22
Behrens – Bossa Nova – Seite 1 Bossa Nova. Fünf Versuche einer Annäherung Roger Behrens Der schöne Horizont. Erster Versuch Die Bossa Nova ist vom Urbanismus, von der Architektur, von der Idee der Stadt, vom Tropikalismus nicht zu trennen. Wenn die Bossa Nova eine Geschichte hat, dann nicht als Musikgeschichte, sondern als Tendenz eines Entwicklungsprozesses. Bossa Nova hat keine Vorgeschichte. Bossa Nova ist die Vorgeschichte. In Brasilien wird 1897 im Bundesland Minas Gerais eine Stadt gegründet, die ganz und gar dem Modernismus des Fin de Siècle genügen sollte, mit klaren, geraden und überschaubaren Strukturen, in der die neuen Menschen eines neuen Jahrhunderts leben sollten – zeitgleich wird in Brasilien offiziell die Sklaverei abgeschafft. In einem Tal gelegen, geben der immerblaue Himmel und die tropisch-grünen Hügel dieser Stadt ihren Namen: Belo Horizonte, der schöne Horizont. Die Stadt entspricht der Ordnung des gesellschaftlichen Traumesreichs, der Idee des modernen Zeitalters; im italienischen Wortklang Belo Horizonte schwingt noch etwas Renaissance mit. Die Stadt besteht aus drei übereinander gelagerten Strukturen: Eine Ringstraße, die »Avendia de Contorno«, die einmal um den Innenstadtbereich herumführt (»Circular«); sie wird durch die große Achsenallee, die »Avenida Avonso Pena«, die einmal durch die Stadt führt (»Reta«), durchbrochen, umgrenzt von einem Fluss und einer »Serra do Curral« (Wüste). Innerhalb dieser Grundstruktur sind die Straßen nach einer »primeira malha« (»das ruas«, ein Quadrate bildendes Straßennetz) und einer »segunda malha« (»das avenidas«, die diagonalen Alleen) angeordnet. Erst nach der Fertigstellung dieses urbanen Rasters wurden die einzelnen Planquadrate zur Bebauung verteilt. In der Struktur gleicht Belo Horizonte den amerikanischen Großstädten und folgt architektonisch deren sozialutopischen wie religiösen Gleichheitsidealen vom modernen Stadtmenschen. Und obwohl zunächst als Kleinstadt gegründet, ist Belo Horizonte bereits als »Megamaschine« (Lewis Mumford) konzipiert, als »funktionale Stadt«, wie sie in den

Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 1

Bossa Nova. Fünf Versuche einer Annäherung

Roger Behrens

Der schöne Horizont. Erster Versuch

Die Bossa Nova ist vom Urbanismus, von der Architektur, von der Idee

der Stadt, vom Tropikalismus nicht zu trennen. Wenn die Bossa Nova

eine Geschichte hat, dann nicht als Musikgeschichte, sondern als

Tendenz eines Entwicklungsprozesses. Bossa Nova hat keine

Vorgeschichte. Bossa Nova ist die Vorgeschichte.

In Brasilien wird 1897 im Bundesland Minas Gerais eine Stadt

gegründet, die ganz und gar dem Modernismus des Fin de Siècle

genügen sollte, mit klaren, geraden und überschaubaren Strukturen, in

der die neuen Menschen eines neuen Jahrhunderts leben sollten –

zeitgleich wird in Brasilien offiziell die Sklaverei abgeschafft. In einem Tal

gelegen, geben der immerblaue Himmel und die tropisch-grünen Hügel

dieser Stadt ihren Namen: Belo Horizonte, der schöne Horizont. Die

Stadt entspricht der Ordnung des gesellschaftlichen Traumesreichs, der

Idee des modernen Zeitalters; im italienischen Wortklang Belo Horizonte

schwingt noch etwas Renaissance mit. Die Stadt besteht aus drei

übereinander gelagerten Strukturen: Eine Ringstraße, die »Avendia de

Contorno«, die einmal um den Innenstadtbereich herumführt

(»Circular«); sie wird durch die große Achsenallee, die »Avenida Avonso

Pena«, die einmal durch die Stadt führt (»Reta«), durchbrochen,

umgrenzt von einem Fluss und einer »Serra do Curral« (Wüste).

Innerhalb dieser Grundstruktur sind die Straßen nach einer »primeira

malha« (»das ruas«, ein Quadrate bildendes Straßennetz) und einer

»segunda malha« (»das avenidas«, die diagonalen Alleen) angeordnet.

Erst nach der Fertigstellung dieses urbanen Rasters wurden die

einzelnen Planquadrate zur Bebauung verteilt. In der Struktur gleicht

Belo Horizonte den amerikanischen Großstädten und folgt

architektonisch deren sozialutopischen wie religiösen Gleichheitsidealen

vom modernen Stadtmenschen. Und obwohl zunächst als Kleinstadt

gegründet, ist Belo Horizonte bereits als »Megamaschine« (Lewis

Mumford) konzipiert, als »funktionale Stadt«, wie sie in den

Page 2: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 2urbanistischen Programmen des Modernismus gefordert wurde (etwa

1933 in der Charta von Athen von Le Corbusier und der CIAM).

Auf der einen Seite die enorme Ausbreitung der Städte, auf der anderen

Seite ihre Konzentration in den Architekturen der habitionellen

Megastrukturen. 1945, im selben Jahr, in dem die alliierten Truppen den

Zweiten Weltkrieg beenden und das nazideutsche Reich zerschlagen,

findet dies in Marseille mit der Unité d’Habitation von Le Corbusier

seinen ersten exemplarischen Ausdruck. Ein halbes Jahrzehnt später,

1951, wird in Belo Horizonte – nunmehr eine wachsende Metropole mit

350.000 Einwohnern – der CJK geplant wird: ein riesiger Wohnkomplex,

eine Stadt in der Stadt. Es ist das erste Projekt einer habitionellen

Megastruktur in Brasilien.1 Der eines der Straßenplanquadrate komplett

ausfüllende Großbau besteht aus zwei Türmen; der mit 120 Metern

breitere Turm hat 26 Stockwerke, der mit 100 Metern höhere, aber

schmalere Turm hat 34 Stockwerke. Benannt ist der CJK – der Conjunto

Juscelino Kubitschek oder der JK Komplex – nach dem damaligen

Gouverneur von Minas Gerais.2 Er war zusammen mit dem Architekten

Oscar Niemeyer und dem Unternehmer Joaquim Rolla verantwortlich für

den JK Komplex: in dem bis dahin weitgehend erst mit flachen Gebäuden

und Villen erschlossenen Belo Horizonte sollte der JK Komplex zum

Wahrzeichen der Stadt werden und eine ähnliche Berühmtheit erlangen

wie der Eifelturm in Paris oder das Rockefeller Center in New York. Es

ist der zur Architektur gewordene Ausdruck der kulturellen Logik der

kapitalistischen Gesellschaft, die sich als fundamentale Krise der

Moderne formiert. Ein kultureller Komplex, in dem Monumentalismus

und soziales Experiment zu einer dialektischen Einheit verschmelzen,

oder besser: verschmelzen sollten. Für die eintausendeinhundert

Appartements waren Waschküchen, ein Kino, ein Hotel, ein Museum,

Läden, eine Bäckerei, ein Friseur ebenso wie eine Schneiderei, dazu

1 Vgl. Carlos M. Teixeira, ›Em Obras: História do vazio em Belo Horizonte‹

[›Under construction: History of the Void in Belo Horizonte‹], São Paulo 1999, vor

allem: The JK Complex – the anti-postcard, S. 242 ff.

2 Kubitschek war später – von 1956 bis 1961 – Präsident Brasiliens; in diese

Zeit fällt auch die Gründung und Aufbau der heutigen Hauptstadt Brasilia, gleichsam

die künstliche urbane Megastruktur schlechthin.

Page 3: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 3Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum

etwas davon wird realisiert. Mitte der Fünfziger wird mit dem Bau

begonnen, der allerdings 1970 halbfertig abgebrochen wird; die

Baugeräte werden erst nach 1980 entfernt, der Komplex bleibt Baustelle.

Während der Diktatur gibt es wenig Interesse an den emanzipatorischen

Entwürfen der Moderne; der JK Komplex wird zu einer vom Terror

überschatteten Bauruine. Dort, wo Niemeyer eine Tiefgarage für die

Bewohner vorsah, hatte die Militärpolizei ihr Hauptquartier in Belo

Horizonte. Dann kaufte in den achtziger Jahren der evangelikale Bischof

Edir Macedo diesen Teil des Gebäudes und machte daraus einen

Nachtclub mit Platz für über zweitausend Partygäste. In den Neunzigern

verwandelte er den Nachclub in die größte Kirche der Stadt (heute dient

dieser Gebäudeteil nur noch als eine Art Gemeindehaus für die ›Igreja

Universal do Reino de Deus‹, die mittlerweile einen riesig-

postmodernistischen, ägyptisch-antiken Betontempel keine zwanzig

Meter vom JK Komplex entfernt errichtet hat).

In Belo Horizonte bezeichnet man den JK Komplex als ein schlafendes

Monster; regungslos und starr stehen die Monolithen in der lauten,

lebendigen Stadt. Aus Angst davor, dass dieses Ungetüm aufwachen

könnte, und mit ihm oder durch es die soziale Krise, die die ganze Stadt

ohnehin überschattet, wird der Komplex ignoriert. Längst ist dieses

Monstrum nicht mehr das einzige, von dem man besser nichts wissen

möchte. Der Komplex gleicht einem abgestorbenen Organ des

pulsierenden Dämons dieser Stadt. Militärpolizei, Nachtclub, Kirche –

drei gewaltvolle Varianten der Dialektik der Aufklärung, die jeweils

ohne jede Feierlichkeit in den Komplex einzogen; mitnichten wurde der

Komplex zum Wahrzeichen einer Stadt, die wie so viele Metropolen sich

als modern träumte und heute im Alptraum des Scheiterns der Moderne

tagtäglich erwacht. Alle ehedem geplanten öffentlichen Einrichtungen

des JK Komplexes sind nie verwirklicht worden: Es gibt kein Hotel, kein

Theater, kein Kino; die Busstation, die erst 1987 gebaut wurde, ist für

den touristischen Verkehr gedacht und wird von den Bewohnern des

CJK nicht genutzt. Die Fassade des höheren Turms hat Itaú, eine

brasilianische Bank, als Werbefläche gemietet, oben, am Dach, wirbt eine

weitere Bank, die Banco Hércules SA.

Belo Horizonte, der schöne Horizont, galt einmal als das Gegenmodell zu

Ouro Preto (»Schwarzes Gold«), der barocken, voller Allegorien

Page 4: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 4steckenden ehemaligen Hauptstadt von Minas Gerais. Ouro Preto

repräsentierte das Ungeordnete, die chaotische Stadt – und nun ist Belo

Horizonte der unüberschaubare Moloch, nur noch quantitativ von den

Megapolen São Paulo oder Rio de Janeiro entfernt: Belo Horizonte zählt

heute 2,3 Millionen Einwohner, die Stadtgrenzen haben sich längst in

der Peripherie aus Gated Communities, Shopping Malls und Favelas

verloren und den modernen Stadtplan weit überschritten. Schon 1966

wird in Belo Horizonte die erste Shopping Mall Brasiliens eröffnet; 1993

gibt es bereits 88 dieser Einkaufszentren. Und in den Favelas, die

übrigens zur modernen Stadt gehören und keineswegs ein Residuum

der Unterentwicklung sind, zählt man 1981 in Belo Horizonte 233.500

Bewohner; nur vier Jahre später hat sich die Zahl auf 550.000

Einwohner verdoppelt.3 Die Busse fahren in Belo Horizonte nach Sion

(also nach Zion, ins gelobte Land …), nach Europa, nach Amerika und

ins Paradies (und »Paraíso« heißt nicht nur Paradies, sondern auch

Himmel) – aber man weiß nicht, ob sie in eine Favela fahren, zu einer

Shopping Mall oder in ein Viertel überwachter Eigentumswohnungen.

In Belo Horizonte, das mittlerweile verbaut ist mit Hochhäusern, ist das

Conjunto JK noch immer das größte Bauwerk: ein negatives

Wahrzeichen für das Scheitern der Moderne.

Die Architektur Niemeyers ist oft mit der Bossa Nova verglichen

worden; wenn es die schon früh in der Ästhetik konzedierte Beziehung

zwischen Architektur und Musik gibt, dann tritt sie hier in einer

besonderer Weise hervor: die Betonbauten des Kommunisten Niemeyer

vereinigen mit ihren runden, vitalen Formen Tradition und Zukunft,

oder, wenn man so will, Ordnung und Fortschritt (»Ordem e progresso«,

dieser Satz Auguste Comtes steht auf der brasilianischen Nationalflagge).

Zugleich ist diese Architektur sachlich, ist Standard und funktional. Gilt

für den Funktionalismus die berühmte Formel »Form follows Function«,

so folgen diese Formen offenbar gänzlich anderen Funktionen. In der

Musik der Bossa Nova ist das nicht anders.4 Bossa Nova ist die

Architektur einer Moderne, die sich jenseits der linearen Auffassung

3 Vgl. Teixeira, ›Em Obras‹, a.a.O., S. 177.

4 Siehe dazu den Artikel von Hans Kroier, ›Building Bossa Nova‹, in: NEID

#10 jubilee issue (Berlin 2004), S. 48 ff.

Page 5: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 5von Geschichte bewegt; sie ist nachgeschichtlich, so wie auch in

bestimmten Zügen die brasilianische Gesellschaft nachgeschichtlich ist.

Vilém Flusser hat einmal behauptet, in Brasiliens Städten wohne man

nicht wirklich, sondern man sei beständig auf der Suche. Dies entspricht

zwar heute längst nicht mehr der sozialen Situation in den Favelas und

Gated Communities, aber als Metapher scheint das Sinn zu machen.

Vielleicht aber sind Suchen und Wohnen dasselbe, und die Architektur

markiert keine Wohnorte, sondern Treffpunkte und Fundstellen. Dass

eines der ersten Bossa-Stücke von der Heimweh und Nachhausekommen

handelt, kommt so oder so nicht von ungefähr: ›Chega de saudade‹ heißt

das Stück von João Gilbert, aufgenommen im März 1958. Flusser hat die

Suche als Suche nach dem neuen Menschen bezeichnet. Auch wenn ihm

der materialistische Zugriff auf gesellschaftliche Zusammenhänge fehlt

und er etwas naiv die Möglichkeit wie Wirklichkeit Brasiliens überhöht,

so hat er doch die Haltung beschrieben, die für die Bossa Nova

charakteristisch war, und die im Tropikalismus der brasilianischen

Kulturlinken ihr Programm fand. Insofern lohnt es, gegen die Mode,

noch einmal die Frage zu stellen, was Bossa Nova war und vielleicht noch

heute ist oder sein kann: als politische Avantgarde-Bewegung.

Tradição e contradição. Versuch II

Jemand legt Schallplatten auf; es soll brasilianisch sein. Das versprechen

die Ankündigungen: »Tradição e Contradição!«5 Wilson Simonal, Tito

Madi, Maysa, Johnny Alf, João Gilberto, Jorge Ben, Tom Jobim, Elis

Regina, Noël Rosa und so weiter. Auch Sergio Mendes und Band. Dazu

vielleicht einige Salsa- und Boogaloo-Stücke, die ja immer mit

Lateinamerika identifiziert werden, obwohl sie mitten aus New York

kommen. Irgendwann gibt es Funk und Disco aus Rio de Janeiro oder

São Paulo. Zum Beispiel den auch hier nicht unbekannten Eumir

Deodato: Fusion, Jazzrock, Synthesizerspielereien, E-Piano, bis auf die

5 Ein Wortspiel, das phonetisch im Deutschen leider nicht funktioniert:

Tradição = »Tradition«, Contradição = »Widerspruch«, zugleich aber auch

buchstäblich: »Mit Tradition«. Ebenso wäre etwas frei übersetzbar: Zug und

Gegenzug.

Page 6: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 6Perkussion eigentlich nichts sonderlich Brasilianisches. Oder die

großartige Kompilation ›Black Rio‹ mit Trio Mocoto, dem durch diverse

Sampler bekannt gewordenen ›Onde Anda O Meu Amor‹ von

Orlandivo, und einer ›Rapper’s Delight‹-Coverversion von Gang Do

Tagarelas. Oder einige ältere Hip-Hop-Sachen aus den Favelas Rios, zum

Beispiel Câmbio Negro. Bei einigen, die wegen der brasilianischen Musik

gekommen sind, macht sich Unzufriedenheit bemerkbar: Der DJ solle

doch gefälligst wieder die Musik spielen, die nach dem Schema eindeutig

als brasilianisch identifizierbar ist. Und das heißt in der Regel: Bossa

Nova – jedenfalls die Bossa Nova, die heute als Schematismus sich

durchgesetzt hat, wenn irgendwo ein Rhythmus hörbar ist, der von

schwebenden Synkopen getragen ist. Auf diesem Prinzip basiert der

derzeitige kleine Erfolg von Nouvelle Vague, die Joy Devisions ›Love

Will Tear Us Apart‹ bis Dead Kennedys ›To Drunk to Fuck‹ in Bossa-

Nova-Manier nacharrangieren. Auf diesem Prinzip basierte auch die

mittlerweile wieder etwas verebbte Mode, Jazz und House mit

Breakbeats und Bossa Nova zu kombinieren: als NuJazz, Brazilectro,

oder Brazilian Flavours (so gelegentlich der Untertitel der von Rainer

Trüby herausgegebenen Reihe ›Glücklich!‹). Bemerkenswerter Weise

basiert aber der ehemalige Erfolg von etwa Sepultura nicht auf diesem

Prinzip, obwohl Sepultura für die brasilianische Musikentwicklung

durchaus genauso bedeutend sind wie Gilberto Gil. Nach den Rastern

der Popkulturindustrie sind Sepultura ja eindeutig Metal, und eben

nicht Bossa Nova.

Gleichzeitig: die als Bossa Nova identifizierten Klänge erfreuen sich schon

lange einer großen Beliebtheit. Man muss kein Experte sein, um kleine

Melodien wie ›Garota de Ipanema‹ mitsummen zu können.

Urlaubsmusik. James Last brachte die Bossa Nova dem Partypublikum

nahe. George Michael hat mit ›Desafinado‹ die Bossa Nova in den

Neunzigern popfähig gemacht. Elektronische Musik wird erträglicher

für diejenigen, die elektronische Musik sonst pauschal als Techno

ablehnen, wenn »typisch brasilianische« Rhythmen unterlegt sind oder

eine zarte Stimme zurückhaltend über die missglückte Liebe singt. Bebel

Gilberto ist schnell Konsens; und jede Kaufhausabteilung, die junge

Mode für junge Angestellten wohlfeil bietet, genauso wie jede auf New-

Economy-Sachlichkeit getrimmte Bar, in der die jungen Angestellten ihre

junge Mode vorführen, hat ihre Bossa-Nova- und Brazilectro-Platten im

Hintergrund laufen. Bossa Nova war die erste Musik, die in den

Page 7: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 7Sechzigern von der Firma Muzak als Genre vermarktet wurde: für

Fahrstühle, Flughäfen, Parkhäuser, Shopping Malls. ›Garota de Ipanema‹

ist das am meisten gecoverte Musikstück der Welt.

Bossa Nova ist sozusagen zum Soundtrack des Spätkapitalismus

geworden. Zu Beginn des neuen Jahrtausends, in dem die rücksichtlose

Verwertungsökonomie nicht nur ihren Sieg feiern, sondern auch ständig

scheint beweisen zu wollen, werden die Orte, an denen diese abstrakte

Kapitallogik zum kulturellen Ausdruck kommt, ausgerechnet mit einer

Musik beschallt, die genau das Gegenteil von Rücksichtslosigkeit

suggeriert. Während der Postfordismus, der sich als Wiederkehr des

Liberalismus entpuppt, sich hysterisch auf der Stelle dreht, klingt die

Musik der Bossa Nova wie eine permanente (Selbst-) Beruhigung. Als

Fahrstuhlmusik hat Bossa Nova auch die Funktion, Panik in

Gefahrensituationen zu vermeiden; Musik gegen Platzangst. Nun bewegt

sich vielleicht die gesamte Moderne in einem Fahrstuhl der Geschichte,

hoch und runter. Die gegenwärtigen Zeiten sind turbulent. Die Bossa

Nova und vielleicht noch ein Glas Sekt dazu, als sei das Leben eine

einzige Vernissage, vermitteln das Gefühl, dieser Situation mit

postmoderner Gelassenheit ausweichen zu können.6 Mehr noch: Anders

als zum Beispiel deutsche Schlagermusik, die in Supermärkten und

weniger glamourösen Angestelltenkneipen eine ähnliche Funktion

erfüllt,7 gibt es bei der Bossa Nova den Anschein, man könne

Unterhaltungsmusik und Hintergrundbeschallung mit Intellektualität

6 Diesen Konformismus vermeintlicher Nonkonformisten hat Herbert Marcuse

bereits 1964 in seinem ›Eindimensionalen Menschen‹ beschrieben (ein weiteres

Geburtsjahr der Bossa Nova und der Beginn der Militärdiktatur in Brasilien). Es gibt

einen Werbespot, in dem zwei prototypische Werber – also unsympathische Idioten

– auf dem schrägen Fenster der Aussichtsplattform des Hamburger Fernsehturms

lehnen, unter ihnen der Abgrund, und sich mit Sekt zuprostend sagen: »Haben wir

noch eine Chance?« – »Nö!« – Hämisches Lachen. Dazu: Musik in Bossa-Nova-Manier.

7 Einmal davon abgesehen, dass die Bossa Nova ja auch den deutschen

Schlager beeinflusste: Berühmt der Hit ›Schuld war nur der Bossa Nova‹ und

großartig Gillas Version von ›Girl from Ipanema‹.

Page 8: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 8und (guten) Geschmack verbinden.8 Das Gefühlvolle und Tiefe, was die

von der Krise betroffene, aber sich nicht betreffen lassen wollende

Angestelltenkultur emotional berührt, ist zugleich sehr deutsch:

Innerlichkeit. So glaubt man sich gemein machen zu können mit der

Melancholie, die jungen Männer und Frauen bei der Bossa Nova

heraushören. Das Melancholische wird hierbei allerdings zum Ausdruck

genau der ewigen Wiederkehr, die »offene Wunde« – die »genussreiche

Selbstquälerei«: »Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine

tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die

Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch … die

Herabsetzung des Selbstgefühls …«9 Melancholie schlägt um in eine

spezifische Form der Arroganz, welche die gegenwärtigen Verhältnisse

nicht mehr hinterfragt, sondern »locker«, »easy«, »cool« akzeptiert.

Sozialpsychologisch manifestiert sich solche Melancholie als Depression;

sie bildet das Spiegelbild zur ökonomischen Depression der

gegenwärtigen Krise. Der wirtschaftliche Misserfolg, der Absturz von

der Karriereleiter kann als persönliches Schicksal verklärt werden, ohne

sich allzu sehr mit den tatsächlichen Umständen zu beschäftigen; man

glaubt sich in der ähnlichen Lage wie im Text der Bossa Nova der auf

ewig verlorenen Liebe nachgetrauert wird. Solche Melancholie schlägt in

den Wunsch um, dass alles so bleiben soll, wie es ist; sie wird zur

Ideologie. Die Musik wird dabei als gänzlich unpolitisch wahrgenommen,

als wäre es sogar ein besonderes Merkmal der Bossa Nova, nicht

politisch zu sein.

Hip Hop zum Beispiel ist komplizierter. Da gibt es immer eine Reihe von

Gretchenfragen, die irgendwie doch geklärt werden müssen: Wie hält

man es mit dem Ghettostyle? Wie geht man mit dem Sexismus, der

Homophobie um? Wie steht man zu den Ressentiments? Wie ist es mit

Antisemitismus? Etc. Solche politischen Implikationen scheint es beim

Konsum von Bossa Nova nicht zu geben; so unhistorisch die Musik

8 Einige Frauenzeitschriften haben ähnliche wie Musikjournals angefangen,

ihren Ausgaben gelegentlich CDs beizufügen. Bei ›Allegra‹ heißen diese

Kompilationen ›Latin Flavours‹ und bieten »presented by Bacardi« Brazil-House …

9 Sigmund Freud, ›Trauer und Melancholie‹, in: Studienausgabe Bd. II,

Frankfurt am Main 2000, S. 206, 205, 198.

Page 9: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 9rezipiert wird, so unpolitisch verschwindet sie im Hintergrundrauschen

des eigenen Lebens. Rainer Trüby hat auf seiner Kompilationsreihe

›Glücklich!‹ immer ein Volkswagenmodell, ein Schwarzweiß-Foto auf

unschuldig-weißer Fläche. Die Musik sampelt sich durch die späten

Sechziger und Siebziger Südamerikas, vor allem Brasiliens. Hier ist viel

von Sonnenschein und lauen Sommerabenden die Rede, die Copacabana

als Dauerpartystrand. Auf anderen Kompilationen gibt es dazu gleich

das Farbfoto, die untergehende Sonne über Ipanema, dazu der

Zuckerhut und eine der vielen, über ganz Brasilien verteilten

Jesuitenstatuen. Irgendwie scheint die Musik versprechen zu wollen,

für eine CD lang die Sorgen vergessen zu können. Dass sich die Bossa

Nova in der Zeit der Militärregierungen entwickelte, dass sie gleichsam

eine künstlerische Strategie darstellte, sich der angestrebten kulturellen

Hegemonie des Militärs zu entziehen, davon ist auf den

Veröffentlichungen der letzten zehn, fünfzehn Jahre, die Bossa Nova zur

europäischen und speziell deutschen Mode gemacht haben, nichts zu

hören. Freilich auch nicht davon, dass in den Sechzigern und Siebzigern

zwischen der deutschen Industrie und dem brasilianischen Militär gute

Kontakte bestanden.

Die Bossa Nova wird verdinglicht zu einem zeitlosen Stil der Mode,

eingebettet in eine Popkulturindustrie, in der die künstlerische

Kategorie des Stils mit Reklame konvergiert. Wenn irgendwo ein

Produkt als heiß, »rassig«, feurig, temperamentvoll oder schlicht

südamerikanisch beworben wird, erklingen lateinamerikanische

Rhythmen, sieht man Bikinifrauen und kräftige Burschen, die jeder und

jede rückenmarksmäßig als »typisch brasilianisch« erkennt. Doch ganz

im Gegenteil ist die Bossa Nova weniger als Stil zu verstehen, vielmehr

als Haltung, als Expression (also Ausdruck, aber durchaus im Sinne des

Expressionismus).

O que é »Bossa«? Porque »Bossa Nova«? Versuch III

Wörtlich kann Bossa Nova so etwas heißen wie neuer Hügel, neue

Traube, auch neue Führung oder, noch freier übersetzt, neue Welle.

Entstanden ist der Begriff Bossa Nova allerdings aus dem Carioca-Slang

der Endfünfziger, also aus der Alltagssprache der Einwohner Rios, und

bedeutet »Art und Weise« oder »Fertigkeit«, »Vermögen«, auch »jeito«,

Page 10: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 10wobei ein »jeito« ein Trick oder ein Kniff ist. Wenn es Schwierigkeiten

gibt, beruhigt man sich gerne mit den Sätzen »Há sempre um jeito!« oder

»Há sempe um jeitinho!« – man sagt, es gibt immer einen Trick, oder eine

kleine Lösung. Wenn jemand etwas in spezieller, origineller, aber auch

unkomplizierter Weise erledigt, dann ist es »Bossa«. Der Ausdruck

»Bossa Nova« entwickelte sich Anfang der Sechziger als Gegenbegriff

zum Alten, Veralteten, Überkommenen. Für die Musik, die jetzt als Bossa

Nova auftrat, hieß das: Alle bisherige Musik galt als obsolet,

unbrauchbar. Als Avantgarde behauptete Bossa Nova also den Bruch

mit der Tradition, ohne jedoch vollständig auf die Tradition zu

verzichten. Die Bossa Nova ist eine Modernisierungsbewegung: Samba –

um 1916 als Karnevalsmusik in Rio entstanden, auch als Musik der

Banditen verachtet – wird modernisiert; auch vom Chorinho, dem

Vorläufer der Samba finden sich Elemente. So liegen die Wurzeln der

Bossa Nova bei den Sambatistas Cartola, Nelson Cavaquinho, Carlos

Cachaça, Carmen Miranda, vor allem bei Ary Barroso und dem

»Sambaphilosophen« Noël Rosa. Wir sind im Brasilien der zwanziger,

dreißiger und vierziger Jahre. Europa wird vom nazideutschen Terror

überschattet; neben den Vereinigten Staaten ist Brasilien das größte

Einwandererland. Allerdings regiert Getúlio Vargas von 1937 bis 1945

Brasilien im Ausnahmezustand einer Diktatur. In dieser Zeit etabliert

sich der brasilianische Bigband-Sound, Dick Farney nimmt ›Copacabana‹

1942 auf; Farney ist eine brasilianische Version des Crooners, der

brasilianische Frank Sinatra. Nach einem heutigen Modewort kann man

von Aneignung sprechen; tatsächlich ist dieses parasitäre Verhältnis zur

westlichen Massenkultur typisch für die Entwicklung der

Populärkultur in Brasilien, schließlich auch wesentlich für die

Entwicklung von Bossa Nova und Tropikalismus. Vargas kehrt 1951 bis

1954 als demokratisch gewählter Präsident zurück. Dann beginnt ab

1956 das Neue Brasilien mit der Regierung Kubitschek; dies ist der

verspätete Aufbruch in die Moderne. Zur Bossa Nova gehört insofern

als Haltung der Versuch, Brasilien vom Rassismus zu befreien, die

Emanzipation der Frau, der Urbanismus und der sozialistische

Humanismus als Lebensgefühl. Die Bossa Nova, die nicht nur die Musik

umfasst, sondern ebenso Architektur, bildende Kunst und Literatur,

vor allem aber auch das Alltagsleben und seine Künste, muss als

verspätete ästhetische Moderne Brasiliens beschrieben worden, als

Avantgarde. Das ist aus zwei Gründen aufschlussreich: Erstens entstand

mithin in Brasilien eine Avantgarde-Bewegung, als anderenorts die

Page 11: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 11klassischen Avantgarden als gescheitert angesehen werden mussten – im

postfaschistischen Europa und den USA ebenso wie in der

stalinistischen und poststalinistischen Sowjetunion. Zweitens war hier

die Entwicklung der Kunst nicht von der Entgegensetzung von Hoch-

und Massenkultur bestimmt, nicht vom Widerspruch zwischen

›Avantgarde und Kitsch‹ (wie Clement Greenberg es 1939 für die USA

konstatierte), sondern von einem Zusammenspiel der ästhetischen,

kulturellen und in gewisser Weise auch politischen Kräfte.

Das Verhältnis von Hochkultur und Massenkultur drückt sich in

Brasilien ohnehin in einer anderen historischen Konfiguration aus:

Brasilien ist eine Klassengesellschaft, die aber im 20. Jahrhundert noch

wesentlich geprägt bleibt vom Gegensatz zwischen Stadt und Land, und

vom Gegensatz zwischen Haus und Straße. Dabei ist zu berücksichtigen,

mit welcher Deutlichkeit dieser Gegensatz sich darstellt: einerseits das

Hinterland, die riesigen Latifundien, der Regenwald, andererseits die

Riesenstädte wie São Paulo, Rio de Janeiro oder Belo Horizonte,

schließlich eine vollkommen künstliche Metropole als Hauptstadt:

Brasilia. Auch Anfang der sechziger Jahre bleibt Brasilien vom

Rassismus dominiert. Er trifft die Schwarzen, ebenso die indigenen

Ureinwohner und gründet in der alten portugiesischen Aristokratie,

aber auch im jesuitischen Missionsgedanken, wobei die Jesuiten – was

erst einmal paradox klingt – es ehedem auf »Rassenmischung« anlegten.

Der Beginn der Moderne als Postmoderne Ende der fünfziger Jahre. Die

Sklaverei wurde erst vor wenigen Jahrzehnten, Ende des 19.

Jahrhunderts abgeschafft, wirkt aber inoffiziell weiter: in den

Angestelltenverhältnissen des Haus- und Hofpersonals, das nicht selten

in kleinen Kammern hinter der Küche lebt. In der Vargaszeit war es der

Soziologe Gilberto Freyre, der den Mythos der »Rassendemokratie«

begründete, die er in der Rolle der Mulattin als Hausangestellte, als

Geliebte und als Kinderfrau realisiert sah; Mestizierung hieß die in den

positiven Rassismus gedrehte Forderung: größtmögliche Mischung war

das Ziel, eine Hausmannisierung der Körper gegen die sozialen

Klassenwidersprüche. Erst in den Neunzigern werden

Antidiskriminierungsgesetze im vollen Umfang eingeführt. Vor diesem

Hintergrund sind im Übrigen auch die für Brasilien typischen Favelas zu

sehen. Sie entstehen erst im 20. Jahrhundert: »Befreite« Sklaven

wandern mittellos in die Städte ab, bekommen als Bauland nur nutzlose,

ökonomisch wertlose Hügelflächen, auf denen sie Not gedrungen

Page 12: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 12provisorisch ihre Stadtteile errichten. Es sind keine wirklichen Slums,

sondern Ghettos, in denen sich auf maroden Fundamenten eine

provisorische Infrastruktur entwickelt. Und Gewalt, Armut, Angst (der

Film ›City of God‹ – ›Cidade de deus‹ – zeichnet ein sehr

sozialromantisches Bild der größten Favela Rios, bemerkenswerter Weise

mit Mitteln des modernen Werbefilms – Reklame für den fröhlichen

Positivismus des Verbrechens. Tatsächlich besteht auch in Brasilien die

Vorstellung, Favelas seien ausschließlich Orte der Unmenschlichkeit,

Drogenkriminalität. Favelas werden nicht als Lebensraum, Wohnort,

Alltagspraxis wahrgenommen. Diese Ideologie der Armut setzt sich

heute vor allem im brasilianischen Fernsehen fort, insbesondere in den

Telenovelas. In dem Film wird nicht einmal auf die Militärdiktatur

eingegangen, die die Jahre bestimmte, von denen der Film handelt).

Wenn in Berichten immer wieder zu lesen ist, dass die Bossa Nova mehr

oder weniger am Strand, an der Copacabana, entstanden ist, so ist dies

weniger eine romantische Verklärung, als konkreter Ausdruck einer

spezifischen Konstellation der modernen brasilianischen Gesellschaft, die

weniger im Klassengegensatz oder Rassismus sich bemerkbar macht, als

im »Gesetz von Haus und Straße«. Die Straße ist trotz der Urbanisierung

oder vielleicht gerade in der brasilianischen Stadtentwicklung ein

öffentlicher Ort geblieben. Die in der Bossa Nova besungene Einsamkeit,

die Traurigkeit, die Melancholie, die Liebe, das Alleinsein, das Du und

das Wir – ›Você‹, ›Agente vai levando‹ etc. All dies ist von einer

Atmosphäre der Anteilnahme, des Sympathie und Solidarität

gekennzeichnet; weswegen im Übrigen ein Liebeslied leicht umgedeutet

werden kann als Anklage einer Politik der Verschleppung und

Einsperrung. Anderseits die isolierte Öffentlichkeit der herrschenden

Gruppen: Sie leben abgetrennt, mit eigener Polizei, selbstüberwacht,

eigentlich jenseits des Staates, den sie zugleich bilden. Es ist eine

merkwürdig antiquierte und doch gegenwärtige höfische Gesellschaft,

die die Straße missachtet und das Haus verteidigt. In den mafiotisch

beherrschten Favelas in Rio und São Paulo regieren die Banden bereits in

ähnlicher Weise – manche sprechen vom Krieg zwischen Straße und

Haus. Und es ist selbstverständlich, dass ein Aristokrat nicht auf die

Straße geht, dass ein Bewohner einer Favela nicht ins aristokratische

Haus geht, sofern er dort nicht angestellt ist. Bossa Nova, und mehr

noch die Tropicalismo-Bewegung – Gilberto Gil, Jorge Ben, Caetano

Page 13: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 13Veloso, Gal Gosta, Milton Nascimento – haben versucht, diesen

Gegensatz von Haus und Straße zu überwinden.

Flussers Suche. Versuch IV

Der Philosoph Vilém Flusser lebt in São Paulo, als in Rio die Bossa Nova

beginnt. Der 1920 in Prag geborene Flusser emigrierte 1940 von

Southampton nach Brasilien; von Rio zieht er nach São Paulo. Seine

Eltern hat er nie wieder gesehen: sie werden von den Deutschen

ermordet, vergast. – Flusser veröffentlicht erst ab 1961; in den sechziger

Jahren beschäftigt er sich in zahlreichen Artikeln mit der brasilianischen

Gesellschaft – sie erscheinen in deutschen Tageszeitungen, der

›Süddeutschen‹ und der ›FAZ‹. Die Militärregierung, die politische

Repression und die soziale Misere Brasiliens spielt in seinen Texten

kaum eine Rolle. Er lehrt auch in Zeiten der Militärregierung weiter; als

1972 der Druck jedoch doch zu groß und von ihm etwa verlangt wird,

sich positiv über das Regime zu äußern, verlässt Flusser Brasilien und

zieht nach Europa zurück. Hier entwickelt er die Grundzüge seiner

Medientheorie, die er Kommunikologie nennt: eine Mischung aus

Fernsehkritik und postmoderner Diskurs- und Gestenanalyse in einem

Weltzustand, den Flusser unabhängig von der Posthistoriedebatte als

Nachgeschichte begreift. Flusser stirbt 1991 bei einem Autounfall.

Seine Arbeiten erscheinen zum Teil erst posthum, so auch der Band 5

der ›Schriften‹: ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen.

Versuch über den Brasilianer‹; eine kürzere Fassung der Textsammlung

erscheint erst 1998 in Brasilien: ›Fenomenologia do Brasileiro: Em Busca

de um Novo Homem‹. Eine neue Kultur, ein neuer Mensch. Kein neuer

Brasilianer, aber doch ›Brasilien als Modell für die künftige menschliche

Gesellschaft‹, wie ein Artikel aus der ›FAZ‹ 1966 übertitelt ist. »Was sich

in Brasilien vorbereitet, ohne in seinen Wurzeln von der Welt

verstanden, ja auch nur eigentlich beobachtet zu werden, ist eine

revolutionäre neue Art des Denkens und Nachdenkens, kurz eine neue

Kultur in den Tropen. Ob diese Möglichkeit sich verwirklicht, wird erst

Page 14: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 14die Zukunft weisen.«10 Das Grundmotiv ist die Suche. Ihr

Ausgangspunkt ist »das Erlebnis der Tropen.«11 Was dabei heraus

kommt, »ist ein Bild Brasiliens aus der Sicht eines immigrierten

Intellektuellen.«12 Es ist eine Momentaufnahme Brasiliens. Wer sie näher

betrachtet, der sieht, dass nicht nur Flusser auf der Suche ist, sondern

Brasilien selbst als eine einzige große Suchbewegung erscheint: In

Brasilien herrsche »die Stimmung des Suchens eindeutig« vor.13 Die

Suche findet jenseits der Geschichte statt; für die Suche wird alles still

gestellt. So, wie alle Innehalten müssen, wenn die Kontaktlinse heraus

gefallen ist. Diesen Zustand des Nichtgeschichtlichen nennt Flusser

»Dephasierung«.14 Dephasierung bezeichnet »die Tatsache, dass dem

Brasilianer jeder Sinn für Geschichte abgeht. Der Brasilianer denkt völlig

ungeschichtlich, und das auch dann, wenn sich sein Denken mit der

Geschichte beschäftigt.«15 So ist Brasilien durch eine Entfremdung

gekennzeichnet, durch die Abwesenheit von Tradition: »Das ganze Land

ist mit einem Aroma der Unwirklichkeit behaftet, alles ist in einem

Zustand der Schwebe und der Traumhaftigkeit und hat etwas leicht

Verrücktes … Brasilien ist eine Gesellschaft, die aus der historischen

Wirklichkeit herausgeschleudert wurde, und zwar so, dass jeder

Versuch, sich in ihr neuerlich zu verankern, Verlust der im Entstehen

begriffenen Eigenart bedeuten würde. (Ein solcher Versuch wäre

tatsächlich entfremdend.) Brasilien ist darüber hinaus eine Gesellschaft,

10 Vilém Flusser, ›Die Tropen‹, in: ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen

Menschen. Versuch über den Brasilianer‹, Schriften Bd. 5, Mannheim 1994, S. 256.

11 Flusser, ›Die Tropen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 249.

12 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften

Bd. 5, a.a.O., S. 16.

13 Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige

menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 221.

14 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften

Bd. 5, a.a.O., S. 63 ff.

15 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften

Bd. 5, a.a.O., S. 66.

Page 15: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 15die dabei ist, eine neue Wirklichkeit aus sich und für sich zu schaffen

und einen neuen Typ Mensch entstehen zu lassen. Was also als

Entfremdung gedeutet wird, kann im Gegenteil den ersten Schritt zu

einer Selbstbewusstwerdung bedeuten.«16 Flusser sieht in der

Dephasierung die Ursache für die besondere Entwicklung der Kultur in

Brasilien, die er als Mischung und Synthese charakterisiert.17 Hier

berührt Flusser wenigstens am Rand die politische Entwicklung der

ehemaligen Großkolonie Brasilien und kommt fast in die Nähe von

Lenins Zweikulturentheorie:18 bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war

Brasilien »eine seltsame Gesellschaft. An der Oberfläche herrschten

lateinische Begriffe, so wie sie die Kolonisatoren mit Portugal und

Frankreich erneuern versuchten. Aber in ihrer neuen Umgebung waren

diese Begriffe unecht, und die ganze offizielle Kultur hatte den Stempel

der Unauthentizität zu tragen. Unter der Oberfläche begann sich eine

Synthese des portugiesischen und afrikanischen Erbteils anzubahnen.

So kann man eigentlich von zwei Kulturen sprechen.«19 Wichtig dabei,

dass dieses Verhältnis von Hochkultur und Alltagskultur nicht dem

üblichen Schema der kulturellen Hegemonie zu folgen scheint. Eine

16 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften

Bd. 5, a.a.O., S. 106.

17 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften

Bd. 5, a.a.O., S. 36: »Offensichtlich ist Brasilien ein Land der Mischung. Aber

potenziell, und in mancher Hinsicht auch schon effektiv, ist es ein Land der

Synthese.«

18 Vgl. Wladimir I. Lenin, Werke Bd. 20, Moskau 1961 ff., S. 8 f.: »In jeder

nationalen Kultur gibt es – seien es auch unterentwickelte – Elemente einer

demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine

werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine

demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch

eine bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale)

Kultur, und zwar nicht nur in Form von ›Elementen‹, sondern als herrschende

Kultur.«

19 Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige

menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 222.

Page 16: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 16bürgerliche Kultur hat sich in Brasilien als legitimatorische Leitkultur

nur mit Gewalt aufrechterhalten können. Während in Europa,

Nordamerika und teils auch Asien die Hochkultur sich im Zuge der

Modernisierung verfestigt hat oder sogar den Kern der Modernisierung

bildete (bis zur Ab- und Auflösung durch die Popkultur Ende des 20.

Jahrhunderts), ist in Afrika, Südamerika und insbesondere Brasilien die

Hochkultur gewissermaßen aus der Modernisierung herausgerutscht

und obsolet geworden und wirkt nunmehr antiquiert. Bereits im

brasilianischen Barock zeigen sich diese Spuren des Niedergangs. Im

Brasilien des 20. Jahrhunderts wirkt die offizielle Kultur (Opern etc.)

schließlich vollends gekünstelt. »Und die unterirdische, so wie sie sich

in Volksmusik, in Volksplastik und Malerei, in den Volkssagen und in

Tracht und Küche ausdrückt – und diese ist, nach meiner These, eines

der Elemente der neuen Kultur von heute. Die offizielle stirbt aus oder

ist ausgestorben.«20 Eine neue Kultur tritt auf die Straße hinaus. Nicht in

den Galerien und auf den Biennalen findet Kunst statt, »sondern im

Straßenbild in Gestalt von Plakaten, Auslagen und Kleidung, in den

Wohnungen in Gestalt von Möbeln, Wandbemalung und Verschalung,

in Banken und Fabriken in Gestalt von ›unzweckmäßigen‹

Einrichtungen usw. kommt ein neues ästhetisches Erleben zum

Ausdruck, das seinem Wesen nach spielerisch, ja verspielt ist.«21

In diesem Klima entwickelt sich in den Sechziger Jahren also die Bossa

Nova – als erster Ausdruck der Suche nach der neuen Kultur, als neue

Kultur selbst. Es gelingt der Bossa Nova »nämlich eine Verschmelzung

semantischer und syntaktischer Aspekte, die ihrerseits zu einer

Verschmelzung von Ästhetik und Ethik führt, wie sie der Westen seit

dem Mittelalter nicht kannte.«22 Oder: »Dichter und Komponisten aus

intellektuellen Klassen setzen Texte und Partituren zusammen, Texte, die

20 Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige

menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 222.

21 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften

Bd. 5, a.a.O., S. 140 f.

22 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften

Bd. 5, a.a.O., S. 139.

Page 17: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 17oft die politische Lage, oft die existenzielle Situation formulieren, und

Partituren, die die afrikanische religiöse Musik parodieren.«23 Bossa

Nova interpretiert Flusser als Symptom für seine Unterscheidung von

Zeitgeist und Ortsgeist. Trete der Zeitgeist stärker hervor, so Flusser,

handelt es sich um eine ausgesprochen historische Kultur (Flussers

Beispiel ist die romanische Kirche, für die bezeichnender ist, dass sie

romanisch ist, aber weniger bezeichnend, dass sie etwa katalanisch ist).

Tritt dem entgegen der Ortsgeist stärker hervor, werde nach Flusser die

Geschichtlichkeit der Kultur in Frage gestellt (sein Beispiel: beim

ägyptischen Tempel ist der Ort Ägypten wichtig, weniger die Dynastie,

in der er gebaut wurde, weil die Historizität der ägyptischen Kultur

zweifelhaft ist). Schließlich gibt es die Kulturen, die gänzlich

ungeschichtlich seien, bestimmt durch das völlige Zurücktreten des

Zeitgeistes (Flussers Beispiel: die afrikanische Kultur, die afrikanische

Maske). Die Zeit ihrer Entstehung bleibt unbekannt, der Zeitgeist

sinnlos.24

Auch in der Retrospektive scheint diese Verschiebung von Zeitgeist und

Ortsgeist für die Bossa Nova konstatiert werden zu können. Überhaupt

entfaltet sich die Differenzierung von Zeitgeist und Ortsgeist in der

Popkultur. Ein merkwürdiges Verhältnis von Raum und Zeit, von

Geschichte und Mode, von Gegenwart und Aktualität bestimmt

Popkultur insgesamt: Popgenres wie Metal, Funk, Disco, Soul, Rock ’n’

Roll, Punk, Beat etc. können auf der Zeitachse der Popgeschichte

verortet werden; leicht lässt sich ungefähr sagen, welches Genre in

welches Jahrzehnt gehört, auch, welches Genre sich aus welchem

entwickelt hat. Hardcore, das waren die Achtziger; Nirvana, das war die

letzte globale Subkultur innerhalb der endgültig globalen

Kulturindustrie der Neunziger. Dass solche Musik hauptsächlich aus

den USA oder aus Großbritannien gekommen ist und kommt, ist

Nebensache. Mehr noch: Je weniger der räumliche Herkunft eine Rolle

spielt, umso wichtiger scheint der zeitliche Bezug zu sein – eine Mode,

23 Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige

menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 227.

24 Vgl. Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in:

Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 125.

Page 18: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 18die zur Geschichte wird, die erneuert werden muss, oder vergeht, die als

Retrophänomen wieder auftreten kann, oder wenigstens im Mainstream

kanonisiert wird (die besten Beispiele nach wie vor: The Beatles, Rolling

Stones, The Who etc.). Dagegen die Popgenres, die sich seit jeher im

Abseits der üblichen Pophistorisierung bewegen und innerhalb der

Popkultur tendenziell geschichts- beziehungsweise zeitlos auftreten:

Tango, Reggae, Weltmusik, Latin, Salsa, Country & Western eben auch

Samba oder Bossa Nova. Vielleicht kann der Jazz insgesamt dazugezählt

werden, oder zumindest der Jazz, den Adorno als eine ›Zeitlose Mode‹

bezeichnete.25 Wir assoziieren Tango mit Argentinien (oder, in

spezifischer Variante, mit Finnland), Reggae mit Jamaika, Weltmusik

jedenfalls nicht mit den USA und Europa, Latin mit Kuba oder

Südamerika, Country & Western in sehr expliziter Weise mit den

Vereinigten Staaten. Bei Samba denkt man gemeinhin an Karneval in Rio;

in der Musik, die wie Bossa Nova klingt, glaubt man die spezifische

brasilianische Lebenseinstellung, die traurigen Tropen, zu hören. Aber

an welche Zeit denken wir, wenn wir Bossa Nova oder Samba hören? Ist

es ein exakter Zeitbezug, ist er geschichtlich? Haben wir eine Vorstellung

vom Brasilien der sechziger und siebziger Jahre, wenn wir vage die

Bossa Nova mit diesen Jahrzehnten in Zusammenhang bringen?

Nutzlose Landschaft, Popkultur, letzter Versuch

Bossa Nova ist zunächst als eine Vereinfachung zu verstehen: Aus

einfachen Harmonien, Rhythmen, Texten wurden so Standards

entwickelt, ohne allerdings im kulturindustriellen Schematismus der

Standardisierung aufzugehen. Zwar kann ungefähr davon ausgegangen

werden, dass die Bossa Nova in Rio Anfang der sechziger Jahre begann,

doch gibt es keinen wirklichen Ursprung, keinen Ort, kein Datum. Bossa

Nova ist bereits in der Zeitlosigkeit gegründet, und überdauert auch in

dieser Zeitlosigkeit die Geschichte Brasiliens: Von 1964 bis 1985 wird

Brasilien vom Militär regiert, und die Bossa Nova, später der

Tropicalismo, die Idee der MPB, die Música popular brasileira, wird zu

25 Vgl. Theodor W. Adorno, ›Zeitlose Mode. Zum Jazz‹, in: GS Bd. 10·1, S. 123

ff.

Page 19: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 19einer geradezu heimlichen Widerstandsform, zur kulturellen Opposition:

zu einer ästhetischen Avantgarde in einer Zeit, in der die politische

Avantgarde unterdrückt und marginalisiert ist.

Wenn man also versucht, der Bossa Nova einen Ort und ein Datum zu

geben, so erscheint die Copacabana, der Strand von Ipanema, als

sicherer Ort im Abseits. Nara Leão, Carlos Lyra, Roberto Menescal,

Ronaldo Boscoli, Baden Powell, João Gilberto, Chico Buarque etc.

Künstler und Intellektuelle, eine progressive Jugendbewegung, die

zusammen mit einer kleinen kommunistischen Linken wenige Jahre

später zum Schreckgespenst erklärt wird: Die Militärregierung hat ihre

Herrschaft stets dadurch legitimiert, dass sie Brasilien vor den Gefahren

des Sozialismus schützen muss – eine Gefahr indes, die leider nie

wirklich bestand. Im Gegensatz zu anderen Nationen Südamerikas war

die Arbeiterbewegung, waren die Kommunisten in Brasilien sehr

schwach, obwohl eine quasi-sozialistische Grundhaltung jenseits der

Politik verbreitet war. Chico Buarque ist der in der Diktatur am meisten

zensierte und verbotene Künstler. Und einer der beliebtesten.

Auch in der brasilianischen Militärdiktatur spiegelt sich das Verhältnis

von Haus und Straße, vom Alltagsleben und Staat: Die

Militärregierungen bedeuteten Terror, blieben aber zugleich in der

brasilianischen Gesellschaft der siebziger Jahre im Hintergrund.

Gleichwohl kann für die brasilianische Gesellschaft nicht von einem

regressiven Konformismus gesprochen werden, von einer massenhaften

Akzeptanz oder Unterstützung der Militärs wie etwa für die deutsche

NS-Gesellschaft. Gleichgültigkeit artikulierte sich als politische Haltung.

Sie fand in der Musik ihren Ausdruck. Die Diskussionen, die es

zwischen verschiedenen Strategien von Bossa Nova, Tropikalismus und

MPB gegeben hat, stehen in ästhetischer Opposition zum

Kulturverständnis der Militärs: Die Militärs wollten weißen, männlichen

Mainstreamrock zur universellen Leitkultur machen, gegen die

intellektuelle, urbanistische, avantgardistische Popkultur der Massen,

gegen Samba, gegen schwarze Musik, gegen Bossa Nova, gegen

Tropicalismo. In der Bossa Nova machte sich politische Frustration

bemerkbar, die Tropikalisten forderten dagegen eine traditionsbezogene

populäre Kultur, die Verbindung von Rock, Funk, später auch Punk mit

Samba. Vor allem bildende Künstler wie Lygia Clark, Hélio Oiticica oder

Cildo Meireles diskutierten, ob die Frage der ästhetischen Avantgarde

Page 20: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 20inhaltlich oder formal zu lösen ist, drastischer: plakativ oder

formalistisch. Die Bossa Nova hat diese Dialektik von Form und Inhalt

als modernen Manierismus aufgelöst: im Gehalt, das heißt in der Form,

die dialektisch durch den Inhalt vermittelt ist. Aufgehoben ist das in

den melodischen Harmonien, in den singenden Septakkorden, in den

stehenden Tönen – zumeist Flöten oder Streicher –, in den rhythmischen

Figuren, den jede Hektik, jede Eile fehlt: Jazz. Die Haltung scheint

ohnehin dem Jazz verwandt; Bossa Nova verhält sich zu Samba wie Cool

Jazz zum Bebop. Dass die Bossa Nova über den Jazz nach Europa und in

die Vereinigten Staaten kam, ist bezeichnend (1962 Bossa-Nova-Konzert

in der Carnegie Hall New York). Die Aufhebung des Formalismus-

Problems gelang über die Setzung von Standards, die sich allerdings in

der Kulturindustrie als Standardisierungen verlängerten,

verdinglichten. Derart ist die Bossa Nova zum Stil geronnen, schließlich

zum Lifestyle: die brasilianische Ideologie vom Ortsgeist, von der ewigen

Wiederkehr der Schönheit, der Melancholie, des Karnevalesken: Rio,

Ipanema, Copacabana. Dagegen bleibt allerdings die unterirdische

Geschichte, die Inkraftsetzung des Zeitgeistes, die politische Avantgarde

einer ästhetischen Haltung, die in der Musik von Thereza Hermany und

Tom Jobim hörbar ist (und man sollte Vinicius de Moraes und Carlos

Drumond dazu nennen). Jobim komponierte in Ipanema Bossa-

Standards: ›Garota de Ipanema‹, ›Agua de Beber‹, ›Eu sei que vou te

amar‹, ›A felicidade‹, ›Insensatez›‹, ›O amor em Paz‹, ›Por toda a minha

vida‹, ›O grande amor‹, ›O morro não tem vez‹, ›Ela é Carioca‹, ›Dindi‹,

›Samba do avião‹. Als das Militär 1964 die Straßen besetzt und den

Widerstand zerschlägt, sitzen Jobim und seine Freunde zuhause,

bekommen von der Machtergreifung nichts mit. Es wird klar: die Musik

hat keinen wirklichen Bezug zur Politik, ist in diesem Augenblick

nutzlos für den Widerstand. Im entscheidenden Moment fehlt die

Verbindung zwischen der ästhetischen Avantgarde und dem politischen

Widerstand. Als Jobim von dem Putsch hört, nennt er ein gerade

arrangierte Stück ›Inútil Paisagem‹, nutzlose Landschaft. Diese

Landschaft ist dieselbe politische Landschaft, mit der Heimweh in

Gilbertos ›Chega de saudade‹ gemeint war. Aus der Suche wird jetzt

Flucht: nach Los Angeles, New York, nach London, nach Nürnberg

(Baden Powell), oder ins brasilianische Hinterland. Jobim komponiert

epische Werke wie zum Beispiel ›Matita Perê‹ (1973), schließt damit an

seine frühen sinfonischen Arbeiten an.

Page 21: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 21Die Kulturindustrie, die sich in der Nachkriegszeit entfaltet, ist allgemein

als demokratisch beschrieben worden. In den sechziger Jahren gerät das

System ins Wanken, dessen starrer Schematismus schon in den

Fünfzigern bloß ideologisch aufrechterhalten werden konnte: Rock ’n’

Roll, Soul, Reggae, Beat. Irgendwo zwischen »Klassik« und

Unterhaltungsmusik: Jazz. Die künstliche Dichotomie von Rock und Pop

wurde plötzlich von ganz anderer Musik durchkreuzt: zum Beispiel und

wesentlich die Bossa Nova. Das heißt die entscheidenden Impulse für die

massendemokratische Kulturindustrie und ihr eindimensionaler

Konformismus der Konsumenten kommen ausgerechnet von einer

Musik, die sich im Schatten einer protofaschistischen Diktatur

entwickelte. Die Bossa Nova bricht exzentrisch in den Mainstream ein,

kommt – wie zuvor schon in den Wartehallen und Fahrstühlen – aus

dem Off, von außen.

Auch wenn der exzentrische Perfektionismus der Bossa Nova

musikalisch erst einmal nichts mit Punk zu tun zu haben scheint: In der

Haltung haben Bossa Nova und Punk durchaus einiges gemein, vor

allem die Ironie, die Fähigkeit zur distanzierten Selbstkritik. Die ohnehin

schwierige Kategorie des Authentischen wird in der Bossa Nova sowenig

wie im Punk mit dem Echten, mit falscher Ehrlichkeit, mit Ursprung

verwechselt. Tatsächlich geht es auch hier um eine ironische Brechung

des Ernstes. Sowenig wie im Punk »No Future« Resignation meinte,

sowenig ist die Melancholie in der Bossa Nova Hoffnungslosigkeit und

Depression. Es kommt nicht von Ungefähr, dass ein postmoderner

Ironiker wie David Byrne Ende der Achtziger, also am Ende von New

Wave, die brasilianische Musik wieder entdeckt, vor allem den Bossa-

Nova-Zwölftöner Tom Zé; und dass Arto Lindsay sich heute, weg vom

Jazzcore, auf Bossa-Nova-Spuren bewegt, passt ebenfalls zu dieser

Wahlverwandtschaft zwischen Punk und Bossa Nova. Bands wie Os

Mutantes haben das schon in den Siebzigern versucht, musikalisch zu

fassen. Das Ironische in der Bossa Nova ist vielmehr als Engagement zu

verstehen, Ausdruck einer Haltung und eben nicht formalistischer Stil

der Mode. Es ist das radikale Eingeständnis, dass die Musik eigentlich

überflüssig ist, solange die Welt so ist, wie sie ist: eben eine nutzlose

Landschaft, eine sinnlose Geräuschkulisse – und so wurde die Bossa

Nova zur Geräuschkulisse einer absurden Welt. Die Bossa Nova soll

heute das Image musikalisch untermalen, dass man Sekt und Cocktails

trinken kann, ohne sich im Rausch daneben zu benehmen. Als Stil ist die

Page 22: Behrens – Bossa Nova – Seite 1alt.rogerbehrens.net/bossanova.pdf · Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas

Behrens – Bossa Nova – Seite 22Musik apollinisch, als Haltung aber ist sie dionysisch: Bossa Nova heißt,

sich mit musikalischen Mitteln sinnlos besaufen. Auf Tom Jobims

›Wave‹ findet sich als letztes Stück ein taumelndes, überzogenes

Trinklied: ›Captain Bacardi‹. Die Melodie stolpert im Breakbeat über sich

selber, einfach und unnötig, zum Tanzen unbrauchbar. Die Platte wurde

im Exil produziert. Auf dem Cover: Afrika, eine Giraffe, ein

schwankendes Tier. Die Suche nach dem neuen Menschen geht weiter.

(Und auf jeder Schallplatte steht drauf, dass sie Kultur ist: »Disco é

cultura«.)

Literatur

Ruy Castro, ›Chega de saudade: a história e as histórias da Bossa Nova‹,

São Paulo 1990. In diesem Buch findet sich eine sehr ausführliche

Diskografie, S. 437 ff.

José Eduardo Homem de Mello, ›Música popular brasileira‹, São Paulo

1976.

Vilém Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen.

Versuch über den Brasilianer‹, Schriften Bd. 5, Mannheim 1994.

Vilém Flusser, ›Fenomenologia do Brasileiro: Em Busca de um Novo

Homem‹, Rio de Janeiro 1998.

John Malathronas, ›Brazil. Life, Blood, Soul‹, West Sussex 2003.