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[Beginn Seite 83] Ulrich Steinmüller Begriffsbildung und Zweitsprachenerwerb Ein Argument für den muttersprachlichen Unterricht In: Helmut Essinger/Achim Hellmich/Gerd Hoff (Hrsg.), Ausländerkinder im Konflikt. Zur interkulturellen Arbeit in Schule und Gemeinwesen. Athenäum, Königstein/Ts. 1981, S. 83- 97 Seit einiger Zeit wird mit immer stärkerem Nachdruck das Recht ausländischer Kinder in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin auf ihre Muttersprache gefordert mit dem Ziel der Gleichberechtigung dieser Muttersprache mit der deutschen Sprache. Ausländische Eltern, Gewerkschaften, engagierte Lehrer und Wissenschaftler postulieren das Recht der ausländischen Schüler auf einen Unterricht in ihrer Muttersprache und auf deren angemessene Berücksichtigung in der deutschen Schule. So richtet z.B. die GEW Berlin die Forderung an den Berliner Senat, ausländischen Kindern das Recht auf ihre eigene Muttersprache nicht zu verweigern, und verlangt für diese Kinder eine bilinguale Erziehung, bei der die Muttersprache gleichberechtigt neben der deutschen Sprache stehen soll. Diese Forderungen werden häufig mit politischen Argumenten gestützt und mit politischen Mitteln verfolgt. Entsprechend sind die Reaktionen der verantwortlichen Instanzen ebenfalls politisch. So ist die Bundesregierung bereits vor einigen Jahren die Verpflichtung eingegangen, den Kindern ausländischer Arbeiter an deutschen Schulen Unterrichtsangebote in der jeweiligen Muttersprache zu machen, als sie sich auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften für den Erlaß der "Richtlinie des Rates über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern vom 25. Juli 1977" einsetzte. Die Einlösung dieser Verpflichtung und ihre Realisierung in tatsächlichem Muttersprachenunterricht ist allerdings im politischen Labyrinth der Länderzuständigkeiten für das Bildungswesen arg beeinträchtigt worden. So findet sich in Berlin die Realisierung dieser Verpflichtung in Form von zwei Modellversuchen, bei denen türkische Schüler die Möglichkeit haben, an sieben Grundschulen in je einer Klasse Türkisch als erste und an einer Gesamtschule als zweite Fremdsprache zu wählen, und in Baden-Württemberg wird muttersprachlicher Unterricht mit dem erklärten - politischen - Ziel angeboten, "den ausländischen Familien die Möglichkeit und Fähigkeit der Rückkehr in ihre Heimatländer zu geben". (1) Ein solchermaßen unter politischen Gesichtspunkten zugestandener müttersprachlicher Unterricht läuft leicht Gefahr, unter veränderten politischen Konstellationen mit politischen Argumenten wieder abgeschafft zu werden. Meine Absicht ist es daher, ein Argument für die Forderung nach muttersprachlichein Unterricht beizusteuern, das nicht zu leicht Opfer tagespolitischer Opportunität werden sollte. (Beginn Seite 84) Spracherwerb als Teil der psychischen und sozialen Entwicklung des Kindes Ich gehe zunächst davon aus, daß der Spracherwerb ein wesentliches Element der kindlichen Sozialisation ist und daß Sprache im Verlauf dieses Prozesses aktiv erworben wird. Sprachentwicklung ist damit zugleich ein Teil der affektiven, der

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[Beginn Seite 83] Ulrich Steinmüller Begriffsbildung und Zweitsprachenerwerb Ein Argument für den muttersprachlichen Unterricht In: Helmut Essinger/Achim Hellmich/Gerd Hoff (Hrsg.), Ausländerkinder im Konflikt. Zur interkulturellen Arbeit in Schule und Gemeinwesen. Athenäum, Königstein/Ts. 1981, S. 83- 97 Seit einiger Zeit wird mit immer stärkerem Nachdruck das Recht ausländischer Kinder in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin auf ihre Muttersprache gefordert mit dem Ziel der Gleichberechtigung dieser Muttersprache mit der deutschen Sprache. Ausländische Eltern, Gewerkschaften, engagierte Lehrer und Wissenschaftler postulieren das Recht der ausländischen Schüler auf einen Unterricht in ihrer Muttersprache und auf deren angemessene Berücksichtigung in der deutschen Schule. So richtet z.B. die GEW Berlin die Forderung an den Berliner Senat, ausländischen Kindern das Recht auf ihre eigene Muttersprache nicht zu verweigern, und verlangt für diese Kinder eine bilinguale Erziehung, bei der die Muttersprache gleichberechtigt neben der deutschen Sprache stehen soll. Diese Forderungen werden häufig mit politischen Argumenten gestützt und mit politischen Mitteln verfolgt. Entsprechend sind die Reaktionen der verantwortlichen Instanzen ebenfalls politisch. So ist die Bundesregierung bereits vor einigen Jahren die Verpflichtung eingegangen, den Kindern ausländischer Arbeiter an deutschen Schulen Unterrichtsangebote in der jeweiligen Muttersprache zu machen, als sie sich auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften für den Erlaß der "Richtlinie des Rates über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern vom 25. Juli 1977" einsetzte. Die Einlösung dieser Verpflichtung und ihre Realisierung in tatsächlichem Muttersprachenunterricht ist allerdings im politischen Labyrinth der Länderzuständigkeiten für das Bildungswesen arg beeinträchtigt worden. So findet sich in Berlin die Realisierung dieser Verpflichtung in Form von zwei Modellversuchen, bei denen türkische Schüler die Möglichkeit haben, an sieben Grundschulen in je einer Klasse Türkisch als erste und an einer Gesamtschule als zweite Fremdsprache zu wählen, und in Baden-Württemberg wird muttersprachlicher Unterricht mit dem erklärten - politischen - Ziel angeboten, "den ausländischen Familien die Möglichkeit und Fähigkeit der Rückkehr in ihre Heimatländer zu geben". (1) Ein solchermaßen unter politischen Gesichtspunkten zugestandener müttersprachlicher Unterricht läuft leicht Gefahr, unter veränderten politischen Konstellationen mit politischen Argumenten wieder abgeschafft zu werden. Meine Absicht ist es daher, ein Argument für die Forderung nach muttersprachlichein Unterricht beizusteuern, das nicht zu leicht Opfer tagespolitischer Opportunität werden sollte. (Beginn Seite 84) Spracherwerb als Teil der psychischen und sozialen Entwicklung des Kindes Ich gehe zunächst davon aus, daß der Spracherwerb ein wesentliches Element der kindlichen Sozialisation ist und daß Sprache im Verlauf dieses Prozesses aktiv erworben wird. Sprachentwicklung ist damit zugleich ein Teil der affektiven, der

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kognitiven und der sozialen Entwicklung. Diese Annahme ist in der Spracherwerbsforschung inzwischen unbestritten. Der Spracherwerb erschöpft sich nicht in der Aneignung der formalen Strukturen des Kommunikationsmediums wie z.B. Regeln der Wortbildung, syntaktische Strukturen oder kommunikative Strategien. Der Erwerb von Sprache ist ein Prozeß, in dem Kinder mit dem Sprachmaterial, das ihnen in Kommunikation mit ihrer Umwelt angeboten wird, nicht schlicht nachahmend, sondern durchaus schöpferisch umgehen. Dies zeigt sich sowohl im Entdecken eigener Regeln als auch im Umgang mit Wörtern und Begriffen. Der Spracherwerb ist eng verbunden mit der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten. So lernen Kinder nicht einfach Wörter oder Phrasen auswendig, die ihnen präsentiert werden, sondern sie machen im sinnlichen Begreifen und im kommunikativen Umgang mit der sie umgebenden Realität Erfahrungen; sie lernen, daß Gegenstände, Personen, Zusammenhänge Namen haben, mit denen man sie bezeichnen kann; sie lernen, daß diese Namen für die Dinge stehen können, die sie bezeichnen. Und sie lernen ebenso, daß die Wörter und sprachlichen Formulierungen, mit denen sie durch ihre Umwelt konfrontiert werden, etwas bezeichnen, daß sie eine Bedeutung haben. Dieser Lern- und Erfahrungsprozeß bildet den Anfang der Begriffsbildung beim Kind. In diesem Prozeß ist ganz wesentlich die in eigener gedanklicher Tätigkeit erworbene Kenntnis von Struktur und Merkmalen von Gegenständen, Personen und Sachverhalten. In diesem Sinne ist der Prozeß der Begriffsbildung ein Ordnungs- und ein Abstraktionsprozeß; er baut auf der sinnlichen Wahrnehmung auf und führt zu gedanklichen Klassifizierungen und Kategorisierungen, die sprachlich in Form von Wörtern formuliert werden können. Die Begriffsbildung ist ein produktiver - nicht reproduktiver! - Akt, zu dem der kreative Umgang mit den Elementen der eigenen Wahrnehmung konstitutiv hinzugehört. Das zeigt sich darin, wenn Kinder Wörter der Erwachsenensprache verwenden, ihnen aber ihre eigene Bedeutung geben; oder auch in der eigenwilligen, schöpferischen Benennung von Personen, Gegenständen oder Ereignissen. Die in diesem Prozeß gebildeten Begriffe stehen der weiteren gedanklichen Verarbeitung zur Verfügung. Sie können zu neuen Klassen geordnet werden, sie können modifiziert oder erweitert werden. Sie sind dem Kind in einer Weise verfügbar, wie es nur-erlernte Wörter niemals sind. [Beginn Seite85] Der Begriff beinhaltet somit sowohl kognitive als auch soziale und sprachlich-kommunikative Aspekte. Im Verlauf des kindlichen Spracherwerbs bilden daher sinnliche Wahrnehmung, gedankliche Verarbeitung und sprachliche Formulierung die notwendigen Elemente der Begriffsbildung. Erst die sprachliche Formulierung macht den subjektiven Sinneseindruck zum übermittelbaren, in der Kommunikation mit anderen verwendbaren Begriff, und ohne die eigene sinnliche Wahrnehmung bleibt ein Wort für das Kind ohne eigentliche Bedeutung, wenigstens so lange die entsprechende Abstraktionsfähigkeit noch nicht entwickelt ist. Dies gilt sowohl für den Erwerb der Muttersprache als auch für jede weitere Sprache, die ein Kind erwirbt. Ich werde nun die Entwicklungssequenzen und Etappen aufzeigen, die der Prozeß der Begriffsbildung als Element des Spracherwerbs im Verlauf der kindlichen Sozialisation durchläuft. Ihre Kenntnis ist notwendig, wenn die unterrichtlichen Maßnahmen, mit denen in diesen Prozeß eingegriffen wird, der jeweiligen

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Entwicklungsstufe angemessen sein sollen, um tatsächlich steuernd und fördernd zu wirken. Wygotskis 3-Stufen-Modell der Begriffsbildung Ich werde mich bei der Darstellung der Entwicklungsstufen im Prozeß der Begriffsbildung auf das 3-Stufen-Modell stützen, das der Sprachpsychologe Lew Semjonowitsch Wygotski entwickelt hat. Seine Ergebnisse wurden von Vertretern anderer methodischer Orientierung mehrfach bestätigt, so z. B. von Piaget und Inhelder (1959) oder von Bruner und Olver (1963). Wygotski betrachtet Spracherwerb und Begriffsbildung als einen Prozeß, der sich über Jahre erstreckt. Das 3-Stufen-Modell ist daher nicht statisch aufzufassen; jede der drei Stufen erstreckt sich selbst wieder über längere Zeit, es gibt Obergänge und Überschneidungen. Eine Systematisierung dieses Prozesses kann daher nur einen Rahmen liefern, innerhalb dessen eine ständige Veränderung stattfindet. Die drei Stufen der Begriffsbildung nennt Wygotski 1. die Stufe des Synkretismus 2. die Stufe der Komplexbildung (Alltagsbegriffe) 3. die Stufe der wissenschaftlichen Begriffe. Synkretische Bildungen entstehen im Prozeß der eigenen praktischen Tätigkeit des Kindes, in seiner Beschäftigung mit Gegenständen und im Umgang und der Kommunikation mit den Menschen seiner Umgebung. Sie beziehen sich auf eine ungeordnete, ungestaltete Vielheit, die nach logischen Kriterien ohne ausreichende innere Beziehung und ohne wesentliche Begründung zu- [Beginn Seite 86] sammengefaßt wird. Der synkretischen Begriffsbildung liegt eine Form des assoziativen Denkens zugrunde, bei dem das Kind eine Zuordnung auf der Basis eines beliebigen, zufälligen, ihm aber bedeutsamen Merkmals vornimmt. So kann die zufällige Farbe von Gegenständen, ihre Konsistenz, Größe, Art der Fortbewegung usw. dazu dienen, eine Beziehung zwischen ansonst disparaten Gegenständen, Erscheinungen, Personen usw. herzustellen. Ein Beispiel: "Der Enkel Darwins benannte eine Ente nach dem Laut, den sie ausstößt, "quak". Er übertrug dieses Wort auf das Wasser, in dem die Ente schwamm, dann einerseits auf verschiedene Vögel, andererseits auf alle möglichen Flüssigkeiten", (2) einschließlich der Milch, die er trank. Als er dann einen Wappenadler auf einer Münze entdeckte, wurde "quak" auch zur Bezeichnung von runden und flachen Gegenständen. Wygotski sagt hierzu: "Die Gegenstände werden nicht aufgrund gemeinsamer, ihnen eigener und vom Kind herausgelöster Merkmale in eine Reihe gebracht und unter eine gemeinsame Bedeutung zusammengeführt, sondern aufgrund äußerer Verwandschaft, die im Eindruck des Kindes zwischen ihnen hergestellt wird". (3) Der Ausgangspunkt für diese Form der Begriffsbildung ist die sinnliche Wahrnehmung von Eigenschaften und Merkmalen; mehr oder weniger wesentliche Zusammenhänge werden auf dieser Entwicklungsstufe nur so weit erkannt, wie sie im äußeren Erscheinungsbild, dein sinnlichen Inhalt der Erfahrung gegeben sind. (4) Allerdings stellt diese Form der kognitiven Verarbeitung der Umwelt bereits eine Abstraktions-

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und Verallgemeinerungsleistung dar, denn die Wörter, die das Kind verwendet, dienen nicht zur Bezeichnung von einzelnen Gegenständen, sondern bereits von Gruppen, die mehrere Elemente umfassen. Die kommunikative Leistung derartiger Wörter ist allerdings gering, da ihnen die intersubjektive Gültigkeit fehlt. Sie stellen jedoch ein wesentliches Element für die kognitive und sprachliche Weiterentwicklung des Kindes dar und bilden eine notwendige Voraussetzung für die folgenden Stufen der Entwicklung. Auf der nächsten Stufe, der Stufe der Komplexbildung oder der AlItagsbegriffe, die etwa mit vier Jahren beginnt, (5) geht das Denken bereits vom Erkennen zufälliger Merkmale und Zusammenhänge zu immer wesentlicheren über. Das Kind macht in dieser Phase den entscheidenden Schritt weg von den synkretischen Zusammenfassungen und hin zur Aneignung der Voraussetzungen für objektives Denken. Das dieser Entwicklungsstufe eigentümliche Denkverfahren führt - wie auch das auf der vorhergehenden Stufe - zur Herstellung von Beziehungen zwischen konkreten Erfahrungen, zur Vereinigung und Verallgemeinerung einzelner Gegenstände. Es bedient sich also der Fähigkeiten und Strukturen, die auf der ersten Entwicklungsstufe entstanden sind. Als neues Element tritt hinzu, daß die jetzt entstehenden Begriffe auf eine Ordnung und Systematisierung der kindlichen Erfahrungen und Eindrücke hinauslaufen. Die auf diese Weise erreichten Verallgemeinerungen stellen zwar noch immer nicht abstrakte Größen dar, sondern Komplexe einzelner konkreter [Beginn Seite 87] Gegenstände, Vorgänge, Erfahrungen usw. Der Entwicklungsschritt besteht darin, daß diese Komplexe nicht mehr aufgrund willkürlicher Erscheinungsformen und subjektiv empfundener Beziehungen vereinigt werden, sondern wegen der tatsächlich zwischen den Gegenständen usw. bestehenden objektiven Beziehungen. Alltagsbegriffe sind in diesem Sinne situationsabhängig, worin auch ihre Begrenzung liegt. Objektivität und begriffliche Systematik sind bei ihnen noch nicht in dem Maße ausgeprägt, wie es dann auf der letzten Stufe der Begriffsbildung sein wird. Alltagsbegriffe basieren ebenfalls auf der konkreten, sinnlichen Wahrnehmung, der Kommunikation mit anderen Menschen und der eigenen Erfahrung. Sie sind wie die synkretischen Verkettungen der ersten Stufe Ergebnis eigener Umweltaneignung und nicht von abstrakten Lernprozessen. Sie kennzeichnen die empirisch wahrgenommenen faktischen Beziehungen, die zwischen einzelnen Elementen des Komplexes bestehen, sie kennzeichnen aber keine logischen Zusammengehörigkeiten. Alltagsbegriffe können daher nur im Prozeß der alltäglichen Kommunikation entstehen. Ihre Entwicklung und Aneignung ist wie dieser Kommunikationsprozeß ungesteuert, und sie geschieht unbewußt. D.h., Alltagsbegriffe werden nicht als ein zusammenhängendes, logisch strukturiertes System erworben bzw. bewußt in ein solches System integriert. Auch ihre Verwendung geschieht unbewußt, wie das folgende Beispiel zeigt: In einer Versuchsreihe mit deutschen Kindern, in der ich die Abstraktionsfähigkeit in verschiedenen Altersstufen überprüfen wollte, erzählte mir eine Siebenjährige, daß sie oft mit ihrem Vater tanzt. Auf meine Frage: "Was ist das denn, Tanzen?" antwortet sie: „Tanzen ist so!", springt auf und hüpft singend im Kreis herum. Der Begriff

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„Tanzen" war ihr von seiner Bedeutung her vertraut, und sie konnte angemessen mit ihm umgehen. Zu seiner Erklärung, d.h. der bewußten Anwendung, bedurfte sie allerdings einer konkreten Situation, in die dieser Begriff eingebettet werden konnte. Ein entsprechendes Beispiel zitiert Rubinstein: Ein Elfjähriger antwortet auf die Frage "Was ist Vernunft?" "Vernunft ist, wenn mir heiß ist und ich nicht trinke". Auch hier muß der Begriff mit Hilfe eines Beispiels erläutert werden, auch wenn der Junge - im Vergleich mit meiner Siebenjährigen - bereits ohne den konkreten Situationsbezug auskommen kann. Aus diesen Beispielen wird deutlich, daß "einen Begriff erworben haben" nicht gleichbedeutend ist mit "einen Begriff bewußt verwenden können". Dies ist einer der Aspekte, in denen sich die Komplexbildung von der nächsthöheren Entwicklungsstufe unterscheidet. Alltagsbegriffe existieren nicht in rein verbaler, abstrakter Form. Dies gilt auch bei Erwachsenen, denn Alltagsbegriffe hören mit dem Erreichen der nächsten Stufe der Entwicklung nicht auf zu existieren. Sie bestehen fort und werden in der Alltagskommunikation immer wieder verwendet und auch neu gebildet. Ich darf nur an alle Erklärungsversuche erinnern, die beginnen "XY, [Beginn Seite 88] das ist wenn man..." und bei denen dann auf ein konkretes Beispiel, eine Situation oder eine gestische Darstellung zurückgegriffen wird. Die letzte Stufe der Begriffsbildung, die etwa mit dem 12. Lebensjahr erreicht wird, stellen die wissenschaftlichen Begriffe dar. Strenggenommen verdienen nur sie tatsächlich die Bezeichnung "Begriff'. Sie sind die Grundlagen abstrakter Denkprozesse, denn mit ihrer Hilfe wird die Situationsabhängigkeit früherer Vorformen des Begriffs überwunden. Durch sie wird das Kind in die Lage versetzt, Wahrnehmung, die bisher die Grundlage seines Denkens war, neu zu gliedern, nach logischen Gesichtspunkten zu ordnen und sich von ihr abzuheben. Gegenstand von Denkprozessen und kommunikativen Aktivitäten können nun nicht mehr nur die Inhalte von Anschauungen und Erfahrungen selbst, sondern systematisierte und mehr oder weniger verallgemeinerte Erfahrungen werden. Wissenschaftliche Begriffe setzen die Vereinigung und Verallgemeinerung der einzelnen konkreten Erfahrungselemente voraus. Sie verlangen aber auch die Fähigkeit zum Herauslösen, zum Abstrahieren und zum Isolieren einzelner Elemente aus ihren jeweiligen konkreten Beziehungen und eine Lösung aus der situativen Eingebundenheit der konkreten Erfahrung. So wird hier erstmals die Möglichkeit zu hypothetischem Denken entwickelt nach dem Muster: "Nehmen wir einmal an X, dann muß Y, könnte aber auch Z". Dies sind Denkvorgänge, die auf keiner der vorausgehenden Stufen geleistet werden konnten. Sie führen zu objektiven, abstrakten Kategorien, mit denen das Kind bzw. der Heranwachsende willkürlich operieren kann. In dieser willkürlichen Verfügbarkeit ist als wesentliche neue Qualität die Bewußtheit im Umgang mit Begriffen enthalten, die bisher fehlte. Allerdings gilt auch hier, daß die Ergebnisse der vorherigen Stufen notwendig sind für die Ausbildung der neuen Qualität des Entwicklungsschrittes. Ohne die Ausbildung von Alltagsbegriffen fehlten die Voraussetzungen für Abstraktionsprozesse und damit die Möglichkeit, durch Abstraktion und Synthese echte Begriffe als Kategorien abstrakten

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Denkens zu bilden. Wesentliches Element in der Entwicklung wissenschaftlicher Begriffe ist ihre verbale Definition innerhalb eines strukturierten Systems, während die Entwicklung von Alltagsbegriffen gerade außerhalb bestimmter Systeme verläuft. In dieser verbalen Definition liegt allerdings, wie Wygotski sagt, eine Beschränkung der wissenschaftlichen Begriffe, die zu einer Erschwerung der Aneignung führt: erst im weiteren Verlauf ihrer gedanklichen Verarbeitung konkretisiert sich der wissenschaftliche Begriff und wird dem Kind so praktisch handhabbar. Bedeutsam ist hieran, daß Alltagsbegriffe und wissenschaftliche Begriffe gleichsam gegenläufig entstehen: der Alltagsbegriff geht vom Besonderen aus und führt zu einer Form der Verallgemeinerung, während der wissenschaftliche Begriff aus der Verallgemeinerung konkretisiert wird. [Beginn Seite 89] Es wäre allerdings falsch, die hier skizzierten Entwicklungssequenzen als mechanischen Prozeß zu sehen, bei dem der Beginn der einen Phase das Ende der vorhergehenden bedeutete. Gerade der Prozeß der Entwicklung von Alltagsbegriffen und von wissenschaftlichen Begriffen ist durch fließende Übergänge, durch Verschränkungen und durch gegenseitige Überlappung gekennzeichnet; wie ja besonders auch dadurch, daß die Bildung und Verwendung von Alltagsbegriffen neben der Bildung und Verwendung von wissenschaftlichen Begriffen andauert. Bereits die Untersuchungen von R. Rimat, die er im Anschluß an die Arbeiten von N. Ach durchführte, haben gezeigt, daß die Phase, in der wissenschaftliche Begriffe entwickelt werden können, in der also so ein abstraktes Denkvermögen entsteht, um das 12. Lebensjahr beginnt. Die Untersuchungen von Wygotski und seinen Mitarbeitern erbringen den gleichen Befund. Auch Piaget und Inhelder (1959) kommen aufgrund ihrer Beobachtungen zu diesem Ergebnis, das dann erneut durch Untersuchungen von Bruner und Olver (1963) bestätigt wird. Ansätze für eine Entwicklung der Abstraktionsfähigkeit finden sich zwar schon auf einer relativ frühen Entwicklungsstufe des Kindes. Ihre Ausprägung, die es erlaubt, von abstraktem oder begrifflichem Denken -in der eigentlichen Bedeutung des Wortes - zu reden, ist aber erst in diesem Lebensalter zu finden. Begriffsbildung im Zweitsprachenerwerb Wenn ich nun diese Befunde zusammenstelle, so ergibt sich daraus, daß die soziale Einbindung des heranwachsenden Kindes, seine kognitive und seine sprachliche Entwicklung aufeinander bezogen sind. Weiter ergibt sich daraus, daß unter sprachpsychologischen Gesichtspunkten Entwicklungsphasen erkennbar werden, die den Spracherwerbsprozeß strukturieren und Entwicklungsschritte in eine bestimmte Reihenfolge bringen, die auch durch unterrichtliche Maßnahmen nicht beliebig verändert werden kann. Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus diesen Befunden für den Spracherwerb ausländischer Kinder? Der Erwerb der Muttersprache in der Phase der primären Sozialisation ist so eng mit den affektiv-emotionalen, den kognitiven und den sozialen Aspekten der Persönlichkeitsbildung verbunden, daß eine Unterbrechung dieses Erwerbsprozesses, ehe eine relative Stabilität erreicht ist, zu schwerwiegenden Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung des betroffenen Kindes führen kann. (6)

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Für die übergroße Mehrzahl der ausländischen Kinder in unseren Schulen tritt aber gerade diese Unterbrechung ein: nur etwa 30% der in die erste Klasse der deutschen Schule eingeschulten Ausländer haben eine vorschulische Einrichtung besucht, in der sie bereits mit der deutschen Sprache in Berührung ge- [Beginn Seite 90] kommen sind. Für mehr als zwei Drittel von ihnen bedeutet der erste Schultag zugleich zum ersten Mal intensiven Kontakt mit der deutschen Sprache. Bis zum Schuleintritt sind zwar die grundlegenden syntaktischen Strukturen der Muttersprache erworben, im Bereich der Begriffsbildung sind aber noch wesentliche Entwicklungsschritte erforderlich: das Kind hat die ersten Schritte auf der Stufe der Alltagsbegriffe gemacht. Es muß nun dahin kommen, Beziehungen zwischen konkreten Erfahrungen herzustellen, es muß die Vereinigung und Verallgemeinerung einzelner Objekte, Ereignisse usw. bewerkstelligen, es muß die faktischen Beziehungen zwischen einzelnen Elementen von Komplexen kennzeichnen; es muß alle die Denkoperationen bewältigen, die auf der Stufe der Komplexbildung oder Alltagsbegriffe auftreten - und es muß sie verbalisieren! Wenn nun in dieser Situation - wie es bei den derzeitigen Beschulungsmodellen für ausländische Kinder die Regel ist - der Unterricht, d. h. die Übermittlung von Informationen, die Vermittlung von Wissen in der Zweitsprache einsetzt, die das Kind überhaupt erst noch lernen soll, so führt das zu Konsequenzen sowohl bei der weiteren Entwicklung der Muttersprache als auch beim Erwerb der Zweitsprache. Die Begriffsbildung in der Muttersprache wird stark verzögert, da ihre Entwicklung nur im außerschulischen Bereich stattfinden kann, entweder in der Kommunikation mit Gleichaltrigen oder mit den Eltern. Auf diese Weise findet zwar auch eine Weiterentwicklung statt; sie muß aber ohne die Förderungsmöglichkeiten auskommen, die der Unterricht für deutsche Kinder bedeutet. Das gesamte schulische Wissen bleibt für das ausländische Kind in dieser Phase außerhalb seiner Muttersprache und der dort ablaufenden Begriffsbildung. Das bedeutet, daß die kognitiven und die kommunikativen Fähigkeiten in der Muttersprache durch den Unterricht nicht gefördert werden. Dies hat eine Desorientierung der betroffenen Kinder zur Folge, deren Resultate neben schulischem Versagen häufig Identitätsprobleme und Konflikte in der psychischen Entwicklung sind. Es hat aber auch eine Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung zur Folge: In der Muttersprache haben die betroffenen Kinder zwar die Ansätze der Begriffsbildung in synkretischer Form entwickelt. Sie haben auch die ersten Schritte von diesen weg und auf Ansätze der Abstraktion hin gemacht. Die Ordnung und Systematisierung der kindlichen Eindrücke und Erfahrungen, wie sie typisch für die Stufe der Alltagsbegriffe sind, werden aber durch den Unterricht nicht gefördert, weil er in einer anderen Sprache stattfindet. Die Entstehung von Alltagsbegriffen im alltäglichen Kommunikationsprozeß ist auf die Bereiche reduziert, die im Kontakt zwischen Gleichaltrigen oder mit den Eltern angesprochen werden. Das bedeutet, daß Erfahrungsbereiche, die die Schule vermitteln soll, den ausländischen Kindern auf dieser Stufe verschlossen bleiben. Durch die Entwicklung der Muttersprache sind zwar die kognitiven Voraussetzungen zur Bildung von Alltagsbegriffen gegeben: das [Beginn Seite 91]

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Kind bewältigt - bei normaler Entwicklung - verschiedene Formen des assoziativen Denkens, es hat erste Formen der Verallgemeinerung und der Abstraktion entwickelt, es kann aus der eigenen Anschauung und aus der Kommunikation mit anderen Merkmale und Eigenschaften von Personen, Gegenständen oder Ereignissen erkennen und systematisieren. Und es kann in der Muttersprache diese Operationen sprachlich formulieren. Es fehlt ihm aber im Deutschen das sprachliche Material, um die entsprechenden Denk- und Kommunikationsoperationen auszuführen, die es aufgrund seiner bisherigen Entwicklung bereits beherrscht. Gleichzeitig wird aber die deutsche Sprache im Unterricht zu dem Medium, in dem die kognitive Entwicklung vorangetrieben werden soll. Die ausländischen Schüler geraten dabei hoffnungslos ins Hintertreffen: ihr Spracherwerb, dem die notwendigen Vorstufen fehlen, bleibt lückenhaft. Und ihre kognitive Entwicklung stagniert, weil ihr das Medium fehlt, in dem die Prozesse der Verallgemeinerung, der Ordnung konkreter Erfahrungen und der Formulierung von faktischen Beziehungen zwischen einzelnen Elementen ablaufen könnten. D. h., es fehlen die sprachlichen Möglichkeiten, die Operationen zur Bildung von Alltagsbegriffen durchzuführen, auch wenn der Entwicklungsstand dazu erreicht ist. Da aber bereits die Alltagsbegriffe nicht in dem für eine normale sprachliche und kognitive Entwicklung erforderlichen Maße ausgebildet werden, fehlt auch das Fundament, auf dem die wissenschaftlichen Begriffe entwickelt werden sollen. Denn ohne die Ausbildung von Alltagsbegriffen fehlen die Voraussetzungen für Abstraktionsprozesse und damit die Möglichkeit, durch Abstraktion und Synthese echte Begriffe als Kategorien abstrakten Denkens zu bilden. Es wäre nun allerdings irreal zu fordern, daß diese Entwicklungsschritte so nachgeholt werden, wie sie im Muttersprachenerwerb ablaufen. Dazu ist die Entwicklung des Kindes in anderen Bereichen schon zu weit fortgeschritten. Damit fehlt aber die Basis dafür, daß ausländische Kinder auf sog. "natürliche" Weise, d. h. nur im Verlauf kommunikativer Prozesse im Unterricht, die deutsche Sprache in der Form und in der Schnelligkeit erwerben, wie es für eine erfolgreiche Teilnahme am Unterricht erforderlich wäre. Die Beschränkungen und Verzögerungen der kognitiven und sprachlichen Entwicklung im Bereich der Muttersprache können daher nicht durch einen Transfer aus dem deutschsprachigen Unterricht ausgeglichen werden, weil hier die sprachlichen Voraussetzungen fehlen, die der kognitiven Entwicklung entsprechen. Wie Untersuchungen in Schweden gezeigt haben, (7) sind unter den gegebenen Umständen eine starke Verzögerung der Begriffsbildung und demzufolge große Lücken im Fachwissen Konsequenzen eines Unterrichts in der Zweitsprache auf dieser Stufe der Entwicklung. [Beginn Seite 92] Die grundlegenden sprachlichen Strukturen der Erstsprache hat ein Kind im allgemeinen mit ca. 4 bis 5 Jahren erworben. Es ist damit befähigt, sprachliche Äußerungen zu formulieren, die in ihrer formalen Gestalt dem Regelsystem der Erwachsenensprache entsprechen. Der Unterricht kann sich daher dieses Instruments bedienen, auch wenn damit noch nichts über die aktive, produktive Beherrschung der Sprache gesagt ist; die benötigt noch die weiteren Stufen der Begriffsbildung. Die ausländischen Kinder verfügen über diese grundlegenden sprachlichen Strukturen des Deutschen, deren sich der Unterricht bedienen kann,

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aber gerade nicht. Das Ziel der kognitiven Förderung durch den Unterricht muß daher bereits an dieser Barriere scheitern. Die Ergebnisse der bereits erwähnten Untersuchungen von mehr als 700 finnischen Migrantenkindern in Schweden zeigen deutlich, daß der Schulerfolg dieser Kinder in Fächern, in denen Abstraktionsfähigkeit und begriffliches Denken erforderlich sind, größer war, wenn ihre Muttersprache besser entwickelt war. Kinder, bei denen die Entwicklung der Muttersprache unterbrochen wurde, bevor die Stufe des abstrakten Denkens erreicht war, zeigten einen deutlich geringeren Schulerfolg; ebenso zeigten sie deutliche Schwächen in der Beherrschung des Schwedischen wie auch ihrer eigenen Muttersprache. Diese Ergebnisse decken sich mit meinen Beobachtungen an Kreuzberger Schulen Die besten Ergebnisse brachten Schüler, die erst mit 10 bis 11 Jahren in die schwedische Schule eingeschult worden waren. Sie hatten in ihrer Muttersprache bereits eine relative Stabilität entwickelt. Im kognitiven Bereich waren sie gerade dabei, die Stufe der wissenschaftliche Begriffe zu erreichen bzw. die höheren Abstraktionsformen der Alltagsbegriffe zu entwickeln. Von allen untersuchten Altersgruppen bereitete ihnen die Bildung abstrakter Begriffe in der Zweitsprache die geringsten Schwierigkeiten. Wenn Alltagsbegriffe in der Muttersprache in größerem Umfang bereits entwickelt wären, so könnte sich der Unterricht in der Zweitsprache hierauf beziehen. Denn die für die Bildung von Begriffen erforderlichen Erfahrungen, Wahrnehmungen und sonstigen Ergebnisse der Aneignung von Realität existieren als psychische Größen und sind in dieser Form von einer konkreten Einzelsprache unabhängig. Sie werden zwar erst in der sprachlichen Formulierung verfügbar, müssen aber nicht wiederholt werden, um in einer neuen Sprache formuliert und damit intersubjektiv zugänglich gemacht zu werden. Der Zweitspracherwerb könnte daher von einer fortschreitenden Entwicklung der Begriffsbildung in der Muttersprache profitieren. Um diesen Gedanken zu erläutern, möchte ich auf Saussures Konzept von der Zweiseitigkeit des sprachlichen Zeichens zurückgreifen (siehe Grafik auf S. 93). [Seite 93 Grafik]

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[Beginn Seite 94] Die beiden Seiten des Zeichens sind die Vorstellung und das Lautbild, das in einer bestimmten Sprache mit dieser Vorstellung verbunden ist. Für den Erwerb einer zweiten Sprache folgt daraus, daß nicht eine neue Vorstellung gespeichert bzw. eine bereits gespeicherte Vorstellung erneut gespeichert werden muß, sondern daß ein neues Lautbild mit der bereits vorhandenen Vorstellung verbunden werden kann. Andererseits genügt es nicht, um eine zweite Sprache zu erwerben, daß nur das Lautbild gespeichert wird. Ohne die damit zu verbindende Vorstellung bleibt es sinnlos. Es genügt daher nicht, den ausländischen Schülern im Unterricht Wörter und sprachliche Formulierungen zu vermitteln, wenn sie damit keine Vorstellungen verbinden können. Diese Verbindung ist aber, wie ich dargestellt habe, in der ersten schulischen Phase nur über die Vermittlung der konkreten eigenen Erfahrung, der sinnlichen Wahrnehmung und der zwischenmenschlichen Kommunikation herzustellen. Andere Formen der Begriffsbildung übersteigen den Entwicklungsstand des Kindes auf dieser Stufe. Ein systematischer Sprachunterricht, noch dazu in vorwiegend verbalisierter Form, entspricht eher dem Entwicklungsstand, der mit der Stufe der wissenschaftlichen Begriffe erreicht ist. Im Grundschulalter, auf der Stufe der Alltagsbegriffe, kann der Spracherwerb nur im Kontext konkreter Situationen verlaufen, in denen das Kind in eigener Wahrnehmung und in Kommunikation mit anderen Erfahrungen macht und diese in der ihm jetzt möglichen Weise gedanklich weiterverarbeitet. Hierbei muß es sich aber auch der Muttersprache bedienen können, da unter den gegebenen Umständen die deutsche Sprache dem ausländischen Kind

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weder in ausreichendem Maße Medium der Kommunikation noch der Kognition ist und auch nicht sein kann. Der Erwerb der Zweitsprache ausländischer Schüler scheitert, wenn der Erwerb der Muttersprache nicht gefördert wird. Eine Betonung der Muttersprache darf aber keinesfalls zu einer weiteren Isolierung der ausländischen Schüler führen. Die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht kann zu ganz verschiedenen Ergebnissen führen, zur Segregation ebenso wie zur Integration. Es muß daher davor gewarnt werden, daß das Recht auf muttersprachlichen Unterricht mit der Segregation in nationalen Klassen oder gar Schulen bezahlt werden könnte. Der gemeinsame Unterricht mit den deutschen Schülern muß die Regel sein, wenn das Ziel der sozialen Handlungsfähigkeit in unserer Gesellschaft und des gleichberechtigten Zusammenlebens mit Deutschen nicht aufgegeben werden soll. Beschulungsmodelle, die zu einer - wenn auch nur befristeten - Segregation führen, müssen daher mit Skepsis betrachtet werden. In der Regel gehen sie gerade zu Lasten der sozialen Handlungs- und der Kooperationsfähigkeit der betroffenen Schüler. Folgerungen Die Etablierung der jeweiligen Muttersprache ausländischer Kinder als reguläres Unterrichtsfach in der deutschen Schule dürfte noch die geringsten Proble- [Beginn Seite 95] me verursachen; hier sind die zuständigen Schulbehörden aufgefordert, durch den Einsatz entsprechend ausgebildeter Lehrer aus den Herkunftsländern einen solchen Unterricht zu gewährleisten. Die politische Verpflichtung hierzu ist die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zur EG-Richtlinie über die schulische Betreuung ausländischer Kinder bereits 1977 eingegangen. Die Einlösung dieser Verpflichtung muß eingefordert werden. Größere Schwierigkeiten sehe ich hingegen dort, wo es erforderlich ist, die ausländischen Muttersprachen als Unterrichtssprachen zu akzeptieren. Dies wäre nicht erforderlich, wenn alle ausländischen Kinder vom Beginn ihres Spracherwerbs an zweisprachig aufwüchsen, wenn sie also alle Prozesse der Begriffsbildung von der Stufe des Synkretismus bis zur Stufe der wissenschaftlichen Begriffe gleichzeitig bzw. sich ergänzend in zwei Sprachen durchliefen. Ein solcher Spracherwerb, der Kindern in zweisprachigen Familien oder unter besonders privilegierten Sozialisationsbedingungen möglich ist, dürfte in der derzeitigen gesellschaftlichen Situation von Familien ausländischer Arbeiter wohl kaum häufig anzutreffen sein. Es spricht einiges dafür, (8) daß eine echte Zweisprachigkeit auch noch zu erreichen ist, wenn der Erwerb der zweiten Sprache mit entsprechender Förderung mit dem Beginn der Bildung von Alltagsbegriffen einsetzt. Um hier einen positiven Verlauf des Spracherwerbs zu gewährleisten, ist es allerdings erforderlich, daß mehr als nur 30% der ausländischen Kinder, wie es bisher der Fall ist, vorschulische Einrichtungen mit entsprechenden Förderungsmöglichkeiten besuchen und daß sie dort in ausreichendem Maße von deutschen Erziehern und solchen aus dem jeweiligen Herkunftsland ihrer Eltern betreut werden. Eine Gleichstellung der verschiedenen Sprachen ist dann auch hier erforderlich. Selbst wenn eine solche Betreuung der

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ausländischen Kinder für die Zukunft durchgesetzt werden könnte, kann man nicht davon ausgehen, daß alle ausländischen Kinder den deutschen Einrichtungen anvertraut werden, und es wären auch nicht die Probleme der Kinder gelöst, die bereits über dieses Alter hinaus sind. Die Anerkennung der Herkunftssprachen als Unterrichtssprachen ist daher zur Zeit und mindestens für die überschaubare Zukunft notwendig. D. h., es müssen Organisationsformen für den Unterricht gefunden werden, die im Rahmen eines gemeinsamen Klassenverbandes von Deutschen und Ausländern den ausländischen Schülern 1. den Erwerb des Deutschen in Form eines ihrer Entwicklungsstufe angemessenen Sprachunterrichts, 2. die Verwendung ihrer Muttersprache als Unterrichtssprache und 3. die Entwicklung ihrer Muttersprache im Rahmen eines Unterrichtsfaches mit entsprechendem Curriculum ermöglichen. Darüber hinaus müssen durch gemeinsamen Unterricht von deutschen und ausländischen Schülern Situationen und Anlässe geschaffen werden, durch die [Beginn Seite 96] der schulisch gesteuerte Spracherwerb durch ungesteuerte, sog. "natürliche“ Kommunikation ergänzt und gestützt werden kann. Hierfür ein einheitliches Konzept zu entwickeln, dürfte nur schwer möglich sein. Es ist vielmehr erforderlich, wegen der unterschiedlichen Voraussetzungen der ausländischen Kinder in dezentraler Entscheidung der einzelnen Schule bzw. der betroffenen Lehrerkollegien - wie es z.Zt. bereits in England praktiziert wird - durch kleine Lerngruppen und Teilungsstunden, durch Team-Teaching und echten Kooperationsunterricht von deutschen und ausländischen Lehrern Formen zu entwickeln, die den Problemen und Besonderheiten der jeweiligen Schülergruppe angemessen sind. Anmerkungen 1) So der Kultusminister von Baden-Württemberg, Gerhard Mayer-Vorfelder, unter der Überschrift "Bildungschancen für die 2. Ausländergeneration" in: Der Arbeitgeber Nr. 21/32, 1980, S. 1223. 2) Rubinstein, S. L.: Grundlagen der allgemeinen Psychologie, S. 489. 3) Wygotski, L. S.: Sprechen und Denken, S. 12 1. 4) Vgl. Rubinstein, S. L.: a. a. 0., S. 495. 5) Die Altersangaben in diesem Zusammenhang können immer nur durchschnittliche Näherungswerte sein. 6) Vgl. Toukommaa, P. und T. Skutnabb-Kangas: The intensive teaching of the mother tongue, S. 11; Isto Ruoppila kommt in einer breit angelegten Untersuchung finnischer Kinder in Schweden, die er 1976 vorlegte, zu den gleichen Ergebnissen. 7) Vgl. auch von den in Anmerkung 6 genannten Autoren: Teaching Migrant Children's Mother Tongue... Tampere 1976. 8) Vgl. z.B. Öktem, Özcan: Sozialisation und Identitätsentwicklung der ausländischen (türkischen) Kinder in der Bundesrepublik Deutschland. Ms. Gelsenkirchen 1980, S. 30 ff. Literatur

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Deutscher Städtetag (Hg.): Die zweite Ausländergeneration. Ergebnisse eines Erfahrungsaustauschs unter Städten mit besonders hohem Ausländeranteil. Teil I und II. Köln 1980. Grimm, Hannelore und Wintermantel, Margret: Zur Entwicklung von Bedeutungen. 2 Bde. Weinheim 1975. Piaget, Jean und Inhelder, Bärbel: La genèse des structures logiques: classifications et sériations. Neuchâtel 1959/1963. Rimat, R.: Intelligenzuntersuchungen anschließend an die Ach'sche Suchmethode. In: N. Ach (Hg.): Untersuchungen zur Psychologie, Philosophie und Pädagogik. Bd. V. Leipzig, Göttingen 1925. Rubinstein, S.L.: Grundlagen der allgemeinen Psychologie. 8. Aufl. Berlin 1973. [Beginn Seite 97] Saussure, Ferdinand de. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967. Toukommaa, Pertti und Skutnabb-Kangas, Tove: The Intensive Teaching of the Mother Tongue to Migrant Children at Pre-School Age. Tampere 1977. Dies.:Teaching Migrant Children's Mother Tongue and Learning the Language of the Host Country in the Context of the Socio-Cultural Situation of the Migrant Family. Tampere 1976. Wygotski, L.S.: Denken und Sprechen. Stuttgart 1969