna

    Seghers ber Geschehnisse aus dem nationalsozialistischen Deutschland

    informieren konnte und inwiefern der zeitgenssische Alltag mit dem

    Romangeschehen und dem Figurenensemble korrespondiert.

    Entsprechend der umfangreichen und vielfltigen Rezeptionsgeschichte des

    Romans, ist das Angebot an Forschungsbeitrgen zum Siebten Kreuz vielfltig.

    Die Notwendigkeit einer besonders kritischen Lektre der Forschungsliteratur ist

    bei der Begutachtung derjenigen Beitrge zu gewhrleisten, die in der Phase des

    11 Christa Wolf: Zeitgeschichten, in: Anna Seghers: Ausgewhlte Erzhlungen, Darmstadt 1983, S.

    363, zit. nach Stephan, S. 7. 12 Vgl. Siegrid Thielking: Warten Erzhlen berleben. Vom Exil aller Zeiten in Anna Seghers

    Transit, in: Argonautenschiff 4 (1995), S. 133f. und Zimmer, Michael: Anna Seghers Das siebte

    Kreuz. Erluterungen, Interpretationen, Materialien, Hollfeld 2001 , S. 56ff.

  • 4

    geteilten Deutschlands, sowohl in der DDR als auch in der BRD, publiziert

    wurden.

    Whrend Seghers` Roman in der DDR als schulische Pflichtlektre in den Rang

    der sozialistisch-realistischen Aufbauliteratur erhoben wurde13, fhrten

    ideologische Ressentiments seitens der westdeutschen Literaturwissenschaft lange

    Zeit zum Boykott des Siebten Kreuzes und der Autorin Anna Seghers14. Die

    mehrheitlichen Interpretationen der DDR-Literaturwissenschaftler orientierten

    sich zum Zwecke einer ideologischen Funktionalisierung von Literatur an

    werkimmanenten Implikationen, die eine Charakterisierung des Siebten Kreuzes

    als politischen, sozialistisch agitatorischen Roman rechtfertigen.15 Nach der

    deutschen Wiedervereinigung und der Beendigung des Kalten Krieges wurde der

    Roman dann einer interpretatorischen Revision unterzogen, im Zuge derer nicht

    nur der Leistung des Werkes als Sozialanalyse strker Rechnung getragen,

    sondern auch aufmerksamer als zuvor sthetische Besonderheiten des Romans

    untersucht wurden.16

    Die Auseinandersetzung mit Seghers Roman gewinnt dort an Brisanz, wo neue

    literatursthetische Anstze die Werkanalyse bestimmen. Ein besonderer

    Schwerpunkt der Forschungsliteratur entfaltete sich vor allem im letzten Jahrzehnt

    und berhrt das Verhltnis von zeitgeschichtlicher Authentizitt und epischer

    Fiktion. Anhand von lokalspezifischen Recherchen17 und Zeitzeugenberichten18

    wird versucht nachzuweisen, inwieweit sich die Autorin obwohl sie zur

    Entstehungszeit des Romans den schwierigen materiellen Bedingungen des Exils

    ausgeliefert war dennoch ber Vorgnge aus ihrer Heimat informieren konnte.

    Ausgangspunkt und Basis fr dieses Forschungsinteresse ist die Formierung einer

    13 Vgl. Stephan, S. 9 und S. 281-296. 14 Vgl. Valentin Merkelbach: Fehlstart Seghers-Rezeption. Vom Kalten Krieg gegen die Autorin in

    der Bundesrepublik, in: Roos u. H.-Roos (Hrsg.): Anna Seghers Materialienbuch, S. 9-24. 15 Vgl. (u.a.) Neugebauer, 1962, S. 51-67. 16 Vgl. (u.a.) Stephan, S. 34 62; Hilzinger (2000), S. 176f. 17 Vgl. Angelika Arenz-Morsch: Das KZ Osthofen im Spiegel neuerer Forschung, in:

    Argonautenschiff 2 (1993), S. 174-194. 18 Erwin Rotermund verffentlichte die Lagererinnerungen eines ehemaligen KZ Hftlings aus

    Sachsenhausen, der ber die Flucht von sieben Flchtlingen und das Aufstellen der sieben Kreuze

    berichtet, in: Argonautenschiff 10 (2001), S. 255f.

  • 5

    vernderten Auffassung ber das Verhltnis von Gesellschaft und Literatur seit

    dem Ende der 1980er Jahre, die sich in der Terminologie des New Historicism

    manifestierte.19

    In diesem Zusammenhang gelangt auch der amerikanische Germanist Alexander

    Stephan in seinen Ausfhrungen ber die sozial- und alltagsgeschichtlichen

    Aspekte des Romans zu der Schlussfolgerung, dass Seghers Verfahren, die

    Geschichte der einfachen` Menschen intensiver als die Struktur der Machteliten

    zu untersuchen, mit der Vorgehensweise der neuen Geschichtsbewegung

    korrespondiere.20

    Innerhalb der Programmatik dieser Forschungsrichtung dient nicht mehr nur der

    gedruckte literarische Text als Vorlage der Interpretation, sondern es wird anhand

    unverffentlichter Dokumente der Auseinandersetzung der Autorin mit ihrem

    Stoff und ihrer Wirkungsvorstellung nachgesprt. Eine Transparentwerdung des

    literarischen Textes ber den Zugang autobiographischer Mitteilung ist in diesem

    Zusammenhang ein unerlssliches Hilfsmittel bei der Werkinterpretation.

    Insbesondere die Kunstprogrammatik Anna Seghers als konstitutives Element der

    Romanproduktion, gibt wichtige Aufschlsse ber die Intention ihres literarischen

    Schaffens, obwohl auch sie selbst darauf hingewiesen hat, dass die Ergebnisse

    und die Anschauungen eines Schriftstellers am allerklarsten [werden] aus seinem

    Werk, auch ohne spezielle Biographie21.

    Analog zu dieser Art der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit literarischen

    Texten soll auch die vorliegende Untersuchung verfahren, indem nicht nur der

    Roman Das Siebte Kreuz im Hinblick auf den Einsatz symbolischer Elemente und

    authentischer Bezge analysiert werden soll, sondern auch uerungen der

    Autorin zu ihrer Kunstprogrammatik, ihrem Selbstverstndnis und deren

    Reflexion innerhalb des literarischen Textes errtert werden sollen.

    19 Vgl. Klausnitzer, Ralf: Literaturwissenschaft. Begriffe/Verfahren/Arbeitstechniken, Berlin 2004,

    S. 204f. 20 Vgl. Stephan, S. 10 und S. 148f. 21 Christa Wolf spricht mit Anna Seghers, in: ber Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 2, S. 36.

  • 6

    1. Die sozialistische Literaturtheorie im zeitpolitischen Kontext (1924-1939)

    1.1 Die Konzeptionalisierung einer proletarisch-revolutionren Literatur zum

    Ende der Weimarer Republik (1924-1933)

    Die literaturtheoretischen Debatten ber die Bestimmung des Wesens und der

    Funktion sozialistischer Literatur, gewannen in Deutschland ab 1924 an

    besonderer Bedeutung und reflektierten ihren Wirkungskreis in der Herausbildung

    einer eigenstndigen Literaturform und in der kritischen Revision des

    brgerlichen Kunsterbes.22 Beeinflusst von den sowjetischen Literaturdebatten

    setzte sich die Bezeichnung proletarisch-revolutionre Literatur als

    Charakterisierung einer sozialistischen Literatur durch, die sich gegen eine

    brgerlich-humanistische Literaturform abgrenzte.23 Die ersten Versuche zur

    Etablierung einer materialistisch-dialektischen Literaturwissenschaft setzten neue

    Akzente in der gesamtdeutschen Literaturentwicklung. Gleichzeitig fhrte der

    radikale Affront gegen eine als unterlegen empfundene Bourgeoisie-Literatur`

    jedoch auch zu einer Krise innerhalb der Bndnisbeziehungen zwischen

    proletarischen, brgerlichen und radikal-demokratischen Schriftstellern, die erst

    im Exil wieder erneuert werden sollten.24

    Durch eine Initiative der kommunistischen Schriftsteller wurde ab 1925 im Lager

    der KPD eine verstrkte Kopplung von Partei- und Kulturarbeit beschlossen.25

    Die sich herausbildende proletarisch-revolutionre Literaturbewegung war in

    diesem Sinne eng mit der unmittelbaren politischen Praxis des Klassenkampfes

    und der Kapitalismuskritik verbunden, wie sie von der Kommunistischen Partei

    Deutschlands postuliert wurde.

    22 Vgl. Rosenberg, Johanna: berwindung des politischen und sthetischen Subjektivismus, in:

    Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung des marxistischen

    literaturtheoretischen Denkens 1918-1933. Hrsg. v. Manfred Nssig (u.a.). Berlin u. Weimar 1980,

    S. 223-455, hier: S. 413. 23 Vgl. Nssig, Manfred: Das Ringen um proletarisch-revolutionre Kunstkonzeptionen (1929-

    1933), in: ebd., S. 469-709, hier S. 474 f. 24 Vgl. Rosenberg, S. 428 f. 25 Vgl. ebd., S. 362f.

  • 7

    Besonders bedeutsam fr die Identittsstiftung einer marxistischen Kulturpolitik

    war die organisierte Zusammenarbeit sozialistischer und antifaschistischer

    Schriftsteller.26 Am 19. Oktober 1928 wurde die erste sozialistische deutsche

    Autorenvereinigung, der Bund proletarisch-revolutionrer Schriftsteller (BPRS),

    in Berlin gegrndet.27 Die Etablierung des BPRS stand im Zeichen eines

    umfassenden Vorgangs zur Herausbildung einer eigenstndigen sozialistischen

    Kultur im zeitgenssischen Deutschland.28 Diese Institution, der u.a. Johannes R.

    Becher, Willi Bredel, Alfred Kurella und ab 1929 Anna Seghers angehrten,

    fungierte als Arbeitskollektiv, in dem grundstzliche Fragen ber Auffassung und

    Mglichkeiten einer marxistisch fundierten Literatur errtert wurden.29 Die

    Einheit der marxistischen Kunstvorstellung rekurrierte sich aus einer

    bereinstimmenden gesellschaftspolitischen Zielvorstellung von Kunst und

    Literatur, nach der Literatur als Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeit

    operieren sollte.30

    Die aktuellen Bemhungen, eine Literaturtheorie zu etablieren, welche eine

    produktive gesellschaftsanalytische und aktivierende Funktion einnehmen sollte,

    ging konform mit den Einschtzungen der Kommunistische Internationale (KI)

    und der KPD ber die sozialpolitische Situation Deutschlands.31 Die

    Stabilisierung des sowjetischen Kommunismus strkte auch die

    Erwartungshaltung der deutschen Sozialisten gegenber einer mglichen

    zukunftsweisenden proletarischen Revolution, die im Zuge der Klassenkmpfe

    errungen werden sollte.32 Gleichzeitig wurden die anwachsende Popularitt der

    NSDAP-Demagogie und das Auftreten einer zunehmend erstarkenden vlkisch-

    nazistischen Propagandaliteratur ab 1928, von den Vertretern einer sozialistischen

    Literaturwissenschaft als neue Gefahrensituation erkannt, auf die auch mittels

    26 So wurde im gleichen Jahr, 1925, auch der SDS (Schutzverband deutscher Schriftsteller) als

    Arbeitsgemeinschaft deutscher Schriftsteller gegrndet. Vgl. Rosenberg, S. 370. 27 Vgl. Sachlexikon Literatur. Hrsg. von Volker Meid. Mnchen 2000, S. 947. 28 Vgl. Nssig, S. 472 f. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Klausnitzer, S. 203. 31 Vgl. Nssig, M., S. 474. 32 Vgl. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch ber Entwicklung und Werke, Leipzig 1980, S. 48.

  • 8

    sthetischer Strategien reagiert werden sollte.33 Im Sinne einer politischen

    Aktivierung der Leser fr die Parteinahme an der Schaffung einer sozialistischen

    Machtordnung, sollten Herz und Hirn der Arbeiterklasse und der breiten

    werkttigen Massen fr die [] Vorbereitung der proletarischen Revolution

    gewonnen werden`34. Die soziale Determination von Kunst, innerhalb derer

    Literatur als Agitatorin einer sozialistischen sthetik fungieren sollte, fute auf

    den Inhalten autoritrer kulturpolitischer Strategien und war in ihrer

    knstlerischen Praxis demnach auch starken Dogmatismen ausgesetzt. Den

    Magaben einer von Lenin inspirierten materialistisch-dialektischen

    Widerspiegelungsdoktrin35 folgend, operierte die proletarisch-revolutionre

    Literatur mit den Kategorien Wahrheit`36 und Wesen der Zeit37. Besonders ab

    1930, als die NSDAP zur zweitstrksten Fraktion im Deutschen Reichstag

    aufstieg, wurde die Notwendigkeit einer direkten Kritik am Faschismus, welcher

    als gefhrlichstes Phnomen des Imperialismus gedeutet wurde, durch eine

    Literatur, die die breite Masse der Bevlkerung erreicht, dringlicher.38 Johannes

    R. Becher, Vorsitzender des BRPS, trat in diesem Zusammenhang entschieden fr

    Das groe proletarische Kunstwerk39 ein, in welchem zwar kleine, operative

    Kunstformen toleriert wurden, das jedoch hauptschlich eine

    Wirklichkeitsabbildung im Sinne einer unmittelbaren Nacherlebbarkeit

    intendierte.40 Die Wirkungsmchtigkeit der proletarisch-revolutionren Literatur

    sollte durch eine schriftstellerische Methode verwirklicht werden, die die

    33 Vgl. Nssig, M., S. 470 f. 34Das Aktionsprogramm des BRPS von 1928.zitiert nach: Dr. Elisabeth Simons: Die Entwicklung

    deutscher Nationalliteratur von 1917 bis 1945, in: Deutsche Literaturgeschichte in einem Band,

    Hrsg. v. Prof. Dr. Hans Jrgen Geerdts , Berlin 1965, S. 575. 35 Vgl. W.L. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus (1908), in: Werke, Bd. 14, Berlin

    1977, S. 53. 36 In diesem Zusammenhang fundiert Wahrheit` auf den Wertvorstellungen einer marxistisch-

    leninistischen Gesellschaftslehre. Vgl. Nssig, S. 517. 37 Wieland Herzfelde, aus: Aktionen, S. 165, zitiert nach: Nssig, S. 482. 38 So auch durch die Verffentlichung des Rote Eine-Mark-Romans. Vgl. ebd., S. 633. 39 Entwurf zu einem Programm des BPRS. in: Traditionen, S. 394, zitiert nach: ebd., S. 630. 40 Vgl. ebd.., S. 634.

  • 9

    wirklich treibenden Krfte der Gesellschaft in unmittelbarer, nacherlebbarer

    Form darzustellen 41 vermochte.

    1.2 Die Kunstprogrammatik(en) einer sozialistisch-realistischen Literatur

    Die Mglichkeiten und die Funktion einer realistischen Schreibweise, wie sie

    Johannes R. Becher in seinen Ausfhrungen ber Das groe proletarische

    Kunstwerk propagierte, standen in engem Zusammenhang mit den sowjetischen

    Literaturdebatten und der Postulierung des von Stalin indoktrinierten

    Sozialistischen Realismus42. Diese Literaturprogrammatik forderte vom

    Schriftsteller eine wahrheitsgetreue und historische Konkretheit der

    knstlerischen Darstellung`, die mit den Aufgaben der ideologischen

    Umgestaltung und Erziehung der Werkttigen im Geiste des Sozialismus

    verbunden`43werden sollte. Der Sozialistische Realismus insistierte mit dem

    Postulat der Wahrheitstreue jedoch nicht so sehr auf eine Darstellung objektiver

    Realitt, als vielmehr auf die Veranschaulichung der proletarisch-revolutionren

    Fortschrittsentwicklung.44 Die Formulierung einer konkreten sthetischen

    Kunstprogrammatik proletarisch-revolutionrer, sozialistischer Literatur steht im

    Zeichen einer noch strker als zuvor beabsichtigten Symbiose zwischen

    marxistischer Weltanschauung und knstlerischer Methode.45 Im Sinne einer

    parteilich-ideologischen Erziehungsfunktion von Literatur, sollte der Protagonist

    der Dichtung durchgngig mit positiven Attributen besetzt sein und das

    Vorzeigebild des revolutionren Aktivisten verkrpern.46

    41 Johannes R. Becher: Unsere Wendung. Vom Kampf um die Existenz der proletarisch-

    revolutionren Literatur zum Kampf um ihrer Erweiterung, zitiert nach Nssig, S. 633. 42 Durch den Beschluss des Zentralkomitees vom 23.4.1932, ging die Bezeichnung Sozialistischer

    Realismus auf dem ersten Allunionskongress der sozialistischen Schriftsteller 1934 als sthetische

    Maxime in die Satzung des sowjetischen Schriftstellerverbandes ein. Vgl. Zimmer, S. 102. 43 Statut des Verbandes der Sowjetschriftsteller, in: Internationale Literatur 3 (1934), zit. nach

    Schmitt, Hans-Jrgen: Die Expressionismusdebatte. Materialen zu einer marxistischen

    Realismuskonzeption, S. 16. 44 Vgl. Kantorowicz, Alfred: Politik und Literatur im Exil. Hamburg 1978, S. 202. 45 Vgl. Nssig, S. 629. 46 Vgl. Kantorowicz, S. 203.

  • 10

    In Deutschland wurden die Debatten um eine einheitliche Methode, aufbauend auf

    den sowjetischen Debatten, besonders durch die divergierenden theoretischen

    Konzeptionsvorschlge von Georg Lukcs und Bertolt Brecht nachhaltig

    bestimmt.47 Der ungarische Literaturtheoretiker Lukcs bernahm den

    sowjetischen Realismusbegriff und forderte eine konsequente Verknpfung von

    Totalittsanspruch der sozialistischen Literatur mit einer politischen Erziehung

    des Lesers.48 Lukcs pldierte in diesem Zusammenhang fr eine

    Darstellungsweise, die darauf abzielen sollte, den Leser fr die

    Romanprotagonisten, fr ihre Entwicklung, fr ihre Person, fr ihr Geschick

    leidenschaftlich zu interessieren und warb fr eine Handlungskonzeption, die

    ein miterlebbares Bild vermittelt 49. Im Sinne einer realistischen Darstellung des

    Typischen, welches das menschlich-konstante mit dem historisch determinierten

    verbindet, sah Lukcs die wahre Leistung dieser Literaturform.50 Innerhalb des

    BPRS wurde sich auf Lukcs Postulat einer sthetischen Rezeption der

    gesellschaftlichen Totalitt weitgehend berufen. Dennoch wurde seine Forderung

    nach der Darstellung des Typischen als Manko empfunden, da diese Konzeption

    tendenziell nicht in der Lage sein wrde, Vernderungen der

    Gesellschaftsprozesse flexibel darzustellen.51

    Auch Bertolt Brecht war bei der Verwendung der Totalittskategorie vorsichtiger.

    So ging es ihm nicht, wie Lukcs, um eine Reproduktion der diffizil zu

    durchdringenden gesellschaftlichen Totalitt, sondern um eine Darstellungsweise,

    die in vereinfachender Form die Vorgnge auf der Bhne [] in ihrem

    allseitigen Zusammenhang und totalen Verlauf52 veranschaulichen sollte. Das

    47Auch andere Literaturtheoretiker beeinflussten die Entwicklung in entschiedenem Mae, doch

    fungieren Lukcs und Brecht als besondere Exponenten fr die zwei hauptschlichen Richtungen

    innerhalb der Entwicklung sthetischer Konzepte der Wirklichkeitsvermittlung. Vgl. Nssig, S.

    707 f. 48 Vgl. Mehnert, Gnther: Parteilichkeit und Sozialistischer Realismus. Leipzig/Jena/Berlin 1962,

    S. 5 ff. 49 Georg Lukcs: Reportage oder Gestaltung ? Kritische Bemerkungen anlsslich des Romans von

    Ottwalt, zit. nach Nssig, S. 648. 50 Vgl. Sachlexikon Literatur. Hrsg. von Volker Meid. Mnchen 2000, S. 553. 51 Vgl. Nssig, S. 652 f. 52 Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Dreigroschenoper, zit. nach Nssig, S. 663.

  • 11

    von Brecht formulierte Realismuskonzept erschpfte sich nicht in einer einfachen

    Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern zielte auf eine lebenswirkliche, komplexe

    Darstellung, die zum Zwecke der Einsichtvermittlung sinnlich und bildhaft

    geformt und suggestiv vermittelt werden sollte.53

    Insgesamt lsst sich fr die Periode zwischen 1924 und 1933 eine Vielfalt an

    Entwrfen und Vorschlgen zu einer Fundamentierung sozialistisch-realistischer

    Schreibweise konstatieren, die sowohl die Erfahrungen der sozialistischen

    Literaturpraxis, als auch die Bemhungen um eine eigenstndige und

    antifaschistische sthetik reflektieren. Eine so entstandene Mglichkeit

    verschiedener Lsungen54 ermglichte dann auch im Exil, als Grundlage fr die

    Debatten ber eine antifaschistische Literatur zu fungieren.

    1.3 Konsolidierung antifaschistischer Schriftsteller im Exil und das Programm

    einer nationalen Dichtung

    Die Frage nach dem Umsonst` der revolutionren Anstrengungen stellte sich

    1933 fr die linksgerichteten Intellektuellen in radikaler Zuspitzung. Unmittelbar

    nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 setzten Terroraktionen von

    nationalsozialistischer Seite gegen Andersdenkende ein.55 Die Machtergreifung

    Adolf Hitlers zwang nicht nur tausende linksintellektuelle Schriftsteller zum

    Auszug ins Exil, sondern strzte die Hoffnung und den Glauben an die

    Wirkungsmacht von Literatur im Kampf gegen den Faschismus in die Krise.56

    Trotz dieses Debakels bemhte man sich im Exil um eine Revision der

    literarischen Strategien und um eine Solidarisierung zwischen Kommunisten,

    Sozialisten und brgerlichen Humanisten in Form einer einheitlichen Front gegen

    53 Vgl. Jens, Walter: Statt einer Literaturgeschichte. Dichtung im Zwanzigsten Jahrhundert.

    Dsseldorf/ Zrich 1998, S. 270 f. und Nssig, S. 665 f. 54 Erwin Piscator: Das politische Theater, zitiert nach Nssig, S. 708. 55 Auch Anna Seghers wurde fr kurze Zeit verhaftet und musste schlielich nach Frankreich

    flchten: Vgl. Rotermund, Erwin: Wege durchs Zwanzigste Jahrhundert: Zeitzeugin Anna

    Seghers, in: Argonautenschiff 10 (2001), S. 67-78, hier S. 70. 56 Vgl. Schmitt, S. 11.

  • 12

    den Faschismus.57 Bereits kurze Zeit nach der Emigration wurden verschiedene

    Sttzpunkte im Ausland gegrndet, um die Opposition in Deutschland durch

    praktische und ideologische Arbeit zu frdern.58 Noch im Jahr 1933 wurde in

    Paris der von Goebbels aufgelste Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS)

    auch unter mageblicher Mitarbeit von Anna Seghers neu aufgebaut.59 Der

    SDS fungierte als Aktionskreis der deutschen Exilautoren in Frankreich und

    arbeitete unter der Devise, die deutsche Bevlkerung ber den wahren Charakter

    des NS-Staates aufzuklren und das Potential antifaschistischer

    Oppositionsstrukturen zu strken.60

    Angesichts der faschistischen Machtergreifung galt im Lager der Sozialisten nicht

    mehr die Diktatur des Proletariats als erklrtes Ziel, sondern es wurde eine

    antifaschistisch-demokratische Ordnung anvisiert, die durch den

    Zusammenschluss aller Demokraten in einer Volksfront verwirklicht werden

    sollte.61 In dem organisierten Zusammenschluss der vormals literarisch

    entfremdeten Vertreter einer brgerlichen und einer sozialistischen

    Literatursthetik artikulierte sich die gemeinsame Zielsetzung antifaschistischer

    Schriftsteller, die nationale Kultur vor dem Zugriff der nazistischen Ideologie zu

    bewahren.62

    Fr die Vorbereitung einer deutschen Volksfront wirkte vor allem der in Paris

    vom 21.- 25. Juni 1935 stattfindende I. Internationale Schriftstellerkongre zur

    Verteidigung der Kultur als elementares Ereignis.63 Initiiert wurde diese

    Veranstaltung von einer Gruppe franzsischer Schriftsteller, in deren Rahmen

    gemeinsame Strategien zur Abwendung einer Gefhrdung der Kultur durch die

    57 Vgl. Winckler, Lutz: Diese Realitt der Krisenzeit. Anna Seghers Deutschlandromane 1933-

    1949, in: Anna Seghers Mainzer Weltliteratur, S. 71-91, hier S. 74 f. 58Vgl. Dieter Schiller: Anna Seghers und der BPRS im Pariser Exil (1933-34), in:

    Argonautenschiff 7 (1998), S. 251- 266, hier S. 251. 59 Vgl. Batt, S. 74. 60 Vgl. ebd., S. 80 61 Vgl. Batt, S. 107 und Winckler, S. 75. 62 Vgl. Winckler, Lutz (Hrsg.): Antifaschistische Literatur Bd. I. Programme, Autoren, Werke,

    Kronberg 1977, S. 6 f. 63 Vgl. Schmitt, S. 12.

  • 13

    nazistische Ideologie entworfen wurden.64An erster Stelle der Tagesordnung stand

    der Themenkomplex Das kulturelle Erbe (im Original auf Franzsisch:

    LHritage Culturel) in diesem Zusammenhang ging es um die Verteidigung

    kultureller Traditionen und deren Stellung in einer vernderten

    gesellschaftspolitischen Situation.65 Darber hinaus wurde auf dem Pariser

    Kongress die Grndung der Zeitschrift Das Wort als Sprachrohr und

    Diskussionsforum der antifaschistischen Intelligenz im Exil beschlossen.66

    In der Phase des offensichtlichen Ausbleibens des antifaschistischen Umsturzes

    und der Stabilisierung des NS-Regimes wich der Glaube an eine Kurzlebigkeit

    des deutschen Faschismus zugunsten langfristiger Erwartungen in die

    Regenerationsfhigkeit demokratischer Potentiale innerhalb der deutschen

    Bevlkerung.67 Diese Hoffnung vieler emigrierter Schriftsteller artikulierte sich in

    der Maxime des anderen Deutschlands68, die eine positive, demokratisch-

    revolutionre Aufladung des von den Faschisten korrumpierten Nationalbegriffs

    vermitteln sollte. Indem denjenigen Deutschen gedacht wurde, die sich im

    Widerstand gegen das faschistische Regime behaupteten, versuchte man das Bild

    der deutschen Bevlkerung und der deutschen Kulturtradition zumindest

    ansatzweise zu rehabilitieren. Die Literatur dieser Phase wandte sich bevorzugt

    der gesellschaftlichen Analyse im faschistischen Deutschland zu, um die

    vernderten Voraussetzungen der Opposition auszumachen.69 Besonders der

    Epiktypus des Romans schien fr eine umfassende Analyse der vielschichtigen

    Wirklichkeitsvorgnge und der gesellschaftspolitischen Krisensituation

    geeignet.70

    64 So lautete es ganz allgemein in der Einladung zum Kongress. Vgl. Schmitt, S.12. 65 Vgl. Schmitt, S. 12 66 Vgl. ebd., S. 13 67 Vgl. Zimmer, S. 63 68 Ernst Toller prgte diesen Begriff in seinem beim Deutschen Tag` am 14.12.1936 gehaltenen

    Vortrag Unser Kampf um Deutschland, zit. nach: Sachlexikon Literatur, S. 252 69 Vgl. Winckler, Lutz: Die Realitt der Krisenzeit. Anna Seghers Deutschlandromane 1933-1949,

    in: Anna Seghers Mainzer Weltliteratur, S. 71-91, hier: S. 75 70 Vgl. Bock, Siegrid und Hahn, Manfred (Hrsg.): Antifaschistische Romane 1933-1945.

    Berlin/Weimar 1975, S. 49

  • 14

    Neben dem historischen Roman, der durch die Darstellung politischer Konflikte

    der europischen Geschichte modellhaft die Entwicklung zum deutschen

    Faschismus analysierte, etablierten sich der Exilroman, als literarische

    Situationsbestimmung des Exils, sowie der Deutschlandroman.71

    Auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress entwarf Johannes R. Becher in

    prgnanter Weise eine Programmatik der antifaschistischen sozialistischen

    Literatur.72 Diese sollte am empfindlichsten jede Abwandlung der Wahrheit

    zeigen und mit den Begriffen Wahrheit, Freiheit, Ehre, Glck, Liebe und Tod

    operieren, welche als hchste menschliche Kampfwerte73eingesetzt werden

    sollten. In diesem Sinne sollte eine Volksfrontliteratur auch durch ein positiv

    besetztes, proletarisch- humanistisches Menschenbild charakterisiert sein, anhand

    dessen eine unmittelbare Konfrontation mit dem Antihumanismus des NS-

    Regimes mglich sein knne.74 Im Mittelpunkt der Konzeptionalisierung einer

    nationalen antifaschistischen Dichtung stand der Gedanke einer Verteidigung der

    Poesie75 und einer Darstellungsweise, die im Stande wre, den ganzen

    Menschen76 zu erfassen. Analog zu der Postulierung einer nationalen

    einheitlichen Dichtung der Exilschriftsteller, sprach Becher bereits 1935 von einer

    zweiten Blte77 der kritisch-realistischen Literatur.

    Die methodologischen Anstrengungen zur Schaffung einer Volksfrontdichtung

    sind symptomatisch fr die Phase des Exils, in der trotz der tief greifenden

    intellektuellen Erschtterungen, welche durch den sich stabilisierenden

    Faschismus ausgelst wurden, neuer Optimismus geschpft und Resignation

    berwunden wurden. Die konsensuelle Programmatik einer nationalen

    antifaschistischen Literatur reflektierte die Vermittlung proletarischer und

    71 Vgl. Batt ( 1980), S. 80 72 Programm des I. Internationalen Schriftstellerkongresses, zit. nach Jarmatz, Klaus: Literatur im

    Exil, Berlin 1966, S. 6 ff. 73 Johannes R. Becher: Rede auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung

    der Kultur, zit. nach ebd., S. 8 74 Vgl. ebd., S. 11 75 Vgl. ebd., S. 8 76 Johannes R. Becher: Sonett Den ganzen Menschen 1935, zit. nach ebd., S. 9 77 Johannes R. Becher: Rede auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongess 1935, zit. nach ebd.;

    S. 8

  • 15

    brgerlicher ideologischer Interessen und artikulierte sich in Form einer

    konzeptionellen Gegenstands- und Formerweiterung von Literatur: Aus der

    marxistischen Agitationsliteratur der zwanziger Jahre mit

    Alleinvertretungsanspruch auf literarischer, gesellschaftsanalytischer und -

    aktivierender Ebene, entstand, aus aktuellem geschichtspolitischem Anlass, eine

    Literatur, die sich als Vertretung aller Klassen im Sinne eines gemeinsamen

    Kampfes gegen den Faschismus verstanden wissen wollte.

    1.4 Die Expressionismusdiskussion im Exil divergierende Anstze einer

    realistisch-kritischen Literatur

    Die antifaschistische Niederlage zwang zum intensiven Nachdenken ber die

    Ursachen der nazistischen Revolution, ber Vergangenheit und Zukunft. Die

    Orientierung auf eine nationale antifaschistische Literatur verlief daher auch

    analog zu einer Revision des kulturellen Erbes, der literarischen Quellen und

    Traditionen.78

    Der Kurswechsel der KPD in Richtung Volksfront und die Annherung an

    emigrierte Nicht-Kommunisten fhrte auch zu einer Vernderung der sthetisch-

    knstlerischen Dimension von Literatur.79 Die sowjetischen Kulturpolitiker

    diktierten die Anknpfung an einen klassenbergreifenden, von der brgerlichen

    Tradition wesentlich bestimmten Realismus.80 In dieser Reglementierung, durch

    welche ein bestimmter realistischer Stil zum allgemeingltigen Vorbild erhoben

    wurde, lag wohl die grte Schwche des literaturpolitischen Kurses im Exil.

    Die Forderung nach einer Darstellung des vielseitigen gesellschaftlichen

    Kausalkomplexes durch die Konstruktion von Fabeln, knstlerischen Figuren und

    Konfliktsituationen, wie sie Bertolt Brecht einforderte, bzw. nach einer

    Widerspiegelung der gesellschaftlichen Totalitt, wie sie Georg Lukcs

    verteidigte, wurde somit auch im Exil zum Ausgangspunkt methodischer

    Diskussionen ber die Funktion und Gestaltungsweise des neuen Realismus.81

    78 Vgl. Winckler, 1977, S. 12 79 Vgl. ebd., S. 13 80 Vgl. Frithjof Trapp: Deutsche Literatur im Exil, Bern (u.a.) 1983, S. 208 81 Vgl. Winckler, 1977, S.11

  • 16

    Die zum Ende der dreiiger Jahre ausgetragene, jedoch nicht im Sinne eines

    Kompromisses zu Ende gefhrte Expressionismusdebatte, war wohl der

    bedeutendste, aber auch problematischste Meinungsstreit ber den Stellenwert

    realistischer Literatur im Kampf gegen den Faschismus und stellte die heterogen

    zusammengesetzte Volksfrontliga auf eine harte Bewhrungsprobe.82

    Zum Initial der Debatte wurde die polemische Verdammung des

    expressionistischen Schriftstellers Gottfried Benn durch Klaus Mann als die

    Selbstvernichtung eines Intellektuellen83, als sich Benn zum Sympathisanten des

    Nationalsozialismus bekannte. Inhaltlich wurde die Expressionismusdebatte dann

    durch die von Alfred Kurella - neben Becher der fhrende KPD-Kulturpolitiker -

    aufgestellte These expliziert, dass die expressionistische sthetik, als inhaltleere

    Zerstrung84 und literarisch konstruiertes Zerrbild der gesellschaftlichen Realitt,

    die Entwicklung zum Faschismus vorbereitet htte.85 Insgesamt wurde die

    Untersuchung des Expressionismus somit vor allem unmittelbar als Frage der

    Zukunftsperspektive der sozialistischen Kunstentwicklung gestellt, in deren

    Rahmen der Expressionismus selbst als reaktionres Negativbeispiel der

    Avantgarde verabsolutiert wurde.86

    Auch Georg Lukcs partizipierte mit seinem Aufsatz Es geht um den

    Realismus87 an der Literaturdebatte und attestierte dem Expressionismus eine

    Abstraktheit, die sich aus zumeist sehr unreifen, sehr unklaren und verworrenen

    berzeugungen88 speise. In dieser Abhandlung postulierte Lukcs seine

    Vorstellung einer groe[n] historische[n] Sendung der wirklichen Avantgarde in

    der Literatur89, die sich dadurch auszeichnen wrde, dass sie als

    Widerspiegelung ihrer unter der Oberflche verborgenen Tendenzen90 operiere.

    Insgesamt profilierte sich Lukcs innerhalb der Expressionismusdebatte weiterhin

    82 Vgl. Kantorowicz, S. 230 83 Klaus Mann: Gottfried Benn. Die Geschichte einer Verirrung. in: Schmitt, S. 39-49, Zitat S. 49 84 Bernhard Ziegler (Alfred Kurella): Schluwort. in: Schmitt, S. 231-258, Zitat S. 250 85 Vgl. Kantorowicz, S. 233 86 Vgl. Durzak, Manfred: Das expressionistische Drama. Mnchen 1978, S. 29 87 Georg Lukcs: Es geht um den Realismus, in: Schmitt, S. 192-230 88 ebd., S. 220 89 ebd., S. 216 90 ebd.

  • 17

    als entschiedener Vertreter eines Sozialistischen Realismus, der mit den

    sthetischen Kategorien der Objektivitt und Parteilichkeit operierte. Lukcs

    orientierte sich in seiner Postulierung eines groen Realismus91 an konkreten

    Vertretern des brgerlichen Realismus wie Leo Tolstoi und Honor de Balzac, an

    die seiner Ansicht nach eine fortschrittliche realistische Literatur anknpfen

    sollte.92

    Gegen die Lukcssche Auffassung, welche den realistischen Gehalt in der

    Literatur im wesentlichen von starren literaturtheoretischen Gesetzmigkeiten

    abhngig machte, wandte sich eine von Ernst Bloch, Johannes R. Becher, Anna

    Seghers und Bertolt Brecht vertretene Auffassung realistischer Literatur, in deren

    Zentrum ein unlslicher Kausalzusammenhang zwischen gesellschaftlicher

    Realitt und knstlerischer Subjektivitt bestand.93 Nach der Devise Neue

    Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel94 wurden von diesen

    sozialistischen Schriftstellern Formexperimente, wie etwa die Montagetechnik

    oder der innere Monolog, insgesamt also die Mglichkeit einer produktiven

    Anknpfung an expressionistische Tendenzen, verteidigt.95

    Die Expressionismusdebatte und in ihrem Einzugsbereich die Diskussion ber

    eine den Zeitumstnden angemessene Methode realistischer Kunst, offenbarte

    Leerstellen innerhalb einer Programmatik, die ihren Auftrag als Analyse

    gesellschaftlicher Realitt mit den starren Kategorien einer (aus den

    innersowjetischen Diskussionen resultierenden) marxistischen

    Literaturkonzeption zu verbinden versuchte. Die Expressionismusdebatte stellte

    weniger eine wirklich freie Diskussion, als vielmehr eine von Moskau initiierte

    Auseinandersetzung ber den richtigen Kurs` innerhalb der literatursthetischen

    berlegungen im Exil dar.96

    Die methodischen Entwrfen Bertolt Brechts und die im weiteren Verlauf dieser

    Arbeit noch nher zu erluternden Vorschlge Anna Seghers, zielten entgegen

    einer Verengung produktiver literarischer Mglichkeiten auf einen 91 ebd., S. 227 92 Vgl. Georg Lukcs: Es geht um den Realismus, in: Schmitt, S. 227. 93 Vgl. Kantorowicz, S. 238 f. 94 Die Brecht-Polemik gegen Lukcs, in: Schmitt, S. 302-336, Zitat S. 333. 95 Vgl. Kantorowicz, S. 238 f. 96 Vgl. Trapp, 1983, S. 208.

  • 18

    Realismusbegriff, der das dialektische Verhltnis zwischen einer sich stndig

    verndernden Wirklichkeit und dem Streben des Schriftstellers nach Beschreibung

    und Beeinflussung dieser Realitt, zu fassen versuchte.

  • 19

    2. Anna Seghers Romankunst im Kontext der Konzeptionalisierung einer

    antifaschistischen Literatur

    2.1 Anna Seghers Beitrag zur Expressionismusdebatte Der Briefwechsel mit

    Georg Lukcs

    Anna Seghers Diskussionsbeitrag erschien im Jahr 1939 in Form eines

    zweimaligen Briefwechsels mit Georg Lukcs in der Zeitschrift Internationale

    Literatur (IL)97. Die Tatsache, dass der Briefwechsel in der IL erschien, einer

    Zeitschrift, die als Organ der Moskauer IVRS (Internationale Vereinigung

    revolutionrer Schriftsteller) vorwiegend Texte ber die sowjetische Kunsttheorie

    publizierte, zeigt den hohen Stellenwert dieses Beitrages im Kontext der

    vorangegangenen literaturtheoretischen Debatten an.98

    Den Drehpunkt des Meinungsaustausches zwischen der Schriftstellerin Seghers

    und dem Theoretiker Lukcs stellte die Auslegung wesentlicher Probleme einer

    realistischen Kunstauffassung, konkreter die Interpretation der knstlerischen

    Methode der Unmittelbarkeit dar.99 Anna Seghers berief sich auf die uerungen

    Leo Tolstois ber die knstlerische Praxis, wonach der Schriftsteller auf der

    ersten Stufe [] die Realitt scheinbar unbewut und unmittelbar aufnehme, um

    auf der zweiten Stufe [] dieses Unbewute wieder bewusst zu machen100.

    Anna Seghers deutete demnach Unmittelbarkeit als individuelles Erkennen der

    Umwelt, als gleichsam psychologischen Akt, welcher das Erfahren der

    Wirklichkeit ohne dessen vorangegangene Deutung durch die Kategorien des

    politischen Bewusstseins ermglichen sollte. Gerade in diesem Punkt stie sie bei

    97Der Text erschien zuerst in: Internationale Literatur 5. Moskau 1939, S. 97-121, seitdem in

    mehreren Verffentlichungen, u a. in: Hans-Jrgen Schmitt (a.a.O.), S. 264-301. Nach dieser

    Vorlage wird zitiert. 98Vgl. Trapp, Frithjof: Anna Seghers Kritik an Georg Lukcs und an der Internationalen

    Literatur, in: Anna Seghers Mainzer Weltliteratur. Beitrge aus Anlass des 80. Geburtstags.

    Mainz 1980, S. 125-145, hier: S. 131. 99 Vgl. Ills, Lszl: Der Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukcs 1938-1939, in:

    Anna Seghers im Rckblick auf das 20. Jahrhundert. Texte zur Literatur Heft 9 (2001), S. 101-

    113, hier S. 104. 100 Brief von Anna Seghers an Georg Lukcs vom 28. Juni 1938, in: Schmitt, S. 266.

  • 20

    Lukcs auf Gegenwehr, der die Leistung des Schriftstellers in der berwindung

    der Unmittelbarkeit und in dem Entdecken der verborgenen Ursachen, die []

    Erlebnisse objektiv hervorbringen101 sah.102 Auch die Konsequenz, auf die

    Lukcs berlegungen hinsteuern, nmlich die Einsichtgewinnung des

    Schriftstellers in den Komplex der gesellschaftlichen Totalitt, wurde von Anna

    Seghers in Frage gestellt: Je bewuter nmlich der Mensch lebt, je klarer seine

    Einsicht ist in gesellschaftliche Zusammenhnge sind, desto schwerer kommt ihm

    im allgemeinen das vor, was Tolstoi nennt: wieder unbewut machen103.

    Gerade im Hinblick auf die aktuelle Realitt der Krisenzeit, der Kriege, usw.

    bezweifelte Seghers die Mglichkeit einer totalen Erfassung der Wirklichkeit und

    verteidigte die schriftstellerische Methode des Expressionismus: Uns waren aber

    Splitterchen, die irgendeinen Bruchteil unsrer Welt aufrichtig spiegelten, lieber

    als alle Scheinspiegel104 . Anna Seghers verstand in diesem Sinne eine

    realistische Schreibweise als die Richtung auf die der jeweiligen Zeit

    erreichbarste hchstmgliche Realitt105. Ihr Vorschlag einer realistischen

    Literatur schloss fr sie auch die Mglichkeit von Formexperimenten ein,

    entscheidend war fr Anna Seghers nur, inwieweit durch die Darstellungsweise

    die Botschaft des literarischen Werkes verdeutlicht, also die pdagogische

    Wirkung von Literatur, verstrkt werden konnte.106

    Es wird insgesamt deutlich, dass sich Anna Seghers, wie bereits Brecht in seiner

    Lukcs-Polemik, gegen eine Verabsolutierung methodischer Reglements bei der

    Konzeption einer antifaschistischen Literatur aussprach: Da frchte ich, da eine

    Verengung eintritt und ein Verlust an Flle und Farbigkeit in unsrer Literatur.

    Ich frchte, da man vor eine Alternative gestellt wird, wo es gar nicht um ein

    Entweder-Oder geht, sondern um eine starke vielfltige antifaschistische

    Kunst[]107. Anna Seghers selbstbewusste Stellungnahme zeugt von ihrem

    Engagement als Schriftstellerin, sich fr eine zeitgeme und knstlerisch

    101Georg Lukcs: Grenzen des Realismus ? (1939), zit. nach: Ills, S. 106. 102 Vgl. Brief von Georg Lukcs an Anna Seghers vom 28. Juli 1938, in: Schmitt (a.a.O.), S. 276. 103 Brief von Anna Seghers an Georg Lukcs vom 28. Juni 1938, in: ebd., S. 267. 104 Brief von Anna Seghers an Georg Lukcs vom 2. Mrz 1939, in: ebd., S. 288. 105 Brief von Anna Seghers an Georg Lukcs vom 2. Mrz 1939, in: ebd., S. 284. 106 Vgl. ebd. 107 ebd., S. 290.

  • 21

    vielfltige Darstellungsweise einzusetzen und diese gegen eine scholastische

    Verengung zu profilieren. Bewusst lehnte sie eine abstrakte, distanzierende

    Veranschaulichung der Wirklichkeit durch Literatur ab, die der Aktualitt der

    Gegenwart potentiell nicht gerecht werden knne: Sie (gemeint sind die

    Vertreter einer dogmatischen Realismusauffassung, I.K.) hatten es fertiggebracht,

    die Welt ganz zu entzaubern. [] Sie schilderten eine unerlebbare Welt, die auch

    fr den Leser unnachlebbar wurde.108 Der Meinungsaustausch mit Georg Lukcs

    akzentuiert in dieser Weise auch wesentliche Aspekte der Seghersschen

    Erzhlkunst, besonders in Bezug auf ihr Postulat einer sthetischen

    Darstellungsweise der auerliterarischen Wirklichkeit, das im Folgenden nher

    untersucht werden soll.

    2.2 Anna Seghers poetologisches Credo: verzaubern` und erhellen`

    Die Vermittlung von politischer Weltanschauung und knstlerischer Ttigkeit der

    berzeugten Kommunistin Anna Seghers109, manifestierte sich in ihrer

    Motivation, beschreibend zu verndern110. Auch sie betrachtete demnach ihren

    knstlerisch-literarischen Auftrag in der Aktivierung der Leser zum Umdenken`.

    Dennoch unterschied sich ihre Kunstprogrammatik von der starren Dogmatik

    eines Georg Lukcs durch eine konsequente einzigartige, eigentmliche,

    gesellschaftliche Verknpfung von subjektiven und objektiven Faktoren111,

    welche die Mglichkeit einer unmittelbaren Identifizierung des Lesers mit einem

    modellhaft gestalteten Romangeschehen bereithielt. Der Primat der unmittelbaren,

    unbewussten und damit gefhlsmigen Wahrnehmung der Wirklichkeit stellte

    fr Anna Seghers die Grundbedingung einer Literatur dar, welche ein

    nachvollziehbares Bild der Wirklichkeit entwerfen und dem Leser ihre

    Vorstellung der >dignit humaine

  • 22

    Spontaneittsprinzip verpflichtete Auftrag der Literatur entspricht eine dem

    Seghersschen Erzhlprinzip immanente Darstellungsweise, die realistische und

    modernistische Darstellungsweisen miteinander verknpft und ein Nebeneinander

    von Fiktion und Authentizitt in der Literatur als legitim anerkennt.114 In diesem

    Zusammenhang urteilte sie auch noch spter ber das Verhltnis von Phantasie-

    und Recherchearbeit: Phantasie, Erfindung gehren unbedingt zum Schreiben.

    Aber wichtig sind auch konkrete Erfahrungen115. In der Synthese realistischer

    und fiktiver Schreibtendenzen versuchte Anna Seghers eine sthetische Strategie

    gegen die von ihr befrchtete Entzauberung der Welt zu etablieren. Ihr Entwurf

    einer realistischen Literatur sollte gleichermaen Erkenntnis frdern und dazu

    beitragen, den Leser an den Grund des Herzens zu rhren116. Die Verwandlung

    eines Zeitereignisses in Dichtung, die Transformierung von realen

    gesellschaftlichen Krisenprozessen in eine zeitlose und universell zu verstehende

    poetische Botschaft, versuchte Anna Seghers mit ihrer knstlerischen

    Programmatik Erzhlen, was mich heute erregt und die Farbigkeit von

    Mrchen[]117 zu realisieren. Doch anders als die Schriftstellerin mit ihrer

    Aussage []Das htte ich am liebsten vereint und wusste nicht wie118

    vermuten lsst, scheint ihr diese Synthese gelungen. Wie im weiteren Verlauf

    dieser Arbeit noch zu beweisen ist, ist dieses Konzept dem Roman Das siebte

    Kreuz in vielen episodischen und motivischen Details bereits immanent.

    Neben dem konkreten Schreibverhalten Anna Seghers, sollen im Folgenden noch

    ihre publizistischen Projekte der Vaterlandsliebe und des gewhnlichen

    113 Vgl. Haas, Erika: Urbilder und Wirklichkeitstrume. Zur paradigmatischen Funktion des

    Mythos bei Anna Seghers, in: Roos/Hassauer-Roos (Hrsg.): Anna Seghers Materialenbuch,

    Darmstadt/Neuwied 1977, S.51-60, hier S. 55. 114 Bereits Walter Benjamin wies in seiner Rezeption der Rettung auf dieses Phnomen hin. Vgl.

    Wilhelm Krull: Schne Mrchen fr Erwachsene. Zum erzhlerischen Sptwerk von Anna

    Seghers. in: Text und Kritik 38, S. 96-110, hier: S. 97 f. 115 Peter Roos: Gesprch mit Anna Seghers. in: Anna Seghers Materialienbuch (a.a.O.), S. 152-

    159, Zitat: S. 156. 116 Zitiert nach dem Motto der Schnsten Sagen vom Ruber Woynok. in: Anna Seghers: ber

    Kunstwerk und Wirklichkeit (a.a.O), Bd. 2, S. 16. 117 Anna Seghers: Glauben an Irdisches. Essays aus vier Jahrzehnten. Aus dem Nachwort von

    Christa Wolf. Leipzig 1969, S. 372. 118 ebd.

  • 23

    Lebens erwhnt werden, die whrend ihrer Arbeit am Roman Das siebte Kreuz

    entstanden. In diesen programmatischen uerungen der Schriftstellerin

    artikuliert sich nicht nur ihre subjektive Diagnose der damaligen Zeit. Konzipiert

    als sthetikstrategie im Umgang mit dem Faschismus, integrierte Seghers ihre

    Dialektikentwrfe auch als kompositorische Leitmotive in den Roman Das siebte

    Kreuz.

    2.3 Anna Seghers Deutschlandbild: Vaterlandsliebe

    Als Anna Seghers mit der Arbeit an ihrem Roman Das siebte Kreuz begann,

    befand sie sich bereits im franzsischen Exil.119 Die Vernderungen in der

    politischen Sphre, die Erstarkung der nationalsozialistischen Herrschaftsform in

    Deutschland und die daraus resultierende Schmlerung des Deutschlandbildes in

    der auslndischen ffentlichkeit, veranlassten Anna Seghers, ihre Position zu

    konkretisieren.

    Angesichts des ideologischen Missbrauchs von Begriffen wie Heimat, Nation und

    Vaterlandsliebe durch die nationalsozialistischen Demagogen, entwickelte Anna

    Seghers einen Nationalbegriff, der sich nicht politisch verstand, sondern eine

    Wesenhaftigkeit des gesellschaftlichen Bewusstseins ausdrcken sollte.120 An

    zwei Texten, die in der Emigrationszeit entstanden, wird dieser sozial und

    historisch verstandene Begriff von Heimat besonders deutlich: Auf dem I.

    Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur im Jahr 1935,

    beschftigte sich Anna Seghers in ihrer Rede mit dem programmatischen Titel

    Vaterlandsliebe 121 mit der Wechselwirkung von Sozialem und Nationalem. In

    dieser Rede gab sie zu bedenken, dass die Bedeutung des Nationalen, trotz der

    negativen Ideologisierung durch die Faschisten, nicht ignoriert werden darf, denn

    119Aufgrund der sprlichen und oft widersprchlichen Informationen der Autorin zur

    Entstehungszeit des Romans, sind keine genauen Daten bekannt. Wahrscheinlich begann Seghers

    ab 1937 mit der Arbeit am Siebten Kreuz (vgl. Hilzinger, 2000, S.176; Stephan, S. 22 und siehe

    Brief an Iwan Anissimow vom 23. September 1938 (a.a.O.)). 120 Vgl. Zehl-Romero, S. 66. 121 Anna Seghers: Vaterlandsliebe. Erstverffentlicht in: Neue deutsche Bltter H.6 (1934/35). In

    dieser Arbeit wird zitiert aus: Anna Seghers: Aufstze, Ansprachen, Essays, 2. Auflage, Berlin/

    Weimar 1984, S. 33-37.

  • 24

    Auf jeden Irrtum in der Einschtzung der nationalen Frage reagieren die

    Massen unerbittlich122. Dieser Gedankengang lsst sich als Pldoyer an die

    Autoren in den eigenen Reihen deuten, den Nationalsozialisten nicht die

    Vaterlandsliebe zur Manipulation zu berlassen. Nur durch eine

    antifaschistische Rekonstruktion der Bedeutung von Heimat und Nation knne

    wieder das alte Pathos wirklicher nationaler Freiheitsdichter aufs neue gltig

    werden123. Dieses Heimatgefhl regeneriere sich tglich und mintlich aus dem

    Sein heraus124 also aus den Gemeinsamkeiten alltglicher Lebensbezge, der

    kulturellen Identitt, der gemeinsamen Sprache und Geschichte.

    Es wird deutlich, dass Anna Seghers Vaterlandsliebe ihren Geltungsanspruch

    nicht aus der Faktizitt der politischen Realitt bezieht, sondern dass dieses

    Heimatverstndnis im sozialen Raum des alltglichen Lebens, in der grandiosen

    hllische(n), schwefelgelbe(n) Leuna-Fabriklandschaft125 verwurzelt ist126.

    Auch spter, im Jahr 1941, als sich die Schriftstellerin bereits im mexikanischen

    Exil befand, griff sie einige der bereits in der Pariser Rede ausgesprochenen

    Gedanken wieder auf, und verarbeitete sie in ihrem Aufsatz Deutschland und

    wir127. Im Rahmen dieser Niederschrift mahnte sie auch 1941: Deutschland ist

    unser Land [] berlassen wir nicht dem Feind, dem Faschismus, die

    Darstellung, die Auslegung unserer Geschichte.128 Dementsprechend liege es

    nach Seghers Ansicht n der Verantwortung der Exilschriftsteller, von diesem

    deutschen Volk zu erzhlen und Begriffe wie Heimat, Nation und Volk wieder

    positiv aufzuwerten. Denn, so fragte Anna Seghers, Was hat unsere Freiheit fr

    einen Sinn, wenn wir nicht immer wieder die Namenlosen nennen, wir, die wir 122 ebd., S. 34. 123 ebd., S. 37. 124 ebd. 125 ebd., S. 35. 126 In einer spteren Publikation konkretisierte Anna Seghers noch einmal diese Vorstellung: Eine

    antifaschistische Literatur solle den Begriff des Volkes [] als eine gesellschaftlich werdende

    Einheit darstellen, die auf dem gleichen Territorium gewachsen ist durch gemeinsame Arbeit,

    Kultur und Geschichte Siehe: Anna Seghers: Aufgaben der Kunst (1944), in: Aufstze,

    Ansprachen, Essays (a.a.O.), S. 172. 127 Anna Seghers: Deutschland und wir. Erstverffentlicht in: Freies Deutschland H.1 (1941/42).

    Hier aus: Anna Seghers. Aufstze, Ansprachen, Essays (a.a.O.). S. 89-97. 128 ebd., S. 94.

  • 25

    reden und schreiben knnen129. Anna Seghers erblickte in der Verantwortung fr

    die deutsche Nation einen humanen Zweck und profilierte sich im Exil somit als

    entschiedene Vertreterin eines anderen Deutschlands.

    Ihre Reflexionen ber einen sozial und historisch fundierten Heimatbegriff

    spiegeln sich dann auch im Siebten Kreuz als Ein Roman aus Hitlerdeutschland

    wider. Es ist der unerschtterliche Motivkreis der Heimat, der im Faschismus

    fortlebt und immun ist gegen die nationalsozialistische Inhumanitt der

    Gegenwart.130 Ein ber Sprache und Landschaftsbilder transportiertes

    Deutschlandbild und die Fokussierung auf die lndliche und kleinstdtische Welt

    im Siebten Kreuz, ist in diesem Sinne nicht nur Ausdruck der Verbundenheit der

    Schriftstellerin mit ihrer hessischen Heimat131, sondern zielt auf die Vermittlung

    einer Vaterlandsliebe, wie sie in Aufstzen und Reden der Anna Seghers

    beschworen wurde.

    2.4 Die Dialektik vom gewhnlichen und gefhrlichen Leben

    Eine gleichsam bedeutsame Rolle wie die Verbundenheit zur Heimat spielte fr

    Anna Seghers das Eingebundensein in den Kampf fr eine gerechte Welt und

    gegen den Faschismus.132 Fr die Autorin, die sich seit 1928 in der KPD politisch

    engagierte und Mitglied im Bund proletarisch-revolutionrer Schriftsteller

    (BPRS) war,133 gestaltete sich die Zeit des Exils als eine Zeit der permanenten

    Gefhrdung, in welcher viele ihrer Freunde und Weggefhrten den Kampf gegen

    den Faschismus mit ihrem Leben bezahlen mussten.134 Tief beeindruckt von den

    129 ebd. 130 Vgl. Spies, Bernhard: Anna Seghers: Lektre jenseits von Denunziation und Legitimation, in:

    Argonautenschiff 2 (1993), S. 101-112, hier S. 109. 131 Anna Seghers, damals noch mit brgerlichem Namen Netti Reiling, wuchs in Mainz auf. (Vgl.

    u.a. Batt, S. 14 ). 132 Vgl. Hilzinger (2004), S. 27. 133 Vgl. Rotermund, Erwin: Wege durchs Zwanzigste Jahrhundert. Zeitzeugin Anna Seghers, in:

    Argonautenschiff 10 (2001), S. 67-78, hier S. 69f. 134 Vgl. Hilzinger (2004), S. 27f.

  • 26

    Auswirkungen des Nazi-Terrors, schaffte sie in ihren literarischen Werken

    Gedenken und Gedchtnis an internierte und ermordete Antifaschisten.135

    Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz stellt ebenfalls eine Hommage an die

    antifaschistischen Widerstandskmpfer dar.136 Der Roman ist nicht nur explizit

    den toten und lebenden Antifaschisten gewidmet, sondern verewigt durch die

    Darstellung der gelungenen Flucht, die unterschiedlich motivierte

    Hilfsbereitschaft verschiedener Personentypen.

    Im Roman Das siebte Kreuz wird der scheinbaren bermacht des

    nationalsozialistischen Terrors die gelungene Fluchtgeschichte des Protagonisten

    Georg Heisler gegenbergestellt. In diesem Antagonismus der zwei Motive -

    Rettung des Flchtlings und Terror durch die nationalsozialistischen Machthalter

    - spiegelt sich Anna Seghers` Dialektikentwurf des gewhnlichen und

    gefhrlichen Lebens wider. So forderte sie im Juli 1938, also whrend ihrer

    Arbeit am Roman, auf einem Friedenskongress: Einer Jugend, die der

    Faschismus daran gewhnt hat, vom gefhrlichen` Leben zu trumen, mssen

    wir eine von Grund auf andre Konzeption des Lebens bieten []137. Der

    Kontrapunkt zu diesem gefhrlichen Leben stellte sich fr Anna Seghers durch

    die Verankerung im alltglichen Leben dar, denn gerade das gewhnliche Leben

    umfasst groe, einfache menschliche Beziehungen, uralte und ganz neue, Liebe

    und Freundschaft, das Verhltnis von Eltern und Kindern, von Jngeren zu

    lteren [], fr jeden von uns selbstverstndlich, weil auf ihnen das Leben der

    Vlker sich grndet138. Als eine der zentralen Kategorien fungiert das

    gewhnliche Leben auch innerhalb der Konstituierung des Romanpersonals und

    des Motivkomplexes im Roman Das siebte Kreuz: Dem Ereignis der Flucht in

    seiner Auergewhnlichkeit wird der unvernderliche Fortbestand des

    alltglichen Lebens entgegengestellt.139

    135 So erinnert sie in Aufstzen und Reden an den ermordeten KP-Fhrer ernst Thlmann oder den

    in Spanien gefallenen Hans Beimler, Vgl. Hilzinger (2004), S. 28. 136 Vgl. Zimmer, S. 14. 137 Anna Seghers: Zum Kongre 1938, in: dies.: ber Kunstwerk und Wirklichkeit,Bd.1, S. 68. 138 Anna Seghers: Vorwort zu Die Rettung, zitiert nach Stephan, S.63. 139 Vgl. Sauer, S. 108.

  • 27

    Auerhalb des Fluchtgeschehens zeigt der Roman Menschen bei ihren

    alltglichen Beschftigungen, bei der Apfelernte, der Arbeit in der Fabrik,

    innerhalb der Familie oder in ihrer Freizeit.

    Ein eindringliches Bild des Alltags der einfachen` Menschen wird auch durch die

    Verwendung regional gefrbter sprachlicher Wendungen gezeichnet. Syntaktische

    Wendungen wie Ui, ui! () Der Nebel ist auf! Guck!140, Bei mir ist Lachen

    und Weinen in einem Tpfchen[142] oder Wir sind doch keine

    Suddelzuber[228] veranschaulichen die Mundart der Bevlkerung in der Rhein-

    Main-Region. Der mehrfache Gebrauch von Diminuitivformen wie

    Hechtschwnzchen, Holzkltzchen, Pfeffernchen, Hakenkreuzelchen

    und Hitlerreichlein erinnern nicht nur an die Sprechweise im Volksmrchen141,

    sondern bilden einen linguistischen Kontrapunkt zur der einschchternden und

    sachlichen Sprache der nationalsozialistischen Machtinhaber.142

    Das gewhnliche Leben wird auch in der sinnlichen Beschreibung der Natur und

    Landschaft veranschaulicht. So findet Georg Heisler whrend seiner

    lebensbedrohlichen Flucht, beim Anblick der harmonischen und bestndigen

    Natur, zu kurzen Momenten der Ruhe: Goldnes khles Herbstlicht lag ber dem

    Land, das man htte friedlich nennen knnen[24]. An einer anderen Stelle des

    Romans, stirbt der lteste der sieben Flchtlinge, Aldinger, nach den

    Anstrengungen der Flucht beim Anblick seines Heimatdorfes einen friedlichen

    Tod.143

    Einen besonderen Status nimmt das Romanpersonal ein, das auerhalb des

    Fluchtgeschehens agiert: Die Gehfte der Mangolds und Marnets bestehen

    unbehelligt von den politischen und historischen Umwlzungen und bilden durch

    die Idylle des einfachen Lebens gleichsam eine Gegenwelt zur Realitt des

    Faschismus.144 In diesem sozialen Raum scheinen das Apfelerntefest und die

    140 Das siebte Kreuz, S. 35. Im Folgenden werden Seitenzahlen im Roman in eckigen Klammern

    angegeben. 141 Vgl. Stephan, S. 66. 142 Das siebte Kreuz, (u.a.) S. 93 Der Tapeziermeister Mettenheimer wird bei der Gestapo verhrt:

    Jetzt hren Sie einmal genau zu, Herr Mettenheimer () Wir mchten Sie warnen in Ihrem

    Interesse []. 143 Vgl. ebd., S. 288. 144 Vgl. Zimmer, S.52.

  • 28

    sonntgliche familire Zusammenkunft fundamentaler zu sein als die

    tagespolitische Wirklichkeit. So sitzt zum Apfelerntefest bei den Marnets auch

    ein ganzes Volk[391] am Tisch sowohl das Ernstchen und das Gustavchen

    als auch diese beiden in SA-Uniform[391]. Politische Gesinnungen spielen in

    diesem sozialen Raum keine Rolle, denn so heit es dann auch ganz unpolemisch:

    Apfelkuchen bleibt Apfelkuchen[391].

    In sinnbildlicher Weise steht auch der Schfer Ernst durch seine berlegenen

    Ruhe und Naturverbundenheit fr die Bestndigkeit des einfachen Lebens: um

    seinen Mund zuckt ein Lcheln von berlegenem Spott, das Gott und der Welt zu

    gelten scheint[59]. So wirkt es auch, als wrde Ernst die Realitt des

    gefhrlichen Lebens, die politische Wirklichkeit, nicht angetastet zu haben,

    wenn er spttisch auf den Hitlergru eines Bekannten mit Heil du ihn![59]

    antwortet.

    Das gewhnliche Leben wird im Roman jedoch nicht nur durch die

    Beschreibung der Natur, der einfachen Menschen sowie durch die Verwendung

    der Sprache veranschaulicht. Der auffllig hufige Gebrauch der Wendung

    gewhnliches Leben[94] und deren Variationen wie gewhnliche Krfte der

    Erde[8], gewhnlicher Mensch[305], gewhnlicher Tag[28] zeugen von der

    Bedeutsamkeit dieses Paradigmas.

    Die bewahrende Kraft des gewhnlichen Lebens speist sich aus der Integritt der

    Institution Familie, der Natur und aus dem Heimat- und Zugehrigkeitsgefhl der

    Menschen also aus denjenigen Sphren, in die die Naziideologie und deren

    verfremdende Werte` noch nicht einzudringen vermochten. Der Motivkreis des

    gewhnlichen Lebens entfaltet den Status einer Unanfechtbarkeit, eines

    gleichermaen eisernen Bestandes[91], der mitten im faschistischen

    Deutschland fortlebt.145

    145 Vgl. Spies: Anna Seghers. Lektre jenseits von Denunziation und Legitimation (a.a.O.), S.

    109.

  • 29

    3. Authentizitt und Symbolismus im Roman Das siebte Kreuz

    3.1 Die Sache mit dem Kreuz Dokument und Fiktion innerhalb der

    Materialgrundlage

    Die Problematik, mit der sich die exilierten Schriftsteller und somit auch eine

    Anna Seghers konfrontiert sahen, war der Versuch, eine Wirklichkeit darzustellen,

    die sie nicht mehr aus eigener Anschauung kannten. Aus der Distanz des Exils

    gestaltete sich die Suche nach verlsslichen Informationen ber den Alltag in

    Nazideutschland als uerst schwierig.146

    Wie anhand der vorangegangenen Analyse des Seghersschen Schreibverhaltens

    deutlich werden konnte, war es der Schriftstellerin fr eine glaubhafte

    Vermittlung ihrer literarischen Botschaft unerlsslich, anhand von

    Kenntnisse[n]147 auch authentische Bezge in ihr Werk einflieen zu lassen. So

    konnte von der Forschung belegt werden, dass sich Anna Seghers im Pariser Exil

    akribisch um die Sammlung von Informationen - durch Befragung von

    Zeitzeugen, ehemaligen Inhaftierten aus dem Widerstand oder

    Vertrauenspersonen aus ihrer Heimat - bemhte.148 Als hilfreiches

    Quellenmaterial dienten ihr die publizistischen Arbeiten Hans Beimlers

    (Mrderlager Dachau, 1933) und Gerhart Segers (Oranienburg, 1934), die

    genauso wie das 1933 verffentlichte Braunbuch ber Reichstagsbrand und

    Hitlerterror, Bericht ber Politik und Alltag in Nazideutschland erstatteten.149

    Ein konkretes zeitpolitisches Erlebnis, das besonders schockhaft auf Anna

    Seghers und ihre Mitexilanten gewirkt hat150, verarbeitete die Schriftstellerin

    durch Hinweise im Siebten Kreuz, welche die Romanhandlung konkret datieren:

    Als Seghers mit ihrer Arbeit am Roman begann, entbrannte 1937 der Brgerkrieg

    zwischen den Vertretern der Zweiten Spanischen Republik und den Franco-

    Putschisten, an dem sich auch deutsche Antifaschisten wie Ludwig Renn, Hans

    146 Vgl. Stephan, S. 13. 147 Anna Seghers: Und jetzt mu man arbeiten, in: Aufstze, Ansprachen, Essays (a.a.O.), S. 68. 148 Vgl. ebd., S. 11 ff.; Zehl-Romero, S. 67 sowie Hilzinger, 2004, S. 36ff. 149 Vgl. Zehl-Romero, S. 67 und Stephan, S. 19. 150 Vgl. Hilzinger, 2004, S. 35.

  • 30

    Beimler und Willi Bredel beteiligten.151 Auch die Flucht Georg Heislers fllt in

    jene Oktoberwoche, da in Spanien um Teruel gekmpft wurde[219].

    Und auch der Einfall mit dem Kreuzmotiv geht nach Seghers eigenen Angaben

    auf einen authentischen Fall zurck: Man hat mir oft erzhlt von den

    Vorkommnissen in Konzentrationslagern. [], ich war oft im Schweizer Teil des

    Rheingebietes, und ich habe viele Flchtlinge gesprochen, und irgendjemand hat

    mir diese sonderbare Gegebenheit ich sage sonderbar und schrecklich zugleich

    [] berichtet, nmlich die Sache mit dem Kreuz, an das ein Hftling gebunden

    wird, den man wieder gefunden hat152. Es demnach durchaus vorstellbar, dass

    die Autorin des Siebten Kreuzes den Bericht eines ehemaligen Hftlings ber

    dieses Ereignis als Grundlage nahm, um es in ihrem Roman zu verarbeiten. Da sie

    den Namen Westhofen fr das Konzentrationslager whlte, aus dem die sieben

    Inhaftierten in ihrem Roman ausbrechen, liegt die Vermutung nahe, dass Anna

    Seghers damit auf das authentische KZ Osthofen hinweisen wollte, das im April

    1933 im Regierungsbezirk Hessen errichtet wurde.153

    Neben konkreten Informationsmaterial aus Deutschland baute Seghers auf

    Erinnerungen an ihre Mainzer Heimat, sowie auf die Kraft ihrer Empathie, die es

    ihr gestattete, sich gut vorzustellen, wie die [] Menschen aus meiner

    Heimatstadt [] in einer gewissen Situation leben, wie sie unter gewissen

    Bedingungen reagieren wrden154.

    Zudem inspirierte sie der Eindruck eines Leseerlebnisses, ihren Roman Das siebte

    Kreuz, in struktureller Affinitt zu diesem Vorbild zu konzipieren: Alessandro

    Manzonis Roman Die Verlobten hat thematisch [] auf dieses

    eingewirkt. [] Es wird nmlich in diesem Roman an einem Ereignis die ganze

    Struktur eines Volkes aufgerollt, und da hab` ich mir gedacht, diese Flucht ist das

    Ereignis, an dem ich die Struktur des Volkes aufrollen kann155.

    151 Vgl. ebd. 152 Grinus, Wilhelm: Gesprch mit Anna Seghers, 1967, in: Anna Seghers: ber Kunstwerk und

    Wirklichkeit, Bd. 3, S. 34 153 Vgl. Stephan, S. 149-207 und Arenz-Morch: Das KZ Osthofen im Spiegel neuerer Forschung,

    in: Argonautenschiff 2 (1993), S. 174-194. 154 Anna Seghers: ber Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 4, S. 200. 155 Grinus: Gesprch mit Anna Seghers (a.a.O.).

  • 31

    Es wird insgesamt deutlich, dass sich Anna Seghers trotz ihres investigativen

    Engagements - nicht nur auf den Gehalt von Dokumenten verlassen wollte, um

    ihren Romans glaubhaft und zugnglich zu gestalten. ber eine operative

    Funktion von Literatur, d.h. in diesem Fall durch die Verwendung der epischen

    Grundstruktur einer Fabel156, konzipierte Anna Seghers ein fiktionales Ereignis,

    das sie als reprsentativ verstanden wissen wollte.

    3.2. Die Flucht als Strukturmittel Das siebte Kreuz als Gesellschaftsanalyse ?

    Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns[13] - Mit diesen

    kollektivierenden Worten fhrt der Erzhler in die spannende Fluchtgeschichte

    des Georg Heisler ein, der ber die Stationen seines Entkommens aus dem KZ

    Westhofen auf unterschiedliche Menschen im zeitgenssischen Nazideutschland

    trifft. So abenteuerlich und spektakulr die Schilderung der Flucht gestaltet ist -

    Anna Seghers hatte bereits mit ihrer Zielstellung, die Struktur des

    Volkes157aufzurollen, darauf hingewiesen das Fluchtmotiv ist weniger Inhalt

    und fungiert vielmehr als Gestaltungsmittel des Romans.158 Geschickt lenkt Anna

    Seghers den Leser von Anfang an in die beabsichtigte Richtung: Innerhalb der

    einleitenden Rahmenhandlung suggeriert der auktoriale Erzhler eine zeitliche

    Distanz zur Fluchtgeschichte und nimmt bereits zu Beginn des Romans das Ende

    vorweg, so dass die Aufmerksamkeit des Lesers auf das zentrale Motiv der

    Handlung gelenkt wird nmlich die Reaktion jener Menschen, die mit der Flucht

    in Berhrung kommen.159 Durch den Einsatz erzhlerischer Mittel wie Bericht,

    Rckblende, innerer Monolog und Simultanitt der Handlungsstrnge, wird

    darber hinaus ein uerst komplexes Romangeschehen entfaltet, in dessen

    Verlauf unterschiedliche Personentypen vorgestellt werden, die durch

    differenzierte psychologische Profile authentische Zge annehmen.160

    156 Anna Seghers: Brief an Iwan Anissimow vom 23. September 1938 (a.a.O). 157 Wilhelm Grinus: Gesprch mit Anna Seghers (a.a.O.). 158 Vgl. F.-J. Roos und P. Roos: Die Flucht als Angriff. Zur Gestaltung des Personals in Das siebte

    Kreuz. in: Anna Seghers Materialenbuch (a.a.O.), S. 88-101, hier: S. 89. 159 Vgl. Stephan, S. 35. 160 Vgl. ebd.

  • 32

    Das Spektrum des Romanpersonals, auf das Georg Heisler whrend seiner Flucht

    trifft, ist vielfltig und verweist in seiner heterogenen Struktur auf den

    Volksfrontgedanken.161 Es sind Angehrige verschiedener sozialer Schichten wie

    der jdische Arzt Lwenstein, der Georg trotz Bedenken Erste Hilfe leistet,

    Parteilose wie Georgs Jugendfreund Paul Rder, sowie Sozialdemokraten und

    Kommunisten wie Franz Marnet und die Eheleute Fiedler.

    Obwohl der Eindruck einer breit gefcherten Analyse der deutschen Bevlkerung

    durch die Vielfltigkeit der Figurenkomposition durchaus gerechtfertigt ist, fllt

    bei der Lektre auf, dass der Fokus im Siebten Kreuz nicht so sehr auf die

    Verfolger und Machteliten gerichtet ist, als vielmehr denjenigen Personentypen

    analytische Aufmerksamkeit geschenkt wird, die im einfachen`, gewhnlichen

    Leben verwurzelt sind und die Sicherheit dieser Existenz fr Georgs Rettung

    riskieren.162 Zwar wird durch die Charakterisierung des Lagerkommandanten

    Fahrenberg als Narr [] mit furchtbaren, unvorhersehbaren Fllen von

    Grausamkeit[7] und seiner Gefolgsmannschaft eine treffende Typisierung des

    faschistischen Fhrungspersonals und der Lagerwelt des KZ prsentiert, doch zielt

    der Roman offensichtlich auf eine Nachzeichnung lokaler Milieubilder des

    Mittelstands und der Welt des alltglichen Lebens. Hier erscheint wieder die von

    Anna Seghers beschworene Sehnsucht nach einem gewhnlichen Leben,

    welche die Personen im Roman verbindet, die sich angesichts der Flucht Georg

    Heislers, ihres damaligen Freundes, Schwiegersohnes bzw. Ehemannes, einer

    Prfung unterzogen sehen.163 Denn die Entscheidung, ob sie Georg aktiv oder

    durch Nicht-Verraten helfen, mssen sie selbst treffen und die Konsequenzen

    nmlich den vermeintlichen Verlust des gewhnlichen Lebens selbst tragen.

    Dementsprechend stellt sich die Wahl zwischen Fluchthilfe, Passivbleiben oder

    Verrat als existenzielle Gewissensfrage, die bei manchen Figuren eine ganz

    unerwartete Beantwortung erfhrt. So verweigert ihm Leni, Georgs ehemalige

    Geliebte, an die er whrend seiner Flucht zuerst dachte, die Hilfe, whrend die

    von ihm mit gemeinsamen Kind sitzen gelassene Elli fhlt, da sie ihm helfen

    msse, komme, was da wolle [][177]. Auch Georgs ehemaliger

    161 Vgl. Winckler, 1981, S. 11. 162 Vgl. Stephan, S. 35. 163 Vgl. Hilzinger, 2004, S. 59.

  • 33

    Schwiegervater, der Tapeziermeister Alfons Mettenheimer, ist zwar auf seinen

    unzuverlssigen Ex-Schwiegersohn alles andere als gut zu sprechen, entdeckt

    jedoch whrend des Verhrs bei der Gestapo ein zuvor nicht gekanntes Gefhl der

    inneren Strke: In diesem Augenblick wute Mettenheimer, da er doch noch

    etwas bei sich hatte, das Letzte fr den uersten Fall, seinen eisernen

    Bestand[91]. Der in der Hitlerjugend organisierte Grtnerlehrling Fritz Helwig,

    dem Georg auf der Flucht seine wertvolle Jacke gestohlen hatte, entscheidet sich

    bei der Polizei gegen eine Identifizierung des wieder gefundenen Diebesguts und

    setzt die Gestapo damit auf eine falsche Fhrte.164 Zwei junge Burschen, die in

    einer Gaststtte den flchtigen Heisler wieder erkennen, entscheiden sich trotz der

    Verheiung auf eine hohe Belohnung gegen eine Anzeige bei der Polizei und

    knnen sich so vergewissern, da sie beide die alten geblieben waren[215].

    Es sind die Wandlungsprozesse und Entwicklungstendenzen der Menschen aus

    einfachen Verhltnissen, die, durch die Konfrontation mit der Fluchtsituation, im

    Roman analysiert werden.165 Gleichgltigkeit und Entfremdung werden von

    scheinbar unpolitischen gewhnlichen` Menschen aufgebrochen, die sich ihrer

    solidarischen Verpflichtung (wieder) bewusst werden. So versucht Franz Marnet,

    dem Georg damals seine Freundin Elli ausspannte, sich ungeachtet seiner

    wirtschaftlichen Sicherheit und der schlechten Erfahrung mit Georg, bei der

    Rettung zu beteiligen. Nachdem Franz nach Hitlers Machtantritt der Boden []

    hei[70] wurde und er ein anderer geworden war[19], der sich aus der

    politischen Aktivitt zurckgezogen hatte, besinnt er sich wieder seinem

    moralischem Bewusstsein, als er von Georgs Ausbruch aus dem KZ erfhrt. Die

    gleiche Entwicklung durchlebt auch das Ehepaar Kre, das Georg fr eine Nacht

    Asyl gewhrt: Die Augen der Frau glnzten auf. [] So hell war es nur einmal

    gewesen, am Anfang ihres gemeinsamen Lebens[363]. Anna Seghers zeigt also

    auch, wie sich die Entscheidung, einem Flchtling wie Georg zu helfen und sich

    somit seiner Menschlichkeit zu besinnen, positiv auf das Alltagsleben

    zurckwirken kann.

    Den zentralen Beitrag zur Rettung Georg Heislers erbringen nicht

    kommunistische Funktionre und aktive Widerstndler, sondern Menschen wie

    164 Vgl. Das siebte Kreuz, S. 162. 165 Vgl. Winckler, 1981, S. 82 f.

  • 34

    Paul Rder, dem als eigentlich unpolitischer Mensch und Familienvater

    Annehmlichkeiten wie ein solcher Sto bester Windeln[238] und die

    sommerliche KdF-Reise bisher gengten, um ein angepasstes Dasein zu fhren.

    Simple politische Rezepte wie Parteilichkeit` und Heroisierung des

    kommunistischen Widerstandskampfes im Sinne des Sozialistischen Realismus,

    werden im Siebten Kreuz nicht angeboten. Keinem der Akteure fllt die

    Entscheidung, ob sie Georg helfen sollen oder nicht, leicht. Treue Kommunisten

    wie Reinhard und Hermann, die Georg Ausreisepapiere und Geld besorgen oder

    die Lehrerfigur Wallau spielen zwar auch eine Rolle bei der Fluchthilfe, bleiben

    jedoch im Hintergrund des Geschehens.166

    Auch Georg Heisler stellt nicht den vom Parteiprogramm geforderten positiven

    Held dar er ist, genauso wie die anderen skizzierten Charaktere des Romans,

    kein Klischeeheld mit politischem Vorbildcharakter. Bindungslosigkeit und der

    Ruf eines unberechenbaren Burschen[239] zeichnen Georg aus, der sich zwar

    vor seiner Verhaftung fr die kommunistische Sache engagierte, im Grunde

    jedoch auf der Suche nach sich selbst ist. Die Fluchtsituation gestaltet sich fr ihn

    als Lernprozess167, durch welchen Georg den Wert des gewhnlichen Lebens

    wieder zu schtzen begreift, nachdem er die Normalitt des Alltags frher

    verachtet[35] hatte.

    Nicht Georg allein, sondern das Tableau der vorgestellten Figuren im Roman, das

    Anna Seghers reprsentativ fr ein anderes Deutschland verstanden wissen

    wollte, steht im Zentrum des Romans.168 In dieser Hinsicht dient die Fokussierung

    auf das Spektrum der lndlichen und kleinstdtischen Welt auch nicht einer

    sozialanalytisch motivierten, realistischen Darstellung der gesellschaftlichen

    Wirklichkeit des Deutschlands um 1937. Vielmehr artikuliert sich in dieser

    Darstellungsweise der Versuch Anna Seghers, Mglichkeiten des

    Nonkonformismus bzw. der aktiven Resistenz im Alltagsleben der Menschen

    ausfindig zu machen. Es lsst sich in diesem Sinne erkennen, dass Anna Seghers

    166 Vgl. Zehl-Romero, S. 67. 167 Straub, Martin: Heislers Weg in das gewhnliche Leben. Zur Wirklichkeitsaufnahme in Anna

    Seghers Zeitgeschichtsroman Das siebte Kreuz. in: Erzhlte Welt. Studien zur Epik des 20.

    Jahrhunderts. Hrsg v. Helmut Brandt (u.a.), Berlin/Weimar 1978, S. 218. 168 Vgl. Stephan, S. 53.

  • 35

    das gewhnliche Leben als die eigentliche Grundlage der Resistenz

    identifizierte.169 Anhand der Schilderung alltglicher Begebenheiten traf die

    Autorin somit eine Diagnose der Zeit, die sich nicht in der Dokumentation des

    gefhrlichen Lebens, der Brutalitt der faschistischen Machtinhaber und des

    heroischen Widerstands der Verfolgten erschpft.

    3.3. Die Relativitt der Gegenwart berzeitliche Evokationen im Siebten Kreuz

    Die gelungene Flucht Georg Heislers bezeugt die Grenzen der Allmacht des

    nationalsozialistischen Verfolgungsapparates, denn das siebte Kreuz bleibt leer,

    trotz aller Bemhungen der Polizei und der SS170. Das Kreuzmotiv, traditionell

    das Sinnbild von Passion und Erlsung, wird durch die Geschichte Heislers zum

    Symbol der Hoffnung auf ein Wandel der Verhltnisse.171 Die Flucht kann jedoch

    nur aufgrund der solidarischen Hilfe und dem gemeinsamen Standhalten der

    Helfer gelingen.

    Das Gegenstck zu diesem inneren Bestand der Helfer artikuliert sich in Anna

    Seghers Beschreibungen der Landschaften um ihre Heimatstadt Mainz, deren

    sinnliche Eindrcklichkeit und Zeitlosigkeit auch Carl Zuckmayer einmal

    prgnant umschrieb: [] Da entschleiert sich die Rheinebene, das wellige Land

    zwischen Worms und Mainz, zu einer geschichtstrchtigen Landschaft von

    europischer Weltsicht []172 .

    Die Beschreibung der Landschaft ist nicht nur Ausdruck der Heimatverbundenheit

    Anna Seghers. Durch die Darstellung der bewegten Geschichte des Rhein-Main

    Dreiecks entwickelt die Schriftstellerin ein Geschichtsbild der Bestndigkeit, ein

    Motiv des alle Zerstrung berdauerndem, das in Kontrast zu der marxistischen

    Doktrin des historischen Fortschrittsgedankens steht173. Dem ewigen Wandel von

    Herrschsaftsformen und kriegerischen Auseinandersetzungen wird die Statik von

    169 Vgl. ebd., S. 64. 170 Kurt Heyd: Rede anlsslich der berreichung des Georg Bchner-Preises fr Anna Seghers

    1947. in: Argonautenschiff 7 (1998), S. 53. 171 Vgl. Rotermund: Wege durchs Zwanzigste Jahrhundert (a.a.O.), S. 72. 172 aus: ebd., S. 73. 173 Vgl. Thielking, Sigrid: Warten Erzhlen berleben. Vom Exil aller Zeiten in Anna Seghers

    Transit, in: Argonautenschiff 4 (1995), S. 127-138, hier: S. 133.

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    Natur und Kultur entgegengesetzt: Das ist das Land, von dem es heit, da die

    Geschosse des letzten Krieges jeweils die Geschosse des vorletzten aus der Erde

    whlen [11] [] Jedes Jahr geschah etwas neues in diesem Land und jedes Jahr

    dasselbe: da die pfel reiften und der Wein bei einer sanften vernebelten Sonne

    und den Mhen und Sorgen der Menschen[12]. Das zyklische

    Geschichtspanorama, dessen Abriss von der Rmerzeit bis in die faschistische

    Gegenwart reicht, soll die Wandelbarkeit der Gegenwart verdeutlichen und einen

    resignierenden Geschichtsfatalismus verhindern. Es soll angedeutet werden, dass

    es sich auch beim Dritten Reich nur um eine vorbergehende Phase der

    Geschichte handelt, dessen Existenz von der Macht der Natur und des

    gewhnlichen Lebens berthront wird: Tausende Hakenkreuzelchen, die sich

    im Wasser kringelten! [] Als der Strom morgens hinter der Eisenbrcke die

    Stadt verlie, war sein stilles bluliches Grau doch unvermischt. Wie viele

    Feldzeichen hat er schon durchsplt, wie viele Fahnen[13]. Die Figur des

    Schfers Ernst ist in der Idylle dieser Landschaft verwurzelt und reprsentiert in

    dieser Position ebenfalls die Sphre des Bleibenden vor der vergnglichen Welt

    des Nationalsozialismus. Von [] hier oben[13] blickt Ernst mit

    unantastbarerer Gleichgltigkeit auf die [] brennende, johlende Stadt[][13]

    und wird damit selbst zum integrativen Bestandteil dieser mythologisch

    berlagerten Landschaft.

    Das kunstvolle Einflechten mythologischer Traditionselemente wie

    Sonnenaltre der Kelten oder Astarte und Isis, Mithras und Orpheus[11]

    untersttzt die Vermittlung eines berzeitlichen Bedeutungszusammenhangs, mit

    der auch die Anspielungen auf religise Elemente und die Verwendung

    christlicher Metaphorik korrespondiert. In diesem Zusammenhang demonstriert

    der Mainzer Dom einen noch nicht vom Faschismus beherrschten Kulturraum,

    dessen Geschichtsmchtigkeit auf Georg Heisler einwirkt, als er seine erste Nacht

    in Freiheit dort verbringt. Innerhalb der von der Literaturwissenschaft viel

    beachteten Domszene174 entwickelt Anna Seghers eine atmosphrisch dichte und

    lebendige Beschreibung des erhabenen Raumes, in welchem Georg sich mit den

    steinernen Konterfeis zu einem stummen Zwiegesprch einlsst: Gib auf, rt

    174 Vgl. Kuschel, Karl-Josef: Das leer gebliebene Kreuz. Zur Funktion jdisch-christlicher Motive

    im Werk von Anna Seghers, in: Argonautenschiff 10 (2001), S. 108-128, hier: S. 116.

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    ihm eine der Statuen, du bist schon am Anfang zu Ende[74]. Es sind Georgs

    grundeigene ngste, aber auch Erinnerungen an lange vergessene Freunde wie