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Befunde und Probleme lateinischer Tradition von Klaus und Michaela Zelzer Wenn in der Jubiläumsveranstaltung der GCS auch die lateinische Tradi- tion zu einer Wortmeldung eingeladen ist, bedeutet dies eine große Ehre für die entsprechende „Kommission zur Herausgabe kritisch berichtigter Tex- te der lateinischen Kirchenväter“ (wie sie mit vollem Namen heißt) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, aber auch für uns persön- lich als Vertreter dieser Kommission. So danken wir in ihrem Namen, aber auch in unserem eigenen, sehr herzlich für diese freundliche Einladung, überbringen die Grüße und Glückwünsche des Wiener Kirchenvätercorpus und wünschen den GCS für die Zukunft weiterhin viel Erfolg (und den nötigen finanziellen Rückhalt), allenfalls auch unter den Bedingungen neu gestalteter oder neu zu gestaltender Strukturen. Vielleicht sei eingangs (mit Bezug auf das Einleitungsreferat von Herrn Markschies) noch daran erin- nert, daß die Wiener Kommission im Jahre 1864 im Zusammenhang mit der Planung des Thesaurus linguae Latinae entstanden ist, ihre Aufgabe daher bis heute in erster Linie als eine philologische sieht 1 . Das Christentum kam als östliche Religion anfangs in griechischer Sprache in den lateinischen Westen und wurde dort vorerst auch in dieser Sprache verbreitet. Die frühesten lateinisch-christlichen Texte sind dann Übersetzungen der Bibel, deren Erforschung und Erstellung bis heute be- kannt schwierige Probleme bereitet. Die biblische Philologie ist im Latei- nischen, wie im Griechischen, praktisch zu einer eigenen Wissenschaft geworden, in der Aufarbeitung sowohl der Veteres Latinae als auch der Vulgata in den ihnen jeweils gewidmeten Institutionen. Beide folgen eige- nen Texttypen, mit vielen Mischtexten und Überschneidungen, worauf vor allem Bonifatius Fischer immer wieder verwiesen hat 2 . Die Erstellung lateinischer Kirchenvätertexte hat damit nur am Rande zu tun, da spätere Überlieferung immer dazu neigte, Zitate aus den bei den Kirchenvätern noch durchwegs erscheinenden Vetus-Latina-Versionen nach dem Wort- laut der Vulgata zu verändern. 1 Vgl. M. Zelzer, Ein Jahrhundert (und mehr) CSEL, Evaluation von Ziel und Veröffent- lichungen, SE 38, 1998/99, (75-99) 76f. 2 Vgl. etwa K. Zelzer, Vetus Latina, in: HLL (Handbuch der lateinischen Literatur der Antike) 4, München 1997, § 468. ZAC, vol. 8, pp. 107-126 © Walter de Gruyter 2004 Brought to you by | Linnaeus University - Växjö Authenticated Download Date | 10/10/14 2:32 PM

Befunde und Probleme lateinischer Tradition

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Befunde und Probleme lateinischer Tradition

von Klaus und Michaela Zelzer

Wenn in der Jubiläumsveranstaltung der GCS auch die lateinische Tradi-tion zu einer Wortmeldung eingeladen ist, bedeutet dies eine große Ehre fürdie entsprechende „Kommission zur Herausgabe kritisch berichtigter Tex-te der lateinischen Kirchenväter“ (wie sie mit vollem Namen heißt) an derÖsterreichischen Akademie der Wissenschaften, aber auch für uns persön-lich als Vertreter dieser Kommission. So danken wir in ihrem Namen, aberauch in unserem eigenen, sehr herzlich für diese freundliche Einladung,überbringen die Grüße und Glückwünsche des Wiener Kirchenvätercorpusund wünschen den GCS für die Zukunft weiterhin viel Erfolg (und dennötigen finanziellen Rückhalt), allenfalls auch unter den Bedingungen neugestalteter oder neu zu gestaltender Strukturen. Vielleicht sei eingangs (mitBezug auf das Einleitungsreferat von Herrn Markschies) noch daran erin-nert, daß die Wiener Kommission im Jahre 1864 im Zusammenhang mitder Planung des Thesaurus linguae Latinae entstanden ist, ihre Aufgabedaher bis heute in erster Linie als eine philologische sieht1.

Das Christentum kam als östliche Religion anfangs in griechischerSprache in den lateinischen Westen und wurde dort vorerst auch in dieserSprache verbreitet. Die frühesten lateinisch-christlichen Texte sind dannÜbersetzungen der Bibel, deren Erforschung und Erstellung bis heute be-kannt schwierige Probleme bereitet. Die biblische Philologie ist im Latei-nischen, wie im Griechischen, praktisch zu einer eigenen Wissenschaftgeworden, in der Aufarbeitung sowohl der Veteres Latinae als auch derVulgata in den ihnen jeweils gewidmeten Institutionen. Beide folgen eige-nen Texttypen, mit vielen Mischtexten und Überschneidungen, worauf vorallem Bonifatius Fischer immer wieder verwiesen hat2. Die Erstellunglateinischer Kirchenvätertexte hat damit nur am Rande zu tun, da spätereÜberlieferung immer dazu neigte, Zitate aus den bei den Kirchenväternnoch durchwegs erscheinenden Vetus-Latina-Versionen nach dem Wort-laut der Vulgata zu verändern.

1 Vgl. M. Zelzer, Ein Jahrhundert (und mehr) CSEL, Evaluation von Ziel und Veröffent-lichungen, SE 38, 1998/99, (75-99) 76f.

2 Vgl. etwa K. Zelzer, Vetus Latina, in: HLL (Handbuch der lateinischen Literatur derAntike) 4, München 1997, § 468.

ZAC, vol. 8, pp. 107-126© Walter de Gruyter 2004

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108 Klaus und Michaela Zelzer

Daneben steht ein breites Spektrum von Bearbeitungen griechischernichtbiblischer Texte. Das beginnt, um nur wenige Beispiele zu nennen, mitlateinischen Fassungen verschiedener Apokryphen (die allerdings nichtGegenstand des CSEL sind) und umfaßt dann den weiten Bereich östlicherasketischer und theologischer Literatur, etwa die frühen monastischenRegeln des Basilius in der Übersetzung des Rufinus, dessen Hexameron inder Bearbeitung des Ambrosius oder die spirituellen Lehren des Euagriosvon Pontos in der freien Wiedergabe durch Iohannes Cassianus3.

Eine große Zahl lateinischer christlicher Autoren lösen sich dann immerstärker von einer unmittelbaren griechischen Vorlage, wobei sowohl dieVariationsbreite innerhalb dieser Texte sehr groß als auch die Abgrenzungzu den vorher genannten Bearbeitungen immer fließend ist. Dazu zählenvor allem weite Bereiche der Werke der „großen“ lateinischen Kirchenvä-ter Ambrosius, Hieronymus, Augustinus und Gregor (deren persönlicheAffinität zum Griechischen freilich verschieden war); die oft sehr reichlicheÜberlieferung lateinischer Vätertexte spiegelt in verschiedener Weise dieWege ihrer Ausbreitung innerhalb der westlichen Kirche, was oft auchAufspaltung in mehrere Traditionszweige und Textklassen bedeutet.

Ein paar Worte zu von uns selbst erstellten Texten oder selbst bearbei-teter Überlieferung sollen an wenigen Beispielen gewisse Eigenheiten dervon der Wiener Kommission betreuten lateinischen christlichen Traditionaufzeigen gegenüber der hier im Hause vertretenen griechischen: zurRufinus-Version der Basiliusregeln, zur Überlieferung der Regel des Bene-dikt, wenige Worte auch zu den lateinischen Thomasakten, die nicht inWien, sondern hier in der Reihe der TU erschienen sind, und schließlich zurBriefsammlung des Mailänder Bischofs Ambrosius.

Wir müssen Sie allerdings insofern enttäuschen, als wir nicht, wiemanche unserer Vorredner, über Nutzbarmachung des Internet sprechenwerden, obwohl unsere Kommission um die Mitte der Achtzigerjahre alserste Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sichauch zur Drucklegung bereits der EDV bediente. Der erste von einerDiskette, nicht mehr von einem herkömmlichen Manuskript gedruckteBand war der (eben genannte) lateinische Basiliustext, erschienen 1986.Der ausdrücklichen Ermunterung durch Herrn Markschies folgend solldaher kurz dessen Tradition vorgestellt werden, dazu manche Stellen,deren noch erkennbarer Bezug zum griechischen Wortlaut (wenn auch derweiterentwickelten Fassung) zur Texterstellung hilfreich war.

3 Basili Regula a Rufino Latine versa, ed. K. Zelzer, CSEL 86, Wien 1986; Ambrosius,Hexameron (u.a.), ed. C. Schenkl, CSEL 32/1, Wien 1896; Iohannes Cassianus,Conlationes, ed. M. Petschenig, CSEL 13, Wien 1886.

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109Befunde und Probleme lateinischer Tradition

I.

Regeltexte sind als spezifische Fachtexte innerhalb der christlichen Litera-tur ein gewisser Sonderfall, aber auch ein dankbares Studienobjekt, weilman ihre Überlieferung in günstigen Fällen in Bezug setzen kann zu der ausanderen Quellen bekannten Verbreitung des Klosterwesens in Spätantikeund Frühmittelalter, somit im Hinblick auf die Möglichkeit gegenseitigerErgänzung der Aufarbeitung von Textüberlieferung und Klöstergeschichte.

Der kappadokische Bischof Basilius von Caesarea hatte seine bekannten„Regeln“ für Asketen in drei Stufen verfaßt: (1.) die sogenannte „Ethika“,eine Sammlung einschlägiger Bibelzitate, (2.) das sogenannte „Kleine“ und(3.) das sogenannte „Große Asketikon“; dies letzte besteht in der soge-nannten „Vulgata-Version“ in PG 31 seinerseits aus zwei Teilen, denregulae fusius und brevius tractatae4. Das im griechischen Original verlo-rene „Kleine Asketikon“, etwa von der doppelten Länge der Regel Bene-dikts, war der erste größere monastische Text, der gegen Ende des 4. Jh.von Rufinus ins Lateinische übertragen wurde, noch vor der Übertragungder Pachomiusregeln durch Hieronymus. Diese lateinische Fassung ist ausmehreren Gründen bedeutend: Sie ist, wie Jean Gribomont gezeigt hat,neben einer parallel erhaltenen syrischen Version der einzige Zeuge desverlorenen Originals5, sie wurde von Benedikt am Ende seiner Regel nebenden Werken des Cassian seinen Mönchen ausdrücklich zu weiterführenderLektüre empfohlen, ein ganz seltener Vorgang zumindest im lateinischenBereich6, und sie ist, anders als etwa Benedikts Regel, bereits in einer Reihefrüher (für den lateinischen Bereich also: vorkarolingischer) Handschriftenerhalten, was ihre Erstellung jedoch nicht immer erleichtert hat.

Der älteste vollständige Zeuge der RBasRuf, der Sessorianus 55, ent-stand bereits im 6. Jh., in Norditalien oder Spanien7. Nur etwas jünger istein Regelcento, der die beiden kurzen Augustinusregeln mit Kapiteln ausCassian, der RMag und eben der Basiliusregel verbindet; dieses selteneBeispiel einer schriftlich festgelegten frühen Mischregel wird Abt Eugippiusvon Lucullanum zugeschrieben, dem Verfasser auch der Vita Severini8. EinCodex des 7. Jh., zu Anfang und Ende unvollständig, stammt aus Bobbio,zwei Blätter des 6. oder 7. Jh. aus Südgallien, ein weiterer vollständigerCodex wurde um 700 in Corbie geschrieben9.

4 J. Gribomont, Histoire du texte des Ascétiques de S. Basile, Louvain 1953; vgl. H.U. v.Balthasar, Die großen Ordensregeln, Einsiedeln/Zürich/Köln 21961 (und spätere Auf-lagen), 47-51.

5 Gribomont, Histoire (wie Anm. 4), 5 (nr. 11). 95.6 Necnon et collationes patrum et instituta et vitas eorum sed et regula sancti patris nostri

Basili, quid aliud sunt nisi bene viventium et oboedientium monachorum instrumentavirtutum? (RBen 73,5f.)

7 Zum Sessor. 55 (CLA 4, 420a) vgl. Basili Regula (wie Anm. 3), XXIVf.8 Paris. lat. 12634, geschrieben um oder bald nach 600 (CLA 5, 646: 7. Jh.) wohl im

süditalischen Bereich, vgl. Eugippii Regula, edd. F. Villegas/A. de Vogüé, CSEL 87,Wien 1976, VIIf. mit Anm. 5f., zu ihrem Aufbau XIf.

9 Milano Ambr. C 26 sup. (CLA 3, 312); frg. Orléans 192 (168; CLA 6, 805); St.Petersburg F.v.I.2 (CLA 11, 1598); vgl. Basili Regula (wie Anm. 3), XVII-XIX.

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110 Klaus und Michaela Zelzer

Diese fünf teilweise nur sehr fragmentarisch überlieferten Zeugen er-gänzt die Vorrede des Übersetzers Rufinus an einen Abt Ursacius: Diesersolle den Text auch anderen Klöstern vermitteln, damit alle, dem BeispielKappadokiens folgend, nach den gleichen, nicht nach verschiedenen Ob-servanzen lebten. Dies ergänzt Nachrichten des Ambrosius, Hieronymusund Augustinus über frühes asketisches Leben in Italien und zeigt den sonstunbekannten Adressaten der Übersetzung als einen frühen Vorläufer deretwa zweihundert Jahre später in Gregors Dialogen geschilderten mittel-italischen Mönchsväter Valentio und Equitius10. Anderseits belegt dieserAuftrag die damals offenbar schon empfundene Notwendigkeit, den frü-hen asketischen Wildwuchs in Italien durch eine geregelte Ordnung zuersetzen (wofür der exegetisch-spirituell, aber nicht praktisch-organisato-risch betonte Text des Basilius wohl nicht allzu geeignet war).

Ab der karolingischen Zeit, einem der beiden bedeutendsten Einschnittefür die lateinische Tradition (der erste war die Umschrift antiker Rollen aufspätantike Codices im 4. und 5. Jh., was aber für die zeitgenössischenKirchenväter keine Bedeutung mehr hatte11), sind zehn vollständige Zeu-gen des 9. und 10. Jh. erhalten, darunter der Codex Regularum deskarolingischen Reformabtes Benedikt von Aniane und ein Regelcodex ausdem westgotischen Raum. Daneben wurden 98 der 203 Kapitel des Textesvon dem späteren Reformabt bereits vorher in seine Concordia Regularumaufgenommen, die die Übereinstimmung aller damals noch erreichbarerRegeln mit der Regel Benedikts erweisen sollte12.

Die Verbreitung des Textes im Frankenreich ist auch durch literarischeund historische Nachrichten bezeugt. Die anonyme Vita Patrum Iurensium,die Geschichte der drei Gründerväter der sogenannten Juraklöster nord-westlich von Genf, zitiert um 520 als ihre vier täglich gelesenen asketischenVorbilder Basilius, die Väter von Lérins und die Äbte Pachomius undCassianus13, Gründungsurkunden fränkischer Klöster bezeugen den Basi-liustext für mehrere Gebiete des Reiches: von Limoges im Südwesten über

10 Tui sane sit officii etiam aliis monasteriis exemplaria praebere, ut secundum instarCappadociae omnia monasteria eisdem et non diversis vel institutis vel observationibusvivant (RBasRuf praef. 11); zu Equitius und Valentio Greg., dial. 1,4 bzw. 1,4,20; 3,22;4,22; zum frühen monastischen Umfeld etwa K. Zelzer, Klöster und Regeln in den erstenPhasen des abendländischen Mönchtums, in: Il monachesimo occidentale dalle originialla Regula Magistri (26 incontro di studiosi dell’antichità cristiana, Roma 1997),SEAug 62, Roma 1998, 23-36. – Zur Frage der Interpretation der Dialoge Gregors (undihrer neuerdings wieder verwegen bestrittenen Echtheit) vgl. etwa K. und M. Zelzer, Vonder Weltflucht zur Weltgestaltung, Benedikt von Nursia und seine Regel in seinemasketischen Umfeld und in den ‚Dialogen‘ Gregors des Großen, SWKA 45, Wien 2002,4-24 (mit Anm. 5f.).

11 Vgl. etwa M. Zelzer, Buch und Text von Augustus zu Karl dem Großen, MIÖG 109,2001, 291-314.

12 München Clm 28118 (Cod. Regg.); Tours 615; Orléans 233 (203; Conc. Regg.); vgl.Basili Regula (wie Anm. 3), XXIII-XXVII.

13 VPIur 174, vgl. Vie des Pères du Jura, ed. F. Martine, SC 142, Paris 1968, 426.

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111Befunde und Probleme lateinischer Tradition

Autun im Burgund bis Jumièges nahe der Seinemündung bei Rouen undArras in Nordfrankreich, wie es Friedrich Prinz ausführlich dargelegt hat14.

Für das eben genannte Inselkloster Lérins, gegründet um 410 vor dergallischen Südküste als Refugium des gebildeten gallischen Adels unddaher von Beginn an ein bedeutender Platz, Ausgangspunkt der Verbrei-tung mehrerer vorwiegend östlicher Regeln in das Landesinnere bis an dieLoire, Seine und Mosel, findet sich die RBasRuf allerdings nicht ausdrück-lich bezeugt. Hier konnte die Aufarbeitung der Überlieferung ergänzendeinspringen: Von den Zeugen des 9. und 10. Jh. sind drei eng verwandteHandschriften, heute bewahrt in St. Gallen, Lambach und Wolfenbüttel,auf Grund der darin noch enthaltenen Texte und Textauszüge eindeutigder Tradition des bedeutenden Inselklosters zuzuweisen15. Die Chronolo-gie dieses Platzes und der Ausbreitung des Textes in Gallien, aber auch dasFehlen jeder Benedikt-Bezeugung in der Tradition dieser Zeugengruppeläßt ihren Ausgang von Lérins noch für das späte 5. oder das 6. Jh.vermuten. Ebenso ist in Zeugen ab dem 9. Jh. eine visigotisch-hispanischeGruppe erkennbar, der letztlich auch der Regelcodex des (aus SW-Frank-reich stammenden) Benedikt von Aniane zuzurechnen ist, der aber auchEinflüsse des Leriner Textes erkennen läßt. Beide Gruppen unterscheidensich in einer Reihe von Lesarten nicht nur voneinander, sondern auch vonden übrigen Zeugen der italischen und fränkischen Tradition; sie setzeneine längere Textentwicklung voraus und bezeugen daher die frühe Auf-spaltung des erst zu Ende des 4. Jh. übersetzten Textes in verschiedeneTextklassen16.

Die Textform der beiden frühesten Zeugen, des Sessorianus und desRegelcento des Eugippius, läßt für die wenigen in letzterem enthaltenenKapitel relativ wenig Übereinstimmung erkennen, dafür jeweils eine Reihevon Sonderlesarten. Diese Tatsache und das frühe Auftreten von Text-gruppen zeigt die aus den literarischen und historischen Nachrichten ver-mutete frühe und weite Verbreitung des Textes, die neben Lesartenunter-schieden bald auch gewisse sprachliche Verwilderungen mit sich brachte,wie sie im 6. Jh. nicht verwundern, von denen bezeichnenderweise derRegelcento stärker betroffen ist als der vollständige Sessorianus.

Daß dennoch der Text des Sessorianus zusammen mit dem des Cor-beiensis, der beiden ältesten vollständigen Handschriften, gelegentlich auchmit Eugippius’ Regelcento, eher die ursprüngliche Textform bewahren als

14 F. Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich, München 21988, 69.72.95.114.271-274.279. Karte IV A.

15 St. Gallen 926; Lambach 31; Wolfenbüttel 4127 (ex Wizanb. 43); vgl. Basili Regula (wieAnm. 3), XIX-XXIII.XXVI; zu Lérins etwa Prinz, Mönchtum (wie Anm. 14), 47-62.

16 Vgl., auch zu den folgenden Textbeispielen, Basili Regula (wie Anm. 3), XIII-XVI; K.Zelzer, Zum Text der kritischen Erstedition der lateinischen Fassung der Basiliusregel,in: Polyanthema, Studi di letteratura cristiana antica offerti a S. Costanza, 1, StudiTardoantichi 7, Messina 1988, 7-25.

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112 Klaus und Michaela Zelzer

die Leriner und die visigotische Gruppe, soll an wenigen Beispielen deutlichwerden. Bereits im Prolog führt Basilius aus, entsprechend dem Prolog derRegulae brevius tractatae, der Mönch müsse nicht nur in der kirchlichenÖffentlichkeit seinen Glauben bezeugen, sondern jederzeit auch für privateGlaubensgespräche verfügbar sein: necesse est nos quidem … quaedam …in communi ecclesiae auditorio simul omnibus de praeceptis domini con-testari, quaedam vero secretius perfectioribus quibusque disserere, etinquirere atque interrogare volentibus de fide et veritate evangelii …copiam nostri facultatemque praebere. Hier schrieb etwa Holstenius im17. Jh. in dem bisher allein vorliegenden Abdruck des Textes nach derTradition des Codex Regularum und der Leriner Codices für den zweitenTeil der Periode et inquirentibus manifestare atque interrogare volentibus… copiam nostri sermonis facultatemque praebere, womit er die Phrase andas vorangehende Verbum disserere anschloß, den Zusammenhang desfolgenden Satzes aber verlor. Auch die Ergänzung sermonis ist eine ober-flächliche Glättung der vielleicht etwas harten, aber seit Terenz, Sallustund Tacitus belegten Fügung copiam nostri, eine Glättung, die aber amSinn vorbeigeht: Gemeint ist nicht „die Fülle unserer Rede“, sondern „dieVerfügbarkeit über uns“, „die Möglichkeit, uns zu fragen“, wie es hierauch der griechische Text deutlich macht: ̃ k£stJ tîn prosiÒntwn paršcein˜autoÝj kat' ™xous…an ™perwt©n.

An mehreren Stellen ist der Vorrang des von den ältesten Zeugengebotenen Textes offensichtlich. RBasRuf 6 schreibt etwa der Sessorianusals einzige Handschrift (in einem bei Eugippius nicht enthaltenen Kapitel)neque indulgendum est quempiam introire in sancta doctrinae, alle ande-ren Zeugen gleichen, zum Teil sogar unkorrekt, aus, zu sancta doctrina,sanctam doctrinam oder sanctae doctrinae. Daß aber sancta doctrinaerichtig ist, zeigt der entsprechende Genitiv der griechischen Fügung vonReg. fus. tract. 10: oÙ m¾ ™pitršpein cr¾ tÁj semnÒthtoj ™piba…nein tîndidagm£twn.

RBasRuf 29 lautet die Antwort auf die Frage Si debet habere aliquidproprium qui inter fratres est sowohl in der Leriner und der visigotischenGruppe als auch bei Benedikt von Aniane Huic contrarium est illudtestimonium quod … scriptum est; die drei alten Zeugen, Sessorianus,Regelcento und Corbeiensis, schreiben jedoch Hoc contrarium est illitestimonio, entsprechend der griechischen Formulierung Toàto ™n£ntiÒn™stin tÁj … martur…aj.

An manchen Stellen kann der griechische Text die lateinische Traditionum Sessorianus und Corbeiensis als verläßlich erweisen, an denen manohne ihn wohl anders entschieden hätte. Der letzte Satz von RBasRuf 3lautet in der alten Ausgabe von Holstenius: Stadium namque est quoddam… in quo per virtutis exercitium proficitur, in quo meditatio divinorummandatorum effulget amplius et clarescit, haec communis inter se unani-morum fratrum habitatio, habens in se illam similitudinem … Mit stadiumals vorangestelltem Praedikativ zu haec habitatio ist der Satz verständlich;

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113Befunde und Probleme lateinischer Tradition

haec findet sich allerdings nur in der visigotischen Tradition, alle übrigenZeugen bieten et communis … habitatio, was jedoch den syntaktischenAblauf des Satzes stört. Tatsächlich zeigt aber der griechische Text derReg. fus. tract. 7 eine weitgehend entsprechende inkonzinne Fügung:st£dion oân ¢ql»sewj kaˆ prokopÁj eÙod…a kaˆ dihnek¾j gumnas…a kaˆ melšthtîn toà kur…ou ™ntolîn, kaˆ ™pˆ tÕ aÙtÕ kato…khs…j ™sti tîn ¢delfîn,skopÕn m{n œcousa t¾n dÒxan toà qeoà … Daher war, trotz des syntakti-schen Anstoßes, et communis … habitatio in den Text zu nehmen.

Bisweilen zeigt sich die Verläßlichkeit einer Tradition auch an Fehlern.In dem RBasRuf 8 erscheinenden Zitat aus 2Kor 6,5f., in laboribus invigiliis in ieiuniis in castitate, schreiben Sessorianus und Corbeiensis fürdas letzte Glied in sanctitate, eine Variante, die weder im griechischen nochim lateinischen Bibeltext belegt ist, auch bei Basilius heißt es ™n ¡gnÒthti.Hier liegt die Vermutung nahe, Rufinus habe in seiner Vorlage irrtümlich™n ¡giÒthti statt ™n ¡gnÒthti gelesen und mit in sanctitate wiedergegeben,was die beiden ältesten vollständigen Codices bewahrt, die übrigen Zeugenaber nach dem Bibeltext korrigiert haben.

Daß gelegentlich mit Lese- bzw. Übersetzungsfehlern zu rechnen ist,zeigt eine von der gesamten Tradition einhellig bewahrte Stelle in RBasRuf69: Niemand dürfe sich in der Gemeinschaft eine andere als die ihmzugewiesene Arbeit suchen, da dies dem Prinzip des Gehorsams zuwider-liefe; wer dies täte, etiam suspicionem dabit fratribus, quod passione aliquavel ad opus illud quod eligit astringatur vel certe erga eos cum quibus idnecesse est operari. Was dieser lateinisch nicht verständliche Satz sagensollte, zeigt allein der griechische Text der Reg. brev. tract. 119: kaˆ

Øpono…aj d{ ponhr¦j ™mpoie‹ to‹j ¢delfo‹j æj propeponqëj Ï tù œrgw Óper™pizhte‹ À oŒj sunerg£zesqai ¢n£gkh. Bei seiner vermutlich raschen Arbeitan einem wohl nichtakzentuierten Vorlagetext hat hier Rufinus offensicht-lich die beiden verschiedene Wortformen vertretenden Eta des griechischenSatzes irrtümlich als parallel verstanden und mit vel … vel wiedergegeben.

Diese wenigen herausgegriffenen Beispiele stehen für Stellen, an denender griechische Text der späteren Redaktion des Basilius noch zur Text-erstellung des im griechischen Original verlorenen Kleinen Asketikonbeitragen kann. Darüber hinaus erschien uns allerdings eine Tatsacheüberraschend: Überall, wo der griechische Text des sogenannten GroßenAsketikon für schwer verständliche oder mehrfach zerlesene Stellen deslateinischen Textes konsultiert wurde, erwies sich (mit einer einzigen Aus-nahme) dessen sogenannte Vulgatafassung der PG 31 als identisch mit dersogenannten Studitafassung einer Moskauer Handschrift, obwohl die bei-den Fassungen in der Reihenfolge ihrer Kapitel stark voneinander abwei-chen17. Vom Blickpunkt der lateinischen Überlieferung her ist dies umso

17 Für eine Konkordanz der Vulgata- und Studitafassung mit dem lateinischen RBasRuf-Text vgl. Basili Regula (wie Anm. 3), XXX-XXXII.

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114 Klaus und Michaela Zelzer

überraschender, als weit verbreitete lateinische Texte so gut wie immermehrere, mehr oder weniger reinlich zu scheidende Textstränge (und derenKontaminationen) aufweisen. Dazu kommt, daß an einigen wenigen Stel-len, an denen die lateinische Übersetzung in jeweils komplizierterer, aberso gut wie einhellig überlieferter Textform als mißglückt oder durch früheFehler stark entstellt erscheint, allein der griechische Wortlaut verständli-chen Sinn bewahrt und daher im Apparat zitiert wird.

So viel zu diesem lateinischen Text griechischer Herkunft, dessen erstekritische Edition 1986 im Wiener Corpus erschien und der somit eingewisses Bindeglied zwischen unseren beiden Kommissionen darstellenkann.

II.

Als Gegenstück dazu nur wenige Worte zu unserer Neubestimmung derTextgeschichte der Regel des Benedikt von Nursia gegenüber den letztenEditionen des CSEL und der SC, die diese nur unzureichend darstellen18.Von dieser Regel sind ungleich mehr Zeugen erhalten als von der desBasilius, jedoch nur ein einziger aus vorkarolingischer Zeit (was auch mitder intensiveren praktischen Verwendung dieser Regel zusammenhängt).Wir versuchen, es kurz zu machen, und müssen dazu stark vereinfachen19.

Nach der vor etwa hundert Jahren erschienenen „Textgeschichte derRegula S. Benedicti“ von Ludwig Traube sei bald nach der Entstehung desursprünglichen Regeltextes, der trotz einer Reihe sprachlicher Verwil-derungen traditionell als „rein“, d.h. als unverfälscht, bezeichnet wird, vonSimplicius, dem zweiten Nachfolger Benedikts auf Monte Cassino, nachspäteren Regelforschern in Rom am Lateran, eine etwas veränderte Rezen-sion verfertigt worden, gekennzeichnet durch eine Verkürzung des Prologsund gewisse korrigierende Glättungen. Diese sogenannte „interpolierte“Rezension, vertreten durch den heute in Oxford liegenden ältesten erhal-

18 Benedicti Regula, ed. R. Hanslik, CSEL 75, Wien 21977; La Règle de s. Benoît, edd. A.de Vogüé/J. Neufville, 1-6, SC 181-186, Paris 1971/72; 7, Paris 1977.

19 Ausführlicher bei M. Zelzer, Zur Überlieferung der Regula Benedicti im französischenRaum, in: F. Paschke (Hg.), Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen, TU 125,Berlin 1981, 637-645; K. Zelzer, Zur Stellung des Textus Receptus und des interpolier-ten Textes in der Textgeschichte der Regula S. Benedicti, RevBén 88, 1978, 205-246;ders., Von Benedikt zu Hildemar, Zu Textgestalt und Textgeschichte der Regula Benedictiauf ihrem Weg zur Alleingeltung, FMSt 23, 1989, 112-130; ders., Zur Geschichte undÜberlieferung des Textes der Regula Benedicti, Der status quaestionis zu Beginn desdritten Jahrtausends, in: M. Bielawski/D. Hombergen (edd.), Il Monachesimo tra Ereditàe Aperture. Testi e temi nella tradizione del monachesimo cristiano, 50o anniversariodell’Istituto Monastico di Sant’Anselmo, Rome 28 May to 1 June 2002, StAns 136,2003, im Druck; ausführliche Neubearbeitung der Texttradition der RBen bei K. Zelzer,Regulae monachorum, in: La trasmissione dei testi latini del medioevo (Te.Tra), imDruck.

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115Befunde und Probleme lateinischer Tradition

tenen Regelcodex aus dem frühen 8. Jh.20, habe sich in den folgenden etwazweieinhalb Jahrhunderten allein verbreitet. Erst Karl der Große habenach seinem Besuch in Monte Cassino 787 eine Abschrift des angeblichenUrexemplars der Regel, also des sogenannten „reinen“ Textes, anfertigenund später als authentischen Regeltext für die Klöster seines Reiches inAachen auslegen lassen, nach welcher der „interpolierte“ Text mehr oderweniger eingehend korrigiert worden sei. Das Ergebnis dieser karolingi-schen Revision habe dann als „kontaminierter“ Text die gesamte nach-karolingische Überlieferung beherrscht und sich als textus receptus überganz Europa verbreitet. Eine Abschrift des in Aachen ausgelegten Normal-exemplars, daher ein maßgebliches Exemplar des „reinen“ Textes, stelleder von zwei Reichenauer Mönchen hergestellte Sangallensis 914 dar, derseitdem als Grundlage philologisch korrekter Texterstellung gilt.

Damit lag nicht nur über die Textform der drei Traubeschen Text-klassen, sondern auch über Bedingungen und Umstände ihrer Entstehungund Verbreitung vom 6. bis über das 9. Jh. hinaus eine These vor, von dersich die späteren Editoren nicht wirklich lösen konnten, die jedoch einge-hender Aufarbeitung der handschriftlichen Tradition nicht standhielt.

Es zeigte sich vielmehr, daß der nachkarolingische textus receptus, der„kontaminierte Text“ Traubes, eine Reihe von Lesarten enthielt, die wederdem reinen noch dem interpolierten Text entsprachen, daher nicht aufkarolingische Kontamination dieser beiden Texttypen zurückgehen kön-nen, die anderseits aber schon in frühkarolingischen Texten noch vor derab 817 konkret geplanten Textreform zu finden sind, etwa in der ConcordiaRegularum des späteren Reformabtes Benedikt von Aniane und in denMarginalien des erwähnten Sangallensis, die die beiden Reichenauer Mön-che bei der Abschrift des Aachener Normalexemplars zum Vergleich ausanderen Regelexemplaren eintrugen als Lesarten der magistri moderni, wiesie selbst in einem Brief berichteten. Darunter befinden sich sogar Varian-ten aus den im sogenannten „interpolierten Text“ des Oxforder Codex garnicht erhaltenen Schlußsätzen des Prologs. Daraus folgt, daß eine Reihevon Lesarten des nachkarolingischen textus receptus durchaus bereitsvorkarolingischer Entwicklung entstammen mußte.

Dazu kam, daß die Lesarten des textus receptus, des monastischenGebrauchstextes, zu einem guten Teil sprachliche Korrekturen und Glät-tungen zeigen, nicht nur gegenüber dem sogenannten „reinen“ Text desSangallensis, sondern auch gegenüber dem sogenannten „interpolierten“des Oxoniensis, der noch eine Reihe der sprachlichen Auffälligkeiten desursprünglichen Textes bewahrt: Dies spricht deutlich gegen eine in derTextform des Oxoniensis erhaltene bewußt korrigierende Überarbeitung,und für die Entstehung des Gebrauchstextes neuerlich gegen Kontamina-tion des reinen mit dem sogenannten „interpolierten“ Text.

20 Bodleianus Hatton 48, wohl aus Worcester (CLA 2, 240).

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116 Klaus und Michaela Zelzer

Somit erwies sich Traubes auf zu geringer handschriftlicher Basis erstell-tes Modell von reinem, interpoliertem und kontaminiertem Text (gleich-sam als These, Antithese und Synthese) durch weitere Kollationen alsunzutreffend und war durch das einer geradlinigen Entwicklung vomsprachlich anstößigen zum glatteren Text in vor- und nachkarolingischerZeit zu ersetzen. Dadurch sind Traubes Erkenntnisse für den Sangallensisals Vertreter der ältesten erreichbaren Textstufe und Grundlage jederphilologisch-kritischen Edition bestätigt, seine weitergehenden Schlüssezum „interpolierten“ und „kontaminierten“ Text jedoch widerlegt.

Die bei weitem überwiegende Zahl nachkarolingischer Handschriftenläßt nur sehr geringe Wirkung der von Karl dem Großen und Ludwig demFrommen geplanten Textreform erkennen. Viel bedeutender war damalsdie Ablösung der alten Mischregelobservanz durch die der reinen Benedikt-regel, die keineswegs ohne Schwierigkeiten vonstatten ging; dazu kommt,daß die Klöster ihren seit langem gewohnten Regeltext nicht durch einensprachlich schlechteren ersetzen wollten, was übrigens einem Hauptzielder karolingischen Reform unmittelbar widersprochen hätte, der Wieder-herstellung des in merowingischer Zeit im Lande stark verwilderten La-teins. Dies bezeugt auch der umfangreiche spätkarolingische Regelkom-mentar des Hildemar von Corbie, der auf allen Linien der Durchsetzungder klösterlichen Reform dienen sollte, ganz unbefangen aber ständig denvorkarolingischen Gebrauchstext zitiert21.

Der Ursprung des textus receptus lag vielmehr in der Textentwicklungzwischen dem 6. und dem 9. Jh. im irofränkischen Mischregelmönchtum.Das älteste erhaltene Zeugnis des Benedikttextes ist die schriftlich verfaßteNonnenregel des Bischofs Donatus von Besançon, eines Columbanschülers,aus dem zweiten Viertel des 7. Jh., eine Mischregel, die nicht nur Teile derRegeln des Benedikt, des Columban und des Caesarius von Arles verband,sondern diese auch korrekt ins Femininum umsetzte. Hier zeigt sich gegen-über der merowingischen Sprachverwilderung die irische Tendenz zu kor-rektem Latein: Die Regel des Donat enthält bereits eine Reihe von Lesartendes angeblich erst karolingisch entstandenen Gebrauchstextes, bezeugtalso den frühen Beginn einer Entwicklung, die die gröbsten Anstöße desalten Benedikttextes langsam beseitigte und in einer langen, von der karo-lingischen Reform kaum unterbrochenen Entwicklung auch nachkaro-lingisch noch eigene Lesarten ausbildete22.

Die dem ursprünglichen, sprachlich auffälligen Text noch viel näherstehende Textform des Oxoniensis vertritt dagegen keine bewußte „Inter-

21 Vgl. K. Zelzer, Von Benedikt zu Hildemar (wie Anm. 19), 127-129; ders., Überlegungenzu einer Gesamtedition des frühnachkarolingischen Kommentars zur Regula S. Benedictiaus der Tradition des Hildemar von Corbie, RevBén 91, 1981, 373-382.

22 Vgl. M. Zelzer, Die Regula Donati, der älteste Textzeuge der Regula Benedicti, RBS 16,1987 (1989), 23-36; dies., Die Regula Donati als frühestes Zeugnis des ‚monastischenGebrauchstextes‘ der Regula Benedicti, in: Bielawski/Hombergen, Il Monachesimo (wieAnm. 19), im Druck.

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117Befunde und Probleme lateinischer Tradition

polation“, sondern wohl eine früh nach England gelangte Abspaltung desalten, als „römisch“ geltenden Regeltextes, die sehr früh den Schluß desPrologs verloren hatte, dann aber in der eher konservativen angelsächsi-schen Tradition treuer bewahrt wurde als im fränkischen Bereich. Nichtzufällig ist wohl gerade in England der älteste Zeuge des Benedikttexteserhalten, dürfte doch von dort auch die reine Benediktobservanz insFrankenreich gelangt sein als ein wesentlicher Bestandteil der ReformenKarls des Großen und Ludwigs des Frommen. Kaum zufällig erscheintauch, daß der Gründerabt des berühmten Doppelklosters Wearmouth undJarrow, der northumbrische Adelige Biscop Baducing, in der zweiten Hälftedes 7. Jh. den Namen Benedikt annahm: Dieser Name war für ihn wohlebenso ein Programm wie später für den Reformabt Benedikt von Aniane;und tatsächlich ist weder für England ein Zeugnis der irofränkischenMischregel bekannt noch für Irland eines der Regel des Benedikt23.

Es mag Sie verwundern, daß hier kein Wort über Quellentexte der RBengefallen ist, über die in mancher Hinsicht textlich problematische RegulaMagistri ebensowenig wie über ihre sprachlich auffälligste Partie, dieliturgische Ordnung. Quellenfragen spielen für die Aufarbeitung der Über-lieferung der RBen jedoch insofern keine Rolle, als sie in allen erhaltenenHandschriften ausnahmslos als einheitlicher Text erscheint.

III.

Ein kurzes Wort noch zu einem Textcorpus, dessen Edition seinerzeit hierim Hause betreut wurde, zu den apokryphen lateinischen Thomasakten.Ihre beiden lateinischen Fassungen sind, soweit uns bekannt, einer derwenigen Texte, wenn nicht der einzige, der seinerzeit unter dem Schemades sogenannten Altaner-Planes zur Herausgabe alter lateinischer Bearbei-tungen griechisch-christlicher Schriften in der Reihe der TU erschien24.

Das verlorene Original dieser Legende von Missionsreise und Märtyrer-tod des Apostels Thomas in Indien mit stark enkratitischen Zügen ist wohlim frühen 3. Jh. in syrischer Sprache entstanden. Eine in zwei Redaktionenerhaltene griechische Version gliedert sich in mehrere Einzelepisoden undeine zusammenhängende Handlung, die zum Martyrium führt, mehrereihrer Predigten, liturgischen und hymnischen Einlagen wurden als gnosti-sche Texte bekannt. Die beiden stark unterschiedlichen lateinischen Fas-sungen lassen in Anpassung an westlich-römisches Verständnis allzu wun-

23 Vgl. etwa K. Zelzer, Zur Frage der Observanz des Benedict Biscop, in: E. Livingstone(ed.), Papers presented to the 10th International Conference on Patristic Studies held inOxford 1987, StPatr 19, Leuven 1989, 323-329.

24 Die alten lateinischen Thomasakten, ed. K. Zelzer, TU 122, Berlin 1977; vgl. K. Zelzer,Acta Apostolorum Apocrypha: Acta Thomae. Virtutes Apostolorum (sog. Ps.-Abdias),in: HLL 4 (wie Anm. 2), § 470.8 (5. 7).

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118 Klaus und Michaela Zelzer

derliche Elemente und viele der Einlagen beiseite, den enkratitischen Grund-zug jedoch unangetastet. Die längeren Miracula stehen trotz der angedeu-teten Kürzungen dem Ablauf der griechischen Vorlage nahe, die kürzerePassio übernimmt daraus nur drei Handlungsgruppen, die sie stark verän-dert und durch neue Elemente ergänzt: etwa durch eine Palastbeschreibungnach dem Vorbild des Palatins in Rom, durch eine Trinitätslehre und durcheine Opferszene im Sonnentempel, in welcher der im Götzenbild wohnendeDämon dieses auf Geheiß des Apostels zerschmelzen läßt. Diese Szene,deren literarische und religiöse Herkunft nicht geklärt ist, führt in Verbin-dung mit der auffälligen Straffung der Handlung konsequent zum Märty-rertod des Apostels und damit zu einem neuen, früheren, dramatischwirksameren Schluß.

Datierung und Beziehung der beiden lateinischen Texte zueinander sindproblemreich. In den der griechischen Fassung näherstehenden Miraculawird der Apostel in der auch dort erscheinenden Sonnentempelszene vomPriester des Tempels nur niedergeschlagen, offensichtlich um nach dieserEinlage die Handlung weitergehen zu lassen. Wann und woher diese Szenein die Miracula oder in eine ihrer Vorlagen eingefügt wurde, ist nichtbekannt; es gibt jedenfalls keinen Hinweis auf eine (lateinische) Versionohne diese Szene. Zur Datierung der lateinischen Fassungen könntenTrinitätslehre, Sonnentempelszene und dreifacher ablehnender Bezug desAugustinus auf ein im ersten Kapitel berichtetes Strafwunder des Apostelsauf das spätere 4. Jh. verweisen.

Deutlich wird an diesem Textcorpus, wie weit sich lateinische Bearbei-tungen von griechischen Vorlagetexten entfernen konnten, hier wohl einer-seits deshalb, weil viele Motive der östlichen Vorlage der westlich-lateini-schen Mentalität nicht entsprachen, anderseits, weil die etwas langatmigeVorlage gleichsam zu dramatisch wirksamerer Kürzung einlud. Von Inter-esse ist aber auch das verschiedene Überlieferungsschicksal der beidenlateinischen Texte selbst: Die vor allem im italischen Raum reichlichüberlieferte Passio bietet ab dem späten 8. Jh. das Bild einer sich ständigweiter ausbreitenden, stark kontaminierten Tradition, die bis in hoch-mittelalterliche Sammlungen führt, etwa in das Magnum LegendariumAustriacum oder die Legenda Aurea, wogegen die ursprünglich in Italiennicht vertretenen Miracula in ihren frühesten Zeugen innerhalb der soge-nannten Abdias-Sammlung apokrypher Aposteltexte erscheinen. DerenHandschriften zeigen für das 9. und 10. Jh. zwei jeweils durch Sprachform,Kontext und geographische Verbreitung deutlich geschiedene Traditionen:eine sprachlich eher verwilderte gallofränkische und eine wohl im südwest-deutschen Raum beheimatete Linie, die den Text wesentlich besser be-wahrte, deren Hauptzeugen heute in Dublin, Wolfenbüttel und Wienliegen. Auf Grund der sprachlichen Unterschiede der beiden Gruppenkönnte man für die sogenannte Abdias-Sammlung eher irische als gallo-fränkische Herkunft vermuten, jedoch stehen nähere Untersuchungen dazunoch aus.

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119Befunde und Probleme lateinischer Tradition

IV.

Ein weiteres instruktives Beispiel zum Thema dieses Symposions bietet dieEdition der Briefe des Bischofs Ambrosius im CSEL, erschienen in vierBänden zwischen 1968 und 1996, dreihundert Jahre nach dem Erscheinender in PL 16 abgedruckten Edition der Mauriner aus dem Jahre 1690. Dadie Mauriner die Schriften des Ambrosius, anders als die des Augustinus,mit wenig Verständnis und geringer Sorgfalt edierten, unterscheidet sichder neue Text wesentlich von dem bisher gebräuchlichen25.

Drei Punkte seien kurz herausgegriffen:(1.) Die Aufarbeitung des handschriftlichen Materials bedingte die Ein-

führung einer neuen Zählung; eine solche war zu Beginn zwar unbequemund verwirrend, aber unverzichtbar. Der Großteil der Ambrosius-Briefe istin einer bestimmten, nicht chronologischen Anordnung in zehn Büchernüberliefert, nach dem Vorbild des jüngeren Plinius, den Ambrosius aller-dings nach altem Brauch weder nennt noch als sprachliches Muster ver-wendet (für das Briefgenos war dies Cicero). Ambrosius stellte neun Bü-cher „Freundschaftsbriefe“ zusammen, gestaltet nach dem auch von Pliniusbeachteten Prinzip der variatio, ebenso ein zehntes Buch „politischer“Briefe. Am vernünftigsten erscheint vorläufig noch eine doppelte Zählung,die (allmählich angenommene) neue und in Klammer die alte; auch dieneue zählt allerdings infolge einer größeren Textlücke nur Briefe, nichtBücher.

Bereits Georg Cribellus, der Bearbeiter des Erstdruckes (Mailand 1490),stellte aus sachlichen Gründen einzelne Briefe um, bewahrte aber noch dieGliederung in zehn Bücher. Erst zweihundert Jahre später versuchten dieMauriner eine chronologische Anordnung, wofür es, wie noch zu zeigensein wird, allerdings kaum Anhaltspunkte gibt.

Für eine Umstellung sprachen seinerzeit mehrere Gründe: (a) der Ver-lust von mehr als einem Briefbuch – es fehlt das Ende des zweiten, dasganze dritte und der Anfang des vierten Buches –, (b) einige außerhalb derSammlung erhaltene Briefe, vorwiegend zu kirchenpolitischen Fragen, dieerst nach dem Tod des Ambrosius aus dem Mailänder Kirchenarchivpubliziert wurden, und (c) die zugegeben etwas seltsame Anordnung derBriefe in der Sammlung. Der Versuch einer chronologischen Reihung ließallerdings den Widmungsbrief der Sammlung an die siebente Stelle gelan-

25 Sancti Ambrosi Opera: Epistulae et Acta, I: Epistularum libri I-VI, ed. O. Faller, CSEL82/1, Wien 1968; II: Epistularum libri VII-VIIII et Prolegomena, ed. M. Zelzer, CSEL82/2, Wien 1990; III: Epistularum liber decimus, Epistulae extra collectionem, Gestaconcili Aquileiensis, ed. M. Zelzer, CSEL 82/3, Wien 1982; IV: Indices et Addenda, ed.M. Zelzer, CSEL 82/4, Wien 1996; vgl. (u.a.) M. Zelzer, Mittelalterliche ‚Editionen‘ derKorrespondenz des Ambrosius als Schlüssel zur Überlieferung der Briefbücher, WSt 96,1983, 160-180; K. u. M. Zelzer, ‚Retractationes‘ zu Brief und Briefgenos bei Plinius,Ambrosius und Sidonius Apollinaris, in: Alvarium, Festschrift Chr. Gnilka, JbAC.E 33,Münster 2002, 393-405.

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120 Klaus und Michaela Zelzer

gen und damit die von Ambrosius verfolgte kompositorische Absicht nichtmehr erkennen. Seine etwas skurrile Anordnung führte in hochmittel-alterlichen Handschriften auch zu mancher Änderung von Adressaten, diesich bis in die Edition der Mauriner gehalten hat.

Die sorgfältige Aufarbeitung der Handschriften trug auch zur Lösung derviel behandelten Frage bei, ob der berühmte Bußbrief an Kaiser Theodosiusden Zeitgenossen bekannt war oder nicht; Ambrosius versicherte darin demKaiser ausdrücklich: postremo scribo quod solus legas. Es ergab sich, daßdieser Brief erst im 9. Jh. aus dem Mailänder Archiv veröffentlicht wurde,sein Wortlaut, und damit die Art und Weise, wie der Bischof den Kaiser zuseiner Kirchenbuße bewogen hatte, also vorher nicht bekannt war. Daherentwickelten sich schon früh verschiedene Versionen; weite Verbreitung bisin unsere Tage fand die phantasievolle Ausschmückung des Theodoret inseiner Kirchengeschichte etwa fünfzig Jahre nach dem Ereignis, die durchdie Übersetzung Cassiodors auch in den Westen kam26.

Daraus ergab sich (2.) eine wesentliche Erkenntnis: Ambrosius hat dieBriefe vor der Publikation überarbeitet. Den Beweis dafür lieferte ein indoppelter Fassung erhaltener Brief an Kaiser Theodosius über dessen Ver-fügung zum Wiederaufbau der zerstörten Synagoge von Kallinikum: Einegeänderte, um wenige Sätze erweiterte Fassung findet sich im zehntenBriefbuch, der Originalwortlaut unter den Briefen extra collectionem. Dortfindet sich dieses Schreiben als Beilage zu einem Brief an seine SchwesterMarcellina, der die Predigt wiedergibt, die der Bischof vor Theodosius inder Kirche hielt, als der an ihn gesandte Brief nicht die gewünschte Wir-kung erzielt hatte. Anschließend schildert Ambrosius seiner Schwester, wieer hartnäckig letztlich doch erreichte, was er angestrebt hatte: die vollstän-dige Rücknahme des kaiserlichen Befehls27.

Nach dieser Auseinandersetzung in der Kirche kühlte sich das Verhält-nis zum Kaiser bis zu dessen Kirchenbuße merklich ab, Theodosius war mitRecht verstimmt und erließ den Befehl, die Beschlüsse des Konsistoriumsin Zukunft vor Ambrosius geheimzuhalten. Da sich dieser bewußt war, indieser Angelegenheit zu weit gegangen zu sein, nahm er den Brief an seineSchwester nicht in die nach dem Tod des Theodosius gestaltete Brief-sammlung auf – war doch das Verhältnis zum Kaiser nach der Kirchenbu-ße ein sehr gutes –, gestaltete außerdem das an den Kaiser gerichteteSchreiben für die Aufnahme ins zehnte Briefbuch etwas verbindlicher undfügte dem Brief einige Sätze hinzu, in denen er nur androhte, was tatsäch-lich geschehen war: Ego certe quod honorificentius fieri potuit feci, ut memagis audires in regia, ne si necesse esset audires in ecclesia28.

26 Ambr. ep. extra coll. 11 (Maur. 51), 14; Thdt., h.e. 5,17f.; Cassiod., h.e. 9,30,5-22; dazuM. Zelzer, CSEL 82/3, CX-CXI.

27 Die überarbeitete Fassung findet sich in ep. 74 (Maur. 40), die Originalfassung alsBeilage zu ep. extra coll. 1 (Maur. 41).

28 Ep. 74,33; vgl. M. Zelzer, CSEL 82/3, XXIf.

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121Befunde und Probleme lateinischer Tradition

Nur die sorgfältige Aufarbeitung der Überlieferung konnte auf dieseDoppelfassung führen, in einer Erkenntnis, die Wesentliches beitrug zurBeurteilung des Quellenwertes der ambrosianischen Briefe: Nur die 15extra collectionem erhaltenen Briefe sind so bewahrt, wie sie der Bischofversandt hatte, die anderen sind für die Publikation bearbeitet, im Hinblickauf die Absicht, die Ambrosius mit der Briefsammlung verfolgte: Sie solltesein ganzes Wirken als Bischof aufzeigen, nicht aber als Politiker, als derer zumindest zeitweise tatsächlich tätig war. Die Briefsammlung mußsomit als sein Testament gesehen werden. Mit dem kirchenpolitischenBuch wollte er vor allem den Nachfolgern des Theodosius zeigen, daß dasgute Verhältnis von Kirche und Staat, wie es nach der Kirchenbuße desKaisers herrschte, nur dann bestehen kann, wenn die Kirche vom Staatzwar Hilfe erhält, etwa im Kampf gegen Heidentum und Irrlehren, gegen-über der Staatsgewalt jedoch autonom bleibt. Daher betont er auch in demins zehnte Buch aufgenommenen Brief an Kaiser Valentinian, daß sich einBischof in Glaubensfragen niemals einem Kaiser beugen werde, ein bisdahin unerhörter Grundsatz.

Der Brief an Valentinian ist ein rhetorisches Meisterwerk; wieweit er fürdie Publikation bearbeitet wurde, wissen wir allerdings nicht. Er zählt zuden drei ins zehnte Buch aufgenommenen Dokumenten zum berühmtenKirchenstreit des Jahres 386; beigegeben ist die lange Predigt des Palm-sonntags und angeschlossen wieder ein Schreiben an Marcellina mit derSchilderung der darauf folgenden Ereignisse. Ambrosius hatte sich im Jahr386 hartnäckig dem Wunsch des Kaiserhauses um Abtretung einer Kirchean die Arianer widersetzt und letztlich gegen Ende der Karwoche einenglänzenden Sieg davongetragen29.

Die in den drei erwähnten Dokumenten geschilderten Ereignisse lassensich jedoch nicht ganz in Einklang bringen, was die moderne Ambrosius-forschung dazu veranlaßte, die Predigt trotz ihres eindeutigen Bezugs aufden Palmsonntag einem anderen Zeitpunkt zuzuweisen, entweder einigeZeit vorher oder nachher. Eine einfachere Erklärung liefert die Erkenntnis,daß diese Dokumente für die Publikation bearbeitet sind; der Bischof hatdabei so manches verschleiert, hat vor allem aktuelle politische Bezügegestrichen, wodurch sich der Verlauf der Ereignisse des Jahres 386 nichtmehr im Einzelnen nachvollziehen läßt. Das zehnte Briefbuch darf somitnicht unmittelbar als ein historisches Dokument gesehen werden.

In den neun Büchern mit Freundschaftsbriefen hielt sich Ambrosiusstreng an die Regeln der griechischen Brieftheorie und ließ alles Persönlicheund politisch Aktuelle beiseite, was wir heute sehr bedauern; so findet sich

29 Epp. 75. 75a. 76 (Maur. 21. 21a. 20), vgl. M. Zelzer, Zur Chronologie der Werke desAmbrosius. Überblick über die Forschung von 1974 bis 1997, in: L.F. Pizzolato/M.Rizzi (edd.), Nec timeo mori. Atti del Congresso internazionale di studi ambrosiani nelXVI centenario della morte di sant’Ambrogio, Milano 1997, Milano 1998, (73-92) 81f.mit Anm. 48.

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122 Klaus und Michaela Zelzer

in dem Brief an Kaiser Theodosius zum Begräbnis des Kaisers Valentinianam Ende nur der Hinweis mandatum tuum servo et commendo domino30.Der Bischof dürfte damals eine bedeutende politische Rolle gespielt haben,wie etwa aus seiner Totenrede auf Valentinian hervorgeht.

Die Bedeutung sorgfältiger Aufarbeitung auch für die Texterstellungsoll zuletzt (also 3.) an einem Beispiel gezeigt werden. In dem ebenerwähnten Brief an seine Schwester schildert der Bischof, wie ihn dasKaiserhaus zur Abtretung einer Kirche an die Arianer drängte; in derEdition der Mauriner liest man: convenerunt me primo principes virtutumviri comites consistoriani, allerdings auch den Vermerk, in den meistenHandschriften sei principes virtutum ausgelassen; unter den von Fallerursprünglich für die Edition ausgewählten Handschriften fand sich dieseWendung auch nur in zwei voneinander abweichenden Zeugen des 12.bzw. 15. Jh. Bei der Suche nach dieser nicht vertrauten, auch in Lexikanirgends belegten vermuteten Amtsbezeichnung fanden sich zwei vonFaller nicht berücksichtigte Mailänder Codices, die zu convenerunt meprimo viri comites consistoriani am Rand die Variante al. principesvirtutum boten. Diese Variante ließ vermuten, daß der Korrektor beiderHandschriften in einem anderen Überlieferungszweig für primo viri dieLesart principes virtutum gefunden hatte. Tatsächlich fand sich durchZufall die Lösung in einem Codex des 9. Jh. in Vercelli, der unter demTitel De rebus gestis in ecclesia Mediolanensi nur die drei Stücke zumKirchenstreit enthält. Diese Auswahlhandschrift bietet einen stark zer-lesenen Text (typisch für Sondertraditionen; sobald ein Textteil aus demZusammenhang gerissen war, verwilderte er meistens); aus der etwasfehlerhaften Wendung primo viri war dort principes virtutum geworden(zu korrigieren in primo viri illustres, ein bei Annahme der Kürzung V. I.leicht erklärbarer Fehler)31.

Die beiden Mailänder Handschriften mit dem Randvermerk al. principesvirtutum sind etwa gleichzeitig an demselben Ort (S. Tecla) im 11. Jh.entstanden, gehören aber zwei verschiedenen Traditionslinien an. An derWende zum 12. Jh. verglich ein Gelehrter beide Handschriften miteinanderund übertrug auffällige Lesarten jeweils der einen in die andere und zusätz-lich auffällige Varianten der erwähnten Sondertradition in beide. Diesebeiden dienten dann im 12. Jh. vor allem in Mailand als Grundlage fürintensive Beschäftigung mit den Ambrosiusbriefen. Damals erstellte einCustos von S. Ambrogio durch Auswahl von Lesarten dieser beiden unter-schiedlichen Handschriften eine „Edition“; auf dieser beruhte der in Mai-land erschienene Erstdruck, den J. Amerbach für die erste Gesamtausgabe

30 Ep. 25 (Maur. 53), 6.31 Ep. 76 (Maur. 20), 2. – Die erwähnte Variante findet sich in den Ambrosiani I 71 sup.

und B 54 inf. des 11. Jh., die drei Dokumente zum Kirchenstreit im Vercellensis 103 ausdem Ende des 9. Jh.

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123Befunde und Probleme lateinischer Tradition

des Ambrosius, Basel 1492, verwendete: So erhielt sich die Doppellesartprimo principes virtutum viri bis in den Maurinertext32.

Daraus ergeben sich zwei beachtenswerte Konsequenzen.Erstens: Die ab der Wende zum 12. Jh. einsetzende rege Verbesserungs-

tätigkeit an Kirchenvätertexten beruht nicht so sehr auf selbständigerKorrektur, sondern in wesentlich größerem Umfang als bisher angenom-men auf Vergleich mit anderen, vielfach heute nicht mehr erhaltenenHandschriften. Im Fall der Ambrosiusbriefe haben sich die in Mailandverwendeten Textformen erhalten, ein in Nordfrankreich zur Korrekturherangezogener Codex ist dagegen verschollen.

Zweitens: Für die Erstellung einer textkritischen Edition sind zur Klä-rung der Überlieferungsverhältnisse zunächst alle handschriftlichen Zeu-gen bis ins 12. Jh. aufzuarbeiten; das konnte Faller nicht mehr leisten, derhochbetagt 1968 die ersten sechs Briefbücher ohne Einleitung heraus-brachte. Die rege Kontaminations- und Korrekturtätigkeit geht jedoch amdeutlichsten aus dem zehnten Briefbuch hervor, das seines kirchenpoli-tischen Inhalts wegen am meisten Beachtung fand. Fallers (nicht immerglückliche) Handschriftenauswahl wurde von Richard Klein übernommenin seine doppelsprachige Ausgabe der Dokumente zum Streit um denVictoriaaltar, Dokumente, die sich im zehnten Briefbuch bzw. unter denBriefen extra collectionem finden. Aus Unterlagen, die er sich von Fallergeholt hatte, verfaßte Klein die erste „Überlieferungsgeschichte“ der ambro-sianischen Briefe, die jedoch aus mehreren Gründen verfehlt ist33.

Zur Regula Basili und zu den Thomasakten spielen die späteren Codices,wie wir gesehen haben, mit ihrem jeweils stark zerlesenen Text keine Rollemehr. Bei Ambrosius ergaben sich aus zwei Handschriften des 11. Jh.wesentliche Erkenntnisse zur Überlieferung und Textgestaltung; für man-che patristische Werke setzt die Überlieferung überhaupt erst im 11. Jh.oder noch später ein34. Anders ist die Lage bei einem neueren großenProjekt der Wiener Kirchenväterkommission, der Edition der augusti-nischen Enarrationes in psalmos. Obwohl die Überlieferung des erstenTeils bereits um 700 einsetzt, führt dort nur ein einziger Codex des 11. Jh.auf die ursprüngliche Form der Auslegung der Psalmen 15-3235. Doch diesist bereits eine andere Geschichte.

32 Vgl. M. Zelzer, Mittelalterliche ‚Editionstätigkeit‘, ein Schlüssel zur Überlieferung latei-nischer patristischer Texte, in: A. Primmer/K. Smolak/D. Weber (edd.), Textsorten undTextkritik, Tagungsbeiträge, ÖAW.PH 693, Wien 2002, (243-256) 252f.

33 R. Klein, Der Streit um den Victoriaaltar, Stuttgart 1972, TzF, 76-93; dazu M. Zelzer,Mittelalterliche ‚Editionen‘ der Korrespondenz des Ambrosius als Schlüssel zur Überlie-ferung der Briefbücher, WSt 96, 1983, (160-180) 163-165.177-180.

34 Etwa für die Bücher 4-6 des Opus imperfectum des Augustinus (ed. M. Zelzer, CSEL 85/2, Wien 2004) erst mit Handschriften des ausgehenden 12. Jh.

35 Paris. lat. 1983, und auch nur zu Pss. 15-18; vgl. C. Weidmann, Zur Struktur derEnarrationes in Psalmos, in: Primmer, Textsorten (wie Anm. 32), (105-124) 120-124;Augustinus, Enarrationes in Psalmos 1-32, ed. C. Weidmann, CSEL 93/1A, Wien 2003.Bereits erschienen sind auch die Auslegungen der Psalmen 119-140, ed. F. Gori, CSEL95/3.4, Wien 2001/2002.

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124 Klaus und Michaela Zelzer

ABSTRACT

On the occasion of the jubilee of the GCS, also its Latin counterpart, the CSEL,organised by the Austrian Academy of Sciences since 1864, has been invited to give ashort account on characteristics and problems of Latin Christian text tradition. So itis a great honour for both of us to present, out of our personal work, some examplesof this tradition, being sometimes analogous, sometimes different from Greek tradi-tions worked on by the editors of the GCS series.

To begin with, just a few words on the Latin version of St Basil’s Ascetic Rules,represented by the so-called ‘Parvum Asceticum’, the original (and shorter) version ofthe more expanded ‘Regulae brevius et fusius tractatae’, published in PG 31. While thelarger version has been preserved in its original Greek text, its earlier form has survivedonly by its Syriac and Latin versions, the latter done by Rufinus of Aquileia in the year396 on demand of an unknown abbot of a monastery somewhere on the coastline ofSouthern Italy (RBasRuf; first critical edition by K. Zelzer, CSEL 86, Vienna 1986).Therefore this text is of interest for scholars both working on St Basil’s monasticwritings, as witness of the lost Greek original, and those concerned with early westernmonastic tradition, for the RBasRuf was the earliest form of monastic regulationswritten in Latin, and later was recommended, together with the works of John Cassian,by St Benedict to his monks as textbook for spiritual studies. Unlike St Benedict’s Rule,it has come down to us also by some four to five precarolingian manuscripts from Italy,Spain (?) and Corbie from the 6th century to around 700; ten more manuscripts of the9th and 10th centuries preserve texts from Lérins, from the Frankish empire and fromwisigothic Spain. Since all of those already follow their own textual traditions, some-times also a look into the Greek text of PG 31 was helpful to find out the (supposed)original Latin variant. Those early textual differences and some fragments and quota-tions within historical documents from the early 6th century onwards (e.g. Vita PatrumIurensium 174) show that the RBasRuf must already have spread widely in earlywestern monastic times.

Next to St Basil’s Rule we were concerned with the textual tradition of St Benedict’sRule, edited by Rudolf Hanslik (CSEL 75, Vienna 21977) and by Adalbert de Vogüé– Jean Neufville (SC 181-186, Paris 1971/72; the latter responsible for the section ontextual tradition). Unlike the RBasRuf, St Benedict’s Rule is preserved by far moremanuscripts, but only by a single precarolingic one: by Oxford, Bodl. Hatton 48, ofthe 8th century, most probably written at Worcester. To tell a long story in a few words:Traube’s traditional hypothesis of ‘pure’ (original, but kept close at Monte Cassino),‘interpolated’ (worked over in late 6th century Rome and alone propagated in pre-carolingian times, represented by the Oxford codex) and ‘contaminated’ texts (‘inter-polated’ text corrected to a copy of the ‘pure’ text only in carolingian times), basicallytaken over by the editors of both modern editions, had to be revised, by the actualevidence of the manuscript tradition, towards a more ‘natural’ view of the textualtradition: the so-called ‘interpolated’ text, still much nearer to the ‘pure’ one (andbetter preserved in Britain than in the Frankish regions), turned out to have been onlyan early branch of the precarolingian development, and the so-called ‘contaminated’text, presenting a lot of variants not at all extant in the ‘pure’ nor the ‘interpolated’texts (which Traube and his followers obviously were not willing to realise), clearlyappeared as the result of a more or less continuous development of the text duringMerowingian times on the Continent, which continued into the following centuries andspread out all over Europe with the Normans.

A still different picture of both literary and textual problems is shown by the twoLatin versions of the Apocryphal Acts of the apostle Thomas as a first missionary ofIndia (edited by K. Zelzer in TU 122, Berlin 1977): the longer Miracula Sancti Thomaeapostoli, following the Greek (most probably originally Syriac) model text much

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125Befunde und Probleme lateinischer Tradition

closer, and the shorter Passio Sancti Thomae apostoli, concentrating the whole storyinto three groups of adventures leading to a much earlier end. Still to be solved is theproblem of the ‘scene at the temple of the sun’, which brings the Passio to its earlierend: it not only does not occur within the Greek text, but appears also as having beeninserted into the Miracula version (but without bringing the apostle to death immedi-ately, and without a single witness of a ‘non contaminated’ form of the latter). Thereis also a remarkable difference regarding their textual tradition: While the Passiospread out richly over the Latin parts of Europe including Italy, from late 8th centuryonwards down to medieval collections (e.g. the Legenda Aurea and the MagnumLegendarium Austriacum), the Miracula, not attested at all in Italy in earlier times,appear within a collection of apocryphal acts of apostles known as the ‘Abdiascollection’. Its oldest manuscripts, of the 9th and 10th centuries, stand for two differenttraditions: a Gallo-Frankish group showing the characteristic signs of Merowingiantextual corruption, and a group coming probably from the south-west of Germany,preserving a much better Latin text. Therefore one could think of Irish rather thanGallo-Frankish origin of the ‘Abdias collection’, but there is still some work to be done.

Last not least there is the new critical edition of St Ambrose’s Letters (CSEL 82/1, ed. O. Faller, 82/2-4, ed. Michaela Zelzer, Vienna 1968-96). This edition restoredthe original sequence of the Milan bishop’s letters, following the overwhelming major-ity of manuscripts, and introduced a new numeration: for St Ambrose imitated theyounger Pliny, composing nine books of ‘private’ letters and one of ‘official’ ones(which fact, however, was hidden by the loss of more than one book in early times ofthe tradition), but without citing him by name nor imitating his style or language. Sothe dedicatory letter, to a certain Iustus, which appeared only at number 7 within theMaurines’ edition of 1690 (who tried to establish a chronological order, not possibleat all), has been given its original first place. The restored original sequence provedhelpful also for the solution of some long-disputed problems: it not only showed thatAmbrose’s ‘letter on penitence’ written to emperor Theodosius had been publishedonly as late as the 9th century from the Milan archives, but also that the Milan bishopdid carefully reconsider his letters before publication: the letter on the destroyedsynagogue of Kallinikum is presented by its official version (adding a few obligingphrases) within book 10, its original version being only an addition to one of the lettersto Ambrose’s sister Marcellina within the fifteen letters ‘extra collectionem’, notpublished by the bishop himself. So it occurs that only those fifteen letters preserve StAmbrose’s original wording, all others having been reconsidered for their publication,documenting his activity as a bishop, not as a politician (a business which at leastsometimes he was involved in, but deliberately did not leave any records of). Book 10,containing, between other topics, some records of the conflicts of 386, but in a slightlyaltered form, appears to be his political rather than spiritual testament (which he leftby books 1 to 9): it should advise the successors of emperor Theodosius to grant thechurch their assistance against pagans and heretics, as well as its autonomy against thepower of the state, but certainly it is not a plainly historical document. Nor were thefirst nine books: leaving beside all details of personal and politic circumstances, StAmbrose shaped them to the principle of variatio following the Greek theory ofcomposing private letters.

Besides those results concerning the literary character of St Ambrose’s letters there-evaluation of manuscripts, largely done for vols. CSEL 82/2 and 3, brought forwardsome remarkable results referring to both tradition and constitution of the text. As toits tradition, two Milanese manuscripts of the 11th century, neglected by Faller, turnedout to represent two different sources of a 12th century edition, done by a custodianof St Ambrose’s church, who combined their variants with those of another traditionrepresented by an eclectic manuscript of Vercelli, of the 9th century. This medieval‘edition’, by the way of the first printed edition of St Ambrose’s letters at Milan,

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126 Klaus und Michaela Zelzer

eventually was taken over by Amerbach for his edition of 1492. As to the constitutionof the text, this result, e.g., helped to trace back to its roots the erroneous variant primoprincipes virtutum viri, in one of the letters to Marcellina, and to correct it to primoviri illustres. So the most necessary re-evaluation of manuscripts demonstrated clearlythat the emendations of Latin Christian texts, done from the early 12th centuryonwards, to a much greater amount were based not upon personal corrections, butrather upon collations of other manuscripts, often not preserved to present times.Therefore, preparing a critical edition of a Latin father’s text, one should control allmanuscripts including those of the 12th century; especially in the case of St Ambrose,whose local tradition was very much alive in Milan during the 11th and 12th centuries.

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