18
146 Bauwelt Fundamente Birkhäuser Denkmalpflege statt Attrappenkult ISBN 978-3-0346-0705-6 Rekonstruktionen unterminieren den Auftrag der Denkmalpflege, Baudenk- mäler in ihrer materiellen Überlie- ferung als Zeugnisse der Geschichte zu erhalten. Sechs Denkmalexperten wenden sich gegen die Simulation von Baudenkmälern: gegen einen Attrap- penkult, der im Dienst von Geschichts- politik, Identitätsmarketing und Kom- merz kritisches Geschichtsbewußtsein korrumpiert. Adrian von Buttlar Gabi Dolff-Bonekämper Michael S. Falser Achim Hubel Georg Mörsch Denkmalpflege statt Attrappenkult Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie Architekturpolitik

Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

146

Bauwelt Fundamente Birkhäuser

Den

km

alpfleg

e statt Attrap

pen

ku

lt

ISBN 978-3-0346-0705-6

Rekonstruktionen unterminieren den Auftrag der Denkmalpflege, Baudenk­mäler in ihrer materiellen Überlie­ferung als Zeugnisse der Geschichte zu erhalten. Sechs Denkmalexperten wenden sich gegen die Simulation von Baudenkmälern: gegen einen Attrap­penkult, der im Dienst von Geschichts­politik, Identitätsmarketing und Kom­merz kritisches Geschichtsbewußtsein korrumpiert.

Adrian von ButtlarGabi Dolff­BonekämperMichael S. FalserAchim Hubel Georg Mörsch

Denkmalpflege statt Attrappenkult Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie

Architekturpolitik

Page 2: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

Denkmalpflege statt

Attrappenkult

Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie

Herausgegeben und kommentiert vonAdrian von Buttlar

Gabi Dolff-BonekämperMichael S. Falser

Achim HubelGeorg Mörsch

Einführung und Redaktion:Johannes Habich

Bauverlag BirkhäuserGütersloh · Berlin Basel

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 3 29.10.2010 12:13:56

Page 3: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

Umschlagvorderseite: Berlin, Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel, Ruine 1962 abge-brochen, Simulation mit aufgemauerter Ecke und bedruckten Bauplanen 2002.Foto: Achim HubelUmschlagrückseite: Berlin, Bauakademie, Detail der Simulation auf bedruckter Plane. Foto: Michael S. Falser

Seite 6: Ruine des Berliner Stadtschlosses, Quelle: Philipp Meuser, Schloßplatz 1. Vom Staats-ratsgebäude zum Bundeskanzleramt, Berlin 1999 (oben); Palast der Republik (Mitte), Foto: Michael S. Falser und ‚Schloßwiese‘ (unten), Foto: Gabi Dolff-Bonekämper

Verlag, Herausgeber und Autoren danken für die Nachdruckerlaubnis von Auszügen aus Veröffentlichungen für die Anthologie: Dr. Reinhard Bentmann, Prof. Dr. Peter Bürger, Prof. Dr. Wolfgang F. Haug, Dr. Dörte Jacobs, Prof. Dr. Wilfried Lipp, Dr. Ira Mazzoni, Prof. Dr. Hans-Rudolf Meier, Prof. Dr. Ursula Schädler-Saub, Dr. Brigitt Sigel, Uwe Tellkamp, Prof. Dr. Heiner Treinen, Prof. Dipl.-Ing. Thomas Will, Dr. Marion Wohlleben sowie den Verlagen Aschendorff Verlag, hier besonders Dr. Benedikt Hüffner und Dr. Dirk Paßmann, Deutsche Verlagsanstalt (Random House), Deutscher Kunstverlag, Fischer-Taschenbuch-Ver-lag, Carl Hanser Verlag, Reclam Verlag, Seemann Verlag und dem Deutschen ICOMOS Na-tionalkomitee, der Wüstenrot Stiftung, den Zeitschriften Die Alte Stadt, Kunstchronik sowie der Paul & Peter Fritz AG, Zürich.

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Ver-wertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechts-gesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich über den Birkhäuser Verlag.

© 2011 Birkhäuser GmbH, Postfach, CH-4002 Basel, Schweizund Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin

Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞

Printed in Germany ISBN: 978-3-0346-0705-6

9 8 7 6 5 4 3 2 1 www.birkhauser.ch

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 4 29.10.2010 12:13:56

Page 4: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

Inhalt

Ulrich ConradsZum Geleit: Auf der Suche nach einem Vor-Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Johannes HabichZur Einführung: Worum es geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Georg Mörsch Denkmalwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Achim HubelDenkmalpflege zwischen Restaurieren und Rekonstruieren. Ein Blick zurück in ihre Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Michael S. Falser „Ausweitung der Kampfzone“. Neue Ansprüche an die Denkmalpflege 1960–1980 . . . . . . . . . . . . . . . 88Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Gabi Dolff-BonekämperDenkmalverlust als soziale Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Adrian von ButtlarAuf der Suche nach der Differenz: Minima Moralia reproduktiver Erinnerungsarchitektur . . . . . . . . 166

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

AnhangMichael S. FalserDie Erfindung einer Tradition namens Rekonstruktion oder Die Polemik der Zwischenzeilen. Besprechung der Ausstellung Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte. Ausstellung des Architekturmuseums der TU München in der Pinakothek der Moderne, 22. Juli–31.Oktober 2010 . . . . . . . . . . . . 205

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 5 29.10.2010 12:13:56

Page 5: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

205

Michael S. Falser

Die Erfindung einer Tradition namens Rekonstruktion oder Die Polemik der Zwischenzeilen

Besprechung der Ausstellung Geschichte der Rekonstruktion – Konstruk-tion der Geschichte1, Architekturmuseums der TU München in der Pina-kothek der Moderne, 22. Juli – 31.Oktober 2010. Ein Projekt des Architek-turmuseums der TU München, Winfried Nerdinger, mit dem Institut für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich, Uta Hassler2

Zu Döllgasts Gedenken

Es war 1945 und es war in München: Die Stadt lag zu großen Teilen in Trümmern – nicht nur weite Teile der Innenstadt, sondern auch bedeutende Kulturbauten. Und während sich die Stadtplanung zusammen mit der Denkmalpflege letztlich darauf einigten, den Stadtgrundriß Münchens in weiten Teilen mit teilweise zeitgenössischer Architektursprache und wohn-raum- beziehungsweise verkehrstechnisch angepaßt wiederaufzubauen, blieb Klenzes Pinakothek bis in die frühen 1950er Jahre eine innerstädti-sche Ruine. Es war ohne Zweifel das Verdienst des Architekten und Leh-rers an der TH München, Hans Döllgast, dieses einzigartige Gebäude vor dem kompletten Untergang bewahrt zu haben, gelang es ihm doch, seine abrißorientierten Widersacher mit detaillierten Vorstudien, einleuchtenden Notsicherungsmaßnahmen der Originalsubstanz und kostensparenden Neueingriffen von einer funktionsidentischen Nutzbarmachung zu über-zeugen. Döllgasts Pinakotheksprojekt ist heute eines der wichtigsten deutschen Wiederaufbaudokumente der unmittelbaren Nachkriegszeit: als zeitgenössischer Akt einer original- und zugleich kriegsspurensichernden Trauerarbeit am Verlust baulichen Kulturerbes.3

Warum diese lange Vorbemerkung? Weil am 21. Juli 2010 die Ausstellung Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte wenige Meter von Döllgasts Projekt eröffnet wurde – jetzt in den Schauräumen des Architekturmuseums der TU München in der erst kürzlich neu erbau-ten Pinakothek der Moderne – und weil es sich hier um den augenschein-lichen Versuch handelt, trotz einer über hundert Jahre andauernden archi-

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 205 29.10.2010 12:14:06

Page 6: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

206

tekturgeschichtlichen und denkmalpflegerischen Ausdifferenzierung der Standpunkte zu Wiederaufbau, Reparatur und Vollrekonstruktion bewußt wieder Unklarheit zu stiften. Gewiß nicht aus laienhafter Unwissenheit und überzogener Emotionalität fallbeispielhafter Betroffenheit, sondern mit dem geschickt verpackten Ziel, durch angeblich standpunktlose Dar-stellung von Fakten dem ahnungslosen Besucher letztlich doch eine ganz bestimmte Meinung zu oktroyieren: Rekonstruktionen gibt es angeblich seit Menschengedenken, sie sind selbstverständlich ein Teil der zeitgenös-sischen Baukultur, weltumspannend nachweis- und problemlos vergleich-bar; es gibt eine Tradition der Rekonstruktion … also warum und wofür das gehässige Geschrei in der speziell deutschen Fach- und Laienszene der letzten Jahre gegen solche Unternehmungen! Damit ist die Meinung klar erkennbar – auch wenn eine angeblich neutrale, um Differenzierung be-mühte Position suggeriert wird. Diese Konstellation allein ist für eine öffentlich geförderte Bildungsinstitution mißlich: Mythenbildung, nicht Aufklärung steht im Mittelpunkt.

Eric Hobsbawm läßt grüßen!

Der Text auf der Tafel „Zur Ausstellung“ grenzt grundsätzlich richtig, wenn auch zu undeutlich, den Begriff des kollektiven Gedächtnisses, das gene-rationenübergreifend überkommene Bauwerke beinhaltet, gegen Rekon-struktionen ab, die als bewußte Rückgriffe verlorene Erinnerungsorte aus einem jeweiligen Gegenwartsinteresse wiedergewinnen möchten. Rekon-struktionen sind also als aktive „Konstruktionen von Geschichte“ zu ver-stehen, die folglich auch nur aus dem Verständnis der jeweils zeitgenössi-schen Wiederherstellungsmotivation heraus erklärbar sind. Aufhorchen läßt die Behauptung, daß „Wiederherstellungen und Rekonstruktionen“ angeblich „seit der Antike selbstverständliche Bestandteile des Bauwesens“ und erst ab dem 19. Jahrhunderts als „unehrlich“ und „Lüge diskreditiert“ worden seien – und plötzlich ist Rekonstruktion mit Wiederherstellung gleichgesetzt. Eine Art Glossar „Zum Themenfeld Rekonstruktion“ un-ternimmt den grundsätzlich zu begrüßenden Versuch, alle um das Ausstel-lungsthema gelagerten Bedeutungsfelder zu definieren, um – so ein Haupt-ziel der Ausstellung – begriffliche Klarheit zu schaffen. Das Gegenteil ist der Fall. Neben den Begriffen Erneuerung, Kopie, Nachahmung, Replik, Rückbau, Vollendung und Wiederaufbau werden Reparatur, Restaurierung und Rekonstruktion fälschlich als „fließend ineinander übergehende“ Be-

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 206 29.10.2010 12:14:06

Page 7: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

207

griffe ausgewiesen, obwohl Reparatur (bestandsorientierte Ausbesserung) und Rekonstruktion als „möglichst genaue Wiederherstellung eines [kom-plett, M.F.] verlorenen Zustands“ Konzepte völlig konträrer Ausgangs-lagen und Zeitmodi darstellen: Reparatur wie auch Konservierung gehen von einem durch geschichtliche Akkumulation gewachsenen Bestand aus, Rekonstruktion jedoch vom Totalverlust als schmerzvoll empfundenem Gegenwartsinteresse. Diese definitorische Inkonsistenz ist jedoch Programm: Der unkundige Leser nimmt all diese Begriffe als einzelne, jeweils sehr speziell gelagerte Untergruppen von „Wiederherstellung“ wahr, die im Glossar als Sammel-begriff „nahezu aller Arten von Wiedererrichtung oder Wiedergewinnung eines verlorenen Gebäudes“ ausgegeben wird. Rekonstruktion (nach Totalverlust) wäre demnach nur ein spezieller Fall von Wiederherstellung, die ja auch die komplett anders gelagerte Reparatur (des Originalbestands) subsumiert. Die fatale Reduktion, die wie ein unscheinbarer Nebensatz daherkommt, entnimmt der Leser aber nur dem Glossar des gedruckten Ausstellungskatalogs, das alle Definitionen als „überholt und historisch“ entwertet: „Für die Publikation wurde Rekonstruktion deshalb im Sinne des relativ neutralen Begriffs ‚Wiederherstellung‘ weit gefasst […]“ (478). Damit erhält der Unterbegriff Rekonstruktion jetzt dieselbe definitorische Macht wie der Oberbegriff Wiederherstellung und stellt sich sozusagen an die Spitze aller anderen begrifflichen Untergruppen, die teils ganz andere Bedeutungsfelder abdeckten. Denkt man diese vorsätzliche Verunklärung beziehungsweise semantische Umschichtung weiter, so handelt es sich bei dem Ausstellungstitel „Geschichte der Rekonstruktion“ eigentlich ent-weder um eine unbewußte Themaverfehlung oder um eine bewußte Irre-führung: Es hätte „Geschichte der Wiederherstellung“ heißen müssen (nur das verkauft sich nicht), da 80 Prozent aller in der Ausstellung angeführ-ten Fallbeispiele streng genommen keine Rekonstruktionen nach Totalver-lust sind, sondern alle anderen Arten von denkbaren Wiederherstellungen umfassen. Mit der geschickt eingestreuten Behauptung, daß Rekonstruk-tion „seit der Antike“ gängige Praxis der Baukultur sei, handelt es sich so-gar um den platten, jedoch gefährlichen Versuch der „Erfindung einer Tra-dition“ (Eric Hobsbawm) unter dem Namen „Rekonstruktion“. Dazu paßt die in der Einleitung sich findende Bemerkung – „Die Beispiele aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich fast beliebig vermehren ließen, wur-den bewußt reduziert“ (7) –, die wohl bewußt ausblenden möchte, daß sich in Wirklichkeit die große Mehrzahl der gezeigten Beispiele mit dem bis dahin im Maßstab- und Umfang nicht gekannten Denkmalverlust nach

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 207 29.10.2010 12:14:06

Page 8: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

208

dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen: daß also gerade die Geschichte der (Voll)Rekonstruktion maßgeblich gerade durch die hochrelevante Zeit-marke 1945 konstituiert wird. Das gedruckte Glossar selbst bekennt je-doch, daß der Begriff der Rekonstruktion bis 1893 nicht einmal in Grimms Deutschem Wörterbuch erwähnt wird (S. 478). Auch die Kulturwissen-schaftlerin Aleida Assmann erläutert in ihrem Beitrag „Konstruktion und Rekonstruktion historischer Kontinuität“ im Katalog mit Bezug auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts: „Rekonstruktion ist eine neue Option in der Architekturgeschichte, die mit einem Paradigmenwechsel einher-geht. Dieser hat mit einer tief greifenden Veränderung unseres Zeitverständ-nisses zu tun und betrifft das Verhältnis von Zukunft und Vergangen-heit.“ (16)

Rekonstruktion kann, muß aber nicht Fälschung sein!

Die im Aufwand und der Materialdichte beeindruckende Ausstellung gliedert sich in zehn Themengruppen nach „Beweggründen der Wieder-herstellung“ mit insgesamt 150 Fällen, die durch Texte, Fotos, Schau-kästen und Modelle erklärt werden, ergänzt um einen Bilderfries mit Kurz-beispielen.Nach der Sektion „Rekonstruktionen am heiligen Ort“ (der Salomonische Tempel als erstes Beispiel mehrfacher und zukünftiger Rekonstruktion?) kommt man im Teil „Rekonstruktion aus nationalen, politischen und dynastischen Gründen“ gleich in medias res: erneut betroffen steht man vor den Ruinenbildern der im Herbst 1944 total zerstörten Warschauer Alt-stadt, die bis 1953 wieder komplett in historischer Erscheinung als „welt-weit größte Rekonstruktion eines Flächendenkmals“ (S. 280) wiederauf-gebaut wurde. Dazu überragt das an die Wand applizierte Zitat des polnischen Denkmalpflegers Ian Zachwatowicz die Sektion: „Die Nation und ihre Denkmäler sind eins, deshalb besteht gerade eine Pflicht zu einer genauen Wiederholung“; der Nachsatz, daß dies im vollen „Bewusstsein der Tragödie der begangenen denkmalpflegerischen Fälschung“ geschah, steht leider (wieder!) nur im Ausstellungskatalog (S. 281) und widerlegt ganz einfach Nerdingers apodiktisch vorangestellten Slogan seines Einlei-tungstextes: „Eine Kopie ist kein Betrug, ein Faksimile keine Fälschung, ein Abguss kein Verbrechen und eine Rekonstruktion keine Lüge“ (S. 10). Doch ist das so einfach? Nerdingers Aussage ist ebenso eindimensional wie jenes Diktum „Rekonstruktion ist verboten“, das er seinem deklarierten

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 208 29.10.2010 12:14:06

Page 9: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

209

Feind, der zeitgenössisch verorteten Architektenschaft, in den Mund legt. Im Sinne seiner angeblich auf Ausgleich, Entemotionalisierung und begriff-liche Klärung angelegten Ausstellung hätte man konsequenter Weise er-gänzen müssen: Eine Kopie kann (muß aber nicht) ein Betrug sein, ebenso wie eine Rekonstruktion eine Lüge oder Fälschung sein kann (aber nicht sein muß). Nerdingers durchaus richtiger Anspruch, fallweise den zeit- und ortsabhängigen Kontext von Rekonstruktionen in der Vordergrund zu stel-len, müßte auch bei der Frage ‚Fälschung oder Nichtfälschung‘ von Belang sein und irgendwo erwähnen, daß die Rekonstruktionsproblematik gerade in Deutschland direkt mit dem wiederholt bruchhaften Nation-Building-Prozeß und den enormen Bauverlusten dieses Landes zu tun hat.4

Die Ausblendung von Zwischenzuständen und Verlusterfahrungen, oder: Rekonstruktionen ad infinitum?

In der Sektion „Rekonstruktion von Bildern und Symbolen einer Stadt“ fallen die drei nebeneinander aufgestellten Modelle des Chinesischen Turmes in München, des Knochenhaueramtshauses in Hildesheim und der Dresdner Frauenkirche auf. Sicherlich alle drei wünschenswert als Identi-tätsmarker, doch bei genauerer Analyse läßt sich exemplarisch eine weitere Problematik der Ausstellung aufzeigen: Sie blendet systematisch auch ein ganz wesentliches Charakteristikum von Rekonstruktionen aus, nämlich ihre oftmals zerstörerische Wirkung gegen vor Ort zeitlich wie baulich, semantisch wie politisch nachgewachsene Tatbestände. Während der Chinesische Turm 1944 zerstört wurde und 1951/1952 wiedererstand, muß-ten für die Re konstruktion des Knochenhaueramtshauses (zerstört 1945, rekonstruiert 1987–1989) ein nachgefolgter Hotelbau (1962/1964) ebenso abgerissen werden wie die gesamte Platzkonfiguration der Nachkriegszeit für rehistorisierende Kulissenbauten. Mit dem als „archäologische Rekon-struktion“ be titelten Wiederaufbau der Kriegsruine der Dresdner Frauen-kirche (zerstört 1945, rekonstruiert 2005) setzte sich die zerstörerische Rekonstruktions praxis fort. Der Versuch, die erhaltenen, aber durch den Kriegsbrand ausgeglühten und durch Witterungseinfluß inzwischen schwarz verfärbten Steine als zeitgeschichtliche Referenz zum Neubau in die rekonstruierte Gesamtfassade zu integrieren, war zwar ein ernstzuneh-mender Versuch, Zeitgeschichte in eine Vollrekonstruktion einzubeziehen, weil außer wenigen Alibistücken fast keine originalen Steinquader wieder-verwendet werden konnten. Vor allem aber kann diese Lösung in Anbe-

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 209 29.10.2010 12:14:06

Page 10: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

210

tracht der katastrophalen, baulichen wie denkmalpflegerischen Neben- und Folgewirkungen kaum überzeugen. Erstens ignoriert die Argumentation eines über eine angeblich vergleichbare „zweite Stunde Null“ (1945 = 1990) liegengebliebenen Rekonstruktionsvorhabens den semantischen Zuwachs an der Ruine als antifaschistisches Mahnmal und späteren Ausgangspunkt der friedlichen DDR-Revolution von 1989. Zweitens wurde eine hoch-destruktive Kettenreaktion ausgelöst: Zugunsten einer neu-alten Perspek-tivführung auf die Kirche wurde die komplette Platzrandbebauung des Neumarktes auf historisch simuliertem Parzellengrundriß mit drittklassig historisierenden Fassaden hinter einer überwiegend kommerziellen, histo-risch unproportional gegliederten Innenraumgliederung wieder aufgeführt und die barocken Kellergewölbe (als einzige wirklich original erhaltene Relikte vor Ort) zugunsten von Parkgaragen ebenso zerstört wie die kom-plette, an dieser Stelle entstandene DDR-Architektur – eine Kettenreak-tion, die mit der schrittweise erfolgten Demontage der nahen Prager Straße, ihrerseits ein Denkmal der DDR-Moderne, ihre Fortsetzung gefunden hat. Doch all dies erfah ren die Besucher der Ausstellung nicht. Und es dürfte sich deshalb auch um keinen Zufall handeln, daß gerade Stefan Hertzig als allpräsenter und eben wenig um reale Fakten bemühter Fürsprecher der Neumarkt-Rekonstruktion eben diesen Katalogbeitrag verfaßt hat. Wo bleibt die Neutralität?Dazu paßt auch die Präsentation des schon erwähnten, durch die Ausstel-lung laufenden Bildfrieses mit über 200 „Rekonstruktionen – von Japan bis Kanada und von der griechischen Antike bis heute“, wie die Presse-information erklärt. Ohne Zweifel: Die auf den ersten Blick wahllos nebeneinander montierten Drei-Bild-Collagen – Original-Zerstörung- Rekonstruktion – fördern völlig unbekannte Beispiele zu Tage und erfri-schen die Aufmerksamkeit. Nur ohne den notwendigen Kontext (war nicht genau er der Anspruch der Ausstellung?) bleiben die Fälle rein spekulativ. Hier fehlen Informationen zu Zwischenzuständen, die im Falle der Wie-dererstehung der um 1900 von Robert Koldewey entdeckten Ruinen Babylons durch Saddam Hussein bis zu 5000 Jahre umfassen können; oder zur genauen Motivation und Auftraggeberschaft, wie im Falle der neu- alten Geburtshütte Abraham Lincolns oder der wiederaufgeführten Kon-trollstation am Berliner Checkpoint Charlie. Betrachter des scheinbar unendlichen Bilderfrieses sollen offenbar eine Botschaft mitnehmen: Die Welt ist voller Rekonstruktionen, deren weltumfassende Beispiele sich ad infinitum hätten fortsetzen lassen. Nur: bei genauer Analyse handelt es sich hier in 80 Prozent der Beispiele eben nicht um Rekonstruktionen nach

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 210 29.10.2010 12:14:06

Page 11: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

211

Totalverlust, sondern um Reparaturen, Komplettierungen, Vollendungen und so weiter, die sich gut an die glossarisch ausgewiesenen Differenzie-rungen hätten zurückbinden lassen können. Macht es wie im Falle der Sektion „Rekonstruktion zur Erinnerung an Personen und Ereignisse“ dann auch keinen Unterschied mehr, ob Henry David Thoreaus verlorene Hütte am ehemaligen Walden Pond vor Ort zum rekonstruierten Wallfahrtsort aufsteigt, während parallel „zahlreiche weitere Kopien nach den Rekonstruktionen“ (S. 438) entstehen? Hieß es im Vorwort nicht etwas belehrend (aber falsch), daß „Kopie“ und „Replik“ sich immer „eindeutig auf ein noch vorhandenes Original beziehen“ (S. 6)? Daß es Thoreaus Hütte 2002 sogar bis zu einer temporären Kunst-Instal-lation durch Tobias Hauser am Leipziger Platz geschafft hat, während sie in den USA als Serienhütte oder mit Selbstbau-Anleitung verkauft wird, ist ein spannender Hinweis, doch kaum mehr der unterschwelligen Aus-stellungsmessage „Rekonstruktionen sind doch gar nicht so schlimm“ zu-zuordnen, sondern genau der entgegengesetzten Kritik von Anything goes, Konsum, Kommerz und jener je nach Bedarf medial steuer- und zirkulier-baren Bilderflut, zu der eben auch Rekonstruktionen gehören.

„Nicht getäuscht, sondern zu wenig informiert“ – Rekonstruktionen als „Truman-Show“?

Im nächsten Raum geht es um „Archäologische Rekonstruktionen“ und „Rekonstruktion als Antikenrezeption“. Während zum ersteren Thema hochspekulative Nachbauten nach Bodenbefunden wie Limes-Nachbau-ten oder die Pfahlbausiedlung im deutschen Unteruhldingen mit freizeit-aktiven und ‚authentisch‘ kostümierten Protagonisten als „Living History-Entertainment“ zählen, wartet die Abteilung „Antikenrezeption“ mit einem spannenden Beitrag auf: Neben der Rekonstruktion eines Panorama- Gemäldes von 1888 zum Konstantinischen Rom wird eine Sequenz aus dem Film The Fall of the Roman Empire (Anthony Mann, 1965) als angeb-lich „größte jemals nachgebaute Freiluftkulisse der Filmgeschichte“ gezeigt. Akteure wie Zuschauer sind sich hier in jedem Moment des filmischen Re-enactments im Forum Romanum über die Künstlichkeit der Situation bewußt. Beklemmung überkommt die Ausstellungsbesucher allerdings, wenn sie Nerdingers Einleitungskommentar memorieren, in dem es heißt:

„Wer Hinweise nicht sieht oder wer glaubt, die Altstädte von Warschau, Danzig, Breslau und Posen seien ‚historisch‘, der wird nicht getäuscht,

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 211 29.10.2010 12:14:06

Page 12: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

212

sondern der ist zu wenig informiert“ (10). In letzter Konsequenz hieße das, daß jede Form von zunehmend perfektionierter Fassadensimulation erlaubt wäre und die bisher noch geltende Ausweispflicht der stadträum-lichen Neuinszenierer zu Lasten der Stadtraumbenutzer aufgehoben wäre. Man fühlt sich irritiert, wenn solche Second-Life-Szenarien à la The Truman-Show jetzt auch im öffentlich-demokratischen Raum ohne Scham-grenzen und mit Steuergeld-Rekonstruktionen aufgeführt werden dürften (in dem 1998 gedrehten US-Film The Truman Show war der Protagonist der um ihn völlig künstlich inszenierten Lebenswelt wenigstens in letzter Sekunde auf die Schliche gekommen). Letztlich wäre das sogar ein Schritt noch hinter den Totalitarismus, hatte doch selbst ein Regime wie dasjenige der DDR seine Altstadtsimulation im Berliner Nikolai-Viertel zur Berliner 750-Jahrfeier (1987) größtenteils in Plattenbauästhetik und damit mit ein-deutiger Gegenwartsreferenz aufgeführt. Jetzt befinden wir uns in der drittletzten Sektion „Rekonstruktion zur Wie-derherstellung der Einheit eines Ensembles oder zur Wiedergewinnung eines Raumes“. Neben einem erneuten Bilderfries unendlicher Erfolgs-beispiele steht recht bescheiden jene bis 1990 deutschlandweit wichtigste Rekonstruktionsdebatte hinter Glas, die mit Hilfe von Georg Dehios berühmtem Ruinenerhaltungsplädoyer die segensreiche Relativierung von der bis 1900 grassierenden, hegemonial-preußisch forcierten Rekon-struktionswut einläutete: jene zum Heidelberger Schloß. Es ist zutiefst zu bedauern, daß die Ausstellungsmacher diesen so lehrreichen Fall nicht breiter präsentiert und in die Diskussion sogar als eine Art geschei-tertes Rekonstruktionsprojekt eingebracht haben – gilt er doch als Bei-spiel einer in breiter Öffentlichkeit und sogar international geführten Debatte, „in deren Verlauf entscheidende Klärungen der Denkmalpflege über ihre eigenen Prinzipien erfolgten“ (so zitiert die Schautafel, nicht aber der Kata logtext!) und die bis heute so oft hochspekulative Wiederauffüh-rungsästhetik von politisch forcierten Rekonstruktionen ad absurdum geführt wurde.

Essentialismus pur: der ‚Osten‘ als zyklisch a-materiale Kultur

Der vorletzte Raum ist nicht wie alle anderen der sogenannten westlichen Welt, sondern dem europäisch-exotischen Blick auf den allzu friedvoll in vormoderner Traditionalität herbeigewünschten ‚Osten‘ gewidmet. Schon alleine die Sektionsüberschrift „Rekonstruktion des ‚authentischen Gei-

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 212 29.10.2010 12:14:06

Page 13: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

213

stes‘ und rituelle Wiederholung“ läßt nichts Gutes ahnen. Der Einleitungs-text eigen-stereotypisiert die „westliche Kultur“ mit einer „linearen Wahr-nehmung der Zeit“, dem unbedingten Glauben an „originale Substanz“ und obendrein mit einer „westlichen Denkmalpflege“, die sich „um den Erhalt von originaler Substanz als dem Garanten von Erinnerung bemüht“ (S. 191) – wollte die Ausstellung nicht gerade beweisen, daß auch wir es immer schon nicht so ganz genau nehmen mit der Originalsubstanz und ständig und auf quasi „ganz natürliche Weise“ (Nerdinger) alles immerfort und nach Verlusten so ganz und gar nicht „linear“ gegen jede Geschichts-kausalität wiederherstellen? Mit Hinblick auf eine „zyklische Zeitauffas-sung in der Weitergabe des ‚authentischen Geistes‘ von Generation zu Generation“, der in der „Substanz verloren gehen kann“, ist auf der gesam-ten rechten Seite unserer Weltkarte also laut Ausstellungstext alles ganz an-ders – Eigen- gegen Fremdstereotypisierung: „In vielen [welchen? welchen nicht? M. F.] Kulturen des nahen, mittleren und fernen Ostens finden sich unzählige Rekonstruktionen oder Wiederholungen [sogar so viele wie auf den uns gezeigten Bilderfriesen, warum sehen wir sie dann nicht? M. F.], die Frage nach dem Alter der Substanz oder nach ‚Originalität‘ ist in die-sem kulturellen Zusammenhang relativ bedeutungslos“ (ebda.). Starker essentiali stischer Tobak, wenn man bedenkt, daß spätestens seit dem euro-päischen Kolonialkontakt in Nahost, Indien, ganz Südostasien, aber auch in unkolonisierten Ländern wie Japan die in der Tat materialbezogene,

„westliche Denkmalpflege“ im 19. Jahrhundert Einzug hielt oder zumin-dest teiladaptiert ihre Spuren hinterließ. Diese Doppelstruktur institutio-nalisierter/professionalisierter Denkmalpflege und lokaler Traditionen vor Ort rief und ruft im Kampf um die Deutungshoheit um Kulturerbe bis heute oftmals starke Konflikte unter religiösen und politischen Gruppie-rungen hervor, von denen es zu berichten gälte – spätestens dann, wenn es auch um die gesprengten Bamiyan- Buddhas geht. Alle 14 Beispiele (davon fünf aus Japan, drei aus Nepal, zwei aus Myanmar und je eines aus der Mongolei, aus China, Afghanistan und Indien) stam-men von Niels Gutschow, dem versierten Nepal-Experten und Leiter eines am Exzellenzcluster „Asia and Europe in a Global Context“ an der Universität Heidelberg angesiedelten Projekts zu Kulturerbe-Forschung im Spannungsfeld Asien-Europa. Gutschow spricht in seinem detail reichen, in sich stimmigen Katalogbeitrag stellenweise auch von klimabedingtem

„Ersatz von Schadhaftem, Reparatur“ (S. 40) also von Materialerhalt und nicht zyklischem Totalaustausch. Als spannende Beispiele zeigt er uns rekonstruierte Tempelstrukturen in Nepal sowie einen aus nationalpoliti-

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 213 29.10.2010 12:14:07

Page 14: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

214

schen Gründen vollrekonstruierten Hindutempel in Indien. Zentral in dieser Sektion der Ausstellung selbst ist aber der schintoistische Ise-Schrein in Japan. Dessen zentrales Heiligtum wird seit 1300 Jahren alle 20 Jahre an abwechselnd direkt benachbarter Stelle als rein religiös motiviertes Erneue-rungsritual neu aufgeführt. So interessant dieses Ritual auch sein mag, aus diesem Einzelfall dezidiert religiöser Praxis gleich auf eine materialferne (a-materiale) und sich zyklisch wiedererneuernde Kulturpraxis ganz Asi-ens zu schließen, mag mit einem banalen Beispiel entkräftet werden: Der hindu istische, später buddhistische Tempel von Angkor Vat im heutigen Kambodscha, das größte steinerne religiöse Bauwerk der Welt aus dem 12. Jahrhundert, wurde zur Zeit der buddhistischen Renaissance vor Ort im 16. Jahrhundert substanzrückgewinnend repariert/restauriert und ist bis heute nahezu unversehrt erhalten – lange vor dem französischen Koloni-aleinfluß im 19. Jahrhundert. Aber auch dieses Beispiel taugt nicht für die Pauschalisierung des Umgangs eines ganzen Kontinents mit seinem Kul-turerbe, zumal kein einziger Repräsentant dieser ganzen Hemisphäre um seine Meinung für die Ausstellung gebeten wurde.

Die „Moderne“ ist an allem Schuld – nur welche Moderne ist gemeint?

Der letzte Großraum der Ausstellung kombiniert zwei Themenfelder. Wäh-rend das vorletzte „Rekonstruktionen für Freizeit und Konsum“ archäo-logische Fun-Parks wie Xanten und Einkaufszentren mit angehängten Rekonstruktionsfassaden in Form des Braunschweiger Schlosses oder der Mainzer Markthäuser zeigt (kein Kommentar!), ist die Kategorie „Rekon-struktion und die ‚Ehrlichkeit‘ der Moderne“ das Allerletzte vor der ret-tenden Flucht ins Freie. Sie ist als Doppelschlag gegen die dem bestands-orientierten Erhaltungsauftrag verpflichtete Denkmalpflege und die sich immer wieder jeweils zeitgenössisch (das heißt ‚modern‘) verortende Archi-tektenschaft inszeniert. Laut Ausstellungstext geht es um die „Vorstellun-gen von ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘, die als Antwort der Moderne auf die ‚ Lügen‘ des Historismus formuliert wurden, basierend auf einer angebli-chen Kenntnis dessen, was ‚zeitgenössisch‘ und ‚zeitgemäß‘ sei“ (465). Man ist über das hochideologische Outing als Schlußbemerkung einer doch sonst angeblich so meinungsneutralen, emotionslos lediglich Sachverhalte dokumentierenden Ausstellung nur überrascht, wenn man nicht schon zu-vor all die versteckten Polemiken ‚gegen die Moderne‘ erkannt hat, die wie so oft zwischen den Zeilen zu finden sind.

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 214 29.10.2010 12:14:07

Page 15: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

215

Lediglich sieben und in ihrer Zusammenstellung wenig hilfreiche Beispiele sollen die ‚moderne Lügenthese‘ belegen (im Vergleich zu allein 25 Beispie-len in der Sektion national-politisch motivierter Rekonstruktionen!). Da sieht man Robert Venturis stangenmodellierte Silhouette von 1976, die Ben-jamin Franklins ehemaliges und völlig verschwundenes Wohnhaus am ori-ginalen Erinnerungsort evoziert; oder den in zeitgenössischer Architektur ausgeführten, die Symmetrie der Saarbrücker Schloßanlage respektieren-den Mittelpavillon von Gottfried Böhm der 1980er Jahre; oder den moder-nen, wiederinstandsetzenden und im Detail historisch oftmals ungesicher-ten Weiterbau der römischen Theaterruine im spanischen Sagunt durch Giorgio Grassi. Das Fallbeispiel der um 1800 erbauten Kommandantur in Berlin fällt aber wohl nicht in die Kategorie „Ehrlichkeit der Moderne“, sondern in jene der politisch motivierten Unehrlichkeit der späten Post-moderne deutscher Nachkriegszeit: Hier wurde von Stuhlemmer/ Valentyn 2003 anhand nur eines einzigen Meßbildes und Katasterplanes von 1879 eine Fassadenrekonstruktion in Hohllochziegeln und modernem Innen-leben aufgeführt, der als Gesamtresultat straßenseitig einen Altbestand mit rückseitig moderner Glasadaptation simuliert. Dieser Fall illustriert aber weniger unfähige Architekten, sondern die Garantie immer schlechter Er-gebnisse, wenn die Politik, wie in diesem Fall der Berliner Senat, mit einer verbindlich historisch rekonstruierenden Gestaltungssatzung in die Grund-lagen und damit Gestaltungsfreiheiten des Wettbewerbs eingreift … ver-gleichbar mit der gesamten Schloßdebatte, wo der gesamte Bundestag einer neokonservativen Rekonstruktionsinitiative auf den Leim gegangen ist und eine ganze Generation qualitätvoller Architekten vor den Kopf stieß.Interessant auch die Bemerkung, daß man sich aus aktuellen Rekonstruk-tionsdiskussionen heraushalten möchte: zum Stadtschloß keine Meinung? Geschickt plaziert und anscheinend ganz harmlos wird den Besuchern ganz am Ende der Ausstellung eine Best-Of-Liste zu aktuellen, „geplanten Rekonstruktionen“ präsentiert: Da steht die erdbebenzerstörte Zitadelle vom iranischen Bam neben der Bauakademie und dem Stadtschloß in Berlin, dem Königsberger Schloß und dem Stadtschloß in Potsdam und den von den Taliban im März 2001 (genau sechs Monate vor dem 11. September!) gesprengten Buddhastatuen von Bamiyan; im letztgenannten Beispiel gibt es bisher jedoch noch gar keinen Rekonstruktionsbeschluß – self-fulfilling prophecy? Gerade hier hätte ein wenig Reflexion um Verlust, Ost- West-Fundamentalismus und die Optionen beziehungsweise Limits der Wieder-gewinnung von Kulturerbe am Ende der Ausstellung unbedingt Not getan.5

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 215 29.10.2010 12:14:07

Page 16: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

216

Eine weitere Frage drängt sich auf: Welche Moderne ist überhaupt gemeint, wenn man so viel über die angebliche Tradition von Rekonstruktionen spricht? Die Verwirrungsstrategie – oder das bloße Ausweichen vor einer gut definierten Antwort? – illustriert der Aufsatz von Uta Hassler, ihres Zeichens Professorin für Denkmalpflege an der ETH Zürich. Sie war die Organisatorin der vorgeschalteten Tagung „Das Prinzip Rekonstruktion“ 2008 in Zürich, die inhaltlich durchaus ähnliche Ziele wie die Münchner Ausstellung verfolgte, für deren Zuschnitt sie deshalb wohl auch mit ver-antwortlich sein dürfte. Mit Bezug auf eine im 19. Jahrhundert ansetzende Moderne faßt sie zusammen: „Die Reste historischer Zufälle und Ereignisse werden als Faktum historischer Bedeutung nobilitiert, Geschichtlichkeit, einschließlich der Spuren und Gefährdungen durch Verfall, höher einge-schätzt als das Ideal einer ‚Vollendung‘“ (S. 179). Wenige Sätze zuvor hatte sie noch in Hinblick auf das späte 18. Jahrhundert von der „Weiterführung der aufklärerischen Traditionen der Moderne“ (Habermas‘ Diktum der

‚Moderne als Projekt der Aufklärung‘?), dann aber wieder von der „Moderne des 20. Jahrhunderts“ gesprochen – was eher der sogenannten klassischen Moderne der Architekturgeschichtsschreibung entsprechen würde. Folgt man den Fallbeispielen im zweiten Teil ihres Beitrags, spannt sich der Argumentationsbogen gegen die „Inszenierung des Fragmen tarischen“ (S. 187) von der ‚Nachkriegsmoderne‘ über die ‚Postmoderne‘ bis zur Ge-genwart, nimmt die Autorin doch die jeweils zeitgenössisch ver orteten Rui-nenaneignungen von Döllgasts Pinakothek und Wiedemanns Glyptothek ebenso ins Visier wie David Chipperfields gerade erst eröffnetes Berliner Projekt des Neuen Museums. Hasslers Kritik, daß Chipperfields Konzept einer partiellen Bewahrung und konservatorisch-künstlerischen Kommen-tierung des über 60 Jahre (!) andauernden Ruinen- beziehungsweise Frag-mentzustandes des Museums ein „künstliches und intellektuell gewolltes Ergebnis“ (S. 187) sei, kann hingegen leicht entkräftet werden, da auch Voll-rekonstruktionen wie jene des Frankfurter Goethehauses immer und ganz zwangsläufig künstliche und intellektuell gewollte Ergebnisse sind, ja sein müssen. Würde ‚Moderne‘ also (wie es richtig erscheint) mit der Aufklä-rung des 18. Jahrhunderts beginnen, so würden aber auch fast alle beklatsch-ten Fallbeispiele der Ausstellung darunter fallen; fokussiert man nur auf die Nachkriegszeit, so müßte man zugestehen, daß die Zäsur von 1945 ge-rade in Deutschland einen normativ besetzten und damit kriegsspurenbe-wahrenden Ansatz im Angesicht des so noch nie dagewesenen und größ-tenteils mitverschuldeten Denkmal verlustes zwingend notwendig gemacht hat. So aber bedienen sich die Ausstellunsgmacher je nach Lust und

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 216 29.10.2010 12:14:07

Page 17: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

217

Argumenta tionslaune mal dieser und mal jener ‚Moderne‘, um ihre zwi-schen den Zeilen angesiedelten Polemiken anzubringen.

Und die deutschen Meister der Ruinenaneignung und Verlustverarbeitung?

Zur abschließenden Frage: Wo stecken die architektonischen Großmeister der zeitgenössisch verorteten, spurensichernden Ruinenwiederaufbauten – nach Nerdingers intendierter Gesamtdarstellung müßten sie eigentlich auch ihren Platz in der Ausstellung finden, geht es doch um alle nur erden klichen Formen der „Wiederherstellung“. Allein in Deutschland wären hier unter anderen zu nennen Rudolf Schwarz (Frankfurter Paulskirche, Gürzenich/St. Alban in Köln), Egon Eiermann (Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-kirche) – und eben Hans Döllgast in München (Allerheiligenhofkirche, Basilika St. Bonifaz, Alte Pinakothek, Aussegnungshalle des Ostfriedhofs), zu dessen Werk Nerdinger selbst noch 1984 den Band Aufbauzeit – Planen und Bauen München 1945–1960 mitherausgab und die traditionsorientiert, aber nachkriegszeitliche, und eben nicht zwangsläufig voll rekonstruktierende Architektursprache des Wiederaufbaus in München würdigte … so ändern sich die Zeiten. Warum keine Pläne und Fotos zu Döllgast? Der Verdacht liegt nahe: Einen so München- und deutschlandweit anerkannten Architek-ten wie Döllgast, noch dazu in unmittelbarer Nachbarschaft zu der von ihm geretteten Alten Pinakothek, zu verunglimpfen, hätte dem Duo Nerdinger/Hassler zu viel Gegenwind eingebracht und ihr neokonservatives Plädoyer für Vollrekonstruktion ebenso bloß gestellt wie die These der „denkmalpfle-gerischen Utopie eines tradier baren Ruinenzustandes“ (S. 188) widerlegt.

Zurück zum Start: Chipperfield-„Bashing“ zur Ausstellungseröffnung

Wem diese Interpretation zu scharf ausgefallen erscheint, der sei kurz in die Situation der vorabendlichen Rede Nerdingers zur Ausstellungseröff-nung am 21. Juli 2010 um 19 Uhr zurückversetzt: Wie Kommissar Columbo die wichtigsten Hinweise zum mörderischen Tatbestand immer erst zum Abgang nach seinem Zeugenverhör erfährt, so gab Nerdinger hier schon vor der Ausstellungseröffnung mehr von seiner unterschwelligen Projekt- Intention preis als in der Ausstellung selbst. Es war eine einzige Tirade ge-

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 217 29.10.2010 12:14:07

Page 18: Baudenkmälern: gegen einen Attrap Denkmalpflege statt

218

gen die ihrer jeweiligen Zeitgenossenschaft verpflichteten Architekten, die im Umgang mit verlorenen Bauten oder halbzerstörten Ruinen mit dem

„zwanghaften Zeigen der Brüche“ angeblich nur ihren unstillbaren Durst nach Selbstdarstellung stillen wollten. Rekonstruktionen seien ganz natür-lich, der Verdachtsmoment einer Täuschung durch vollrekonstruktives Beseitigen aller Verlustspuren sei „durch den Unsinn der Väter der Moderne in die Welt gesetzt“ worden. Und eben: Rekonstruktionen seien auch keine Täuschung, die Getäuschten hätten sich eben nicht genug informiert. Der Name Döllgast fällt in einem Nebensatz, doch der Prügelknabe ist eindeu-tig der Brite David Chipperfield mit seinem Neuen Museum in Berlin. Man könnte dies alles als durchaus legitime Privatmeinung im Raum stehen las-sen, wäre es nicht der Hauptinhalt einer Rede des amtierenden Direktors zur Ausstellungseröffnung zur „Geschichte der Rekonstruktion – Kon-struktion der Geschichte“ gewesen.Eines ist sicher: Hans Döllgast, der umsichtige Bewahrer von Münchens erstem Pinakotheksgebäude in der Sprache nachkriegszeitlicher Beschei-denheit, hat sich ohne Zweifel während der Ausstellungseröffnung im Grabe umgedreht – aber das stört die Ausstellungsmacher Nerdinger/Hassler – wenige Meter entfernt im neuesten Pinakotheksgebäude – kaum: Sie haben Döllgast aus ihrer Ausstellung zur angeblich weltumspannenden Geschichte der Rekonstruktion einfach gestrichen. So wird eben auch Geschichte konstruiert und geklittert – und anschei-nend ganz nebenher noch eine neue Tradition erfunden: die Tradition namens Rekonstruktion.

Anmerkungen

1 Diese Rezension erschien in einer reduzierten, aber bebilderten Version in werk, bauen + wohnen, 10/2010, 66–88

2 Alle in Klammern gesetzten Seitenangaben beziehen sich auf den Ausstellungskatalog: Winfried Nerdinger (Hg.), Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte, München 2010.

3 Dazu: Michael Falser: Trauerarbeit an Ruinen – Kategorien des Wiederaufbaus nach 1945, in: Braum, Michael; Baus, Ursula (Hg.), Rekonstruktion in Deutschland. Positionen zu einem umstrittenen Thema, Basel, Boston, Berlin (Birkhäuser) 2009, 60–97

4 Genau zu dieser Problematik: Michael Falser, Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland, Dresden 2008

5 Dazu: Michael Falser: Die Buddhas von Bamiyan, performativer Ikonoklasmus und das „Image“ von Kulturerbe, in: Kultur und Terror, Zeitschrift für Kulturwissenschaft, Heft 1/2010, S. 82–93

BWF_146_ Denkmalpflege statt Attrappenkult.indd 218 29.10.2010 12:14:07