31866 UmschlagLANDESSTELLE FÜR DIE NICHTSTAATLICHEN MUSEENFAKTEN ,
TENDENZEN , HILFEN
Museum heute 25
Fakten – Tendenzen – Hilfen
Redaktion: Dr. Wolfgang Stäbler
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier
Titelfoto: Joseph Kaspar Sattler, Plakat für die Zeitschrift „Pan“
1895/96 (Ausschnitt), Museum im Pflegschloss Schrobenhausen
München, im Juli 2003
Geschichte – Kunst – Kultur. Das Museum im Pflegschloss in
Schrobenhausen (Claudia Freitag-Mair) . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . 3
Die „Porzellanwelt Selb“ – eine Welt im Entstehen. Ein weiterer
Ausstellungsbereich des Europäischen Industriemuseums für Porzellan
in Selb-Plößberg (Wilhelm Siemen) . . . . . . . . . . 10
Das Grenzland- und Trenckmuseum Waldmünchen (Günther Bauernfeind) .
. . . . . . . . 15
Das Fränkische Freilandmuseum in Fladungen. Gedanken zu Aufbau,
Konzept und Zukunfts- perspektiven (Albrecht Wald) . . . . . . . .
. . . . . . . 21
Museumspädagogik
Vom Blindenführer zum begreifbaren Objekt – Angebote für behinderte
Besucher im Freilicht- museum Glentleiten des Bezirks Oberbayern
(Franziska Lobenhofer-Hirschbold) . . . . . . . . . . . 33
Wieder entdeckt: Kinder im Museum. Ausstel- lungen, Tagungen und
neuere Publikationen für das junge Museumspublikum (Hannelore
Kunz-Ott) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Aktuelles – Berichte
In 80 Bänden durch die Welt des Porzellans. Die Schriften und
Kataloge des Deutschen Porzellanmuseums Hohenberg a. d. Eger
(Werner Endres) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Museen haben Freunde. Der internationale Museumstag 2003 in Bayern
(Wolfgang Stäbler) 43
Museen vernetzt – Wege der Zusammenarbeit. 12. Bayerischer
Museumstag in Weißenburg (Monika Dreykorn) . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . 45
Hybride Räume. 3. Szenographie Kolloquium, Dortmund 22.-24.1.2003
(Eva-Maria Fleckenstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
Kultur und Sightseeing: Was die Kultur vom Tourismus lernen kann.
Eine AsKi-Tagung in der Kunsthalle Bremen, 8.-9. Mai 2003 (Monika
Dreykorn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Archäologie im Museum. Kurzbericht über eine Tagung in Ingolstadt
(Christof Flügel) . . . . . . . . . 52
Römische Museen am Weltkulturerbe Limes (Christof Flügel) . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Menschen? Zeiten? Räume! Zur Archäologie- ausstellung in Berlin und
Bonn (Christof Flügel) . 56
Auf den Spuren von Fasanenwärtern, Polizisten und Bauforschern.
Eine neue Dauerausstellung im Westfälischen Freilichtmuseum Detmold
(Heinrich Stiewe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
Die Kulturkuratorinnen – ein Netzwerk bewährt sich (Doris
Hefner/Edith Schoeneck/ Michaela Breil) . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . 65
Neue Bücher (Albrecht A. Gribl/Wolfgang Stäbler) . . . . . . . . .
. 67
Museumseröffnungen in Bayern . . . . . . . . . . . . . 70
GESCHICHTE – KUNST – KULTUR Das Museum im Pflegschloss in
Schrobenhausen
Am 20. September 2002 öffnete das Museum im Pfleg- schloss
Schrobenhausen seine Pforten. Es widmet sich der Stadt-, Gewerbe-
und Industriegeschichte, zeigt Münzen und Medaillen, sakrale
Bildwerke und Volkskunst und präsentiert Werke Schrobenhausener
Künstler. Durch die Möglichkeit für Sonderausstellungen und
Versamm- lungen bietet das vierte Museum der Stadt ein weiteres
Forum für unterschiedlichste Veranstaltungen.
Konzeption und Verwirklichung hatten sich lange hinge- zogen:
Bereits im Jahr 1980 hatte die Stadt das Anwesen erworben mit dem
Ziel, dort später ein Museum ins Leben zu rufen, das der
historischen Bedeutung dieses Hauses gerecht würde. Mit der Zeit
entwickelte sich die Idee ei- nes Museumsviertels, zumal sich in
unmittelbarer Nähe zur Schlossanlage die Galerie im Geburtshaus des
späte- ren „Malerfürsten“ Franz von Lenbach und das Europäi- sche
Spargelmuseum befinden.
Nach einer langjährigen Vorbereitungs- und Planungspha- se begannen
im Frühjahr 2000 die Umbau- und Sanie- rungsmassnahmen am
historischen Gebäude, und im Juli des Jahres beauftragte die Stadt
eine wissenschaftliche Fachkraft mit der Erarbeitung eines
Museumskonzeptes. Von Mai bis Juli 2001 wurden die für die
Ausstellung aus- gewählten Exponate, die mehr als ein Jahrzehnt im
Depot gelegen hatten, in einem Stickstoffzelt von Schädlingen
befreit und im Frühjahr 2002 von einem Restauratoren- team
konservatorisch behandelt. Für eine umfassende Restaurierungsaktion
fehlten die finanziellen Mittel.
Auf 570 m2 Ausstellungsfläche zeigt das Museum nun die wichtigsten
Teile des umfangreichen Sammlungsbestan- des, der neben Objekten
zur Geschichte und Entwicklung
von Stadt und Umland einige bemerkenswerte Schwer- punkte von
überregionaler Bedeutung aufweist: eine um- fangreiche Münz- und
Medaillensammlung mit Künstler- medaillen aus der Zeit um 1900, die
in Schrobenhausen geprägt wurden und zu den bedeutendsten Medaillen
ihrer Zeit zählten, sowie das nahezu vollständige Werk des
Jugendstilkünstlers Joseph Kaspar Sattler (*1847 in
Schrobenhausen/†1931 in München).
Das historische Gebäude
Das Pflegschloss in Schrobenhausen, um 1500 als Amts- und Wohnsitz
des herzoglichen Pflegers erbaut, war jahr- hundertelang
Mittelpunkt des Gerichtsbezirks Schroben- hausen und somit das
wichtigste und größte Profan- gebäude im Altstadtbereich. Direkt an
die Stadtmauer anbindend stand der landesherrliche Verwaltungs-,
Ge- richts-, Repräsentations- und Lagerhaltungsbereich mit eigener
Mauersicherung und Wassergraben, abgeschirmt von der
Bürgersiedlung. Ab 1861 beherbergte das Ge- bäude das Bezirksamt,
anschließend das Landratsamt. Im Jahr 1913 erhielt das alte
Pflegschloss einen Anbau, der als Wohnung für den jeweiligen
Amtmann diente. Die Gebietsreform 1972 brachte das Ende des
eigenständi- gen Landkreises Schrobenhausen; Hauptsitz der Verwal-
tung wurde Neuburg. Das traditionsreiche Gebäude in Schrobenhausen
verlor seine zentrale Bedeutung, wurde zunächst aber bis zum Kauf
durch die Stadt 1980 weiter- hin für Verwaltungszwecke
genutzt.
Bausanierung
Im Jahr 1990 wurde in einer ersten konkreten Planungs- phase eine
Bauuntersuchung für den älteren Gebäudeteil eingeleitet. Mit den
Planungen zur Umgestaltung des An- baus konnte noch nicht begonnen
werden, da ein Mietver- trag mit der Verwaltungsgemeinschaft erst
1998 endete.
Bis 1994 wurde von der damals bei der Stadt beschäftig- ten
Kunsthistorikerin Doris Heller ein vorläufiges Konzept erarbeitet,
das sich im Wesentlichen auf die Räume des Erdgeschosses und
Obergeschosses des älteren Gebäu- deteils beschränkte. Hier sollte
die Dauerausstellung ein- gerichtet werden mit Exponaten, die, um
das Ganze im- mer wieder zu beleben, im Laufe der Zeit gegen
Objekte aus den Depots ausgewechselt werden sollten. Ferner
überlegten sich die Planer, das Dachgeschoss für Verwal- tungs- und
Depotzwecke zu nutzen. In die Räume der Verwaltungsgemeinschaft, d.
h. in den Anbau von 1913, sollten später ein Café und eine
Hausmeisterwohnung einziehen.
MUSEUMSPORTRÄT 3
Das Museum im Pflegschloss, Schrobenhausen
Die Auftragsvergabe für die beiden ersten Leistungspha- sen, also
für die Erstellung der Vorplanungen sowie der Ermittlung der
Sanierungskosten, erfolgte im Jahr 1994 an die Architekten Homeier
und Richter. Ihre Kosten- berechnung von 2 Mill. DM ging von einer
umfassenden Sanierung aus, eine „Minimalsanierung“ kam für die
Architekten nicht in Frage. Daraufhin befragte man den
Kreisheimatpfleger Wolfgang Kirchner, einen in Sachen Sanierung
historischer Gebäude erfahrenen Fachmann. Noch im selben Jahr legte
er eine Stellungnahme vor und erklärte, dass eine „schonende
Sanierung“ in einer Größenordnung von etwa 600-800.000 DM möglich
wäre. In dieser Phase übergab die Stadt die gesamte Aus-
schreibung, Koordination und Bauüberwachung an einen leitenden
Baudirektor i. R., der gegen Erstattung von Aus- gaben, aber ohne
Honorar tätig wurde.
Ein „Arbeitskreis Pflegschlosssanierung“ trat in Aktion, Mitglieder
des Stadtrates waren in freiwilligen Wochen- endaktionen am Bau
beschäftigt, örtliche Firmen unter- stützten die Maßnahmen mit
Sachspenden. Der Vertrag
mit der Kunsthistorikerin wurde nicht verlängert, statt dessen
engagierte man einen Historiker, der bereit war, gegen
Aufwandsentschädigung und ohne Honorar das Museumskonzept zu
erstellen.
Bald stellte sich heraus, dass dieser Weg nicht wie er- wartet
Kosten einsparen konnte. Schließlich wurde 1997 wieder Prof.
Homeier mit den weiteren Planungen beauf- tragt. Mittlerweile war
auch die Verwaltungsgemeinschaft ausgezogen und einer Sanierung des
Gesamtkomplexes stand nichts mehr im Wege. Die weiteren Planungen
und die Realisierung der Maßnahme führte der Architekt in enger
Abstimmung mit dem Stadtbauamt, mit dem Lan- desamt für
Denkmalpflege und mit dem Städtebauförde- rungsreferat der
Regierung von Oberbayern durch.
Maßnahmen
Der historische Dachstuhl aus dem 16. Jahrhundert wur- de
konserviert, in Teilbereichen in alter Verbundtechnik ergänzt und
somit selbst zu einem Teil der Ausstellung. Die Raumaufteilung
blieb in beiden Gebäudeteilen weit- gehend erhalten. Den
Eingangsbereich verlegte man in den Verbindungsbau, wobei die Decke
über dem Erd- geschoss durch einen Steg ersetzt wurde. Die beiden
ur- sprünglichen Eingangstüren wurden vollständig verglast, mit der
Überlegung, hier besondere Exponate zu präsen- tieren, um Besucher
und Passanten neugierig zu machen.
Die stark verwurmten Dielenfußböden im alten Pfleg- schloss mussten
entfernt und durch Riemenparkett ersetzt werden, die Parkettböden
im Anbau blieben er- halten. Die Fenster wurden den
Befundergebnisse ent- sprechend und in Abstimmung mit dem Landesamt
für Denkmalpflege nachgebaut und erneuert, unter besonde- rer
Berücksichtigung der Auflagen von Seiten des Versi- cherers. Ein
Teil der historischen Innentüren im alten Pflegschloss konnte samt
Türstock weiter genutzt wer- den. In den Räumen, in denen die
Türblätter fehlten, be- ließ man die Öffnungen als Durchgänge. Im
Anbau waren mehrere Türen zu erneuern.
In einem aufwändigen Verfahren wurden die historischen Putze im
Innen- und Außenbereich konserviert und die Fehlstellen in
historischer Technik und nach alten Rezep- turen ergänzt.
Sammlungsgeschichte
Die Bestände des Museums im Pflegschloss gehen zurück auf die
Sammeltätigkeit des Historischen Vereins
MUSEUMSPORTRÄT4
Eingangsbereich mit dem darüber führenden Verbindungssteg zwischen
den beiden Gebäudeteilen
Schrobenhausen. Sein Ziel waren die Erforschung, Be- wahrung und
Vermittlung der Geschichte von Stadt und Umland. Ein Aufruf im
Gründungsjahr 1901, eine Samm- lung von historischen Gegenständen
anzulegen, fand großen Widerhall. Bürger aus Stadt und Umland
brachten Urkunden, Bücher, Möbel, Gewänder, Gebrauchsgegen- stände,
Bilder und Fotos. Bereits im Jahr darauf konnte der Historische
Verein ein Heimatmuseum im so genann- ten Amtsturm, in dem heute
das Europäische Spargelmu- seum untergebracht ist, eröffnen. Der
Bestand wuchs kontinuierlich an, und bereits 1905 zeigte sich, dass
die Räumlichkeiten zu eng geworden waren. 1908/09 bezog man einige
Räume im Erdgeschoss des Rathauses, 1911 kamen Kellerräume
hinzu.
Schon im Jahr 1915 galt die Sammlung in Fachkreisen als
herausragend und war über die Grenzen der Stadt hin- weg bekannt:
„Verdient voll ins Programm der jährlichen Museumsreisen eingefügt
zu werden“, urteilte Prof. Dr. Georg Hager, Königlicher
Generalkonservator der Kunstdenkmale und Altertümer in München, bei
einem Besuch in Schrobenhausen.
Durch Schenkungen und Ankäufe wuchs der Bestand kontinuierlich
weiter an. Ab 1943 wurden die Sammlun- gen im Waaghaus präsentiert.
Als 1967 das Gebäude abgerissen wurde, lagerte man die Bestände in
Depots ein. 1974 übereignete der Historische Verein seine
Sammlungen der Stadt, und noch im selben Jahr wurde eine neue
Aufstellung in den Räumen der ehemaligen Oberrealschule eröffnet.
Mit der Entscheidung, dieses Gebäude für die Volkshochschule zu
nutzen, wanderten die Sammlungen 1991 wieder ins Depot mit der
Aussicht, in absehbarer Zeit im herzoglichen Pflegschloss eine neue
und dauerhafte Bleibe zu finden.
Grundsätzliche Überlegungen und Konzept
Die Sammlungen des Museums in einem denkmalge- schützten Gebäude
unterzubringen, erforderte an vielen Stellen Rücksichtnahme und
manchen Kompromiss. Er- schwerend kam hinzu, dass die Sanierung des
Gebäudes schon angelaufen war, während das endgültige Konzept der
Präsentation noch nicht feststand. Es waren schließ- lich nur noch
in kleinen Teilbereichen geringfügige bauli- che Veränderungen
zugunsten der speziellen Museums- bedürfnisse möglich.
Das Konzept selbst orientierte sich in erster Linie an den
vorhandenen Sammlungen und der Stadtgeschichte, wobei es die
umfangreichen Bestände erlaubten, auszu- wählen und Schwerpunkte zu
bilden, um die Geschichte
der Stadt und ihrer Region in historischer und wirtschaft- licher
Sicht sowie unter Berücksichtigung sozialer Bedin- gungen
darzustellen. Nach der Sichtung des Bestandes sowie ausführlichen
Vorüberlegungen und Besprechun- gen, gerade auch mit den Vertretern
des Historischen Vereins, legte man die Schwerpunkte des Hauses
fest, die schließlich im Stadtrat allgemeine Zustimmung fan- den.
Bei vielen Fragen und Problemen war die intensive Betreuung und
Unterstützung der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in
Bayern von entscheidender Bedeutung.
Grundsätzlich waren sich alle Beteiligen darin einig, dass hier
kein Heimatmuseum im herkömmlichen Sinne ent- stehen sollte. Daher
befolgte man bei der Exponataus- wahl auch die Devise „weniger ist
mehr“, um zu vermei- den, dass die Besucher auf Grund einer nicht
zu verar- beitenden Fülle von Exponaten die Ausstellung nicht mehr
ausreichend aufnehmen können. Viele Objekte der Sammlung bleiben
weiterhin im Depot; sie sollen jedoch im Laufe der Zeit in
Sonderausstellungen gezeigt werden.
Einrichtung
Die Einrichtungsplanung übernahmen die Architekten, die auch für
die Sanierung des Gebäudes verantwortlich wa- ren. Die bei den
Planungen geführten Diskussionen ver- liefen nicht immer gerade
einfach, dennoch suchte man die bestmöglichen Lösungen für die
angestrebte Einheit von vorbildlich restauriertem Denkmal und
modernem Museum. Die Verantwortlichen einigten sich auf eine
MUSEUMSPORTRÄT 5
Inszenierte Situation einer archäologischen Grabung
Präsentation der Exponate in einem einheitlichen Vitrinen- system:
kleinere Exponate werden konsequent in weißen Wandvitrinen hinter
Plexiglas gezeigt, einzelne größere Objekte auf schwarzen Sockeln
mit Plexiglasstürzen. Zum Teil sind die Exponate auch auf
Trägertafeln mit Tast- schutz montiert. Die Konzeption beinhaltete
zwar einige Inszenierungen, die aber von den Gestaltern
(Architekten) auch nach langen, intensiven Gesprächen nicht umge-
setzt wurden. Unter Berücksichtigung des Raumeindrucks wurde so
weitgehend auf Szenen verzichtet, lediglich ein Raum in der
Abteilung „Schrobenhausener Gewerbe- und Industriegeschichte“
stellt die Arbeitssituation im Münz- und Prägewerk Carl Poellath um
1900 dar. Die schlichte Präsentation im ganzen Haus zielt darauf
ab, die Einzelexponate zur Geltung zu bringen und nicht durch
Beiwerk vom Objekt abzulenken.
Die grafische Gestaltung übernahmen Wolfgang Reichert und Anette
Kallmeier vom büro ay in Augsburg. Zusam-
men mit den Einrichtungsplanern legte man für die Text- tafeln zwei
unterschiedliche Formate fest: Hohe schmale Tafeln für die
Raumtexte und kleinere Tafeln für die unter- geordneten Texte, so
dass der Besucher bereits formal die einzelnen Textkategorien
leicht unterscheiden kann. Bei der farblichen Gestaltung einigte
man sich auf einen weißen Untergrund und schwarze Schrift. Die
Raumtexte heben sich durch rote Überschriften und jeweils eine
stark vergrößerte Abbildung eines raumspezifischen Exponates im
selben Rot von den übrigen Texttafeln ab. Fotoreproduktionen,
Zeitungsausschnitte und weitere grafische Elemente ergänzen und
bereichern die Tafeln mit den untergeordneten Texten und geben so
detaillierte Auskunft zu den Raumthemen.
Die Objekttexte in den Vitrinen sind, unter Berücksichti- gung
einer leichten Zuordnung, auf schmalen Tafeln zu- sammengefasst,
Einzelobjekte gesondert beschriftet. In manchen Abteilungen
erforderte das Konzept großforma-
MUSEUMSPORTRÄT6
tige Reproduktionen von Fotografien und alten Stichen. Da aus
technisch-statischen Gründen keine großen Trä- gertafeln gewählt
werden konnten, entschied man sich für Stoff-Fahnen, die außerdem
in ihrer Leichtigkeit zum übrigen Ausstattungsprogramm
passen.
Bei der Gestaltung des Museumssignets galt es, das neue Haus nicht
für sich alleine darzustellen, sondern mit den anderen Museen der
Stadt zu verbinden, gerade im Hinblick auf die Schaffung eines
„Museumsviertels“ und mit der Absicht, in Zukunft mit dem Begriff
„Museen Schrobenhausen“ zu werben. Aus mehreren Vorschlägen wählten
Vertreter der Stadt ein Logo mit vier Bögen in den Farben blau –
rot – gelb – grün. Jeder Bogen steht für eines der vier Museen,
symbolisiert aber zugleich die historische Stadtmauer, womit eine
unverwechselbare Verbindung der Museen mit der Stadt Schrobenhausen
hergestellt wird.
Führungslinie – Rundgang
Die Konzeption der Raumnutzung und der Führungslinie bereitete
einige Schwierigkeiten, da auf Grund der bauli- chen Gegebenheiten
der Verbindungsweg zwischen den beiden Gebäudeteilen ins
Obergeschoss gelegt werden musste. Eine Verbindung über die
Dachgeschosse der beiden Gebäudeteile war nicht möglich, da sich
der Zwi- schentrakt als zu niedrig erwies.
Man entschied sich daher, den Besucher nicht mehrmals durch
dieselben Abteilungen des Obergeschosses zu lot- sen, sondern den
Rundgang direkt vom Erdgeschoss des älteren Gebäudes ins
Dachgeschoss zu führen, von hier aus dann ins Obergeschoss und über
den Steg im Ver- bindungsbau in den Anbau, von hier aus schließlich
zurück ins Erdgeschoss mit den Sonderausstellungsräu- men und dem
Aus- bzw. Eingang.
MUSEUMSPORTRÄT 7
Thematisch beginnt der Rundgang mit Erläuterungen zur Geschichte
und Bedeutung des Pflegschlosses, um die häufig geäußerte Meinung,
es handle sich hier um ein ehemaliges Krankenhaus, zu berichtigen.
Im nächsten Raum folgt ein Überblick zur Sammlungsgeschichte. Hier
fand eine Handspindelpresse des Münz- und Prägewerks Carl Poellath
Platz, die bereits an dieser Stelle auf einen Schwerpunkt des
Museums aufmerksam machen soll. Die Maschine aus dem Jahr 1890 ist
noch funktionstüch- tig, ihre Nutzung kann daher bei Museumsfesten
oder an besonderen Tagen von Fachkräften in Vorführungen ge- zeigt
werden. Die Geschichte der Stadt und ihrer Umge- bung wird in den
nächsten drei Räumen an Hand unter- schiedlicher Objekte gezeigt.
Thematisiert sind die „Stadt- werdung“, „Schutz und Verteidigung“,
„Markt und Schranne“ sowie das „Städtische Gewerbe“.
Mit einem grafischen Leitsystem wird der Besucher vom Erdgeschoss
ins Dachgeschoss geführt, in dem volks- kundliche Gegenstände
thematisch in einen Lebensweg „Von der Geburt bis zum Tod“
eingebunden sind. Sakrale Kunst und wertvolle Skulpturen
präsentieren die wesent- lichen Stilstufen und
Entwicklungstendenzen in der Schnitzplastik. Ergänzend hierzu ist
in einem kleinen Nebenraum, einer didaktischen Zone, die Arbeit des
Bildschnitzers und Fassmalers dokumentiert. Im selben Raum fanden
Objekte aus der Vorgeschichte in einer Inszenierung zur Methodik
und Arbeitweise eines Archäo- logen ihren Platz.
Der Rundgang führt von hier aus ins Obergeschoss des Gebäudes. Die
Geschichte der Schrobenhausener Indus- trie wird ausführlich und
exemplarisch an der Entwicklung des Münz- und Prägewerks Carl
Poellath gezeigt. 1778 gründete Christoph Abraham in Schrobenhausen
ein kleines Nadlergeschäft, das Carl Poellath 1798 übernahm und zu
einer angesehenen Hart- und Fasswarenfabrik ausbaute. Knöpfe,
Mieder- und Schurzhaken, Schließen und Schnallen waren
Hauptprodukte des Prägewerks. Mitte des 19. Jahrhunderts stellte
die Firma die Pro- duktion auf religiöse Artikel aller Art um und
verkaufte Rosenkränze, Wallfahrtsandenken und Heiligenbildchen in
alle fünf Erdteile. Um 1900 erweiterte die Firma ihre Produktion;
die Prägung profaner Münzen, von Künstler- und Vereinsmedaillen kam
hinzu. Abzeichen, Orden und Marken werden auch heute noch bei Carl
Poellath gefer- tigt. In einem eigenen Raum ist die
Arbeitssituation eines Graveurs um 1900 in Szene gesetzt: Ein
Graveurtisch mit entsprechenden Werkzeugen, ein Tisch mit
Stahlstem- peln, ein Löttisch sowie eine Stechuhr vor einem Groß-
foto aus den Schrobenhausener Werkstätten vermitteln dem Besucher
einen Eindruck der damaligen Arbeitsver- hältnisse.
Die Präsentation der hervorragenden Künstlermedaillen, die bei
Poellath in Schrobenhausen um 1900 geprägt wurden und die mit zu
den besten Stücken ihrer Zeit zähl- ten, bereitete einiges
Kopfzerbrechen. Schließlich löste man das Problem durch eine
Anordnung der Objekte in senkrecht montierten Schautafeln. Aus
einer Plexiglas- scheibe wurden in genauen Maßen Ausschnitte
gefräst, in die man die Medaillen legte und von hinten und vorne
mit einer durchgehenden Glasscheibe sicherte. Die vier Tafeln sind
an Metallständern montiert und greifen in den Raum, so dass man die
Medaillen von der Vorder- und der Rückseite betrachten kann. In
einer Vitrine und auf einer Schautafel werden die einzelnen
Arbeitsschritte vom Entwurf bis zur fertigen Medaille erläutert.
Ein weite- rer Raum in dieser Abteilung zeigt „Die Geschichte der
Medaille – von der Antike bis zur Moderne“. Diese Aus- stellung
wurde von der Staatlichen Münzsammlung Mün- chen konzipiert und mit
Leihgaben aus deren Beständen bestückt.
Die Firmen Agfa-Gevaert, Bauer Spezialtiefbau, Leinfel- der Papier,
EADS und Ytong präsentieren im nächsten Raum stellvertretend für
die Schrobenhausener Industrie je ein Produkt und ihre
Firmengeschichte. Ein von diesen Unternehmen finanziertes Terminal
mit Touchscreen bie- tet den Besuchern die Möglichkeit, auf den
betreffenden Internetseiten weitere Information abzurufen. Ein
Blick auf die Situation in Schrobenhausen nach 1945 bis hin zur
Gegenwart beendet den stadtgeschichtlichen Teil des
Rundgangs.
Über einen Steg gelangt man in das Obergeschoss des Anbaus mit der
Abteilung „Kunst und Künstler in und aus Schrobenhausen“. Kaspar
Joseph Sattler, 1867 in Schro- benhausen geboren, später
hauptsächlich in Straßburg und Berlin tätig, war in seiner Zeit ein
anerkannter und er- folgreicher Zeichner, Aquarelllist und
Graphiker. In großen Bilderrahmen sind zahlreiche Exlibris,
Buchillustrationen und Urkunden des Künstlers präsentiert. Die
letzten Jahre seines Lebens verbrachte Sattler in München. Hier
kon- zentrierte sich sein Schaffen ab 1924 auf die Zusammen- arbeit
mit dem Kupferdrucker Heinrich Graf, der Sattlers Nachlass 1961 an
die Stadt Schrobenhausen verkaufte. Eine Radierpresse und
Erläuterungen zur Technik des Radierens bringen dem Besucher die
Arbeit Sattlers näher.
Im weiteren folgen Radierungen des Schrobenhausener Künstlers
Norbert Richter (1928-1975), der sich ab 1961 Richter-Scrobinhusen
nannte und damit seine Wertschät- zung der Stadt zum Ausdruck
brachte. Zwei weitere Räu- me zeigen Werke von zwölf
professionellen Künstlern, die heute in Schrobenhausen leben und
arbeiten. Im Wechsel
MUSEUMSPORTRÄT8
sollen die Künstler hier die Möglichkeit für Einzelausstel- lungen
bekommen.
Im Erdgeschoss des Anbaus befinden sich die Sonder-
ausstellungsräume, die für wechselnde Veranstaltungen genutzt
werden können. In regelmäßigen Abständen sol- len themenbezogene
Wechselausstellungen aus den Beständen des Museums sowie
Ausstellungen mit Künst- lern nicht nur aus der Region gezeigt
werden. Museums- feste, Vorträge und Symposien sind geplant.
Ausblick
Bis zur Eröffnung des Museums konnten noch nicht alle Pläne
realisiert werden. In einigen Abteilungen werden
noch Computerterminals aufgestellt, um zusätzliche In- formationen
zur Vertiefung der einzelnen Themen zu ge- ben. Ein kleiner
Museumsführer soll die Orientierung er- leichtern, ein begleitender
Film (im Erdgeschoss befindet sich ein Medienraum) die Inhalte des
Museums ergänzen und vertiefen.
Das Museum sieht es als wichtige Aufgabe, Schülern die Geschichte
der Stadt und seiner Umgebung nahe zu brin- gen. Es eignet sich
nicht nur für den Geschichtsunterricht der verschiedenen
Schularten, sondern bereits für den Heimat- und Sachkundeunterricht
der Grundschulen. Ein museumspädagogischer Leitfaden, in
Zusammenarbeit mit Lehrern erstellt, soll das Museum besser für den
Un- terricht erschließen.
Das neue Haus wird von den Besuchern sehr gut ange- nommen.
Schulklassen, Gruppen und zahlreiche Einzel- besucher beurteilten
den Umbau, das Konzept und die Präsentation als gelungen. Viele
Schrobenhausener, die die Sammlungen aus den früheren Aufstellungen
kennen, vermissen jedoch eine Reihe der einst gezeigten Expo- nate.
Ihnen kann aber schnell klar gemacht werden, dass durch die
reduzierte Auswahl die Besonderheit der Einzel- objekte
herausgestellt wird und dass die „vermissten“ Stücke, die derzeit
z. T. auch aus konservatorischen Gründen nicht gezeigt werden
können, in Zukunft bei Sonderausstellungen zu sehen sein
werden.
Claudia Freitag-Mair
MUSEUMSPORTRÄT 9
Museum im Pflegschloss, Am Hofgraben 1, 86529 Schrobenhausen, Tel.
08252/90985-0, Fax -32
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 13-17, 1. Donnerstag im Monat
13-20 Uhr
Präsentation von Künstlermedaillen, die so genannte
Hitl-Serie
DIE „PORZELLANWELT SELB“ – EINE WELT IM ENTSTEHEN Ein weiterer
Ausstellungsbereich des Europäischen Industriemuseums für Porzellan
in Selb-Plößberg
Wer in Nordbayern, dem Herzen der europäischen Por-
zellanindustrie, eine Porzellanfabrik besuchen möchte, der ist im
„Europäischen Industriemuseum für Porzellan“ an der richtigen
Adresse: Was in den rationalisierten und automatisierten modernen
Fabriken so nicht mehr erlebt werden kann, die Herstellung von
Porzellan in seiner ganzen Dimension, das ist hier in diesem auf
Vermittlung durch Erleben und Unterhaltung ausgerichteten
Museum
seit der feierlichen Eröffnung, dem 24. Juli 2002, hautnah
erfahrbar.
Eine alte Porzellanfabrik, neu belebt
An historischem Ort, in der 1866 von Jacob Zeidler direkt an der
Eisenbahnlinie Hof-Asch gegründeten und 1917 von Philipp Rosenthal
erworbenen Porzellanfabrik im Selber Ortsteil Plößberg, ist in den
letzten Jahren ein Museum entstanden, wie es in der Welt des
Porzellans in Europa bisher keine Entsprechung hat.
Nach der von Carolus Magnus Hutschenreuther 1814 im benachbarten
Hohenberg an der Eger gegründeten und der von dessen Sohn Lorenz
Hutschenreuther 1856 in Selb ins Leben gerufenen Produktionsstätte
ist sie die drittälteste Porzellanfabrik im Landkreis Wunsiedel.
Nach zahlreichen Erweiterungen im letzten Viertel des 19. und in
den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren 1930 rund 900
Menschen beschäftigt, um mit 10 großvolumigen Rundöfen allerfeinste
Service, Zierartikel und Figuren zu fertigen. Aus der Vergangenheit
des Porzellans ist sie nicht wegzudenken: Philipp Rosenthal sen.
hatte sie nach der Geburt seines Sohnes Philip, 1916, als nicht zur
Rosenthal AG gehörige Fabrik im Familienbesitz gehalten. Unter sei-
ner Leitung war sie durch den weltgewandten und gebil- deten
Unternehmer zu einer renommierten Erzeugungs- stätte ausgebaut
worden. Er engagherte Künstler von Weltrang, deren Namen durch ihre
für Rosenthal erarbei- teten Entwürfe weltweit nunmehr auch mit
Porzellan in Verbindung gebracht wurden, so wie auch der Hersteller
Rosenthal selbst an Renommee gewann. Ein eigenes Ge- bäude für die
Kunstabteilung wurde auf dem Areal errich- tet, kurzzeitig sogar
Elektroporzellan hergestellt.
Die Hinwendung zur modernen Linie in der Gestaltung kam nach der
Rückkehr seines Sohnes Philip Rosenthal jun. aus der Emigration
nach Selb im Jahr 1950 verstärkt zum Tragen: Anerkannte Künstler
und Designer wie Björn Winblad, Tapio Wirkkala und Elsa
Fischer-Treiden arbeite- ten jetzt hier auf seine Veranlassung.
Meilensteine des Porzellandesigns wurden entwickelt, realisiert und
erfolg- reich vermarktet. Selb-Plößberg ist damit einer der Ur-
sprungsorte der 1961 ins Leben gerufenen „Studio Linie“.
Doch aufgrund der zunehmenden Mechanisierung und Maschinisierung in
der Porzellanbranche in den sechziger Jahren war das Aus für die
Fabrik in Selb-Plößberg vor- aussehbar: Die Gebäudestruktur war auf
mehretagige Rundöfen abgestimmt. Sie ließ eine Umstellung auf die
moderne Brenntechnik mittels der lang gestreckten, ebenerdig
angelegten Tunnelöfen nicht zu. Es unterblieben
MUSEUMSPORTRÄT10
Erhalten blieben die entscheidenden baulichen Strukturen
einschließlich des Fabrikareals mit den Eisenbahngeleisen, dem
Feuerlöschteich, den Werkstätten und Nebengebäu- den – sowie das
gesamte Umfeld mit den Arbeiterwohn- häusern, dem Bahnhof, dem
Fabrikantenwohnhaus – in einer selten anzutreffenden geschlossenen
Form. Erhalten blieb somit ein Industrieensemble von
außergewöhnlich hohem historischem Wert. Es repräsentiert auf
idealtypi- sche Weise die Strukturen einer Porzellanfabrik, wie sie
nicht nur in Nordbayern mit Selb als einstigem „Weltzent- rum der
Porzellanproduktion“, sondern fast in ganz Euro- pa bis in die 50er
Jahre des 20. Jahrhunderts bestanden.
Aufgrund seiner historischen Bedeutung wurde der Ge- samtkomplex
1988 in die Denkmalliste aufgenommen und in der Folge zum Museum
ausgebaut, dem „Europäi- schen Industriemuseum für Porzellan“. Ein
Großdenkmal wurde restauriert und wird es immer noch: Mit
geringsten finanziellen Mitteln begann 1990 die Sanierung der Ge-
bäude. Im Rahmen von AB-Maßnahmen angestellte Kräfte leisteten die
ersten Arbeiten. Aufgrund der Dimension des Vorhabens wurde 1993
mit den fördernden Stellen ver- einbart, den Ausbau in mehreren in
sich funktionsfähigen Modulen voranzutreiben. 1996 konnte der erste
Bauab- schnitt abgeschlossen werden, der zweite 1998, der dritte,
2002 von Staatsminister Hans Zehetmair eröffnet, in Betrieb gehen.
Zurzeit ist ein weiterer Abschnitt im Bau.
Mehr als 15 Jahre liegen nun die Anfänge zurück. Während der
gesamten Zeit wurde intensiv mit den betei- ligten staatlichen
Stellen zusammen gearbeitet: Einerseits mit den Vertretern der
zuständigen Stelle beim Bayeri- schen Landesamt für Denkmalpflege,
soweit es z. B. die Restaurierung der Gebäude und die
denkmalgerechte Nutzung betrifft, andererseits mit den Referenten
der Landesstelle für die nichtsstaatlichen Museen im Hinblick auf
die Arbeit an der Ausstellungspräsentation und Fort- schreibung des
Museumskonzeptes.
Die Fabrik ist als Museum zu neuem Leben erwacht: Mehr als 13 Meter
lang ist eine der beiden Dampfmaschi- nen, die einst die Fabrik
über die ledernen Transmissions- riemen und stählernen Wellen mit
Antriebskraft versorg- ten. Heute läuft sie dank
Pressluftgeneratoren von hohem Druck angetrieben wieder unter
„Volldampf“. Die riesigen
Mahlsteine des Kollerganges, der einst Feldspat und Quarz
zerkleinerte, die tonnenschweren Trommelmühlen im Bereich der
Massemühle bilden einen markanten Kon- trast zu der feinsinnigen
Arbeit der Modelleure, die wie vor 250 Jahren für die Gestaltung
der Formen die Verant- wortung tragen. Unter den Händen der Dreher
und Gießer entsteht das rohe Porzellan. Hier findet sich der
Drehtisch wie vor fast 300 Jahren, als das Porzellan in Meissen
durch Johann Friedrich Böttger und Walther Ehrenfried von
Tschirnhaus für Europa entdeckt wurde. In der authen- tisch
eingerichteten Dreherei und Gießerei der 1950/60er Jahre mit den
Rollern, Gießkarussellen, Elevatoren sind die einzelnen
Arbeitsschritte an den realen Arbeitsplätzen zu verfolgen. Die
didaktisch aufbereiteten Präsentationen von isostatischen Pressen
und Hochdruckgießanlagen dokumentieren die Fabriken von heute. Im
Bereich des Brennhauses, wo der Porzellanscherben nach dem Brand
seine Weißheit, seine Transparenz und seinen hellen Klang erhält,
werden die historischen Rundöfen zu Erleb- niszonen, die die Arbeit
in der stickigen und heißen Atmo- sphäre vermitteln. Die
Dekorationsvarianten werden er- fahrbar im Buntbetrieb – derzeit
noch im Stadium einer Studiensammlung –, wo von der Handmalerei bis
zum modernsten Siebdruck die Verfahren der Porzellandeko- ration
dargestellt werden. Bei dem Weg durch die Ferti- gungsgeschichte
der Europäischen Porzellanmanufak-
MUSEUMSPORTRÄT 11
Massemühle der 1920er Jahre: Laufende Maschinen vermitteln einen
Eindruck von den Arbeitsbedingungen in der Porzellan-
industrie.
turen und -fabriken bleibt zur Technik der Porzellanher- stellung,
zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in diesem Museum kaum eine
Frage offen.
Die neue Abteilung: „Weißfertigung – Vom Modell zum fertig
gebrannten weißen Porzellan“
Das Konzept der seit Juli 2002 zugänglichen neuen Ab- teilung:
„Weißfertigung – vom Modell zum fertig gebrann- ten weißen
Porzellan“ wurde von den am Museum selbst angestellten
Wissenschaftlern gemeinsam mit der Lan- desstelle für die
nichtstaatlichen Museen und dem Innenarchitekten Arthur Pufke,
Schwandorf, entwickelt. Das Heinz-Nixdorf-Forum, Paderborn, das
weltgrößte Computermuseum, stand beim Einsatz der elektroni- schen
Medien mit Rat und Tat zur Seite. Die europäischen
Partnerinstitutionen, insbesondere im französischen Limoges, in
Sèvres sowie in Stoke-on-Trent in Groß- britannien, zahlreiche
Museen, Archive, Forschungsinsti- tute an Hochschulen, Unternehmen
aus der Welt des Porzellans, d. h. Porzellanerzeuger, Maschinen-
und Ofenbauer: sie alle trugen auf vielfältige Weise wesentlich zum
Gelingen bei.
Dass der Rundgang für Alt und Jung stets spannend, at- traktiv und
erlebnisreich bleibt, dafür sorgt einerseits das originalgetreu
inszenierte Ambiente in den denkmalge- schützten Räumen: Das sind
z. B. die Modelleurstube aus dem 18. Jahrhundert, der Gießplatz um
1900, die Dre- herei der 50er Jahre mit ihren Rollermaschinen, dem
Trockenelevator, den Putzplätzen, das sind die originalen Rundöfen,
die das Bild aller Porzellanfabriken über 150 Jahre prägten. Aber
es sind nicht allein diese weitgehend authentisch eingerichteten
Arbeitsbereiche, sondern
ebenso die Menschen, die die Besucher dort antreffen: die
„Besucherbetreuer“ mit ihren Vorführungen an den laufenden
Maschinen. Ihr Tun wird – auf Anmeldung – er- gänzt durch Führungen
erfahrener Porzellanarbeiter. Als Zeugen ihrer Zeit geben sie ihr
in Jahrzehnten in der „Por- zellinerei“ erworbenes Wissen weiter.
Sie sprechen vom Porzellan und seiner Herstellung, dem Leben und
Arbei- ten der Menschen, der „Porzelliner“.
Leben, Arbeit, Technik in Geschichte und Gegenwart sind an
verschiedenen Stellen mit Hilfe des gezielten Einsat- zes von
Medien auf intensive Weise erfahr- und nachvoll- ziehbar: Neue
Formen für Porzellan werden heute am Computer entworfen. Ein Film
zeigt, wie dies vor sich geht. Flachgeschirr wurde in den Fabriken
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Hand gedreht und wird
heute isostatisch gepresst. Historische und speziell für die neue
Abteilung hergestellte aktuelle Filme dokumen- tieren dies. Die
Dimensionen der Maschinen und Aggre- gate in den Porzellanfabriken
nahmen immer größere Ausmaße an. Sie in das Museum zu holen, ist
nicht mög- lich. Das Konzeptionsteam hat sich aber auch hier
einiges einfallen lassen: So mit der Tassentaktstraße, deren Kopf
und Abschluss original im Museum aufgebaut sind. Die gesamte
Funktion machen in eine dreidimensionale Strichzeichnung
integrierte Monitore filmisch deutlich. Ein Tunnelofen ist in der
Porzellanfabrik Selb-Plößberg nicht mehr errichtet worden. Doch der
Besucher kann trotzdem im „Überwachungs- und Steuerungsraum“ eines
solchen Platz nehmen, die Brennkurve verfolgen, aus dem Fens- ter
in die Ofenhalle blicken, auf den Überwachungsbild- schirmen sehen,
wie die Wagen mit Porzellan beladen werden, wie sie in den Ofen
hineinfahren und ihn wieder verlassen. Er hört das dumpfe Brummen,
das die Ofen- halle erfüllt. Geruch und Geräusch, Hitze erlebt der
Besu- cher hautnah, z. B. wenn er zum Ende des Rundgangs den
Nachbau eines modernen Rollenofens, in dem das Geschirr schließlich
„glatt-“, d. h. fertig gebrannt wird, durchschreitet. Wie haben die
Porzelliner in den Fabriken Europas ihre Arbeit empfunden? In
Video-Interviews ge- ben sie Auskunft.
Recherchieren, experimentieren und selbst Hand anzule- gen, auch
diese Aspekte wurden nicht vergessen: Auf durch Berühren
gesteuerten Monitoren kann man an den verschiedensten Stellen noch
mehr Details erfahren, in museumspädagogischen Inseln in den
Internet-Auftritten von Hochschulen und Wirtschaftsunternehmen
stöbern, selbst Formen zusammensetzen – und, mit einem Griffel in
der Hand, virtuell dreidimensionale Gegenstände ge- stalten, dabei
tatsächlich deren „Oberfläche“ erspüren. Eine Drehscheibe
„anzukurbeln“, wie dies im 18. Jahr- hundert von Kindern gemacht
wurde, ist die eine Seite,
MUSEUMSPORTRÄT12
An authentisch eingerichteten Arbeitsplätzen können Arbeits-
techniken früherer Zeiten vorgeführt werden.
die andere ist das in Begleitung durchgeführte Experi- ment im
museumspädagogischen „Labor“, wie das selb- ständige Gießen und
Drehen. Für den Unterricht reser- vierte und auf Klassenstärke
ausgerichtete Räume run- den das Angebot ab.
Das Europäische Industriemuseum für Porzellan in Selb- Plößberg
präsentiert sich als ein Museum der Vielfalt, als eine eigene Welt:
Eine Welt, die mit durchdachten und auf Vermitteln durch Erleben
ausgerichteten Schaueinheiten eine neue Attraktion in Nordostbayern
darstellen will. Das Museum möchte damit einerseits den Tourismus
stärken, anderseits durch das Erschließen der bisher so nicht ge-
kannten und vor Augen geführten Welt des Porzellans ein kaum zu
gering zu schätzender Werbeträger für das Porzellan und die
Porzellanbranche sein. Jung und alt, Schüler und Familien, jede auf
ihre Art, können sich hier angesprochen fühlen.
Bereits heute umfasst das Museum eine Fläche von 4.500 m2 und es
ist gerade in seinem Sonderausstel- lungsprogramm bewusst
vielschichtig angelegt. Dessen Spannbreite reicht von der Arbeit
junger Künstler und re- nommierter internationaler Hochschulen im
Bereich von Kunst und Design bis hin zu Themen aus dem Bereich der
Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte. Seit 2003 stehen rund
1.000 m2 für diese wechselnden Ausstellun- gen bereit. Die dafür
genutzten Räumlichkeiten wurden durch die „Bauhütte“ des Museums
weitgehend in Eigen- leistung hergerichtet. So wurde eine
Temperierung einge- bracht, ein Teil der Wände verputzt und, wo
dies nicht möglich war, nach dem Vorbild des Musée de la Publicité,
Paris, eine Innenwandverkleidung aus Zinkblech herge- stellt, die
ein Durchlüften der ursprünglich feuchten Au- ßenwände bei
schonendem Umgang mit der historischen Bausubstanz erlaubt, während
nach innen weitgehende Sauberkeit gegeben ist.
Perspektiven – ein Blick in die Zukunft
Im Endausbau wird das Europäische Industriemuseum für Porzellan
seinen Besuchern eine Ausstellungsfläche von fast 9.000 m2 bieten.
Es wird in den kommenden Jah- ren auch in den Bereichen weiter
wachsen, die nicht als Ausstellungsräume dienen, und dann mit der
Infrastruktur internationaler Institutionen konkurrieren können.
Wie sie ist es bestrebt, sich mehr noch als bisher schon zu einem
„Servicecenter“ für Kultur wie Wirtschaft zu entwickeln. Aufgrund
seiner Lage an einer der interessantesten geo- grafischen
„Schnittstellen“ zwischen der heutigen EU und den östlichen
Nachbarländern kann es ein idealer Ort der Begegnung werden.
Der zukünftige Eingangsbereich wird den für eine musea- le
Institution heute selbstverständlichen Museumsshop bieten, der in
Regie eines Privatunternehmens betrieben wird. Der Kassenbereich
ist zudem „Info-Center“: Im Hin- tergrund der Kasseninsel wird das
gesamte Angebot des Museums aufgeschlüsselt, der Besucher über den
Rund- gang, die Inhalte der einzelnen Ausstellungsbereiche, die
laufenden Sonderausstellungen und museumspädagogi- schen
Aktivitäten informiert. Dass die in Hohenberg an- gesiedelte
Abteilung „Deutsches Porzellanmuseum – Mu- seum für
Porzellangeschichte, -kunst und -design“ eben- so Berücksichtigung
findet, erklärt sich schon daraus, dass beide Museen in ihrer
Thematik eng verzahnt sind und sich gegenseitig unverzichtbar
ergänzen. Die runde Kasseninsel wird mehr Aufgaben wahrnehmen als
nur die
MUSEUMSPORTRÄT 13
Eine der „Inseln des Wissens“ mit Touch-Screens zur flexiblen, auch
fremdsprachigen Vermittlung und zum spielerischen Arbei- ten am
PC
Verkaufsstelle für die Eintrittskarten und Ausgabeort für die
geplanten „Audio Guides“ zu dienen. Im Herzen der Porzellanstraße
wird das Center „Infothek“ für die touris- tischen Attraktionen und
Möglichkeiten im Umkreis sein. So informieren Touchscreen Monitore
über Aktivitäten in der Region und erlauben direkten
Internetzugang.
Bereits 2004 soll zum 125-jährigen Jubiläum der Rosen- thal AG als
nächste Schaueinheit das „Rosenthal-Muse- um“ in diesem
Gesamtkomplex entstehen. Und das Ex- periment steht wieder ganz
oben an, wenn ab 2005 der zweite Themenschwerpunkt, die Technische
Keramik mit all ihren faszinierenden Anwendungsbereichen in
Elektro- technik, Elektronik, im Automobilbau, in Chemie und Me-
dizin mit ihren Produkten vom Isolator bis hin zum Com- puterchip
Ziel des Aufenthaltes sein kann. 2006 geht es im Zeichen des
Kändler-Jahres, das dem Begründer der figürlichen Porzellanplastik
in Europa an der Porzellanma- nufaktur Meißen, J. J. Kändler,
gewidmet ist, den Schau- bereich „Porzellanherstellung in den
europäischen Manu- fakturen“ zu widmen. Hier wird gezeigt, wie aus
dem Model des Bildhauers die Porzellanplastik entsteht, wel- che
speziellen Methoden von der feinsten handgemach- ten Blüte bis hin
zum von Hand geschnittenen Durch- bruchrelief die europäischen
Manufakturen einst ent- wickelt haben und heute als Wahrer einer
bald dreihun- dertjährigen Tradition pflegen.
In absehbarer Zeit wird die Cafeteria mit mehr als 80 Sitz- plätzen
folgen. Ein gastronomisches Angebot ist Voraus- setzung für einen
besucherfreundlichen Betrieb. Der auf die vielfältigsten
Nutzungsvarianten ausgerichtete Mehr- zwecksaal mit rund 200
Sitzplätzen rundet das Angebot in sinnvoller Weise ab. Ausgestattet
mit Simultanüberset- zungskabinen wie zeitgenössischer medialer
Technik kann er Begegnungsstätte von Wirtschaft, Politik wie Kultur
sein.
„Porzellanwelt Selb“
Trotz des zugegebenermaßen noch unfertigen Erschei- nungsbildes im
Süden des Areals hat das Museum auch hier schon ausgesprochen
reizvolle „Ecken“. Mit seinem Gelände von über 30.000 m2 ist Platz
für das Picknick am ehemaligen Feuerlöschteich in romantischer
Umgebung wie für das Open Air Konzert. Das große Museumsfest mit
nahezu 3.000 Besuchern beweist immer wieder, dass die Menschen gern
hierher kommen.
Dort, wo wie vor fast 100 Jahren wohl bald wieder die Werksbahn
fährt, dort hat das Fichtelgebirge, dort hat Oberfranken, Bayern
und Deutschland eine besondere „Welt“, seine Welt des „weißen
Goldes“, seine „Porzel-
lanwelt“. Sicherlich ist davon erst die erste Hälfte zu ent-
decken, aber auch diese ist eine bereits jetzt für Groß wie Klein
interessante, Erkenntnis wie Erlebnis vermittelnde und attraktive
Welt.
Hier in Selb-Plößberg hat Oberfranken ein Museum, wie es wohl sonst
nur in großstädtischen Ballungszentren erwartet wird. In
Kombination mit dem 15 Kilometer ent- fernten deutschen
Porzellanmuseum in Hohenberg an der Eger, wo die Geschichte der
Erzeugnisse, ihr Design und ihre Dekoration im deutschsprachigen
Raum präsentiert werden, ist dank der Mithilfe und des Engagements
vieler, dank des Freistaates Bayern mit seinen Ministerien und
Fachstellen, des Bezirks Oberfranken, der Europäischen Union, der
Kulturstiftungen und der regionalen Akteure aus Politik, Wirtschaft
und Gewerkschaften ein Zentrum zu Gegenwart und Geschichte des
Porzellans entstanden und nach wie vor im Ausbau, eine Einrichtung,
die inter- national anerkannt und verankert ihresgleichen
sucht.
Wilhelm Siemen
MUSEUMSPORTRÄT14
Beim „Gang durch einen Rollenofen“ werden dem Besucher „In-
nenansichten“ vermittelt wie das Brausen der Ventilatoren oder
Hitze, die durch den Brenner einströmt. Auf Bildschirmen flackert
wie in der Realität die Brennerflamme.
Europäisches Industriemuseum für Porzellan, Bahnhofstr. 3, 95100
Selb-Plößberg, Tel. 09287/91800-0, Fax -30,
[email protected] www.dt-porzellanmuseum.de
Öffnungszeiten: April bis Oktober Dienstag bis Sonntag 10-17
Uhr
DAS GRENZLAND- UND TRENCKMUSEUM WALDMÜNCHEN
Die Stadt Waldmünchen, Luftkurort im Bayerischen Wald, hat 2001 im
historischen „Schergenhaus“ das Grenzland- und Trenckmuseum
eingerichtet. Das Einrichtungskon- zept wurde von den Fachkräften
des Museumsreferats des Landkreises Cham erarbeitet. Diese
fachliche Betreu- ung wird ermöglicht durch das „Chamer Modell“,
eine Zweckvereinbarung, in der sich neun Städte und Ge- meinden, u.
a. auch Waldmünchen, mit dem Landkreis Cham zusammengeschlossen
haben. Der Umfang der Betreuung und die entsprechende finanzielle
Beteiligung an den Personalkosten können je nach Arbeitsaufwand des
jeweiligen Museums oder Museumsprojekts vari- ieren. Für den
Betrieb des Museums hat die Stadt Wald- münchen als Träger darüber
hinaus eine Vereinbarung mit dem Museumsverein, der aktiv den
Aufbau des Museums begleitet hat, abgeschlossen.
Auf drei Stockwerken präsentiert das Museum die Schwerpunktthemen
„Leben an der Grenze“ und „Trenck der Pandur“: Die Stadtgeschichte
Waldmünchens war und ist von der besonderen Lage an der
Landesgrenze geprägt. Die Beziehung zu den böhmischen Nachbarn, ob
Grenzverkehr und Handel oder Krieg und Feindschaft, bestimmte die
Entwicklung der Stadt immer in hohem Maße. Seit 1990 haben sich
nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ und der Grenzöffnung zu
Tschechien neue Chancen und Perspektiven eröffnet. Franz Freiherr
von der Trenck stand während des Österreichischen Erbfolge- kriegs
in Diensten von Kaiserin Maria Theresia und bela- gerte unter
anderem Waldmünchen. Seit 1950 erinnert das überregional bekannte
Freilichtfestspiel an diese his- torische Begebenheit.
Vorarbeiten
Der Eröffnung des Grenzland- und Trenckmuseums Wald- münchen ging
eine lange Zeit der Vorbereitung und des Aufbaus voran. Schon seit
1977 arbeitete und sammelte der Verein „Grenzland- und Trenckmuseum
Waldmünchen e. V.“ eifrig unter dem damaligen Vorsitzenden Senator
a. D. Heinrich Eiber für seinen Vereinszweck, den „Aufbau eines
oberpfälzischen Grenzlandmuseums“. 1988 erwarb die Stadt mit dem
ehemaligen „Schergenhaus“ ein Ge- bäude, das im Kern bis in das 16.
Jahrhundert zurück- reicht und nach den ersten Überlegungen des
Architektur- büros Wild, Furth im Wald, für die Einrichtung des Mu-
seums geeignet war. Der Museumsverein trug die künfti- gen Exponate
in einem Depot zusammen und ordnete sie übersichtlich nach
Sachgruppen. Mit großem Engagement fotografierten und
inventarisierten die Vereinsmitglieder unter Anleitung der
Fachkräfte vom Kultur- und Museums- referat des Landkreises Cham
über 1.500 Objekte. Ab
1990 führten Mitglieder des Vereins unter Anleitung von
Restauratoren auch einfachere Konservierungs- und Res-
taurierungsmaßnahmen durch. Der Verein trat immer wie- der mit
gezielten Aktionen zur Förderung des Museums- gedankens an die
Öffentlichkeit, wobei die jährlichen Son- derausstellungen zur
Vorstellung der Sammlung beson- dere Erfolge waren und eine breite
Akzeptanz bei der Be- völkerung fanden. Seit 1980 gibt der Verein
in regelmäßi- ger Folge den „Waldmünchner Heimatboten“ mit
lokalhis- torischen, heimat- und volkskundlichen Beiträgen aus dem
Waldmünchner Raum heraus, ein Kompendium zur Kulturgeschichte der
Stadt Waldmünchen, das wertvolle Hinweise auf Themen und Objekte
für das Museum gibt.
Nach Vorlage eines Rahmenkonzepts 1991 durch die
Fachwissenschaftler des Museumsreferats war man sich mit der
Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen ei- nig, dass nur ein
Spezialmuseum mit einer differenzierten Thematik erfolgversprechend
sein könne. Die Landes- stelle begleitete das Projekt beratend und
finanziell. Auf- grund des Objektbestands und unter
Berücksichtigung der historischen Gegebenheiten wurden die
genannten beiden Schwerpunktthemen entwickelt, in einem Rah-
menkonzept ausführlich beschrieben und eine Reihen- folge der
einzelnen Ausstellungseinheiten vorgeschlagen.
Nach langen Verhandlungen konnte ein tragbares Finan-
zierungskonzept aufgestellt werden. Besonders wichtig waren hier
auch die Überlegungen, die künftigen Be- triebskosten in den Griff
zu bekommen. Dabei wird die Stadt Waldmünchen als Museumsträger
sehr durch den Museumsverein unterstützt: Ein ausführlicher
Betreiber- vertrag (Geschäftsordnung) legt unter anderem die Ge-
währleistung der regelmäßigen Öffnungszeiten durch den
MUSEUMSPORTRÄT 15
Einsatz von Vereinsmitgliedern fest. Zur finanziellen Un-
terstützung wurde eine Museumsstiftung gegründet.
Konzept
Die Museumsfachkräfte konnten nun beginnen, das Grobkonzept für die
Einrichtungsplanung zu verfeinern. Dafür wurde zunächst eine erste
Raumaufteilung vorge- nommen und damit die Themenabfolge innerhalb
des künftigen Museumsrundgangs festgelegt. In einer Art Drehbuch
wurde schließlich die exakte Reihenfolge der Exponate, Texte, Fotos
und Filmausschnitte, der Abbil- dungen, Grafiken und
Toneinspielungen beschrieben. An- hand dieses Drehbuchs, das
darüber hinaus die Präsen- tation der Exponate an
Ausstellungswänden oder in Vitri- nen vorgab, konnten nun gemeinsam
mit den Museums- gestaltern (atelier-bauernfeind, Viechtach) die
Überlegun- gen beginnen, welche gestalterischen und didaktischen
Mittel am besten geeignet wären, das jeweilige Thema anschaulich
und besucherfreundlich zu vermitteln – eine
schwierige Aufgabe angesichts der relativ beengten Räume und der
begrenzten Anzahl geeigneter Originale.
Ergebnis dieser Planungen war eine maßstabsgetreu ge- zeichnete
Wandabwicklung. In einem langen Prozess wurden viele Ideen geboren
und eingebracht, viele ande- re Gedanken zunächst weiterverfolgt,
um dann letztend- lich doch fallengelassen zu werden. Für die
optimale Prä- sentation der Exponate, Bilder und Informationstafeln
haben die Museumsgestalter eine spezielle, auf die ein- zelnen
Räume bzw. Themen zugeschnittene „Museums- landschaft“ installiert.
Die Ausstellungseinheiten sind überwiegend „szenisch“ präsentiert;
der Besucher ist fast im ganzen Haus von lebensgroßen Fotos
umgeben. An geeigneten Stellen wird der Eindruck verstärkt durch
Ton, Film, Lichteffekte und Computertechnik. Für die beson- ders
engen Gewölberäume im Erdgeschoss wurde eine spezielle Kombination
aus schrägem Podest und Boden- vitrine entwickelt. Das Museum
bietet so nicht nur Infor- mationen, sondern auch eine
abwechslungsreiche und lebendige Reise in die Geschichte, modern
und anspre-
MUSEUMSPORTRÄT16
Ein Touch-Screen-Terminal informiert über die Stadtgeschichte
chend präsentiert. Der Rundgang durch das Museum wird für den
Besucher zum Erlebnis. Schon vor Beginn des Innenausbaus konnten
einige Ausstellungseinheiten am Computer virtuell „begangen“
werden.
Rundgang
Stadtgeschichte und Feuersteinstraße Der Museumsrundgang beginnt
mit Informationen zur Waldmünchner Stadtgeschichte. Per Fingerdruck
auf den Computerbildschirm (Touchscreen) können die ge- wünschten
Daten abgerufen werden. Eine Ausstellungs- einheit ist der
„Feuersteinstraße“ zwischen Bayern und Böhmen, dem ältesten
Handelsweg Europas, gewidmet. Waldmünchen lag an dieser
Verbindungsstrecke zwi- schen Arnhofen und Prag, auf der schon die
Menschen der Steinzeit Handelsbeziehungen aufbauten. Als wich-
tigster Rohstoff für Werkzeuge und Waffen wurde der in Arnhofener
Bergwerken abgebaute Feuerstein gegen an- dere lebensnotwendige
Gegenstände eingetauscht.
Hausindustrie und Waldarbeit Der nächste Raum befasst sich mit
hausindustriellen Tätigkeiten wie dem Spitzenklöppeln oder
Holzarbeiten, mit denen sich viele Bewohner des Grenzgebiets einen
Nebenverdienst sicherten. Dasselbe gilt für das Sam- meln von
Beeren und Waldfrüchten, das mit der Wald- arbeit in der folgenden
Ausstellungseinheit vorgestellt wird.
Waldmünchen an der Glasstraße Für Waldmünchen war vom 16. bis Ende
des 19. Jahr- hunderts die Glasproduktion und -veredelung von
großer Bedeutung. Anhand mehrerer Fertigungsstufen wird die
Produktion eines geschliffenen Kelchglases von den Roh- stoffen bis
zum Endprodukt dargestellt. Eine Vitrine zeigt kostbare historische
Gläser aus der Produktion der bekannten Firma Nachtmann, die 1834
in Waldmünchen gegründet wurde. Im Reliefmodell der Umgebung Wald-
münchens sind die Standorte der ehemaligen Glasbe- triebe
eingetragen.
MUSEUMSPORTRÄT 17
Abteilung „Trenck-Festspiel“
Beeindruckend ist der Ausschnitt aus einer Glasschleife- rei unter
Verwendung von Originalteilen. Vor allem im Ulrichsgrüner Tal gab
es im 19. Jahrhundert mehrere Glasschleifen und -polierwerke,
welche die geblasenen, groben und unebenen Glasscheiben für Fenster
und Spiegel verwendbar machten. Andere Hütten hatten sich auf die
Herstellung von Glasperlen für Rosenkränze und Schmuck
spezialisiert.
Früher Tourismus Eine neue Einnahmequelle ergab sich seit Beginn
des 20. Jahrhunderts mit der neu entdeckten Lust am Reisen. In
dieser Museumsabteilung wird der schon um die Jahr- hundertwende
einsetzende Fremdenverkehr in Waldmün- chen mit dem böhmischen Berg
Cerkov als Naherho- lungsziel vorgestellt.
Auswanderung Die ungünstige Erwerbslage im ostbayerischen Grenz-
gebirge war der Hauptgrund, warum viele Familien der Heimat den
Rücken kehrten. Auswanderungswellen gab es vor allem im 19.
Jahrhundert. Allein aus dem Altland- kreis Waldmünchen wanderten
zwischen 1780 und 1950 etwa 1.300 Personen aus, die meisten nach
Amerika. Im Museum überquert der Besucher auf einem blauen
Bodenbelag symbolisch den Atlantik, die historische New Yorker
Skyline mit der Freiheitsstatue in Sichtweite, und wird dann mit
dem Schicksal eines 1883 ausge- wanderten Waldmünchener
Bäckermeistersohns kon- frontiert.
Café Feichtmayr Zum Abschluss des Rundgangs im Erdgeschoss kann der
Besucher Atmosphäre atmen im Ambiente des Cafés Feichtmayr, das bis
in die 1970er Jahre als „erstes Haus am Platze“ betrieben
wurde.
Der „Eiserne Vorhang“ Der Themenbereich „Grenze“ nimmt die gesamte
erste Etage des neuen Museums ein. Bis vor gut einem Jahr- zehnt
war die Grenze zu Tschechien durch den „Eisernen Vorhang“
verschlossen, den streng bewachten Stachel- drahtzaun entlang des
Grenzverlaufs. Die Grenzöffnung 1990 hat nach einem halben
Jahrhundert der Trennung neue Möglichkeiten eröffnet. Den Bewohnern
der Grenz- regionen beider Länder hat sich jeweils die vierte,
zuvor weitgehend unbekannte Himmelsrichtung erschlossen – für die
einen der Westen, für die anderen der Osten. Ein Jahrzehnt nach der
Grenzöffnung ist es für die Bewohner der Grenzregion nichts
Besonderes, das jeweilige Nach- barland zu besuchen. Die
Inszenierung im Museum ver- mittelt die beklemmende Verunsicherung,
mit der man zuvor am Grenzübergang stand: Warnschilder, Düsternis,
Blinklicht. Nach Durchschreiten des Schlagbaums wird der
Museumsbesucher an die Momente der Grenzöff- nung erinnert.
Postgeschichte – Berühmte Reisende Der folgende Bereich berichtet
von denen, die die Gren- ze passierten oder passieren wollten. Nach
einer Szene mit einer historischen Postkutsche folgt im Museum die
Ausstellung über Berühmtheiten, die als Reisende von oder nach
Böhmen in Waldmünchen Station mach- ten. So verbrachte der
französische Schriftsteller und Politiker François René Auguste
Vicomte de Chateau- briand 1833 drei Tage in Waldmünchen, weil ihm
der Zöllner in Haselbach zunächst den Grenzübertritt verweigerte.
Seinen Aufenthalt in Waldmünchen be- schrieb Chateaubriand später
ausführlich in seinen Me- moiren.
Bodenvitrine „Holzschuh-Machen“ in Entwurf ...
... und Ausführung
Schmuggelei Etwas verunsichert mag der Museumsbesucher den nächsten
engen Raum betreten. „Mitten im Wald“ liegt eine Figur, zu Boden
gestürzt, das Gesicht mit Ruß ge- schwärzt – ein „Schwirzer“. Diese
Szenerie leitet über zur großen Ausstellungseinheit über den
illegalen grenzüber- schreitenden Handel, den Schmuggel, und über
die Widersacher der Schmuggler, Zoll und Grenzpolizei. Hier wird
unter anderem eine Auswahl an Gegenständen ge- zeigt, die in den
letzten Jahren an den Grenzübergängen beschlagnahmt wurden und an
der „Hör-Theke“ kann man den Geschichten ehemaliger Schmuggler
lauschen.
Trenck der Pandur vor Waldmünchen Das gesamte 2. Stockwerk ist dem
Schwerpunktthema „Trenck und Trenck-Festspiel“ gewidmet. Im ersten
Aus- stellungsraum findet sich der Museumsbesucher inmitten einer
Theaterszene aus dem Festspiel, umgeben von Figuren in historischen
Kostümen. Auf dem Bildschirm laufen Festspiel-Filmausschnitte. In
den Vitrinen werden alte Kostüme und Requisiten, Plakate, Programme
und Textbücher aus der Geschichte des Festspiels präsen-
tiert. Seit 1950 wird das Festspiel alljährlich aufgeführt, es
trägt heute zur touristischen Attraktivität Waldmünchens bei. Man
versteht sich als „Trenck-Stadt“, wirbt mit Trenck-Veranstaltungen
und Souvenirs.
Der Österreichische Erbfolgekrieg Die folgenden Ausstellungsräume
erläutern den histori- schen Hintergrund des Waldmünchener
Festspiels. Der bayerische Kurfürst Karl Albrecht meldete nach dem
Tod Kaiser Karls VI. (1740) Ansprüche auf die habsburgische
Erbfolge an, die allerdings Maria Theresia, die Tochter des
Kaisers, als Königin von Ungarn und Böhmen sowie Erz- herzogin von
Österreich bereits angetreten hatte. Es kam zum Österreichischen
Erbfolgekrieg (1741-1748). 1741 beauftragte Maria Theresia den
Freiherrn Franz von der Trenck, ein Freicorps aufzustellen.
Innerhalb von drei Wo- chen gelang es Trenck, aus seinen
Herrschaftspanduren sowie begnadigten Grenzräubern ein Corps von
rund 1.000 Mann zu stellen. Die angeworbenen Leute stamm- ten aus
ungarischen und slawonischen Landstrichen. Trencks Panduren waren
schnell als disziplinlos und grau- sam berüchtigt. Nach einem
Feldzug durch Bayern stan-
MUSEUMSPORTRÄT 19
Sequenz „Grenze“
den sie im September 1742 vor den Toren Chams, das sie schließlich
brandschatzten und plünderten. Die traurige Bilanz dieses Angriffs
waren 42 Todesopfer und über 700 Gefangene. Fast alle Gebäude der
Stadt waren niederge- brannt. Von hier zog der Pandurentross weiter
nach Waldmünchen. Unter Androhung der Plünderung forderte Trenck
fünfzig Speziesdukaten von den Stadtoberen bei sofortiger
Bezahlung. Die Stadt lieh das Geld von dem damaligen Bräuverwalter
Andre Frank. Insgesamt eignete sich Trenck in Waldmünchen und
Umgebung 1.062 Gul- den an und zog anderntags mit seiner Mannschaft
weiter nach Böhmen. Weitaus größer war der Schaden, der den
Waldmünchnern durch die Einquartierung der Truppen entstand.
Im Museum erinnern Bilder, Gemälde, Kupferstiche, his- torische
Waffen und andere Exponate an die damaligen Geschehnisse. Beinahe
erschreckend ist für den Besu- cher die überraschende
Gegenüberstellung mit drei über- lebensgroßen Pandurenfiguren,
gestaltet nach Kupfer- stichen aus der Zeit.
Medienraum Zum Abschluss des Museumsrundgangs bietet der Me-
dienraum anhand eines bedienerfreundlichen Computer- terminals
(Touchscreen) Gelegenheit, sich mit einzelnen Themen näher zu
befassen, historische Bilder oder Film- sequenzen (z. B. Hans
Albers als Trenck) in Ruhe auf der Großleinwand zu betrachten.
Kinder können beim Com- puterspiel „McCustom“ in die Rolle eines
Zöllners schlüp- fen. Es darf mit freundlicher Genehmigung der
Eidgenös- sischen Zollverwaltung Bern angeboten werden.
Als Zusatzangebot des Museums kann der Besucher in der
„Kristallhöhle“ im Kellergeschoss die als Sammler- stücke begehrten
Kristalltiere der Swarovski-Silver- Crystal-Serie oder im
Sonderausstellungsraum im Dach- geschoss des Museums eine der
mehrmals im Jahr wechselnden Wechselausstellungen bestaunen.
Der Thematik „Grenze“ des Museums angemessen, ist das Faltblatt mit
grundlegenden Informationen zum Mu- seum zweisprachig verfasst, so
dass in deutscher und tschechischer Sprache geworben wird. Darüber
hinaus können tschechische Besucher ein Geheft mit auf den
Museumsrundgang nehmen, das sämtliche Ausstellungs- texte in
tschechischer Sprache enthält.
Günther Bauernfeind
Grenzland- und Trenckmuseum Waldmünchen, Schlosshof 4, 93449
Waldmünchen, Tel. 09972/307-25
[email protected]
www.waldmuenchen.de
Öffnungszeiten: 15. März bis 31. Oktober und 15. Dezember bis 15.
Januar Dienstag, Samstag, Sonn- und Feiertage 14-17 Uhr
DAS FRÄNKISCHE FREILANDMUSEUM IN FLADUNGEN Gedanken zu Aufbau,
Konzept und Zukunftsperspektiven
Absichten und Vorgaben
Als sich zum 1. Januar des Jahres 1983 der Träger des fränkischen
Freilandmuseums in der Form eines Zweck- verbandes konstituierte,
waren fünf Jahre intensiver Diskussion um die Inhalte und das Ziel
sowie vier Jahre politischer Auseinandersetzung um die grundlegende
Notwendigkeit und den sichtbaren Nutzen einer solchen
Museumsneugründung ihrem vorläufigen Ende zugeführt. Die Mitglieder
des Zweckverbandes – der Bezirk Unter- franken, der Landkreis
Rhön-Grabfeld und die Stadt Fla- dungen – einigten sich darauf,
gemeinsam dieses Grün- dungswerk anzugehen und es gemäß ihrer
Intention in seiner Existenz dauerhaft zu erhalten: „Der Zweckver-
band Fränkisches Freilandmuseum Fladungen hat die Aufgabe, in der
Stadt Fladungen für die Siedlungsgebiete Spessart, Rhön und
Grabfeld ein ,Fränkisches Freiland- museum‘ zu errichten und zu
betreiben. In diesem Mu- seum sollen die wesentlichen baulichen
Anlagen mit verschiedenen Einrichtungen, die Lebensweisen und Ge-
wohnheiten der Bewohner und das überkommene länd-
liche Siedlungswesen Unterfrankens dargestellt werden. Neben der
Dokumentation der überlieferten Kultur und Lebensart dient das
Fränkische Freilandmuseum Fladun- gen auch der Förderung des
Fremdenverkehrs.“ (Präam- bel der Vereinbarung des
Zweckverbandes)
Die Darstellung historischer Sachverhalte also und die Förderung
des Fremdenverkehrs wurden als anzusteu- ernde Ziele des Museums
formuliert. Welche Gedan- kengänge lagen diesen auf den ersten
Blick doch recht disparaten Zielvorgaben zugrunde?
Als erstes darf man wohl die im Zuge des Denkmaljahres 1975
sensibilisierte öffentliche Meinung über den gene- rellen Erhalt
von Geschichtszeugen anführen, mit der Notwendigkeit, auch das
historische ländliche Milieu und dessen Bauwerke zu
berücksichtigen. Diese Strömung zeichnete unter anderem auch für
die Anlage der neuen Denkmallisten verantwortlich. In diesem
Zusammenhang spielte natürlich der Rettungsgedanke eine Rolle, und
da dieser dem Museum mit seiner Verpflichtung zum Erhalten
MUSEUMSPORTRÄT 21
Wiederaufbau des Hauses Oberhohenried: Aus den Außenwänden wurden
die Gefache entnommen, die Innenwände (verpackt) werden als
Ganztafeln wiedereingesetzt.
stets immanent ist, lag nichts näher, als die Fürsorge für
wenigstens einige der als bedroht erachteten Zeugnisse ländlichen
Bauens und Lebens in ein Museum zu verla- gern und hier ihren
Erhalt sicherzustellen. Die Museums- gattung „Freilandmuseum“
musste dazu nicht erfunden werden: Sie existierte bereits seit 100
Jahren und war in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg auch für
Deutschland fruchtbar entdeckt worden. Seit 1979 war vor der
Haustür Unterfrankens in Bad Windsheim ein solches Museum im
Entstehen, dessen erste öffentliche Erfolge zur Nachah- mung
geradezu herausforderten.
Fladungen, die nördlichste Kommune Unterfrankens, lag zum damaligen
Zeitpunkt weniger als zwei Kilometer von der Grenze zur DDR
entfernt. Diese Randlage führte seit 1945 zu einer spürbaren
Benachteiligung in der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung. Neue
Anstöße erhoffte man sich nun vor allem vom Tourismus, der in jenen
Jahren von den Wirtschaftsministerien auf Bundes- und Länder- ebene
gerade in benachteiligten Randgebieten erheblich gefördert wurde.
Der Standort Fladungen war für solche Förderungen aufgrund seiner
Grenzlage prädestiniert, ein Museum hier in hohem Maße förderfähig
und durchaus imstande, innerhalb der regionalen Anstrengungen zur
Hebung und Steuerung des Fremdenverkehrs ein ge- wichtiges Wort
mitzureden. Das im Ort schon seit über 50 Jahren existierende
Rhön-Museum zeigte mit damals über 30.000 Besuchern jährlich
mögliche Erfolge an.
Der Inhalt und die Anlage des Freilandmuseums, dessen zu schaffende
Substanz, wurden mit der zitierten Aufga- benbeschreibung grob
umrissen – dazu gab es grund- legende Vorplanungen und
Abstimmungsgespräche, die in konkrete Vereinbarungen mit dem Museum
in Bad Windsheim mündeten. In ihnen legte man die Grenzen der
jeweiligen Einzugsbereiche fest, die historische Tiefen-
schürfung, wenn man so will, wurde angesprochen und eine
differenzierte Zusatzthematik für jedes der beiden Museen
festgestellt. Gleichzeitig wurde aber auch der zentrale Anspruch
von Bad Windsheim für die Bauformen Unterfrankens
zurückgewiesen.
Konzeptionelle Abklärungen
Nach dieser Abstimmung mit dem Bad Windsheimer Mu- seum, einem der
heute wichtigsten Freilandmuseen in Deutschland, konnte Fladungen
als eigenständig operie- rende Einrichtung die Feinabstimmung
hinsichtlich seiner Thematik, seiner zeitlichen und räumlichen
Einschränkun- gen angehen. Die nun gewonnenen Rahmenbedingungen zu
seiner Arbeit seien noch einmal kurz in Erinnerung ge- rufen, da
sie in der Lage sind, die doch etwas allgemein formulierte
Aufgabenbeschreibung der oben zitierten Sat- zungspräambel zu
ergänzen oder zu kommentieren.
Das Einzugsgebiet des Museums umfasst das gesamte nördliche
Unterfranken bis zum Mainlauf. Innerhalb des Maindreiecks stellt
der Lauf der Wern eine Überschnei- dungszone zum Einzugsgebiet von
Bad Windsheim dar. Der unterfränkische Anteil am Odenwald wird der
Fürsorge des Freilichtmuseums in Walldürn-Gotterdorf (Baden-
Württemberg) überlassen. Zu Hessen und Thüringen hin werden in
Einzelfallprüfung die Landesgrenzen respektiert.
Das Museum rückt das nachmittelalterliche ländliche Bauwesen
Unterfrankens in den zentralen Blickpunkt sei- nes Interesses, da
Bad Windsheim das mittelalterliche Bauen in Franken als die
wichtigste und durchaus spek- takulärste Schwerpunktsetzung
thematisiert hatte und mittlerweile beeindruckend vor Augen führt.
Demgegen- über eröffnet sich für Fladungen aus der besonderen
Siedlungs- und der in ihrer Folge entwickelten Satzungs- genese des
unterfränkischen Dorfes heraus der weite Be- reich der
gemeindlichen Architektur. Mit dem Einbeziehen ihrer überlieferten
Bauten ist die besondere Thematik an- gesprochen, der sich
Fladungen verpflichtet fühlt. Die allgemeine Zielsetzung
unterscheidet sich wenig von der anderer moderner
Museumskonzeptionen, die ihr Haupt- augenmerk darauf legen, die
festgestellte Bandbreite des bäuerlich-ländlichen Bauens auch in
dessen sozialer und wirtschaftlicher Bedingtheit zu berücksichtigen
und Bau- ten auch unter diesem Aspekt als potentielle Übertra-
gungskandidaten zu betrachten. Das heißt nichts ande- res, als dass
die Gebäude, die im Museum zur Darstel- lung des Themas
herangezogen werden, nicht zufällig hier stehen, sondern als
Analyseergebnis ihrer Darstel- lungsmöglichkeiten unter vorher
festgelegten und an ih- nen wirklich festgestellten
Gesichtspunkten.
MUSEUMSPORTRÄT22
Eingangsbauten des Museums von Parkplatz und Bahnsteig aus
gesehen
Die Aufgaben- und auch Zielvorstellung in diesem Sinne zu
formulieren, zu beachten und notfalls zu ändern (wenn z. B. aus der
Betrachtung und Beschäftigung neue Aspekte erstehen), gilt zu Recht
als der Anteil der wis- senschaftlichen Arbeit im Museum. Sie aber
damit in ihre Grenzen zu weisen, meint nichts anderes, als ihr die
Fähigkeit und Möglichkeit abzusprechen, prinzipiellen Einfluss auf
die weitere hervorgehobene Zielvorstellung zu nehmen: die Förderung
des Fremdenverkehrs aus der Attraktivität des Museums heraus.
Auch wenn eine aktive Tourismusbeeinflussung im allge- meinen
Verständnis anderen Gegebenheiten, Vorstellun- gen und Regeln
folgen mag, bleibt die wissenschaftliche Tätigkeit doch die
Grundlage auch dieser Zielvorgabe. Wie das? Indem die
konzeptionellen Überlegungen ver- ständlich und logisch dargelegt
werden und in ihrem wirk- lichen Vortrag (in den Realien nämlich)
nachvollziehbar in ihren Voraussetzungen, erfahrbar in der gebauten
Exis- tenz, wissensbereichernd in der Interpretation und daher
attraktiv auftreten. Attraktivität ergibt sich alleine aus
dem
Wechsel der Standpunkte innerhalb des einen großen Themas und dem
jetzt auch ganz real gemeinten Arran- gement dieses Aspektewechsels
im Museum selbst. Diese Überzeugung geht natürlich von der
Voraussetzung aus, dass das Museums auch und vor allem eine Bil-
dungseinrichtung ist, der Museumsbesucher in sinnvoll genutzter
Freizeit sein Wissen und sein Informations- bedürfnis erweitern
will, und die Wissensvermittlung mit dem „Bereiten von Freude“
verbunden sein sollte, wie Kilian Kreilinger gelegentlich
anmerkte.
Das „Bereiten von Freude“ – oder eine Unterhaltungszu- gabe, wie
man es auch nennen könnte – kann dann auch Sache eines Beiwerkes im
Sinne von „Dekorum“ sein, das auf das Thema abgestellt ist. So
dachte man bereits in den Vorüberlegungen des Jahres 1981 daran,
die Wie- derinbetriebnahme der stillgelegten Nebenbahnlinie Mell-
richstadt – Fladungen unter der Regie des Museums zu überprüfen (R.
Worschech). Sie fand dann nach massi- vem „politischem
Bretterbohren“ (F. Steigerwald) 100 Jahre nach der ersten
Inauguration 1898 statt.
MUSEUMSPORTRÄT 23
Das Museumsgelände
Das Museumsgelände als reale Grundlage wurde ab 1986 sukzessive im
Rahmen einer innerörtlichen Flurneu- ordnung von Fladungen
bereitgestellt. Seine Lokalisie- rung folgte keinen konzeptionellen
Überlegungen, son- dern ergab sich aus pragmatischen
Gesichtspunkten: Es liegt in unmittelbarer Nähe zum Siedlungskern
Fladun- gens, es eröffnete sich die Möglichkeit, ein bestehenden
Mühlengebäude miteinzubeziehen und es ist nur sehr ein- geschränkt
landwirtschaftlich nutzbar, daher für die örtli- chen Bauern
entbehrlich. Seine schöne landschaftliche Lage in der Talaue der
Streu, mit Fließgewässern reich gesegnet, und die nächste
Nachbarschaft zum Bahn- hofsgelände sind eine willkommene
Dreingabe. Mit etwas mehr als 7 ha Ausstellungsfläche mag es im
Vergleich zu anderen Freilandmuseen klein erscheinen, übt aber da-
durch einen sanften Zwang zu einer auch konzeptionell gewollten
Konzentration des zu übertragenden Baube- standes aus.
So wurde diese Fläche, die durch den mittig durch- fließenden
Bachlauf geteilt ist, auch gemäß der Prove- nienz der
Museumsexponate zweigeteilt: Südlich des Ba- ches werden Bauten aus
den Hassbergen, dem Grabfeld und dem nördlichen Schweinfurter
Umland errichtet, nördlich davon Bauten aus der Rhön, dem Spessart
und ihrem unmittelbaren Umland. Diese Zweiteilung besitzt auch aus
der Betrachtung des rezenten Altbaubestandes heraus ihre
Berechtigung, denn man kann zweifellos Un- terschiede in den
Bauausführungen vom westlichen zum östlichen Unterfranken nördlich
des Mains herausarbei- ten, die auf verschiedenen
Betrachtungsebenen zu finden sind. Während für die Gebäude aus dem
östlichen Unter- franken von vornherein eine kompakte und
zentrierte Baufläche ausgewiesen wurde, werden die Gebäude aus dem
westlichen Unterfranken entlang eines Wegkreuzes aufgereiht. Beide
Bereiche sind auf eine allmähliche bau- liche Verdichtung hin
angelegt.
Ein dritter Bauabschnitt wurde von Anfang an in die Planung zur
Geländenutzung miteinbezogen: der Bahn- damm mit seinen
Gleisanlagen, Verladeflächen und Ge- bäuden. Er erwies sich beim
Aufbau nicht nur der besu- cherorientierten Infrastruktur als
äußerst wertvoll, denn hier konnten die Parkplätze und ein lang
gezogener Bahnsteig für den Eisenbahnbetrieb angelegt werden.
Nachdem das Kopfende des Dammes zurückgebaut worden war – Fladungen
war ein sogenannter Sack- bahnhof –, fand man hier auf Anregung K.
Kreilingers den idealen Standort für das unerlässliche
Museumsgasthaus nebst Tanzsaal, Biergarten und Eingangshalle. Das
später angekaufte Bahnhofsgebäude wurde zur Museumsver-
waltung ausgebaut, das dazugehörige Waschhaus zu einem
Verkaufsladen für regionale Produkte, in der Lager- halle entstand
ein Materialdepot für den Bahnbetrieb. Dies allerdings waren
Ergebnisse einer Feinplanung, die erst Anfangs der 90er Jahre
vorgenommen wurde und bis 1997 realisiert wurde.
Zunächst ging es darum, erste Museumsexponate zu übertragen. Am
Anfang stand der Erhalt der stark ruinö- sen „Äußeren Mühle“ von
Fladungen, deren Standort in das Museumsgelände mitaufgenommen
worden war.
Umgang mit Gebäuden als Museumsexponate
Als man mit den Bauarbeiten an dieser Getreidemühle begann, fand
gerade eine intensive Diskussion über die
MUSEUMSPORTRÄT24
Neugeschaffene bauliche Zusammenhänge mit Kirchenumgriff und Hof
Rügheim
Arbeitsweisen in Freilandmuseen statt, die auf die Klärung des
Dokumentstatus der den Museen überant- worteten Gebäude hinauslief.
Sie schloss gleichermaßen den „handwerklichen“ Umgang mit der
Bausubstanz – Stichworte dazu waren: Wahrung der Authentizität im
Bezug zur Originalität – als auch den interpretativen An- satz zu
deren Darstellungsmöglichkeiten ein: Was soll, was kann dargestellt
werden? Man sollte nicht vergessen, dass zu jenem Zeitpunkt das
Bayerische Landesamt für Denkmalpflege übertragenen Gebäuden das
Prädikat „Baudenkmal“ absprach. Fragen der dauerhaften Erhal- tung
der teuer translozierten Objekte traten als Beitrag der
Restauratoren zu dieser durchaus kontrovers geführ- ten Debatte
hinzu. In Fladungen schloss man sich natür- lich nicht von diesen
Diskussionen aus, sondern man beteiligte sich im Gegenteil aktiv
daran. Die Ergebnisse flossen konkret in die Museumsarbeit
ein.
Jede Beschäftigung mit einem Gebäude, das in ein Muse- um überführt
wird, beginnt ganz positivistisch mit der Frage nach der
Originalität des Bauganzen und, darin ein- gebettet, seiner Teile.
Da Häuser („Häuser“ als Pars-pro- toto-Bezeichnung) von ihren
Bewohnern stets als Gegen- stände intensiver, täglicher Nutzung
betrachtet werden, stellt sich von vornherein nicht die Frage nach
einer Ori- ginalität, wie sie an Kunstwerke gerichtet wird, sondern
das Augenmerk richtet sich auf Sachverhalte des Unver- änderten aus
der initialen Baulösung, die gegenwärtig noch feststellbar sind.
Originalität ist also der Bauzustand, den der Erbauer bei Einzug
intendiert und erreicht hatte.
Diese Jungfräulichkeit haftet normalerweise nicht lange dem Gebäude
an, sondern der Umgang mit und in ihm unterzieht es einem täglichen
Verschleiß, dem der Nutzer durch Renovierungen und Änderungen
begegnet. Geän- derte Vorstellungen und Gegebenheiten von einer
zweck- mäßigen Nutzung, von Wohnkomfort bis hin zu Umwid- mungen
erzeugen in einem fort Veränderungen an der Originalität, die als
Umbauten, Verbauten, Anbauten und Einbauten, an geänderten
Materialien und Oberflächen unmittelbar ablesbar sind. Ein solches
Baugebilde ist nicht mehr original, sondern in seiner Originalität
be- schnitten, ergänzt, umgebildet. Es ist hingegen authen- tisch
in der Gesamtheit seiner Umbildungen, wenn man diese Umbildungen
unter dem Gesichtspunkt seiner Nut- zungen im kontinuierlichen oder
auch abrupten Wandel betrachtet und das Gebäudeganze als Objekt
interpre- tiert, das im Zeitfluss gestanden hat.
Dieser Ansatz zwingt zur Beachtung aller festgestellten Baulösungen
und deren Einordnung in eine zeitliche Ab- folge, bei der die Frage
nach der Originalität noch inso- fern von Bedeutung ist, als sie
sich objektiv und authen-
tisch am Bestand feststellen lässt. Ist dies in hohem Maße der
Fall, kann man auch von weitgehender origina- ler Authentizität in
seiner Patina sprechen. Erreicht man die Originalität initialer
Baulösungen jedoch nur durch Rückbauten, liegen streng genommen
Rekonstruktionen vor, denen eine ideelle, erschlossene Originalität
wohl innewohnen kann, aber die faktische fehlt, da sie nur noch
fragmentarisch angetroffen wurde. Es geht also da- rum,
Originalität in diesem Sinne und nicht nur sie, son- dern auch die
„Originalität“ der Veränderungen genau zu beachten, sie in ihrer
faktischen Authentizität zu sichern und zu dokumentieren, um so die
gesamte Bandbreite möglicher Baurekonstruktionen offen zu halten.
Im „handwerklichen“ Umgang, im Aufdecken und Präparie- ren
authentischer Fragmente liegt denn auch der erste Aufgabenbereich
eines Freilandmuseums, das zu einer
MUSEUMSPORTRÄT 25
Bauliche Verdichtung im Bauabschnitts I des Ausstellungsgelän- des:
Zentrierung bei der Kirche
exakten Bestimmung jedes einzelnen Gebäudes führt: es zeigt sich
als individueller Katalog von Baulösungen sei- ner Nutzer im Laufe
der Zeit; es ist nicht mehr nur Objekt, hergestelltes Artefakt,
sondern darüber hinaus Träger von Informationen beigeordneter oder
übergeordneter Sach- verhalte und Lebensumstände.
Die Summe der authentischen Fragmente, seien sie origi- nal oder
später hinzugefügt, die mit und im Haus über- liefert wurden,
können nur durch das Beiziehen komple- mentärer Quellen zum
informationsgefüllten Objekt selbst, sowie durch das Einknüpfen und
Erweitern bereits vorhandenen Wissens hinsichtlich bei- oder
übergeord- neter Sachverhalte einer Ordnung zugeführt werden. Sie
mündet in die Frage, was dargestellt werden kann und soll. Jetzt
eröffnet sich der Spielraum zur Interpretation, der natürlich die
Fragen des wie berührt: wie haben sie gebaut, wie haben sie gelebt
und gewirtschaftet. Es wird dann aber auch die Frage nach dem warum
relevant, die sich bei der Betrachtung bauspezifischer Lösungen
stellt. Sie ist deshalb wichtig, weil sie auch Antwort auf eine
mögliche Individualität des Gebäudes gibt bzw. das ein- zelne
Gebäude in einen Strang von Bautraditionen auf verschiedenen Ebenen
einordnet, die es exemplarisch zur Darstellung bei- oder
übergeordneter Sachverhalte er- scheinen lassen. Mehr noch: sie
stellt sich bereits bei der Auswahl eines Bauobjektes für ein
Freilandmuseum, das ja gehalten ist, einen Überblick über das
historische Bau- geschehen einer Region anzubieten. Ganz beiläufig
lösen sich in diesem Verfahren die Gegensätze auf: Durch die
eingehende Behandlung wird das Objekt zu einem indivi- duellen
Zeugen für generelle historische Sachverhalte, die an ihm
darstellbar werden. Es geht nun auch bei der Auswahl nicht mehr
darum, ob ein Gebäude aus der Mehrzahl seiner Gattungsvettern durch
„Schönheit“ oder Repräsentation in einer seiner Betrachtungsebenen
he- rausragt oder im Gegenteil als „typisch“ – was immer auch das
sein mag – bezeichnet wird, sondern inwieweit es in der Lage ist,
als authentischer Informationsträger darstellbar zu sein, aus dem
sich Erkenntnisse über das Wirken von Menschen in einem gegebenen
zeit-räumli- chen Rahmen ziehen lassen.
Die Darstellung im Museum – auch die reale – ist daher vielmehr
Interpretation als Rekonstruktion: als Interpre- tation stellt sie
Authentizität vor, wenn, wie bereits ange- merkt, die zur
handwerklichen Rekonstruktion herange- zogenen Fragmente äußerst
sorgfältig als Belege beach- tet werden und ihr Vorhandensein bzw.
ihre Aufdeckung berechtigten Anlass dazu geben, in ihnen Reste
eines ehedem existent gewesenen integralen Ganzen zu sehen. Sie
allein besitzen den Dokumentcharakter, der eine Inter- pretation
nachvollziehbar macht.
Aus diesem Grund fand auch in den Jahren des Mu- seumsaufbaus ein
intensiver Gedankenaustausch über Methoden der Gebäudeübertragung
statt, der zu dem all- gemeinen Konsens führte, dass lediglich die
sogenannte Ganztafelübertragung in der Lage sei, das Maß an Au-
thentizität zu gewährleisten, das zu nachvollziehbaren
Interpretationen notwendig ist. Deren Handhabung er- streckt sich
mittlerweile auf alle Konstituenten eines Ge- bäudes, soweit es
dessen Erhaltungszustand in situ zulässt. Andernfalls werden die
zur Interpretation not- wendigen Fragmente aus dem Gebäudeganzen in
toto herausgelöst, unabhängig transportiert und am neuen Standort
wieder eingebracht bzw. als Primärdokumente identifizierbar
gesichert verwahrt. Dieses gewiss sehr ar- beitsintensive und
finanziell sehr aufwändige Vorgehen belebte in einem Nebeneffekt
auch die Debatte um die Denkmalwürdigkeit der Gebäude, die in ein
Museum übertragen wurden, neu und führte zu einem überra- schenden
Ergebnis.
Gebäudeauswahl – Darstellungsziele
Man mag den Begriff „Interpretation“ vielleicht überzogen nennen,
wenn es lediglich darum geht, anhand von Be- funden frühere
Zustände eines Gebäudes in unterstellter erschlossener Gänze zu
rekonstruieren. Er wird jedoch einleuchtend, wenn man den Begriff
des „Darstellungs- zieles“ in die Debatte einführt. Die
Formulierung eines Darstellungszieles geht wie die Formulierung von
Aus- wahlkriterien auf die Frage nach dem Warum angetroffe- ner
Baulösungen ein, die mehr oder weniger direkt ables- bar sind oder
aufgedeckt wurden – auch sie setzt Ursa- chenforschung voraus, die
im Rahmen größerer Zusam- menhänge in regionaler, historischer und
sozialer Hinsicht angesiedelt ist. Allein das Heranziehen dieser
Zusam- menhänge bei der Betrachtung eines Gebäudes und die darin
implizierten Fragestellungen geben einen Interpre- tationsfilter
vor, der insofern individuell und auch sub- jektiv ist, als er den
spezialisierten Wissensstand und die theoretischen Ansätze zu einem
Erkenntnisgewinn des Interpreten widerspiegelt, aber auch
allgemein, da das individuelle Wissen innerhalb des allgemeinen
Kenntnis- standes einbezogen schlüssig und nachvollziehbar vor-
zutragen ist.
Der Ansatz des Interpretationsfilters steht aber nicht, wie schon
erwähnt, erst am Ende der Auseinandersetzung mit dem einzelnen
Gebäude, sondern er muss bereits bei der Auswahl eines Gebäudes
parat sein und an das ein- zelne Obje