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" Zur Ambivalenz der Bürokratisierung Die Gegenkraft 220 keit und spiegelt vor, daß die gegenwärtige Gestalt de Kirche und die Verteilung der Kompetenzen von Anfan r an so gewesen seien wie heute, ja sogar in dieser For! von Christus eingesetzt und angeordnet. Sie verhindert eine sachgerechte Einschätzung der Situation und ein entsprechendes "Aggiornamento". Zur Sachgerechtigkeit gehört es auch, die Bürokratisie_ rung in ihrer Ambivalenz, also auch auf ihre guten Seiten hin richtig einzuschätzen. Die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts haben immerhin der Kirche auch viel gebracht: "Die bürokratisch-hierarchische Struktur der Kirche stellte die Sozialform dar, mit der die katholische Tradition auf eine der schwersten Herausforderungen ih- rer Geschichte reagierte und diese unerwartet erfolgreich bestand", schreibt der Soziologe Karl Gabriels, Damit die Kirche die Herausforderungen unseres Jahrhunderts und des kommenden Jahrtausends bestehen kann, braucht sie jedenfalls ein starkes organisatorisches Gerüst und auch einige Elemente der Bürokratie. Diese bedürfen aber starker Gegenkräfte, damit sich ihr Nutzen nicht ins Gegenteil verkehrt. Die zentripetalen Kräfte der Büro- kratisierung müssen durch zentrifugale Kräfte gebremst und ausbalanciert werden. Konkret: Das Papstamt wird nur dann zum Segen der Kirche, wenn es in die Kollegiali- tät der Bischöfe eingebunden bleibt. Die römischen Zen- tralstellen können nur dann einen wertvollen Dienst an der Kirche leisten, wenn sie die Ortskirchen als lebendige Teile eines Organismus behandeln, die auch ihnen das Leben ermöglichen und die für den ganzen Organismus wichtig sind, und nicht als bloße "Außenstellen" ihrer Organisation, die mit Hilfe integralistischer Kräfte unter Druck gesetzt werdene, Ebenso bedürfen aber auch auf der Ebene der Diözese und Pfarrei die zentripetalen Kräfte einer regulierenden Gegenkraft. Die vorhandenen Gremien müssen ihre Kompetenzen einmahnen und wahrnehmen; die Verfü- gungsgewalt über Geld und andere "Produktionsmittel" darf nicht allein an der Spitze der jeweiligen organisatori- schen Hierarchie liegen. Vor allem aber dürfen die Chri- sten, die nicht Amtsträger sind (das sind mehr als 99 Pro- zent), ihre fundamentalen, durch Taufe und Firmung übertragenen Aufgaben nicht an die Amtsträger delegie- ren, nämlich den Glauben zu tradieren, in der Liturgie zu feiern und in der Diakonie ins Werk zu setzen. 8 Gabrie!, a. a. 0., 154. ·e 9 Vgl. dazu den nachfolgenden Artikel von Hans Urs von Ba!thasar so~) dessen Beitrag über Integralismus in: Wort und Wahrheit 18 (1 737-744. Ilans Urs von Balthasar rntegralismus heute Washeißt heute Modernismus? I. Modernismus - Integralismus um die Jahrhundertwende Blondeis Kritik ... I Artikel I 1I 1 Die kirchliche Landschaft hat sich in den letzten J ahr- zehnten so stark verändert, daß man sich angesichts von alten Schlagworten - wie zum Beispiel dem Begriffspaar Integralismus - Modernismus - erst einmal gründlich be- sinnen muß. Was heißt nach Papst Johannes' XXIII. Auf- ruf zum aggiornamento (zur Wahrnehmung der realen Welt von heute, der die christliche Lehre sinngemäß ver- kündet werden soll) heute Modernismus? Und was ist bei den sogenannten Integralisten überhaupt integral, das heißt doch "lückenlos vollständig"? Erheben wir uns einen Augenblick über das Kampfge- wühl zwischen den Schlagworten, so sollten wir einsehen können, daß nichts "moderner", nichts bessere Medizin für die Krankheiten unserer Zeit ist als das unverkürzte Evangelium, das nur als "integrales", nicht zurechtfri- siertes seine heilende und aufbauende Wirkung ausüben kann. Ein Blick auf die Ostländer dürfte diese Behaup- tung bestätigen. Auf dieser höheren Warte fallen die ver- feindeten Parolen angesichts der nüchternen Erkenntnis zusammen, daß wirklich integral überhaupt nur das sein kann, was Gott ist und von ihm als das stets Aktuellste ausgeht, im Gegensatz zum fragmentarischen Charakter alles Weltlichen, das - heute schneller als je - von einem Modernen (oder Post-Modernen) zu einem Vergangenen (oder Vor-V ergangenen) wird. Am Göttlich-Vollständigen des unkastrierten Evangeli- ums des Sohnes Gottes werden wir deshalb am besten das Maß für das nehmen, was sich im irdischen Bereich eine pseudo-göttliche Integralität anmaßt und gerade damit seine Abweichung anzeigt. Werfen wir zu Beginn einen Blick auf die Kampfzeit des ausgehenden letzten Jahrhunderts, wo die Opposition zweier Fronten in der Kirche sich wohl zum ersten Mal in ihrer Geschichte so deutlich abzeichnete. Auf die bedeut- same Vorgeschichte - reine Restauration eines vorrevolu- tionären Zustands oder Fruchtbarmachung berechtigter sozialer Forderungen - ist hier nicht einzugehen; virulent wurde die Lage erst mit den extremen religiösen Thesen des sogenannten Modernismus, der das kirchliche Dogma an der Religiosität des Subjekts zu messen unternahm. Maurice Blondel, selbst zu Unrecht des Modernismus ver- dächtigt, war der erste, der das drohende Zerwürfnis dia- gnostizierte und 1910 in seiner 250seitigen Studie über den "Monophorismus" seiner Besorgnis Ausdruck gab. 221

Balthasar, Integralismus heute

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Hans Urs von Balthasar, Integralismus heute, in: Diakonia 19 (1988), 221-29. Neubearbeitung der Beiträge, die in Wort und Wahrheit 18 (1963), 737-44 veröffentlicht wurden.

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Zur Ambivalenzder Bürokratisierung

Die Gegenkraft

220

keit und spiegelt vor, daß die gegenwärtige Gestalt deKirche und die Verteilung der Kompetenzen von Anfan ran so gewesen seien wie heute, ja sogar in dieser For!von Christus eingesetzt und angeordnet. Sie verhinderteine sachgerechte Einschätzung der Situation und einentsprechendes "Aggiornamento".Zur Sachgerechtigkeit gehört es auch, die Bürokratisie_rung in ihrer Ambivalenz, also auch auf ihre guten Seitenhin richtig einzuschätzen. Die Entwicklungen des19. Jahrhunderts haben immerhin der Kirche auch vielgebracht: "Die bürokratisch-hierarchische Struktur derKirche stellte die Sozialform dar, mit der die katholischeTradition auf eine der schwersten Herausforderungen ih-rer Geschichte reagierte und diese unerwartet erfolgreichbestand", schreibt der Soziologe Karl Gabriels, Damit dieKirche die Herausforderungen unseres Jahrhunderts unddes kommenden Jahrtausends bestehen kann, brauchtsie jedenfalls ein starkes organisatorisches Gerüst undauch einige Elemente der Bürokratie. Diese bedürfenaber starker Gegenkräfte, damit sich ihr Nutzen nicht insGegenteil verkehrt. Die zentripetalen Kräfte der Büro-kratisierung müssen durch zentrifugale Kräfte gebremstund ausbalanciert werden. Konkret: Das Papstamt wirdnur dann zum Segen der Kirche, wenn es in die Kollegiali-tät der Bischöfe eingebunden bleibt. Die römischen Zen-tralstellen können nur dann einen wertvollen Dienst ander Kirche leisten, wenn sie die Ortskirchen als lebendigeTeile eines Organismus behandeln, die auch ihnen dasLeben ermöglichen und die für den ganzen Organismuswichtig sind, und nicht als bloße "Außenstellen" ihrerOrganisation, die mit Hilfe integralistischer Kräfte unterDruck gesetzt werdene,Ebenso bedürfen aber auch auf der Ebene der Diözeseund Pfarrei die zentripetalen Kräfte einer regulierendenGegenkraft. Die vorhandenen Gremien müssen ihreKompetenzen einmahnen und wahrnehmen; die Verfü-gungsgewalt über Geld und andere "Produktionsmittel"darf nicht allein an der Spitze der jeweiligen organisatori-schen Hierarchie liegen. Vor allem aber dürfen die Chri-sten, die nicht Amtsträger sind (das sind mehr als 99 Pro-zent), ihre fundamentalen, durch Taufe und Firmungübertragenen Aufgaben nicht an die Amtsträger delegie-ren, nämlich den Glauben zu tradieren, in der Liturgie zufeiern und in der Diakonie ins Werk zu setzen.

8 Gabrie!, a. a. 0., 154. ·e9 Vgl. dazu den nachfolgenden Artikel von Hans Urs von Ba!thasar so~)dessen Beitrag über Integralismus in: Wort und Wahrheit 18 (1737-744.

Ilans UrsvonBalthasarrntegralismusheute

Washeißt heuteModernismus?

I.Modernismus -Integralismus um dieJahrhundertwende

Blondeis Kritik ...

I Artikel I1I

1

Die kirchliche Landschaft hat sich in den letzten J ahr-zehnten so stark verändert, daß man sich angesichts vonalten Schlagworten - wie zum Beispiel dem BegriffspaarIntegralismus - Modernismus - erst einmal gründlich be-sinnen muß. Was heißt nach Papst Johannes' XXIII. Auf-ruf zum aggiornamento (zur Wahrnehmung der realenWelt von heute, der die christliche Lehre sinngemäß ver-kündet werden soll) heute Modernismus? Und was ist beiden sogenannten Integralisten überhaupt integral, dasheißt doch "lückenlos vollständig"?Erheben wir uns einen Augenblick über das Kampfge-wühl zwischen den Schlagworten, so sollten wir einsehenkönnen, daß nichts "moderner", nichts bessere Medizinfür die Krankheiten unserer Zeit ist als das unverkürzteEvangelium, das nur als "integrales", nicht zurechtfri-siertes seine heilende und aufbauende Wirkung ausübenkann. Ein Blick auf die Ostländer dürfte diese Behaup-tung bestätigen. Auf dieser höheren Warte fallen die ver-feindeten Parolen angesichts der nüchternen Erkenntniszusammen, daß wirklich integral überhaupt nur das seinkann, was Gott ist und von ihm als das stets Aktuellsteausgeht, im Gegensatz zum fragmentarischen Charakteralles Weltlichen, das - heute schneller als je - von einemModernen (oder Post-Modernen) zu einem Vergangenen(oder Vor-V ergangenen) wird.Am Göttlich-Vollständigen des unkastrierten Evangeli-ums des Sohnes Gottes werden wir deshalb am besten dasMaß für das nehmen, was sich im irdischen Bereich einepseudo-göttliche Integralität anmaßt und gerade damitseine Abweichung anzeigt.Werfen wir zu Beginn einen Blick auf die Kampfzeit desausgehenden letzten Jahrhunderts, wo die Oppositionzweier Fronten in der Kirche sich wohl zum ersten Mal inihrer Geschichte so deutlich abzeichnete. Auf die bedeut-same Vorgeschichte - reine Restauration eines vorrevolu-tionären Zustands oder Fruchtbarmachung berechtigtersozialer Forderungen - ist hier nicht einzugehen; virulentwurde die Lage erst mit den extremen religiösen Thesendes sogenannten Modernismus, der das kirchliche Dogmaan der Religiosität des Subjekts zu messen unternahm.Maurice Blondel, selbst zu Unrecht des Modernismus ver-dächtigt, war der erste, der das drohende Zerwürfnis dia-gnostizierte und 1910 in seiner 250seitigen Studie überden "Monophorismus" seiner Besorgnis Ausdruck gab.

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... an denIntegralisten

Die Aktualität derdamaligen Analyse

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Bereits 1904 schrieb er seinem Freund, dem PhilosoPhenAuguste Valensin SJ: "Man kann sich der Tatsache nichtverschließen, daß täglich die Spannung schärfer wirdzwischen zwei Richtungen, die in allen Belangen, sozia.len, politischen und philosophischen, die Katholiken ge.geneinanderstellen. Man könnte heute geradezu von zWeigänzlich unvereinbaren katholischen Denkweisen spro,chen; und das ist ein offenkundig abnormaler Zustand,denn es kann nicht zweierlei Katholizismus geben. Ichwill nicht ablassen, diese beiden Haltungen zu kennzeich.nen und zu zeigen, wie die diversen Tendenzen in jedemdieser gegensätzlichen Systeme innerlich zusammen.hängen."An der Basis der Differenz sieht er zwei verschiedene Er.kenntnistheorien: bei den zeitaufgeschlossenen Christendas Bewußtsein der Verflochtenheit alles geschichtlichWirklichen, die Forderung, durch wagendes solidarischesHandeln darin einzusteigen, um es in seiner inneren Be.wegtheit zu erfahren. Bei den Integralisten dagegen dieAnsicht, die Wirklichkeit könne in abstrakten, fixen undunabänderlichen Begriffen ausgeschöpft werden, so daßes genüge, im Blick auf die rechten Begriffe zu handeln,um die Welt auch recht zu bewegen. Bei den ersten folgtaus ihrem Ansatz, daß auch im Verhältnis von Natur undOffenbarung dieselbe Verflochtenheit herrscht; es gibtWege der Gottesgnade auch von unten nach oben, Wege,die den Menschen guten Willens auch außerhalb der Kir-che durch rechte Entscheidungen in den Bereich der Got-tesliebe einführen. Bei den zweiten ist die Offenbarungprimär ein System von Lehrbegriffen, die sich definitions-gemäß in der Menschenwelt nirgends vorfinden können,daher nur von einer rein absteigenden kirchlichen Auto-rität dem Laienvolk zur passiven Annahme vorgestelltwerden kann. Aus diesem rationalistisch-extrinsezisti-sehen Ansatz folgt für Blondel die Rückbildung derchristlichen Botschaft zu einem "Gesetz der Furcht unddes Zwanges", statt seelen befreiendes Gesetz der Liebezu seini. Man übt im Namen des Herrn eine Härte aus, dieer selber nie geübt hätte, ja, "unter dem Vorwand, ihmdas Wort zu lassen und seine Feinde zu treffen, verletztman ihn vielleicht selbervs. Der von den Untertanen ge-forderte blinde Konformismus ist "die denkbar radikalstePerversion des Evangeliums':e, die sich gegen den Moder-nismus als nicht minder "mörderischer Veterismus"stellt». "Die Logik des Integralismus ist unerbittlich": Die1 La Semaine Sociale de Bordeaux et le Monophorisme (1910),67.2 Ebd. 69.3 Ebd. 7l.4 Ebd. 75.

Das wiederhergestellteInquisitionssystem

klar begriffliche Trennung eines geschlossenen Reichesder Natur und einer ebenso geschlossenen Übernatur, dievon oben herab herrscht, fordert von den Vertretern derletzteren, "sich selbst mit der Offenbarungswahrheit zuidentifizieren, oder vielmehr die Offenbarungswahrheitmit sich, um schließlich zu einer rein menschgestaltigenTheokratie zu gelangen, die man zwar dauernd ableug-net, aber doch immerfort praktiziert'w, Da der weltlicheArm für diese Herrschaft nicht mehr verfügbar ist, mußman ihn notgedrungen durch eine inner kirchliche Macht-anwendung ersetzen; die Kirche im ganzen liegt im "Be-lagerungszustandvs, und da der ideale Untertan der blindgehorchende ist, wird die Tendenz dahin gehen, alle nichtrestlos Gefügigen aus der Kirche heraus zutreiben: "in Er-mangelung des compelle intrare wird man das compelleexire praktizieren; [... ] der Herr ließ damals die 99 ge-treuen Schafe auf ihrer Weide, um dem einen verlorenennachzueilen, manche möchten heute bei dem einzigen ge-treuen verharren, um es noch besser anzubinden. "7 DasLeitbild ist jetzt der "Kreuzzug" für die von der weltli-chen Gewalt verkannten Rechte der kirchlichen Macht,ist "die kleine, vollkommen durchgeschulte Sturmscharder Fachleute für die konfessionellen Fragen, die gefügigeElite der Sakristan-Soldaten'<, während "die Menschheitzur Sedia gestatoria der geistlichen Vollmacht wird, diealles zu geben und nichts zu erhalten hat und deshalb ihrGeschenk als ihr geltend zu machendes Recht auferlegt:zwangsweise':s. Blondeis grimmige Analysen setzen diescharfen antimodernistischen Maßnahmen voraus, derenextremste Ausläufer ihm selbst wohl nicht einmal be-kannt waren.Pius X. hatte den Modernismus 1907 verurteilt (Pascen-di), von 1908-1913 folgen zahlreiche Indizierungen; Zeit-schriften der modernen Katholiken streichen die Segel,eine davon erklärt, sie habe keine Daseinsberechtigungmehr "unter dem in der Kirche wiederhergestelltenInquisitionssystem". Während dieser Jahre gelangt das,was Valensin geradezu als "die entgegengesetzte Häre-sie" bezeichnet hat, zum Zuge, im Kern steht eine Ge-heimgesellschaft oder vielmehr eine Verbindung ver-schiedener Geheimgesellschaften mit Zentrum in Rombei Msgr. Umberto Benigni, der seit 1906 beim Staatsse-kretariat arbeitete (wo ihn später Pacelli ablöste), unterder Protektion des Kardinals Merry del Val, und der mo-

5 Ebd. 99.6 Ebd. 1Ol.7 Ebd. 103.8 Ebd. 107.9 Ebd. 115.

Ir. Verschiebungder Frontenund Ähnlichkeiten

Der Integralismus inder heutigen Kirche

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natlich 1000Franken vom Papst bezog; er hatte eine allge_meine Informationsagentur und eine über viele Ländersich erstreckende Organisation "zur Verteidigung derpäpstlichen Lehrstücke" gegründet, die von überall Er-kundigungen über die Orthodoxie von Personen undGruppen einzog und entsprechende Direktiven aussanjj,te. Die Mitglieder zerfielen in drei Gruppen: die ganz Ge-heimen, die einfach Geheimen und die Öffentlichen, hin-ter denen die ersteren sich verbargen. Pius X. hat die Ein-richtung gutgeheißen, aber ihr inneres Funktionierenkeineswegs gekannt. Das Archiv des ("SapiniE~re" ge-nannten) Hauptquartiers der Integralisten fiel währenddes Ersten Weltkrieges in die Hände der deutschenArmee.So war es damals, aber die Fronten haben sich, wie an-fangs gesagt, bedeutsam verschoben. Auf der einen Seitewäre es töricht, die notwendig in der Kirche - kraft ihrerinstitutionellen Verfaßtheit - bestehenden Spannungen(das Wort in seinem positiven, lebensnotwendigen Sinngenommen) mit den alten Etiketten der J ahrhundertwen-de zu bekleben. Jeder Einsichtige muß eingestehen, daßdie Anliegen des Modernismus von den heute tonange-benden Theologen so gründlich wie möglich aufgearbei-tet worden sind; jeder halbwegs Unvoreingenommenewird zugeben müssen, daß, wenn extreme, mit demEvangelium nicht mehr zu vereinbarende Positionenvom Lehr- und Hirtenamt als solche zu kennzeichnensind, dieses selbe Amt sich heute aufs höchste bemüht,Zweideutiges (wie eine gewisse extreme Befreiungstheo-logie) so zu klären, daß die positiven Anliegen darin alssolche der Gesamtkirche anerkannt und aufgenommenwerden ("Option für die Armen"), während voreilige An-gleichungen an fremde Ideologien oder Anleihen beinichtkatholischen Theologien als solche aufzudeckensind. Wer wollte leugnen, daß Grenzziehungen (etwa inFragen der Moral) oft diffizil sind und das Angemessenenicht auf Anhieb zu umschreiben ist, daß aber rechtechristliche Ethik sich nicht auf die Laxheiten einer nach-christlich-permissiven Gesellschaft einlassen kann? Ge-duld mit der sich ernsthaft mühenden Kirche ist hier undin ähnlichen Fällen angebrachter als grobe Polemik.Mit diesen Bemerkungen soll aber nicht vertuscht wer-den, daß es heute in der Kirche noch eindeutige Formendessen gibt, was man mit dem alten Schlagwort Integra-lismus kennzeichnen darf. Legen wir das oben aufgestell-te Maß an, daß integral (in seiner absoluten Fülle "voll-ständig") nur Gott und sein Wort in der Welt ist, währendalles Innerweltliche, Fragmentarische sich zu diesem em-por zu beziehen hat, so können wir drei Aspekte ange-

1.Die Macht

Reichtum der Gemein-schaft unbedenklich?

maßter "Integrität" auch in der heutigen Kirche unter-scheiden: einen der Macht, einen der Tradition und einender richtenden Vernunft.Gemeint ist weltliche Macht, die wohl zu unterscheidenist von den zum Dienst an den Gläubigen von Christusgegebenen "Vollmachten". Beides gleichzusetzen ist einbilliger Trick antikirchlicher Propaganda. Der Priester,der durch das Weihesakrament die Vollmacht hat, im Na-men Christi und für und mit seiner Gemeinde die Eucha-ristie zu zelebrieren - manche tun es in priesterlosen Ge-genden sonntags bis zur Erschöpfung, wie sie (früher)stundenlang bis zur Erschöpfung Beichten abnahmen -,übt nicht weltliche Macht aus, sondern ist der "Dieneraller". Er ist es auch, wenn er im Auftrag Christi trotz unddank vieler Mitarbeiter das sichtbare Einheitsprinzip sei-ner Gemeinde zu bilden hat.Macht im gemeinten Sinn beginnt erst dort, wo eineGruppe (mag sie frei oder kirchlich organisiert sein) sichzum Programm setzt, auf dem Umweg über weltlicheMachtpositionen angeblich christliche Wirkungen her-vorzubringen. Weltlich. ein normales Kalkül (beherrschtes nicht alle Politik und Wirtschaft?), christlich aber einSchlag ins Gesicht der Seligpreisungen der Bergpredigt.Macht als Weg, das Kreuz aufzurichten, war weithin derWeg der Kolonisatoren (oder muß man zu Karl dem Gro-ßen und zu seinen alttestamentlichen Vorbildern zurück-gehen?), deren verheerende Politik bis heute ihre Früchteträgt, so vieles die nachträglichen Missionierungen anGutem gestiftet haben mögen. Es ist gut, daß der Vatikanarm ist. Denn auch Geld kann ein Machtmittel sein, mitdem man sich zu einer Zeit, da das Wort Simonie obsoletgeworden ist, manches erkaufen kann, vielleicht sogarHeiligsprechungen. Wir leben in einer Zeit, da Propagan-da, Reklame, Werbetechnik eine Großmacht gewordensind. Es bereitet tiefe Sorge zu sehen, wie christliche Ge-meinschaften heute für sich werben, oft schon bei Min-derjährigen, die sich durch geschickte Lockmittel einfan-gen lassen. Ich besitze eine ganze (internationale) Samm-lung von Klagebriefen übertölpelter Eltern, denen einekirchliche Institution oder Bewegung die Kinder wegge-stohlen hat. Mehr oder weniger unbewußt steht hintersolcher Werbung das Bewußtsein einer Gruppe, die ka-tholische Kirche in ihrer Integralität am besten und wirk-samsten zu repräsentieren. Heilige Ordensgründer wieFranziskus oder Ignatius haben nie für sich geworben,sondern für das Gottesreich, zu dem man durch Nach-folge Christi Zutritt gewinnt.Merkwürdigerweise vermählt sich heute (wie im Mittel-alter und Barock) persönliches Armutsideal mit Reich-

2. Die Tradition

turn der Gemeinschaft. Aber das Volk ist dieser Vermäh_lung gegenüber mißtrauisch. Eine Statistik hat nachge_wiesen, daß in Frankreich die um reiche Abteien liegen_den Ländereien die am meisten entchristlichten sind. "Ihrkönnt nicht zwei Herren dienen: Gott und dem Mammon"- selbst wenn ihr nicht Mönche, sondern eine Laienbewe_gung seid. Gewiß verlangt das Evangelium "Schlangen_klugheit" neben "Taubeneinfalt", aber nicht ohne sie;und gewiß wird der kluge und getreue Knecht gelobt, mitdem Vermögen seines Herrn gearbeitet zu haben, abereben nicht mit dem eigenen und nicht für sich, währenddas Bedenkliche an manchen heutigen florierendenkirchlichen Bewegungen darin besteht, daß sie für sicharbeiten, weil sie sich "integral" mit der Kirche identifi-zieren. Das erweckt, weil wir alle im Sog der Propagandasind, bei vielen nur ein leichtes Malaise; es sollte aber, woechte Unterscheidung der Geister geübt würde, mehrwecken: dezidierte Abkehr."Ich bin das Licht der Welt", sagt der Herr: er wirkt durchAusstrahlung. Er sagt nicht: "Ich bin ein Magnet derWelt", der durch Anziehung wirkt. Alle Integristen pach-ten die Orthodoxie für sich. Das ist kein hinreichendesKriterium mehr. Die Praxis entscheidet, nicht einfach diesoziologische, sondern diejenige Christi.Bezüglich der Tradition ist jedermann schnell im Bild.Man kennt die mächtigen traditionalistischen Bewegun-gen, seien sie, wie sie meinen, im Herzen der Kirche oderan deren Rand in Verhandlungen mit Rom, ob ihr Begriffvon Tradition noch kirchlich zulässig sei oder nicht.Kennzeichen beider Gruppen - der zentralkirchlichenwie der randkirchlichen - ist ihre Starre und Selbstge-rechtigkeit. Das Bewußtsein ihrer integralen Katholizitätgibt ihnen das Recht, alles von ihrem Standpunkt Abwei-chende souverän zu verurteilen. Sie haben recht, und nursie. Weshalb? Weil die "Tradition" für sie ist. Und was istfür sie Tradition? Das, was war. Was bisher immer gegol-ten hat. Zur Gegenwart hin wird ein abschließenderStrich gezogen. Ist man sich klar, daß alle Schismen derKirchengeschichte - bei aller vorsichtigen Beurteilung,die auch die positiven Anliegen der "Unterlegenen" aner-kennt - traditionalistischen Ursprungs sind? Was (irgend-wie) bei den Vornizänern galt, hat weiter zu gelten, des-halb verlassen die Arianer die Kirche. Was auf dem Kon-zil von Nizäa galt, hat in Ephesus zu gelten: die Nestoria-ner verlassen die Kirche. Was in Ephesus galt, muß inChalzedon gelten: die Monophysiten aller Färbung isolie-ren sich. Das Ost-West-Schisma: bis zum zweiten Nizä-num, aber keinen Schritt weiter. Die Reformation: was

Nicht Buchstabe, son-dern lebendiges Wort

Ursachen auch in"progressistischen "Mißständen

Erneuerungdes Communio-Gedankensdurch das Konzil

(buchstäblich) in der Schrift steht, aber sine glossa. DieAltkatholiken: was bisher nicht als Dogma definiert wur-de, soll es auch heute nicht werden. Jedes große Konzilproduziert ein Residuum. Das heißtjedesmal: die Traditi-on liegt im Buchstaben. Und man sieht nicht, daß dergeistlose Buchstabe tötet. Daß Tradition zuerst etwas Le-bendiges, Weiterdrängendes ist, ein suchendes Sich-hin-ein-Beten und -Betrachten in das lebendige Wort. DerTrennungsstrich wird dort gezogen, wo ich als Junge et-was gelernt habe, was eben deshalb als Dogma zu geltenhat. Es ist so bequem, sich darauf auszuruhen und keineweiteren Anstrengungen machen zu müssen! Altkonser-vative Geschlechter finanzieren mit Vorliebe solche tra-ditionssichere (feuersichere) Blätter. Diese Gruppen wis-sen schon Bescheid, sind daher für jeden wohlgemeintenDialog verloren. Wenn Rom sich um einen solchen be-müht, heißt es: Wartet nur, ihr werdet schon sehen, daßwir schließlich doch anerkannt werden. Und wenn einesolche Anerkennung nicht erfolgt, dann hat Rom, wie sooft, selbstverständlich unrecht. Was für ein Skandal, daßder Papst mit Andersgläubigen ("Häretikern") zusam-men betet! Was für ein Ärgernis, daß er mit den FeindenChristi, den Juden, fraternisiert. Seit wann reisen Päpstedauernd in der Welt herum? Haben sie zu Hause nichtArbeit genug?Niemand wird leugnen, daß viele "progressistische" Miß-stände besonders im Klerus die traditionalistische Ten-denz verstärkt und ihr anscheinend recht gegeben haben.Das Volk mußte an vielem, was ihm nachkonziliar vorge-setzt wurde, berechtigten Anstoß nehmen - bis heute.Und so ist es nicht verwunderlich, daß eine Menge braverGläubiger dem Traditionalismus ins Netz geht, meist ah-nungslos, wo die entscheidenden Punkte eigentlich lie-gen. Die Extreme treiben sich gegenseitig hervor, aberdie "Progressisten" sind sich dabei ihrer Verantwortungselten bewußt. Mit einem verächtlichen Blick nach"rechts" ist es nicht getan. Mit einer Kritik an der Rück-ständigkeit Roms ebensowenig, aber es ist bedeutsam,daß der antirömische Affekt aufbeiden Seiten unvermin-dert heftig spielt: Rom ist zu progressiv - Rom ist zu kon-servativ. Vielleicht ist Rom doch, aufs Ganze gesehen, ineiner Mitte, die es den Extremen objektiv möglich ma-chen könnte, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.Was von den Traditionalistenjeglicher Färbung nicht ge-sehen wird, ist die Tatsache, daß die Kirche mit demZweiten Vatikanum über eine lange Strecke eines pyra-midalen Verständnisses (der Papst als oberste Spitze,dann durch den Klerus der Abstieg zu den Laien) zur alt-

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3. Die richtendeVernunft

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kirchlichen Ekklesiologie der Communio zurückgefun_den hat, ohne deshalb mit der historischen Tradition Zubrechen. Das Kennwort "communio hierarchica" sprichtetwas von der gewonnenen Synthese aus. Eine "Bewe_gung für Papst und Kirche" macht sich durch die Reihen_folge der Hauptworte heute selber lächerlich - am mei-sten beim gegenwärtigen Heiligen Vater. Diese Traditionmag allenfalls bis auf Gregor VII. zurückreichen, nichtweiter. Und der Kampf um die kirchliche Selbständig_keit, die dieser Papst gegen ein sakrales Kaisertumdurchzufechten hatte, ist längst bedeutungslos gewor-den. Und will vielleicht, wer gegen die Religionsfreiheitoptiert, die Scheiterhaufen der Inquisition wieder einfüh-ren?Man muß sich den Ewig-Gestrigen gegenüber auf denechten Sinn katholischer Traditio besinnen. Nicht einWeiterreichen des Immergleichen, so wie eine Kette vonArbeitern sich Ziegelsteine zuwirft; sondern etwas uner-hört Lebendiges, das seinen letzten Ursprung in der Über-gabe des Sohnes durch den Vater an die Menschen, in derSelbstübergabe Christi an die Kirche hat, in der Weiterga-be der Apostel an ihre Nachfolger: Immer mit dem Herz-blut des Tradierenden zusammen, immer mit der Mah-nung, keine Sache, keine fertige Formel, sondern Gött-lich-Lebendiges anvertraut zu erhalten: "Ich weiß, beimeinem Weggang werden reißende Wölfe bei euch ein-dringen ... , die mit ihren falschen Reden die Jünger aufihre Seite ziehen. Seid also wachsam, ... ich vertraueeuch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Krafthat, aufzubauen" (Apg 20, 29-31). "Denn Gott hat unsnicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern denGeist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit" (2 Tim1,7). Integral ist Tradition nur, wenn die Kirche im Geistdes sich selbst in seinem Sohn der Welt überlieferndenVaters tradiert.Es wäre einseitig, hiemit abzubrechen und einer drittenForm des Integralismus nicht zu gedenken, in der nichtdie Position, nicht die Tradition, sondern die menschlicheVernunft das letzte Wort hat. In dieser Hinsicht ist wohlHegel der ausgepichteste Integrist, der das Bewußtseinhatte, keinen möglichen Aspekt der Wahrheit nicht in sei-ne Synthese einbezogen zu haben. Man weiß, daß ihm dasChristentum viel galt, aber sein Begriff des Mysteriumsnichts, denn jedes Geheimnis ist eine Nuß, die von derVernunft geknackt werden muß. Es geht mir hier nichtum Hegel (obschon, nach den deutschen Hegelkongres-sen zu urteilen, vor und nach ihm keine Philosophie mehrin Betracht kommt), sondern um die Anmaßung der Ver-

Schlußbemerkung:Zur Aktualitätder Geschichte

nunft, alles entweder auszuschalten oder als durchschau-bar hinzustellen, was das Christentum als göttliches (unddamit geheimnisvolles) Geschenk an die Menschheit "zuglauben vorstellt". Man braucht das Theologische nur zupsychologisieren oder zu soziologisieren, um ihm einemenschlich annehmbare Seite abzugewinnen, manbraucht an die Stelle des Glaubens bloß die religiöse "Er-fahrung" zu setzen, um die verekelte Jugend wieder an-zulocken. Man müßte bloß die paar längst fälligen Kon-zessionen in Sachen Sexualität machen, um Scharen vonAbseitsstehenden zurückzugewinnen, man bräuchte - daunsere Kirchen sich ob der Unverständlichkeit der Eu-charistiefeier zusehends leeren - nur eine zeitgemäßeForm religiöser Aktivität zu erfinden (Angebote östlicherMeditation oder Überlassung des Gottesdienstes derPhantasie der Gemeinde u. ä.), um wieder Klienten in denKirchen zu haben. Und entspräche es nicht der simplenVernunft, die vertrackten konfessionellen Differenzen adacta zu legen, da wir doch "in wesentlichen Punkten einigsind"? Wieviel Ballast wäre damit über Bord geworfen,wieviel flotter ginge die Fahrt vonstatten. Und wenn wirschon beim Abbruch lästiger Barrieren sind, warum nichtÖkumene auf einer höheren Ebene treiben: gegen denWeltatheismus eine Weltreligion? Ist nicht auch Moham-med, ist nicht Buddha auf seine Weise ein SachwalterGottes? Eint nicht die gemeinsame Welt von Bildern, My-then, Archetypen alle Religionen der Menschheit? DasChristentum wird in dieser integralen Weltreligion seinenEhrenplatz behalten, aber wie kann ein Mensch daher-kommen und behaupten "Ich bin die Wahrheit"? Habenwir nicht alle nur einen Gott, zu dem wir aufblicken, auchwenn Allah tausend Namen hat? Irgendwann wird derOne World auch die One Religion entsprechen müssen.Liebe Leser, sind wir mit diesen hochmodernen integra-len Entwürfen nicht doch unversehens um hundert Jahrezurückversetzt in die Hochblüte des Modernismus? Odermeinetwegen um noch weitere hundert Jahre zu Lessings"Erziehung des Menschengeschlechts" oder den reizen-den Naivitäten der Zauberflöte? Und ist dann vielleichtdie Catholica doch so etwas wie die "Königin der Nacht",die der armen Pamina den Dolch in die Hand drückt zurErledigung des strahlenden Lichtreichs der Vernunft?Hier abzubrechen ist hohe Zeit. Und sich zu erinnern, daßeiner gesagt hat: "Ich bin das Licht der Welt", das in diehöhere Einheit keines anderen Lichtes eingeht, und ver-heißen hat, daß, wer ihm nachfolgt, nicht in der Finsterniswandelt. Diese Einzigartigkeit Christi zu erweisen, ge-hört nicht mehr zu unserem Thema.