83
383 (Aus dem physiologisehen Institut der Universitht Graz.) Beitrfige zur Physiologie des Geruehs, des Geschmaeks, tier Hautsinne und tier Sinne im Allgemeinen. Von Professor Alexander llollett. (Nit 1 Textfigur.) Einleitung. Es soll in der vorliegenden Abhandlung zun~ichst t~ber die Wirkuna' des Chlorotbrms und des Aethers auf Gerueh, Gesehmaek und Hautsinnesnerven gehandelt werden. Man erwarte aber nieht etwa Versuehe abet die Einwirkung der Chloroform- oder Aether- narkose auf die Sinnesempfindungen~ wie solehe bekanntlieh von FrShlieh u. A. vorliegen. Meine Untersuehungen werden nut die Wirkung yon Chloro- form und Aether als periphere Sinnesreize betreflhn. Die Veranlassung, reich mit diesem Gegenstande zu beseh~tftigen, war eine gelegentliehe Beobaehtung. Die Untersuehungen dehnten sieh abet dann auf andere Gebiete in unvorhergesehener Weise aus. Ieh beobaehtete wiederholt die Empfindungen, welehe das Chloroform hervorruft, wenn man es im Falle yon totaler, dureh Sehnupfen erworbener oder aueh kanstlieh erzeugter Anosmie far alle neun yon Zwaardemaker ~) naeh Linn~'s, Haller's und Lorry's Vorgange untersehiedenen Geruehselassen (atherisehe, aromatisehe, balsamisehe, ambrosisehe, zwiebelartige, brenzliehe, hireinisehe, widerliehe und ekelhafte Geraehe) bei vollkommen ge- sehlossenem Munde dureh die Nase einzieht. Diese Empfindungen unterseheiden sieh wesentlieh yon den Empfindungen, die man hat, wenn man das Chloroform dureh die Nase einzieht, w~thrend das Verm6gen far das Ilieehen yon t{e- 1) Die Physiologie des Geruehs S. 207. Leipzig 1895. E. Pflfiger, Archiv ffir Physiologie. I',d. 74. 26

Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

383

(Aus dem physiologisehen Institut der Universitht Graz.)

B e i t r f i g e

z u r P h y s i o l o g i e d e s G e r u e h s , d e s G e s c h m a e k s ,

t i e r H a u t s i n n e u n d t i e r S i n n e i m A l l g e m e i n e n .

Von

Professor A l e x a n d e r l l o l l e t t .

(Nit 1 Textfigur.)

Einleitung. Es soll in der vorliegenden Abhandlung zun~ichst t~ber die

Wirkuna' des Chlorotbrms und des Aethers auf Gerueh, Gesehmaek und Hautsinnesnerven gehandelt werden. Man erwarte aber nieht etwa Versuehe abet die Einwirkung der Chloroform- oder Aether- narkose auf die Sinnesempfindungen~ wie solehe bekanntlieh von F r S h l i e h u. A. vorliegen.

Meine Untersuehungen werden nut die Wirkung yon Chloro- form und Aether als periphere Sinnesreize betreflhn.

Die Veranlassung, reich mit diesem Gegenstande zu beseh~tftigen, war eine gelegentliehe Beobaehtung. Die Untersuehungen dehnten sieh abet dann auf andere Gebiete in unvorhergesehener Weise aus.

Ieh beobaehtete wiederholt die Empfindungen, welehe das Chloroform hervorruft, wenn man es im Falle yon totaler, dureh Sehnupfen erworbener oder aueh kanstlieh erzeugter Anosmie far alle neun yon Z w a a r d e m a k e r ~) naeh L i n n ~ ' s , H a l l e r ' s und L o r r y ' s Vorgange untersehiedenen Geruehselassen (atherisehe, aromatisehe, balsamisehe, ambrosisehe, zwiebelartige, brenzliehe, hireinisehe, widerliehe und ekelhafte Geraehe) bei vollkommen ge- sehlossenem Munde dureh die Nase einzieht.

Diese Empfindungen unterseheiden sieh wesentlieh yon den Empfindungen, die man hat, wenn man das Chloroform dureh die Nase einzieht, w~thrend das Verm6gen far das Ilieehen yon t{e-

1) Die Physiologie des Geruehs S. 207. Leipzig 1895. E. Pflfiger, Archiv ffir Physiologie. I',d. 74. 26

Page 2: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

'384 A l e x a n d e r R o l l e t t :

pri~sentanten der neun Geruchsclassen also in ganz normaler Weise vorhanden ist.

Sparer filhrten i~hnliche Beobachtungen und Versuche mit Aether zu denselben Resultaten.

Um far das Wesen der angefilhrten Verschiedenheit einen den

neueren Untersuchungen iiber die Beziehungen yon Geruch und Ge- schmack entsprechenden Ausdruck zu finden, will ich vorerst auf

das yon Z w a a r d e m a k e r definirte gustatorische Riechen hin- weisen, zu weh:hem unsere Wahrnehmungen am Chloroform und Aether ein Gegenstiick bilden.

Das gustatorische Riechen wird yon Z w a a r d e m a k e r 1) be-

kanntlich yore ,,auswendigen Riechen", i. e. ,directen Riechen" oder ,,Nasenriechen" unterschieden. Es tritt ein, wenn Sub- staazen, die schmecken und riechen oder auch nut allein riechen, weil sie Bestandtheile yon Speisen und Getri~nken sind, in die Mund-

hShle eingeffihrt werden, und der Geruch derselben aus der Mund- hi~hle in den Pharynx und durch die Choanen zur Riechregion auf-

steigt. Dabei kommt ab~r die psychologisch h0chst bemerkenswerthe Erscheinung vor, dass unter diesen Umstiinden die Menschen, wie

durch viele Beispiele ~) erwiesen ist, gewohnheitsmi~ssig den Eindruck, welchen sie vom Geruchsorgane her bekommen, auf den Geschmack beziehen und keine Kenntniss davon haben, wie viele ihrer vermeint-

lichen Geschmacksempfindungen eigentlich dem Geruche angehiJren. Erst besondere Aufmerksamkeit auf die Trennung yon Geruch

und Geschmack, welche durch yon der Wissenschaft gelehrte be-

sondere Methoden mi~glich ist, belehrt sie dann zu ihrem Erstaunen yon dem wirklichen Sachverhalte.

Als Gegensttick zu diesem gustatorischen Riechen muss nun ~las Schmecken bezeichnet werden, welches zu Stande kommt, wenn in dem in die ~NasenhOhle eintretenden Luftstrome Substanzen ent-

halten sind, die zugleich riechen und schmecken oder schmecken

allein und durch ,,Sp~ren" zu geschmacksempfindlichen Theilen ge- fiihrt werden. In diesem Falle kann Schmecken mit Riechen ver- wechselt werden.

Und man kOnnte dieses Schmecken als olfactorisches Schmecken im Gegensatze zum gustatorischen Riechen bezeichnen, wenn man

1) 1. c. S. 74. 2) Aroma yon Weinen, Khsen u. A. m.

Page 3: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des: GerUchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 3 8 5

nicht Schmecken yon der Nase her oder nasales Schmeeken als Be- zeichnungen vorziehen wollte.

Schon Z w a a rd e in a k e r ~) widmet schmeekbaren Riechstoffen eine kurze, ganz atlgemein gehaltene Betrachtung. Das nasale Sehmecken, welches beim Einziehen yon mit Chloroform- oder Aether- :dhmpfen geschwangerter Luft durch die Nase zu Stande kommt, verdient aber eine gan:" besondere Betrachtung, und eine solche wird spiiter auch noeh auf andere Substanzen yon analoger Wirkung aus- gedehnt werden massen.

Bei normaler Function des Riechorgans wird beim Einziehen yon Chloroform oder Aether gleiehzeitig der ~therische Gerueh und der s%se Geschmack des Chloroforms, beziehungsweise der bittere Gesehmack des Aethers wahrgenommen. Im Falle "con Anosmie dagegen nur der sasse, beziehungsweise bittere Geschmaek dieser Substanzen.

Man kann abet aueh unter normalen Verhaltnissen den Gerueh des Chloroforms oder des Aethers isolirt zur Wahrnehmung bringen. Ausser auf den Geruch und Geschmaek wirken aber das Chloroform und der Aether auch in mehrfacller Weise auf die Hautsinnesnerven 2), und verdient ihre Kfdteempfindung erzeugende Wirkung namentlich im Vergleiche mit der yon G o l d s e h e i d e r studirten Wirkung des Menthols und ebenso ihre brennenden Sehmerz erzeugende Wirkung eine genauere Beaehtung, als diese Wirkungen bisher gefunden haben.

I. Chloroform.

Ehe ich meine Beobachtungen tiber das Chloroform in den oben dargelegten Beziehungen an der Hand yon Versuchen zusammen- stelle, m0chte ich noch einige Bemerkungen i~ber die einsehl~igige Literatur maehen.

S tiehS) hat, als er die Frage der Schmeckbarkeit yon Gasen, die wit heute kaum mehr als diseutirenswerth ansehen kSnnen, be-

1) 1. c. S. 237. 2) In Bezug auf diese Wirkung wird es sich bei unseren Versuehen nut

um die Wirkung des Chloroforms als localen Sinnesreiz handeln und nicht etwa um die yon B r o w n - S d q u a r d (Socidt5 de biologie 1880 p. 235, 1881 p. 18,

1882 p. 28 u. 91) und sp~tter yon R o g e r (Arch. de Physiol. [5] vol. 5 p. 17, 1893) naeh ausgedehnter Application yon Chloroform auf die Haut yon Thiercn

beobachteten sonderbaren Reflex- und Choc-Erscheinungem 3) Annal. d. Charit~-l(rankenhauses 3ahrg, 8 S. 105. Berlin 1857.

26*

Page 4: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

886 Alexander Rol lett :

handelte, auch das Chloroform in den Kreis seiner Untersuchungen gezogen. Nachdem er sich iiberzeugt hatte, dass das Chloroform

yon der vorgestreckten Zunge bei zugehaltener Nase und eng auf die Zunge gepressten Lippen stiss geschmeckt wird, gibt er an, dass

diese Empfindung durchaus identisch sei mit der, welche man hat, wenn man das Chloroform riecht. Und er folgert daraus, dass das

Chloroform nur auf den Geschmack wirke. u 1) bekampft die Behauptung S t i c h ' s , dass die

silssliche Geschmacksempfindung identisch sei mit jener Empfindung,

die man hat, wenn man Chloroform riecht; ,,man kann sich leicht t~berzeugen, dass das nicht der Fall ist: wenn man Chloroform mit

geschlossenem Munde riecht, wird man eine Geruchsempfindung haben, die ganz verschieden ist ~on jener Empfindung, die bald darauf

entsteht, und welche einem deutlich stisslichen Geschmack entspricht." Eine Frage, die, wie wir sehen werden, sehr wichtig ist, bleibt aber

bei u und S t i c h unerledigt, namlich die, w o u n d wie die beim Riechen von Chloroform entstehende Siissempfindung, die auch V i n t s c h g a u zugeben muss, zu Stande kommt.

B e a u n i s 2) hat fiir seine Bestimmungen der Reactionszeiten

des Geruchssinnes auch das Chloroform, und zwar als rein olfactive Substanz, "qerwendet, und Z w a a r d e m a k e r erwi~hnt in seiner Physiologie des Geruches 8) alas Chloroform ganz kurz in der Classe

der atherischen Geriiche, in welche die echten Aether der Alkyle und die Halogenderivate derselben gehSren.

Dagegen findet sich in einzelnen Lehrbiichern das Chloroform wieder nut als schmeckbare Substanz angefiihrt, z. B. bei E l l e n -

b e r g e r 4 ) , wo es heisst: yon anderen Stoffen sagt man, dass sie

riechen, wi~hrend sie thats~ichlich nur geschmeckt werden, z. B. das Chloroform.

Die Wirkung des Chloroforms auf die Hautsinnesnerven ist bei G o 1 d s c h e i d e r 5j ganz kurz bert~hrt.

Mit einem Wattebausch auf die Haut applicirtes Chloroform

11 Physiologie des Geschmackssinnes. H e r m a n n ' s Handbuch Bd. 3 H. 2 S. 197.

2) Gazette todd. de Paris 1883 p. 65. 3/ S. 217. 4) Der Geschmackssinn. Handbuch d. vergl. Hist. u. Physiol. der Haus-

sii, ugethiere Bd. 2 Th. 2 S. 906. Berlin 1892. 5) Gesam. Abhandl. Bd. 1 S. 272. Berlin 1898.

Page 5: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 387

soll unter brennender Sensation eine Herabsetzung der Sensibilit~t

bedingen. Ich lasse nun die Mittheilung der u die ich angestellt

habe~ folgen und werde an geeigneter Stelle die Bemerkungen und

Folgerungen anschliessen, zu welchen sie Veranlassung geben. 1. Bewegt man, wiihrend der Mund vollstiindig geschlossen ist,

ein rundes, etw~ 4,5 cm weites und 2,5 cm hohes, mit etwas Chloro- form geffflltes Glasschi~lchen rasch yon rechts nach links und um-

gekehrt unter dem vordersten Theil tier Nase vorbei, etwa so, dass der zugekehrte Rand des Schhlchens mit der vordersten Grenze des Nasenloches zusammenfi~llt, und zieht dabei nur o'anz ]eiGht die Luft in die Nase ein, so nimmt

man den gtherischen Ge- ruth des Chloroforms sehr bald ganz deutlich wahr

und hat, ich sage kaum, eine andere Emi)findung dabei, wenn man das

Sch~lchen dann alsbald wiede[ entfernt.

Ebenso kann man eiue mSglichst reine Em-

pfindung des Geruches yon Chloroform sich verschaf- fen, wenn man sich der

folgenden kleinen Vorrich-

tung bedient. Ein Riech- rohr yon 15 cm LSnge (s. Fig. 1) ist in einem pas-

senden Halter befestigt. Es ist 5 m m i m Lichten

J l r ~ i j

Fig. 1.

s

welt, vorn zu 2 cm rechtwinklig aui~ebogen, am anderen Ende nach

der entgegengesetzten Seite rechtwinklig zu 4 cm abgebogen und in einen Trichter yon 3 cm Weite und 2 cm Tiefe abergehend. Der Rand

des Trichters reicht yon oben ein wenig in das Innere eines passenden

SchSlchens, welches am Boden mit wenig Chloroform gefallt ist und auf einem an demselben Halter befestigten Tischchen s t e h t . Der vorderste Theil eines Nasenloches wird wieder bei vollkommen ge-

schlossenem Munde t~ber das aufgebogene R~)hrchen gebracht, die

Luft ganz leicht in die Nase eingezogen, und sobald der Geruch

Page 6: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

388 Alexander Rollett:

deutlich wird, entfernt man sich yon der Vorrichtung. Dass man den Geruch des Chloroforms yon den anderen Wirkungen desselben auf die 57erven in der obigen Weise nahezu trennen kann, ist often- bar der sehr niedrig liegenden Reizschwelle des Chloroforms fiir das Geruchsorgan zuzuschreiben. P a s s y 1) bestimmte das minimum perceptibile ffir das Chloroform zu 0,000 030 g. Damit stimmt auch fiberein, dass man in einem Zimmer, in welchem man Chloroform in oftener Schale hingestellt hat, beim Betreten nut den Chloroform- geruch wahrnimmt und keine Wirkung desselben auf andere Sinne, wie wit sie in den spi~teren Abschnitten kennen lernen werden, verspiirt. Ich hatte gerne selbst nach Z w a ar d em a k e r ' s Methode, und zwar mittelst dessen Olfactometer mit Flt~ssigkeitsmantel den Olfactienwerth des Chloroforms direct bestimmt, allein dieser Versuch scheiterte an dem Umstande, dass ich fiir das Chloroform bis jetzt kein geruchloses Verdt~nnungsmittel ausfindig machen konnte.

2. Bewegt man das friiher angeftihrte SchMchen wieder bei vollkommen geschlossenem Munde nur langsam in der beschriebenen Weise an der Nase vorbei und zieht dabei die Luft tiefer in die ~ase ein, dann nimmt man zuerst den Geruch des Chloroforms wahr, darauffolgend sptirt man voriibergehend leicht etwas Ki~lte, welche Empfindung aber bald yon einer dominirenden Si~ssempfindung, die auf ihrer HiJhe alles andere Empfinden verdr~ngt, gefolgt ist; an die Siissempfindung schliesst sich wieder ein eigenthtimliches Geftihl yon KMte und gleichzeitigem Brennen an, bis das letztere allein am deutlichsten hervortritt.

l~och viel besser als bei dem beschriebenen Versuche nimmt man Geruch. Ki~lte, Stiss. wieder Ki~lte und Brennen wahr, wenn man bei vollkommen geschlossenem Munde durch das beschriebene RShrchen ein Mal krifftig Luft einzieht, wobei man aber langere Zeit ein darauf folgendes Ausathmen oder ein Schlucken vermeiden muss, da letztere Bewegungen den Ablauf der Erscheinungen stSren.

In beiden Versuchen, namentlich aber bei dem letzteren, tritt ganz deutlich eine Localisirung dei Empfindungen hervor; diese spricht sich zuni~chst darin aus, dass der Geruch wo anders wahr- genommen wird als die iibrigen Sensationen. Die KMte glaube ich in~ den hinteren Theilen tier Nase, im Rachen und an der hinteren Flache des weichen Gaumens wahrzunehmen, und an den letzteren

1) Comptes rendus t. 116 p. 769.

Page 7: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrhge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 389

Orten tritt auch die Silssempfindung auf ihrem HShepunkte ein. Ich habe dabei ganz entschieden die Empfindung, dass in der Mund: hShle selbst keine Stissempfindung vorhanden ist, Das Brennen tritt in den vorderen Theilen der Nase, im Naseneingange und wieder aloft, wo die Silssempfindung localisirt war, am deutlichsten hervor und dauert, wenn man bei eingehaltenem Athem die Erscheinungen bis an ihr Ende verfolgt, li~nger an als alle anderen Empfindungen, klingt aber dann leise aus.

Man kSnnte meinen, dass ich mir die besprochene Localisation erst im Laufe der Versuche mit dem Chloroform neu erworben habe; alas kann ich aber nicht zugeben, da ich reich genau erinnere, dass mir auch die ersten Versuche, die ich anstellte, genau denselben Eindruck hervorbrachten wie alle fotgenden. Ich habe aber Ver- suche, wie ich sie an mir selbst anstellte~ wie am Schlusse mit- getheilt werden soll, auch an anderen Individuen angestellt und bin bei allen gleich yon vornherein auf die besprochene Localisation ge- stossen. Ich werde aber auf die Frage der Localisation spi~ter noch zurfickkommen.

3. Wird das Schitlchen mit Chloroform bei sorgfitltig ein- gehaltenem Athem unter beide 1N~asenlScher gehalten, so tritt nach vorfibergehendem leichten Kiiltegefiihle an der NasenSffnung nach einiger Zeit Anfangs leises, dann immer sti~rkeres und endlich schmerzhaftes Brennea in der NasenSffnung auf, ohne Beimischung einer anderen Empfindung. Zieht man, wenn dieses Brennen ein- max bis zu einer bestimmten Intensiti~t gelangt ist, kri~ftig durch die Nase einmal Luft ein und halt wieder den Athem an und ver- meidet das Schlucken, so nimmt man jetzt in der unter 2 be- schriebenen Weise: Geruch, Ki~lte, Silss, wieder Kalte und Brennen wahr, in der dort angefahrten Reihenfolge und Localisation.

4. Alle unter l , 2, 3 mitgetheilten Versuche habe ich auch ausgeffihrt bei durch Schnupfen oder kiinstlich durch Eingiessen yon Flfissigkeiten in die Nasenh(~hle erzeugter totaler Anosmie (gegen Reprasentanten aller neun Geruchsclassen).

Ich werde fiber solche Anosmieen in einem spateren Abschnitte Einiges noch mittheilen; hier nut, dass das Ergebniss ~on nach dem Schema 1, 2, 3 ausgeffihrten Versuchen bei Anosmie bis auf die mangelnde Geruchsempfindung, was Khlte, Stissempfindung und Brennen anlangt, mit Bezug auf Zeitfolge und Intensiti~t das in jenen Versuchen angegebene ist.

Page 8: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

890 : Alexander Rollett:

S t i ch 1) gibt an, dass er, wenn er sich durch Eingiessen yon Wasser in die Nase Anosmie erzeugte, beim Schnt~ffeln yon Chloroform dieses in der gewiShnlichen Weise wahrnahm, also siiss~ wie sich aus unserer frt~heren Darstellung ergibt. W i e es kommen konnte, dass Stich bei vorhandenem Geruchsvermi)gen den Geruch des Chloroforms nicht bemerkte, werde ich spi~ter zu erkli~ren versuchen.

5. Wenn man bei zugehaltener Nase sich das Schi~lchen mit Chloroform dicht vor den geSffneten Mund halt, wobei der Kopf fiber das Schhlchen geneigt wird und, als ob man in den Mund etwas einschltirfen wollte, mit einem kurzen, krifftigen Stoss, ohne dabei tief einzuathmen, mit Chloroformdampfen geschwangerte Luft aufnimmt und darauf, ohne die Mundtheile weiter zu bewegen, den hthem einhi~lt, tritt wahrend dieser Proceduren, vom Beginn des Einschlt~rfens an gerechnet, auf: leises Kiiltegef~hi, auf welches rasch eine intensive, deutlich yon vorn nach hinten fortschreitende Siiss- empfindung in der ganzen MundhShle iblgt, die alle anderen Ein- drilcke verdriingt und viel intensiver ist als die Silssempfindung bei dem in den frt~heren Abschnitten beschriebenen Einziehen yon mit Chloroformdi~mpfen geschwi~ngerter Luft durch die Nase.

Wenn die Stissempfindung schwi~cher wird und erlischt, tritt Anfangs, sehr undeutlich zu beurtheilen, weil mit dem Siiss selbst wieder abklingend, ein leichtes Brennen ein, welches aber dann schwach lange nachdauert und immer mehr verschwindet. Es ist ganz schwach, auch wenn man den Mund dann schliesst', noch zu ftihlen.

Aus den bisher mitgetheilten Versuchen ergibt sich, dass das Chloroform eine sehr vielseitige Wirkung auf periphere Sinnesnerven austlbt, die sich, da die Reactionszeiten fiir seine einzelnen Ein- wirkungen merklich verschieden sind, leicht bei einiger Auf- merksamkeit yon einander trennen lassen. Nach den Resultaten der mitgetheilten Versuche milssten diese Reactionszeiten vom kleinsten zum grOssten Werthe so geordnet werden: a) fiir Geruchsempfindung, b) ft~r Kalteempfindung, c) f~lr Geschmacksempfindung, d) for Schmerz- empfindung,

Ist das aber nicht bloss scheinbar, bedingt durch die ver- schiedenen Orte, wo das mit dem Luftstrome eingesogene Chloro- form seinen wirklichen Angriffspunkt als Reiz findet?

1) 1. c. S. 114.

Page 9: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrage zur Physiologic des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 391

Zur theilweisen Aufklarung dieser Frage werden die folgenden Yersuche filhren.

6. Auf die Zungenspitze wird ein mit Chloroform vollgesogener Haarpinsel mit seinem Ende aufgesetzt.

Der Pinsel ist yon mittlerer GriSsse (Durchmesser des Kieles beim Austritte der Haare 4--5 mm, Lange des freien Theiles 20 ram), sein freies Ende bildet eine ebenmi~ssig zulaufende Spitze.

Man sitzt vor einem Spiegel, halt unter die Nase ein diinnes Brettchet~ welches mit seinem ausgerundeten Rande an (lie Ober- lippe ansehliesst~ und hat die Zungenspitze zwisehen den sie eng um- fassenden Lippen vorgestreckt. Beim Aufsetzen des Pinsels und ruhigen Daranhalten desselben empfiudet mail: 1. sofort die Be- riihrung, 2. zunehmende Ki~Ite, 3. Siiss, 4. Brennen, welches bald so intensiv wird, dass es alle iibrigen Empfindungen iiberti)nt. Entfernt man dann den Pinsel, so wirkt nur der Eindruck des Brennen- den lange nach und wird dabei immer schwacher. KNte, Sass und Brennen treten nicht nur in der genannten Beihenfolge beginnend, sondern aueh in dominirender Weise hervor, so dass zuerst KMte, dann Siiss, dann Brennen dominirt, und ist noch zu bemerken, dass sieh die Siissempfindung viel raseher an die Kalteempfindung ansehliesst, als das Brennen an die Srlssempfindung, so dass die letztere liinger auf ihrer HOhe bleibt, his sic yon dem zuletzt domi- nirenden Brelmen verdri~ngt wird.

( ) h r w a l l ' ) gibt an, dass bei seinen Reizversuchen an den pilzfSrmigen Papillen tier Unterschied zwischen den Reactionszeiten tier einfachen Empfindungen in der Weise hervorgetreten sei, dass zuerst ,,(lie Berahrung des Pinsels und beinahe gleichzeitig oder etwas sphter eine Kalteempfindung (~hnlich der, welche bei Reizung eines KMtepunktes auf der Haut entsteht)" gefiihlt werde. ,,Darauf tritt die Geschmackssensation ein, steigt bis zu einer gewissen H6he, sinkt etwas langsamer und verschwindet nach wenigen Seeunden."

Bei unseren Versuchen mit dem Chloroform finden wir bei der beschriebenen Applicationsweise die Reactionszeit far Empfindungen yon Hautsinaesnerven, far die tactile Empfindung und die KMte- empfindung, abereinstimmend mit () h r w a 1 l , kiirzer als die Reactions- zeit ftlr die Gesehmaeksempfindung, die sich ~thnlieh entwickelt, wie das 0 h r w a l ! anft~hrt; aber merkwardiger Weise ist diese

1) Skandinavisehes Archiv f. Physiologie B& 2 S. 55.

Page 10: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

'392 Alexander Rollett:

Reactionszeit ihrem Werthe nach eingeschaltet zwischen den Reactions- zeiten ffir die tactile Empfindung und die KMteempfindung einer- seits und der viel grSsseren Reactionszeit einer anderen Hautsinnes- empfindung, der des Brennens, andererseits. Diese Thatsache ist wichtig, und wir werden auf dieselbe spi~ter gewisse Schlussfolgerungen bauen; zu dem Ende miissen wir uns aber vorerst noch der Wirkung des Chloroforms auf solche Stellen zuwenden, wo sich allein Haut- sinnesnerven verbreiten.

7. Wird der mit Chloroform angesogene Pinsel mit der Spitze auf das Roth tier Unterlippe bei lest geschlossenem Munde gesetzt und ruhig daran gehalten, so fiihlt man 1. sofort die Bertihrung, 2. steigende KMte, 3. die KMte verdrangend steigendes Brennen.

Wenn man mit dem Pinsel alas Roth der Unterlippe, yon der einen zur anderen Seite fahrend, einmal bestreicht, so ftihlt man 1. die Bertihrung, 2. steigende Kalte, 3. Brennen. welches bald dominirt und, lange nachdauernd, immer leiser werdend ausklingt.

Setzt man bei nach abwarts geneigtem Kopfe das friiher be- schriebene, mit einer Schicht Chloroform 7eftillte SchMchen bei fest- geschlossenem Munde rasch luftdicht tiber die Lippen auf, jedoch so, dass fltissiges Chloroform nirgends mit der Haut in directe Be- rilhrung kommt, dann ftihlt man ganz voriibergehend leichte Kalte, worauf ein immer starker werdendes Brennen sich einstellt, welches schliesslich sehr intensiv wird; entfernt man dann rasch den Kopf vom SchMchen, dann halt das Brennen an, man hat aber den Ein- druck, als ob sich demselben jetzt eine KMteempfindung zumischen wtirde, und als ob bald Kgdte, bald Brennen dominiren wi~rde, bis schliesslich alle KMteempfindung schwindet, und nur das Brennen andauert, welches noch lange leise nachwirkt. Beim letzteren Ver- suche tritt also KMteempfindung am deutlichsten dann auf. wenn die Lippen aus dem mit Chloroformdampf geshttigten Raume wieder an die Luft gebracht werden, und das auf denselhen condensirte Chloroform yon denselben abdunstet.

8. Setzt man den mit Chloroform angesogenen Pinsel mit der Spitze auf die Haut des unteren Augenlides, so filhlt man 1. Be, rilhrung, 2. KMte und 3. sehr bald intensives, zum Schmerzhaften sich steigerndes Brennen, welches nach Entfernung des Pinsels nach- dauert und allmMig ausklingt; die letzte schwache Geftihlsalteration ist sehr lange zu spiiren.

Page 11: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrage zur Physiologie des:Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 393

Derselbe Versuch gelingt auch auf der Wangenhaut7 und ist

das Brennen auch dort bis zum schmerzlichen gesteigert. 9. Setzt man den Pinsel mit dem Chloroform auf die Conjunctiva

palpebrarum des umgesttilpten unteren Lides, so fiihlt man die Be-

rtihrung, Kttlte kaum, bald aber einen iiusserst heftigen, mit Brennen

beginnenden Schmerz. Setzt man bei nach abwarts geneigtem Kopfe

ein 20 mm weites und 12 mm tiefes, rundes Schgdchen, auf dessen Boden sich eine dtinne Schicht Chloroform befindet, luftdicht tiber

das sorgfiiltig geschlossene Auge, dann ftihlt man zuerst K~ilte, dann immer intensiver werdendes und schliesslich schmerzhaftes Brennen;

6ffnet man bei einem solchen Versuche rasch ein wenig die Lider, so tritt sehr heftiges, kaum ertragliches schmerzhaftes Brennen mit

starken Refiexbewegungen der Lider auf. Wir haben bisher tlautstellen in Betracht gezogen, auf welche

die schmerzerregende Wirkung des Chloroforms sich mit steigender

Intensittit geltend inachte. Wit wollen nun den umgekehrten Weg einschlagen und Haut-

stellen untersuchen, wo diese Wirkung des Chloroforms sich viel

weniger iiussert, da wir auch diese Thatsachen spiiter ftir Schliisse

zu verwerthen gedenken. 10. Setzt man den Pinsel mit Chloroform auf die Haut der

Stirne, so fiihlt man die Beriihrung, steigende K:,'dte und dann

leises Brennen; auf tier Haut des Handrtickens und des Handtellers hat man dieselben Eindrticke, nur ist die letzte Sensation noch

weniger ausgesprochen, namentlich am tIandteller nur mit aller Auflnerksamkeit noch zu versptiren, und auf der t laut der Finger-

beere nehme ich yon derselben trotz der grSssten Aufmerksamkeit nichts wahr. Ganz sicher steht abet so viel lest, dass an allen

unter 10 genannten Hautstellen die Empfindung des Brennenden bei den genannten Versuchen gar nicht in Betracht kommt im Ver- gleiche mit jener, die auf den unter 9 genanuten Haut- und Schleim-

hautstellen zu Stande kommt. Streicht man mit dem mit Chloroform angesogenen Pinsel ein-

real yon einer zur anderen Seite quer fiber die Haut der Stirne,

dann ftihlt man Bertihrung, intensive K~ilte, welche einige Zeit dominirt, dann kommt leises und zuletzt dominirendes Brennen,

welches immer schwticher wird, his schliesslich eine an das Brennen sieh anschliessende, ganz leise Geftihlsalteration nachzudauern scheint.

Dabei ist die Hautstelle, fiber welcbe der Pinsel bingeftihrt wurde,

Page 12: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

394 A l e x a n d e r R o l l e t t :

geriSthet, und diese RSthung verschwindet allmi~lig. Streieht man einmal mit dem Chloroform enthaltenden Pinsel unterhalb tier KOpfchen der Mittelhandknochen quer yon einer Seite zur andern fiber die Haut des Handrackens, so empfindet man wieder Berfihrung, Kalte und hat dann eine Sensation, ithnlieh wie an der Stirne, aber viel schwi~cher, und wenn man einen ithnlichen Versuch in derselben HiShe quer fiber dem Handteller ausftihrt, wird die letzte Sensation noch schwitcher. Eine nachtritgliche RSthung der Haut ist in den drei zuletzt angeffihrten Versuchen nicht zu bemerken.

Es ist sehr merkwtirdig, dass man dann an den beiden letzt- genannten Orten geneigt ist zu sagen, es folge dem Kt~ltegefilhl ein leises Wg~rmegeffihl. Ich glaube aber nicht, dass wir mit Rficksicht auf unsere frfiheren Versuche hier ein eigentliches Warmegefilhl an- nehmen kSnnen. Wir kommen hier auf einen sehr schwierigen Gegenstand. Leises Brennen, also eine Empfindung, die durch immer mehr und mehr herabgesetzte Erregung derjenigen Hautsinnes- nerven; die uns auf der HShe der Erregung schmerzhaftes Brennen verursachen, entstanden gedacht werden muss, fliesst im Inhalte unserer Empfindungen zusammen mit Warmeempfindung und ist yon der letzteren kaum mehr zu unterscheiden, v. F r e y 1) hat vor einiger Zeit far calorische Reize diese Schwierigkeit hervor- gehoben. Bei der ErSrterung der Frage, ob yon der Conjunctiva des Auges aus Wg, rmeempfindung vermittelt werde oder nicht~ sagt er, dass eine Schwierigkeit for die Beobachtung darin liege, dass sich leicht brennende Empfindungen, welche sich unter der Grenze des Temperaturschmerzes einstellen, verwechseln lassen mit um- schriebenen Wi~rmeempfindungen.

Ich muss gleich hier an die eben gemachten Mittheilungen einige ~,orlitufige Bemerkungen ankntipfen, auf welche ich spater zu ver- weisen haben werde. Es wurde eine besondere sogenannte Schmerz- qualititt bertihrt, welche als Temperaturschmerz, und zwar als Wi~rmeschmerz auftritt. Leichte, brennende Empfindung, durch Witrmereiz auf Hautstellen hervorgerufen, die keine Whrme empfinden, hittte die Bedeutung, dass der durch diesen Reiz hervorgerufene Schmerz ohne eine neben derselben vorhandene Witrmeempfindung in einer qualitativ besonderen Weise, ni~mlich als brennender Schmerz,

1) Berichte d. math.-physik. Classe der Kgl. sachs. Gesellsch. d. Wissensch. S. 171. 1895.

Page 13: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitr~ge zur Physiol.ogie des Geruchs, des Geschmacks, tier Hautsinue etc. 395

wahrgenommen wird. Unsere Beobaehtungen ~lber die Wirkung des Chloroforms zeigen, dass durch dieses Mittel, welches gleichfalls keine W~trmeempfindung hervorruft, wie wir gesehen haben, eine ganz

~hnliehe Sehmerzqualit~tt hervorgerufen wird. Das sind sehr bemerkenswerthe Thatsaehen.

Wir reassert nun aber aueh noch alle unter den Punkten 7--10 mitgetheilten Untersuchungen fiber die Wirkung des Chloroforms auf die Hautsinnesnerven einer weiteren EriSrterung unterziehen. Wir

stossen dabei auf die folgenden wichtigen Befnnde: Ueberall bringt

das Chloroform zuerst Kfdteempfindung und erst darauf folgend Brennen und Schmerz hervor. Die K~lteempfindung ist auf allen Hautstellen eine ganz hhnliche und im Allgemeinen nur mit der

GrSsse des Fl~eheninhaltes der yore Chloroform getroffenen Haut- oberflftehe ausgebreiteter, knffallende locale Untersehiede der Kglteempfindung in Bezug auf ihre Intensitat bei mOgliehst gleieher

Application des Reizes treten bei den Versuehen nieht hervor. Ganz

anders ,erhiilt sieh, wie den Versuehen ohne Weiteres zu entnehmen ist, das dureh das Chloroform hervorgerufene Brennen. Dieses ist

je naeh der Stelle, auf welehe tier Reiz applicirt wird, ein sehr ver- sehiedenes. Einmal kaum inerklieh, dann wieder im Gegensatze dazu sehr intensiv und in anderen F~allen zwisehen diesen Extremen

liegend. Diese Wirkung ctes Chloroforms ist nut zu ,~erstehen, wenn

wir voraussetzen, dass es sieh dabei um die Erregun~ yon zweierlei versehiedenen Nerven durch zweierlei versehiedene Reize handelt.

Erstens handelt es sieh um die Erregung der Kaltenerven, und zweitens um die Erregung anderer, yon dell ersteren versehiedener

sensibler Nerven. Dass die ersteren tiber die ganze H~ut viel diehter und gleiehmitssiger vertheilt sind als die letzteren, k0nnte aus

unseren Versuchen nut dann gesehlossen werden, wenn (lie I/eiz-

wirkung der Chloroforms auf beide Nervenarten dieselbe w~re. Das ist aber nieht der Fall, denn der yon uns angewendete

P~eiz hat aueh eine zweifache Wirkungsweise. Die eine Wirkung ist dynamiseh. Das yon der Haut verdunstende Chloroform entzieht

derselben Warme, und das dadureh bedingte Sinken der Haut- temperatur erzeugt uns das K~ltegefClhl, welches also dureh einen

wirklich ealorisehen I~eiz erzeugt wird, weleher raseh in die Tiefe dringt, wo er seinen Angriffsimnkt fin(let. Dieser Reiz trifft die Kaltenerven. Die zweite Wirkung ist eine substantielle. Das Chloro-

Page 14: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

396 Alexander Rol le t t :

form wird von der Haut absorbirt und wirkt als chemischer Reiz auf andere sensible Nerven in der Haut, und diese zweite Wirkung

i s t in hohem Grade abhangig yon der Besonderheit der b~erven- endigungen, ihrer Vertheilung und den i~ber denselben liegenden

Deckgebilden, welche an verschiedenen Stellen der Haut wieder ver- schiedene sind.

Von diesen Umsti~nden wird die Art der Aufnahme und die Wirkungsintensitht des chemischen Reizes in hohem Grade abhi~ngig

sein mi~ssen. Es muss schon hier hervorgehoben werden, dass aus

der Analyse der Erscheiimngen sich mit Nothwendigkeit ergibt, dass die dynamische Reizwirkung des Chloroforms andere Nerven in der

Haut treffen muss und die chemische Reizwirkung des Chloroforms wieder andere sensible Nerven der Haut.

Erst spi~ter wird uns die Bedeutung der mittelst des Chloro- forms ermittelten Thatsachen far die Lehre yon der Existenz mehrerlei specifischer Sinnesnerven der Haut noch nigher beschaftigen.

Ich will hier vorerst wieder zurackkehren zur Wirkung des

Chloroforms auf Oberfl~chen, an welchen sich auch Geschmacksnerven ausbreiten, um einiges aber die Localisation der Geschmaeksempfindungen

und ganz besonders jener Geschmacksempfindung zu bemerken. welehe beim Einziehen des Chloroforms durch die Nase entsteht.

Der folgende Versueh soll nur ganz vorzt~glieh den letzteren Zwecken dienen. Und nur weil er diese Aufgabe erfOllt, ist er trotz der Complicationen, die er darbietet, yon Werth.

11. Ein HornlSffel yon ovaler Form, dessen langer Durchmesser 3 era, dessert kurzer Durchmesser 1,7 em betr~tgt, mit 7 cm langem Stiel, wird in seiner in der Mitte 4 mm betragenden Vertiefung mit

einem 15 mm langen und 10 mm breiten Flecken aus Wollenstoff

(Lampendocht) ausgelegt und der Flecken in seiner Mitte mit einem kleinen Tropfen yon Wasserglas am L6ffel befestigt.

Ist das Klebemittel fest geworden, dann ist tier L6ffel zum Ge- brauche fertig.

Es wird dann so viel Chloroform in den L6ffel gebracht, als der Wollenstoff in sich saugt, ohne dass der L6ffel sonst irgendwo mit Chloroform befeuehtet w~ore.

Der LSffel mit dem Chloroform wird nun rasch in die Mund-

h6hle eingefahrt, so dass er dicht hinter die Zahnreihe zu liegen

Page 15: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Oeruchs, aes Geschmacks, der Hautsinne etc. 397

kommt, und in dieser Lage mittelst Z~thnen und Lippen, die um den Stiel lest geschlossen werden, so festgehalten, dass der LSffel ganz frei in der MundhShle liegt, ohne Zunge oder Gaumen zu berahren.

Zuerst so, dass die Hi~hlung des LSffels mit dem mit Chloroform angesogenen Flecken nach oben dem Gaumen zugewendet ist.

Ich empfinde dann, wenn nach dem Einfiihren des LOffels die Zunge und aile Theile des Mundes vollkommen ruhig gehalten werden, und durch die Nase ganz ruhig geathmet wird, voriiber- gehend leichte KNte, zu dieser gesellt sieh Stissempfindung, die vorne am Gaumen beginnt, immer ausgebreiteter wird und naeh hinten zum weichen Gaumen und nach unten zur Zunge fortschreitet; wahrend dessen entsteht auch steigendes Ki~ltegefiihl, welehem sich aber immer intensiver werdendes Brennen beigesellt, wi~hrend die Stissempfindung untergeht und dann anf~nglich bald kalt, bald Brennen dominirt, bis alas letztere allein die Oberhand gewinnt. Oeffnet man dann in einem Acte die MundhShle, entfernt den LSffel und hSlt wieder hlles ruhig, so eml)findet man w~thrend des Oeffnens K~lte und S%s namentlich an den vorderen Theilen der Zunge, welche Sassempfindung bei bestehendem K~iltegefiihl wieder schwindet, wahrend sich dem letzteren leichtes Brennen beimischt~ welches allein lange naehdauert. Bewegt man dann die Kiefer und die Zunge, um den Mund zu schliessen, dann tritt, so wie der Speichel im Munde sich bewegt, neuerlich voriibergehend Siissempfindung namentlich in den vorderen Partieen der Zunge auf.

Stelle ich einen solchen Versueh nut mit dem Unterschiede an, dass tier LSffel mit der Hi)hlung nach unten sieht, so ist der Veflauf ein ganz 5hnlicher, nur habe ich den bestimmten Eindruck, dass die erste schwache Sassempfindung dann an der Partie der Zunge entsteht, i~ber weleher sieh der LSffel befindet; bald gesellt sich aber dieser eine ausgebreitete, nach hinten und oben fortsehreitende intensive Sassempfindung bei.

Nach den angefahrten Versuchen ist es mir nicht zweiMhaft, dass wir Gesehmacksempfindungen in der Mundht~hle localisiren, wenn diese Localisation auch nicht im Entferntesten mit jener der tactilen Eindriicke zu vergleichen ist.

Aueh fallt es mir nicht bei, zu glauben, dass diese Localisation eine primitre, an den reinen Geschmackseindruek allein gekniipfte ist.

Zu einer solchen Beweisft~hrung w~ire unser Iteizmittel, welches,

Page 16: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

398 Alexander Rollett :

wie wir ja ausf~hrlich dargethan haben, auch die Hautsinnesnerven erregt, ganz ungeeignet.

Es ist vielmehr in hohem Grade wahrscheinlich, dass die be-

schriebene grobe Localisation der Geschmacksempfindungen auch nicht vorhanden ware, wenn sich nicht auf den Schmeckfi~chen auch

Hautsinnesnerven ausbreiten warden. Allein das letztere ist eben der Fall , und diese Hautsinnes-

nerven haben zur Orientirung auf den Schmeckflachen gefflhrt, so dass

wir je nach der Application des Geschmacksreizes die Erregung, welche er setzt, mehr oder weniger fein zu localisiren im Stande sind.

Die Beobachtungen, welche wir bei unserem Li)ffelversuche in dieser Beziehung gemacht haben, sind uns aber werthvoll for das

Versti~ndniss des nasalen Schmeckens des Chloroforms. Ich habe vorausgehend angefiihrt, dass friihere Beobachter die

Frage unerledigt gelassen haben, w o u n d wie die beim Riechen yon Chloroform entstehende Silssempfindung zu Stande kommt.

Bei meinen Versuchen babe ich aber unter 2 angefiihrt, dass

ich ganz deutlich die Empfindung habe~ dass das nasale Schmecken yon Chloroform auf der hinteren Flache des weichen Gaumens zu

Stande k o m m t l ) u n d nicht in der Mundh0hle. Far diese meine Anschauung ist mir der Li~ffelversuch mit einer

kleinen Zuthat ein neuer Beweis. Wenn bei dem beschriebenen Versuche mit dem L0ft'el in allen Theilen der Mundhi)hle schon das

Brennende dominirt und die Sassempfindung v(~llig zurtickgetreten ist, wird das friiher erwithnte Schglchen mit Chloroform unter die

Nase gebracht und Luft durch dieselbe eingezogen; sofort nimmt man, und zwar ganz entschieden ausserhalb der Mundhi~hle~ im

Rachen und an der hintern Oberfltiche des Gaumens, die beim Ein- ziehen yon mit Chloroform geschwt~ngerter Luft auftretende Siiss-

empfindung wahr . Die Beobachtungen tiber das nasale Schmecken yon Chloroform

stehen in Uebereinstimmung mit der yon U r b a n t s c h i t s c h s) und yon K ie s o w s) angegebenen Ausdehnung der Schmeckflachen, yon

welchen der erstere neben uvula, Arcus palatoglossus, weichem und harteln Gaumen, Oberflitche, I~itnder und Basis der Zunge auch die

1) Eine histologisehe Untersuchung des weichen Gaumens habe ich be- gonnen, und werden die Resultate derselben nachfolgen.

2) Beobachttmgen tiber Anomalieen des Geschmacks etc. S. 43, Stuttgart 1876. 3) Wundt, Philosophische Studien Bd. 10 S. 345. Leipzig 1894.

Page 17: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitr~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 899

hintere Rachenwand anft~hrt, wi~hrend der letztere neben Spitze und Basis der Zunge, weichem Gaumen, vorderen Gaumenpfeilern und Kehldeckel ebenfalls die hintere Rachenwand auffiihrt.

Ja diese Angaben werden mit Bezug auf die hintere Oberfliiche des weichen Gaumens, welcher zusammen mit der Rachenwaad beim nasalen Schmecken eine besondere Bedeutung zukommt, noch ergiinzt.

12. Zur besseren Begriindung tier im Abschnitte 11 aufgestellten Folgerungen und einzelner in frilheren Abschnitten mitgetheilten Ergebnisse zog ich die zuerst yon E d g e w o r t h erkannte, von Hooperl)~ Shore ~) und Kiesow 8) weiter untersuchte Wirkung der Gymnema silvestris auf die Geschmacksaerven heran. Ich bediente mich ausser des Decoctes yon 5 % der Bl~ttter auch der yon H o o p e r und R u h e m a n n als wirksame Substanz der Blatter erkannten Gymnemas~ure, die ich yon M erc k in Darmstadt bezog, und welche sehr wirksam war. Das letztere Pri~parat wendete ich zumeist an, und zwar bereitete ich mir nach einigen Vorversuchen mittelst 58% igen Alkohols eine 5 % der Si~ure enthaltend~ LSsung~ da ich land, dass Alkohol yon solchem Gehalte die Si~ure in der genannten Menge noch 15se und ich gerne sthrkeren Alkohol als LSsungsmittel vermeiden wollte.

Ich stellte meine ersten Versuche in der Weise an, dass ich die Zungenspitze mehrere Male, etwa zehn Mat, mit der genannten Li~sung der Gymnemas~ure bepinselte, was eine Zeit yon 1/4 Minute in Anspruch nahm; darauf wurde die Zungenspitze m i t Wasser abgespti]t. Gleich darnach ist die Wirkung des Aufsetzens eines in Chloroform getauchtea Pinsels die folgeude: Man fi~hlt 1. die Be- riihrung, 2. K~lte, die immer intensiver auftritt~ his 3. Brennen mit zunehmender Intensitht empfunden wird.

Die Zungenspitze verhMt sich jetzt sehr i~hnlich dem rothen Lippensaume bei i~hnticher Prtifung. Die gymnemisirte Zungen- spitze fi~hlt die leiseste Bertihrung mit einem feinen Haare ganz deutlich, und so wenig Ms die Beri~hrungsempfindung ist die Empfindung der Kalte oder des Brennens bei tier Reizung mit Chloroform be- eintri~chtigt, nur die Silssempfindung ist ausgefallen.

1) H o o p e r , Nature vol. 35 p. 565. 2) S h o r e , Journal of physiology vol. 13 p. 191. 3) K i e s o w , Philosophische Studien, herausg, yon W u n d t Bd. 9 S. 510.

E. Pflfi.ger, Archly fhr Physiologie. Bd. 74. 27

Page 18: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

400 Alexander Rollett:

Es ist leicht, sich zu iiberzeugen, dass jetzt die Zungenspitze auch Zucker und Glycerin nicht schmeckt. Bei den Versuchen mit Chloro- form miissen die Lippen sehr sorgfi~ltig fiber der vorgestreckten Zungen- spitze geschlossen werden, und ebenso muss zwischen ~ase und Mund ein passend der Oberlippe sich anlegendes Brettchen gehalten werden, damit nicht etwa durch auf hintere Teile der Zunge: und MundhShle gelangende oder dutch die Nase eingezogene Chloroform- di~mpfe eine Si]ssempfindung entstehe, welcbe die Reinheit des an- gefiihrten Versuches stSren wiirde.

Die Siissempfindung ist bei diesen Versuchen an der Zungen- spitze durch acht 8tunden und li~nger aufgehoben, und man hat darum reichlich Gelegenheit, die Application des Chloroformreizes zu wiederholen. Dabei ist es mir aufgefallen, dass, wenn man, wie es bei mir der Fall war, vorausgehend viele Versuche an der normalen Zunge mittelst Chloroforms in der angefilhrten Weise ge- macht und sich die Aufeinanderfolge der Reizwirkungen in die Er- innerung eingeprhgt hat, bei Versuchen an der gymnemisirten Zungen- spitze~ wenn der Eindruck der zunehmenden Ki~lte sich entwickelt, man auch den Eindruck gewinnt, als ob in einem bestimmten Inter- valle die Siissempfindung auftreten miisste.

Vor einer solchen Suggestion bewahrt nur die iiftere Wieder- holung tier Versuche, die abwechslungsweise Application des mit Chloroform getri~nkten Pinsels auf Zungenspitze und Lippenroth und die Prtifung der Zungenspitze mit ZuckerlSsung oder Glycerin, womit man die g~nzlich mangelnde Si~ssempfindung sehr leicht con- statiren kann.

Nach diesen orientirenden Versuchen an der Zungenspitze schritt ich zu anderen Versuchen vor.

Es wurden 15 ccm der besagten Gymnemasi~ure-L0sung in die MundhShle aufgenommen, in der Mundh(ihle herumgespi]lt, dann -gegurgelt, wieder herumgespfilt, wieder gegurgelt und nach 1/4 Minute aus der Mundhiihle entfernt und die Mundhiihle mit Wasser (lurch Proceduren wie die Vorerwi~hnten wieder ausgewaschen. Wird darauf der friiher unter 11 beschriebene Li~ffelversuch angestellt, dann

/

treten die dabei beschriebenen Sensationen ohne jede Spur yon Stissempfindung auf, wenn Schlucken und Einathmen durch die Mundhiihle vermieden werden. Auch hier kann man Control- versuche mit Zucker und Glycerin anstellen, wie bei dem friiheren Versuche.

Page 19: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des.Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 401~

Wird, w~hrend so die MundhShle ganz unter der Wirktmg :tier

Gymnemasi~ure steht, die auch hier Stunden lang.anhi~lt, Chloroform

durch die Nase eingezogen, so nimmt man deuflich St~ssempfindung wahr, ftlr welche also nur hintere, beim Gurgeln nicht getroffene

Schmeckfli~ehen functioniren kOnnem Und auch beim Einathmen yon Chloroform durch die Mundhi~hle empfindet man erst ganz hinten si~s, wahrscheinlieh wegen des Aufsteigens yon Chloroform-

di~mpfen in Rachen und Nase. Zum Abschlusse dieser Versuche schien es mir nun noch noth-

wendig, auch die letzteren Schmeckfii~chen mit Gymnemasaure zu

treffen, und das suchte ieh in der Weise zu bewerkstelligen, dass ich mir mittelst eines Nasenschiffchens oder eines Fr~tnkl 'schen Nasenspiilers fiber die hintere Fli~che des weichen Gaumens Gymnema~ture laui~n

lassen wollte, welche durch den Mund wieder ausgesptfit werden sollte.

Ich muss erwi~hnen, dass ich in dieser Bespiitung des Gaumens

einige Uebung besitze. Ich hatte nitmlich nach einem schweren Influenzaanfall, der reich

im Jahre 1889 befiel, und yon dem ich mich fast ein Jahr lang night erholen konnte, die erwahnte Bespiilung mit leichter LSsung yon

fibermangansaurem Kali durch lange Zeit neben Gurgelungen Tag ft~r Tag gemacht. Ich meinte darum bei einem solchen Versuehe mit GymnemasaurelSsung, welchen ich am 9. Juli 1898 um I/2 9 Uhr

Morgens anstellte, nur die hintere Flaehe des Gaumens und die

Rachenwand zu trefl'en. Das war aber nicht der Fall, weft ausser dem angeffihrten

Zweck, der wirklich erreicht wurde, sich noch eine andere Wirkung dieser Procedur einstellte, an tier ich lange zu leiden hatte, so dass ich durch geraume Zeit meinen musste, dass ich mit jenem Versuche

eine Vivisection all mir selbst vollzogen habe,~ die zur ganzlichen oder theilweisen VerSdung meines frt~her i~usserst scharfen Geruchs-

organes gefiihrt hat. Ich kann also tier Wiederholung. dieses Versuches nur sehr

dringend widerrathen. , Auf die verhi~ngnissvolle Folge dieses Versuches, die lang dauernde

Anosmie und die allm~tlige Wiederherstellung yon derselben werde ieh in einem sp~teren Abschnitte n~her eingehen.

Hier will ich nur fiber die Wirkungen der Gymnemasi~ure auf die Geschma'cksnerven, welche beim Versuche zu Tage tritt, beriehten,

nnd zwar will ich genau die Aufzeichnung aus meinem Tagebuehe an- 27*

Page 20: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

402 A l e x a n d e r R o l l e t t :

ftihren, nur die gleichzeitig mit dem Chloroform vorgenommenen Versuche mit Aether schalte ich vorli~ufig noch aus und werde darauf im Zusammenhange mit anderen Aetherversuchen handeln.

J/~ 9 Uhr Besplilen der hinteren Oberfli~che des Gaumensegels mit Gymnemasi~urelSsung, mit Wasser nachgespi]lt. Sehr bald Siissempfin' dung helm Einziehen yon Chloroform durch Nase und Mund aufgehoben (1/4 Stunde nach Eingiessen). In Folge bald auftretenden, heftigen und oft wiederholten ~Niesens, wobei die Augen stark thri~nen und geri~thet sind, stellt sich vollkommene Anosmie ein. Beim Einziehen yon Chloroform durch Nase nur Brennen, durch Mund Ki~lte und Schmerz. Das dauert fort durch zwei Stunden. Dann noch Anosmie~ keine Spur yon Siissempfindung beim Einziehen yon Chloroform durch Nase.

Beim Einziehen von Chloroform durch den Mund entsteht nur auf der Zunge und den vorderen Partieen der Mundhiihle Siiss- empfindung.

Blast man nach der Art, wie den Rauch beim Tabakrauchen, die in den Mund aufgenommene, mit Chloroformdi~mpfen ge- schwangerte Luft zur Nase heraus, dann entsteht leichtes Brennen im Rachen, namentlich auf der hintern Fliiche des Gaumens und in der lqase. Auch hiebei tritt keine Siissempfindung in den hinteren Theilen der MundhShle und im Rachen auf.

1/212 Uhr noch keine Si~ssempfindung beim Riechen yon Chloro- form. Bei Aufnahme durch den Mund starker siisser Geschmack. Beim Ausblasen durch die Nase im Rachen nur Brennen.

1/21 Uhr dasselbe wie eine Stunde frtiher. 1 Uhr schwache Si~ssempfindung beim Riechen yon Chloroform

(totale Anosmie far Repr~tsentanten aller neun Geruchsclassen yon Z w a a r d e m a k e r ) , keine Spur des i~therischen Geruches des Chloroforms.

3 Uhr deutlichere Siissempfindung beim Riechen yon Chloro- form (Anosmie far alle neun Classen).

5 Uhr sehr deutliche St~ssempfindung beim Riechen yon Chloro- form (Anosmie far alle neun Classen).

6 Uhr dasselbe, 7 Uhr und 8 Uhr dasselbe. Dieser Zustand dauerte dann fort am 10. Juli, wo um 6 Uhr

Morgens, 11 Uhr Vormittags, 1 Uhr Mittags, 4 Uhr l~achmittags und 9 U h r Abends, und am 11. Juli, wo um 5 Uhr Morgens, 12 ~ r Mittags, 3 Uhr Nachmittags und 9 Uhr Abends geprilft

Page 21: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitr~ige zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 403

wurde. Am i2. , 13., 14., 15. und 16. Juli waren alle Versuche mit Chloroform, ganz yon demselben Erfolge begleitet. ~Nur war vom 12. Juli angefangen, keine totale Anosmie mehr gegen alle neun Classen, sondern e ine partielle Anosmie zu beobachten, woriiber auch erst bei der spi~teren Besprechung dieser Anosmie das Genauere angeffihrt werden soll. Am Schlusse dieses Abschnittes ist nur noch hervor- zuhebeu, dass die ungleiehzeitige Wiederkehr der Si~ssempfindung an verschiedenen Schmeckfiachen nach dem Versuche darauf zuriick- zuffihren sein wird, dass bei dem Versuche mit der Gymnemasi~ure- 15sung direct die hintere Flache des Gaumensegels getroffen wurde, wiihrend die Schmeckfilichen in der MundhShle nur yon der durch den Mund wieder ausgespfilten LSsung getroffen ~urden.

Ii. Aether.

Es ist schon frilher angeft~hrt worden, dass Z w a a r d e m a k e r ' ) den Geruch der echten Aether der Alkyle, ,,deren Typus der otfi- cinelle Schwefeli~ther (Aether sulfuricus) ist ", in die Classe der athe- rischen Geri~che einreiht.

Kurz erwahnt fiudet sich der Aether auch bei S t ich2) , welcher einen Versuch V a l e n t i n ' s anffihrt, der sich nicht, wie S t i c h an- gibt, in V a l e n t i n ' s Lehrbuch, 1. Auflage3), sondern in der 2. Auf- lage ~), deren SeitenzahI richtig angezogen ist, findet. Er kommt allerdings auch schon in der 1. Auflage vor, dort aber mit anderen Worten und auf anderer SeiteS). Die kiirzer gefasste Stelle in der 2. Auflage lautet: ,Li~sst man Schwefeli~ther auf einem L0ffel in der MundhShle verdunsten, so sptirt man im Anfange nur ein Gefiihl yon Ki~lte, spi~ter ein schwaches Brennen und erst zuletzt den wahren Geschmack. Dieser steht jedoch dem, welchen einige unmittelbar verschluckte Aethertropfen erzeugen~ bedeutend nach."

Dem Sinne nach stimmt die Stelle in der 1. Auflage in allen Punkten mit der angefiihrten fiberein.

Ich fiude, dass sich V a l e u t i u fiber die Reihenfolge der Haut-

1) 1. c. S. 217. 2) 1. c. S. 105. 3) Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Braunschweig 1844. ~ 4) Lehrbuch der Physiologie des Menschen. 2. Aufl. Bd. 2 Abth. 2 S. 294.

Braunschweig 1847--1850. 5) Bd. 2 S. 553.

Page 22: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

404 Alexander Rollett:

sinnes- und Geschmaeks-Eindracke,. welche yore Aether bei diesem Versuche hervorgebracht werden, nicht ganz im Klaren befunden hat, wie ich spi~ter zeigen werde.

Welters ist es aber sehr sonderbar, dass V a l e n t i n darilber nichts anfiihrt, wie denn der Aether eigentlich schmeckt, und darilber habe ich auch sonst keine Angabe ~ gefunden. Der Gegensatz, in welchem tier Geschmack des Aethers zu jenem des Chloroforms steht, obw0hl beide Substanzen einen verwandten i~therischen Geruch be: sitzen, ist abet ~on einem gewissen Interesse. ~

'Was die Wirkung des Aethers auf die Hautsinnesnerven betrifft, ~So ist anzufahren, dass sich G o 1 d sc h e i d e r 1) eines feinen, in Aether getauchten Pinselchens zur Ermittlung der Kiiltepunkte bediente und dass U n n a zu demselben Zwecke feinste, mit Aether gefiillte CapillarrShrchen benutzte.

Zu den Versuchen, welche ich mit dem Aether (ich betone: reinem Aether) angestellt habe, wurden genau dieselben Behelfe verwendet, welche ich far die Versuche mit Chloroform verwendete. Nur beme~ke ich, class ich Schiflchen, Pinsel und LOffel in zwei Reihen vorri~thig hatte und immer nur eine Reihe ffir die Chloro- form-, die andere far die Aetherversuche verwendete. Ich theile die letzteren unter 1 11 in derselben Reihenfolge mit, wie die ent- sprechenden Versuche mit Chloroform, abet, um Wiederholungen zu vermeiden, in abgektirzter, Form.

1. und 2. Bei den Versuchen, den Geruch des Aethers yon den tibrigen Empfindungen, welche derselbe hervorruft, nach den in Unter- abschnitt 1, Absch. I angeffihrten Methoden zu trennen, gelingt das beim Aether noch leichter als beim Chloroform, wie ein Vergleich der nach dem Schema in Unterabschnitt 1 mit Chloroform oder mit Aether an- 'gestellten Versuche mit solchen Versuchen, die nach dem Schema in Unterabschnitt ,2 mit Chloroform und Aether angestellt werden, lehrt.

Bei dem u nach dem Schema in Unterabschnitt 2 mit Aether tritt aber anstatt der S~ssempfindung, wie sie bei dem Chloro- 'form beobachtet wird, jetzt die Em pfindung eines bitteren Geschmackes auf, und das ist der wesentlichste Unterschied in Bezug auf die quali- tativen Wirkungen beider Substanzen. Das Chloroform schmeckt si~ss, der Aether bitter. Was aber die Localisation des bitteren~Geschmackes des Aethers bei diesen Versuchen betrifft, so ist dasselbe giltig, was

1) Goldscheider. Gesammelte Abhandlungen Bd. 1 S. 54. Leipzig 1898.

Page 23: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des: Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 405

anter 2 des I, Abschnittes ~her die Localisation der Sfissempfindung durch Chloroform bei diesen Versuchen angegeben wurde.

3. Der Versuch mit Aether verlauft wie der gleiche mit Chloro= form, nur ist beim Aether das Brennen ~'eniger intensiv, uM wieder tritt an die Stelle yon Sfiss die Empfindung des Bitteren.

4. Bei durch Sehnupfen oder kfinstlich erzeugter Anosmie fehlt beim Einziehen yon Aether durch die Nase der i~therische Geruch~ wahrend alle anderen Sensationen, also aueh die Bitterempfindung, wie bei allen frfiheren Versuchen auftreten. Ich habe ganz besonders bei der unter 12, Absch. I angeft~hrten Anosmie in auf einander folgenden Tagen oftmals Versuche mit Aether ausgeftihrt und immer dieselben Resultate erhalten.

Ieh muss nun daran erinnern, dass ieh beim Chloroform nnter 4 angefahrt habe, dass S t i eh angibt, er habe dasselbe bei Anosmie ebenso wahrgenommen, wie gewShnlieh beim Einziehen dureh die Nase, und dass er also bei vorhandenem Geruehsvermbgen den Ge- ruth des Chloroforms fibersehen haben muss.

V/ie konnte das gesehehen? Darfiber kann man natfirlieh: nut Vermuthungen ausspreehen. Ieh glaube, dass bei S t i e h , sei es yon vornherein, sei es in Folge der Art, wie er das Chloroform einzog, die Si~ssempfindung, welehe dasselbe erregt, besonders dominirt hahen muss. Ieh habe Nr Chloroform und Aether angef|lhrt, dass man nur ganz leise rieehen daft, wenn man den ~therischen Gerueh mSgliehst rein yon Sass-, beziehungsweise Bitterempfindung wahrnehmen vdll. Aber wo liegt hier die Grenze? Eine solehe seharfe Grenze gibt es offenbar gar nieht. Und es ist mir dureh vergleiehende Versuehe mit Chlorotbrm und Aether zweifelhaft geworden, ob nieht aueh dem bei sehr leiehtem Einziehen der Luft dominirenden ittherisehen Gerueh beider Substanzen sehon eine an sieh kaum merkliehe St]ss- oder Bitterempfindung beigemiseht ist, die mitbestimmend auf unser Ur- theil fiber das, was wir wahrnehmen, wirkt.

Man kann n~tmlieh, wenn man andere OrientirungsmSgliehkeiten aussehliesst, bei vergleiehenden Versuehen, die naeh den unter 1. in Absehnitt I beim Chloroform mitgetheilten Methoden ausgefahrt sind, immer Chloroform und Aether leieht yon einander unterseheiden; und man hat, wenn das einmal miSglieh ist, dann immer den Eindruek, als ob diese MSgliehkeit darauf beruhen wfirde, dass dem einen Ein- drueke eine leise Si~ssempfindung, dem auderen eine leise Bitter- empfindung beigemiseht zu sein scheint.

Page 24: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

40(} Alexander Rollett:

Denken wir uns aber nun die Perceptionsorgane far die Geschmacks- empfindungen individuell und zwar an sich bei normaler Geruchs- schi~rfe oder wegen einer individuellen niedrigen Geruchsscharfe sehr liberwiegend, oder denken wir uns diese Perceptionsorgane durch die besondere Application des Reizes immer tiberwiegend erregt, dann ist es mSglich, class tier Geruch, der gleichzeitig entsteht, iibersehen werden kann, wie es bei S t i c h der Fall gewesen sein muss.

5. Wenn man genau unter den beim Chloroform unter 5, Abschn. I beschriebenen Bedingungen mit Aetherdampf geschwitngerte Luft in die Mundhi~hle einzieht, so tritt leichtes Kitltegeftthl ein, auf welches rasch eine von vorn nach hinten fortschreitende Bitterempfindung in der ganzen MundhShle folgt; diese Empfindung tritt am st~trksten hervor, am Ende ist ihr eine leicht brennende Sensation beigemischt, die auch wieder lange und zwar immer schw~tcher werdend und zuletzt ganz schwach in der geschlossenen Mundh0hle nachdauert. Bei diesem Versuche ist die Bitterempfindung wieder weit intensiver als die Bitterempfindung bei dem in den frt~heren Abschnitten beschriebenen Einziehen yon mit Aetherdampfen geschwi~ngerter Luft durch die 51ase.

Ich habe mit Ri~cksicht auf die Geruchswirkungen des Chloro- forms und Aethers meinen Versuchen in der Darstellung keine andere Anordnung geben wollen als die, welche ich hier in hbschnitt Iund II festgehalten babe. Demjenigen, der sich mit der Wirkung beider Substanzen auf den Geruch und Geschmack erst zu beschitfti.~en an- Fangt, ist aber zu rathen, vor Allem den Versuch 5 mit beiden Sub- stanzen anzustellen, um die grosse Differenz in der Qualitat der durch dieselben hervorgerufenen'Geschmacksempfindungen vor Allem kennen zu lernen.

Weil wir hier diese Differenz gerade besonders erwahnt haben, wollen wir mit Ri~cksicht auf einige yon Z w a a r d e m a k e r 1) be- ziiglich des Zusammenhanges der Qualititten der Geruchs- und Ge- schmacksempfindungen mit tier chemischen Constitution des Reizes gemachte Bemerkungen hervorheben, dass im Chloroform und Aether zwei Reize vorliegen, welche in eine Geruchsclasse, jene der iithe- rischen Gerttche, gehSren, aber zwei grundverschiedene Geschmacks- empfindungen, Sttss und Bitter, auslOsen.

6. Wird, wie bei den entsprechenden Versuchen mit Chloroform, ein mit Aether vollgesogener Haarpinsel unter genau denselben Be-

1) 1. e. S. 237.

Page 25: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrhge zur Physiologic des: Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 407

dingungen, wie sie dort angeftihrt sind, auf die Zungenspitze gesetzt, so empfindet man 1. die Bertihrung~ 2. zunehrnende Kalte, 3. Bitter, welches aber lauge nicht so intensiv auftritt, wie das Siiss bei dem Chloroformversuche und daher nut bei sehr gespannter Aufmerksamkeit wahrgenommen wird, 4. Brennen, welches bald so intensiv wird, dass alle iibrigen Empfindungen fibertSnt werden. Das Brennen dauert nach Entfernung des Pinsels lange nach und wird dann immer schwacher. Da der bittere Geschmack bei diesem Versuche, wie gesagt, nur sehr schwach wahrgenommen wird, und Zweifel tiber das Vorhandensein einer Geschmacksempfindung entstehen kiinnten, ist hier noch ein zweiter Versuch zur Vervollstandigung einzufiigen. Er besteht darin, dass man den mit Aether vollgesogenen Pinsel einmal von rechts nach links tiber die zwischen den lest geschlossenen Lippen hervor- gestreckte Zungenspitze f~hrt; dabei ist der bittere Geschmack so deutlich, dass er nicht mehr i~bersehen werden kann, und solehe Ver- suche dienen auch zm" Festigung des Urtheiles im ersten Versuche. Es schliessen sich also an diese Versuche ganz ahnliche Betrachtungen, wie sic am Schlusse yon Absatz 6 helm Chloroform angefahrt sind.

7. Wird der mit Aether angesogene Pinsel mit der Spitze auf das Roth der Unterlippe bei lest geschlossenem Munde gesetzt und ruhig daran gehalten, so fahlt man 1. sofort die Beri~hrung, 2, steigende KNte, 3. die Ki~lte verdrangend, steigendes Brennen.

Dieser Versuch ist beim Aether auch wieder als Vergleichs- versuch besonders wichtig, weft auch er dazu dient, ein sicheres Ur- theft fiber die schwache Bitterempfindung, welche im Versuche mit einfachem Aufsetzen des Pinsels (vergl. 6, Abschnitt II) auftritt, zu gewinnen. Bestreiehen tier Unterlippe mit dem in Aether ge- tauchten Pinsel macht, wie das Chloroform, gleieh nach der gefiihlten Bertihrung steigende Kftlte, dann Brennen, welches noeh intensiver erscheint als das durch Chloroform hervorgerufene und lange nach- dauert. Auch hat man den Eindruek, als ob das Brennen sich nicht so unmittelbar an die Kitlteempfindung ansehliessen wtirde wie beim Versuche mit Chloroform, sondern erst mit gri)sserer Intensit~tt ein- setzen wt~rde~ wenn sehon die Intensitat der K~tlteempfindung be- tri~chtlieh gesunken ist.

Beim Aufsetzen eines mit Aether geftillten SehNchens t~ber die Lippen (vergl. Chloroform 7), tritt wie dort voriibergehend Ki~lte, dann immer intensiver werdendes Brennen auf. Beim Entfernen des

Page 26: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

408 Alexander Rol le t t :

Schalchens mischt sich dem Brennen wieder Kalteempfindung zu, his endlich wieder nur das Breunen lange nachdauert.

8. 10. Versuche mit Aether, unter den Bedingungen angestellt, wie sie unter 8 10 im Abschnitt I mittelst Chloroform angestellt

sind, geben ganz ahnliche Resultate wie die letzteren, nur einzelne

Abweichuugen unwesentlicher Natur wird man leicht bemerken. Als

solche will ich hervorheben, dass, wie schon angefahrt, alas Brennen sich nicht so umnittelbar an die Kalteempfiudung anschliesst, wie beim Chloroform, ferner, class an jenen Stellen, wo die intensivste

Schmerzwirkung vorhanden ist, die durch Aether bewirkte Em- pfindung intensiver hervortritt als beim Chloroform, und dass die nachtragliche RSthung der Haut bei jenen Versuchen. bei welchen wir

sie hervorgehoben haben, beim Aether viel starker auftritt und auch langer andauert als beim Chloroform. Die Aetherversuche fiihren zu

denselben Schliissen, wie ich sie am Ende yon Unterabschnitt 10 des Abschnittes I angefiihrt habe.

11. Der LSffelversuch mit Aether. ganz genau unter den Be-

diugungen, wie sie in 11, Abschn. I augegeben sind, ausgefiihrt, ergibt, wenn die Hi~blung des L~ffels naeh dem Gaumen gewendet

ist, die fotgenden ]~rscheinungen: Vort~bergehend Kalte allein, zu welcher sich Bitterempfindung, oben am Gaumen beginnend, dann unten

zur Zunge und nach hinten an Gaumen und Zunge fortschreitend und immer ausgebreiteter werdend, gesellt, dann entsteht gesteigertes

KMtegeffihl. und dieses wird so wie die Bitterempfindung durch immer mehr tiberwiegendes Brennen verdrangt. Oeffnet man, wenn das Brenneu intensiv geworden, den Mund in einem Acte zur Ent-

fernung des LOffels und halt wieder alles ruhig, so empfindet man wahrend des Oeffnens KMte und Bitter am Riicken der Zunge, danu leichtes Brennen. Bewegt man dann die Kiefer und Zunge und

schliesst den Mund, so nimmt man neuerlich einen bittern Geschmack find zwar in erhOhtem Grade wahr, der wieder schwindet, um einem

lange nachdauernden leichteu Brennen Platz zu machen.

Ich babe in der Einleitung zum Abschnitte I[ einen LSffelversuch yon V a l e n t i n angeft~hrt, ftir welchen Va] e n t i n als Reihenfolge der

vom Aether in der MundhOhle hervorgebrachten Sensationen Kalte,

Breunen und zuletzt erst Geschmack anftihrt( und dort babe ich er-

wi~hnt, class sich V a l e n t i n fiber diese Reihenfolge nicht im Klaren befunden habe. Er .hat namlich ganz s icherden bei Wirkung der Aetherdi~mpfe auf die ganz ruhig gehaltenen Schmeckflachen zuerst

Page 27: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrage zur Physiologie des ~ Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 409

auftretenden bitteren Geschmack iibersehen und nur jeneu wahr- genommen, welcher secundi~r auch bei uuserem u bei Be-

wegung der Mundtheile in Folge der Bewegung des Speichels zu beobachten ist, so wie wir ihu beschrieben haben.

Auch bei dem LSffelversuch mit dem Aether tr i t t , wenu d i e HShlung des LSffels nach abwarts gegeu die Zunge sieht und dieser

mSglichst nahe gebracht wird, jedoch so, dass der LSffel die Zunge nicht bertihrt~ die erste Bitterempfindung an der Partie der Zunge auf, tiber welcher sich der LOffel befindet; bald gesellt sich aber dazu eine ausgebreitete, nach hinten ibrtschreitende Bitterempfindung,

welche namentlich am Gaumen sehr intensiv wird. Die tibrigen Sensationen setzen bei dem letzteren Versuehe so

ein~ wie sie beim vorausgehenden angegeben wurdeu. Auch bei dem LOffelversuche mit dem Aether kaIln man sich

tiberzeugen, dass man, wenn schon il~ allen Theileu tier MundhShle

das Brennen dominirt und die Bitterempfindung vOllig zurtickgetreten ist, beim Einzieheu yon mit Aetherdi~mpfen geschwi~ngerter Luft durch die ~ase sofort entschieden im Rachen und an der hintern

Oberfl~tche des Gaumens die beim Einziehen yon Aether dutch die Nase gewShnlich auftretende Bitterempfindung wahrnimmt. Die Er-

fahrungeu mit dem Aether ft~hreu also zu denselben Folgerungeu i~ber die Loealisation der Geschmacksempfindungen, welche ich fri~her am Schlusse yon 11, Abschnitt I vorgebracht habe.

12. So wie f t i r die Untersuchung der dutch das Chloroform

hervorgerufenen Geschmacksempfindungen die Gymnemas~ture, so wurde ftir das Studium der Aetherwirkungen auf das Geschmacks- organ das Coca'iu herangezogen. Bei dem fi'tiher S. 401 erwahnten

Versuche mit Gymnemashure habe ich parallel mit den dort vor- geuommeneu Prt~fungen mittelst Chloroform auch Prtifungen mit

Aether vorgenommen und habe reich i~berzeugt, dass iiberall, wo der~ Shssgeschmack aufgehoben war, der bittere Geschmack des

Aethers ganz deutlich wahrgenommen wurde. Durch Adduco u. U. Mosso*) und durch K i e s o w 2) ist nach-

gewiesen worden, dass das Cocain ganz vorzugs~'eise die Gesehmaeks-

empfindlichkeit far bittere Substanzen aufhebt. Ieh musste voraus- setzen, dass es mir zu ahnlichen Versuchen tiber die Aetherwirkung

dienen werde, wie die Gymnemashure beim Chloroform.

1) Giorn. d. R. Accad. d. meal, Toriuo 1886 3. sdr. t. 34 p. 39. 2) 1. c.

Page 28: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

410 Alexander Rol le t t :

Ich bepinselte zuerst die Zungenspitze einige Male, hhchstens 5 Mal, mit einer 2 %igen Li)sung yon Coca'in. muriat, in Wasser; wi~hrend

des Bepinselns geht der anfanglich bittere Geschmack tier Coca'fn- li)sung verloren, und nach 5- -10 Minuten wird weder bei Aufsetzen

eines mit Aether angesogenen Pinsels, noch beim Bestreichen der

Zungenspitze yon einer zur anderen Seite mit solchem Pinsel tier

bittere Geschmack des Aethers wahrgenommen. Controlversuche mit 1%iger Li)sung yon Chinin. sulfur, zeigen,

dass auch dieses nicht geschmeckt wird.

Es stellt sich auf tier coca'inisirten Zungenspitze alas Geft~hl vom Pamstigsein ~ welches G o 1 d s c h e i d e r 1) sehr gut beschrieben

hat, ein. Das Berilhrungsgefiihl ist nicht aufgehoben, und auch das K~tlte-

gefahl, welches der Aether hervorbringt, ist anscheinend ganz un-

beeintri~chtigt. Die letztere Beobachtung stimmt mit den Angaben yon K i e s o w 2) ilberein, nicht aber mit jenen yon G o l d s c h e i d e r S ) ,

der eine vi)llige An~sthesie fiir kalt als Cocalnwirkung auf die Mundhi)hle angibt. Dagegen finde ich, dass das sonst durch Aether

hervorgerufene Brennen nicht oder nur sehr schwach zu ft~hlen ist~). Versuche mit Chloroform oder mi t Glycerin oder Zucker zeigen,

dass die Silssempfindung dabei vi)llig erhalten ist. Meine Angaben beziehen sich auf die Hi)he der Cocainwirkung bei der angefilhrten

Application; allein die Wirkung der Coca'inli)sung auf den Geschmack

ist viel vergi~nglicher, als die Wirkung der Gymnemasi~ure, wie schon frtihere Beobachter hervorgehoben haben, und wie ich be- sti~tigen kann. Denn nach 20 Minuten oder nur etwas mehr ist der

bittere Geschmack von Aether und auch der yon Chinin wieder

wahrzunehmen, ehe noch die Abstumpfung der das Brennen ver- mittelnden :Nerven ganz geschwunden ist.

Einen weiteren Versuch stellte ich wieder in tier Weise an, dass ich 15 ccm einer 2% igen Li)sung yon Coca'inum muriat, in

1) Goldscheider , GeSammelte Abhandl. Bd. 1 S. 258. Leipzig 1898. 2) 1. c. S. 515. 3) 1. c. S. 258. 4) :Nach Kiesow (1. c.) ist die ani~sthesirende Wirkung des Cocains in der

Mundhiihle nicht tiberall dieselbe, sondern eine local verschiedene. Ich kann bier auf diese Frage nicht nigher eingehen und bemerke, class ich nur ganz vor- ztiglich auf die prompte und bei gewisser Application auf die Bitterempfindung isolirte Wirkung des Cocains auf das Geschmacksorgan bier und im Folgenden das meiste Gewicht lege.

Page 29: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrage zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 411

die Mundhbhle aufnahm, darin herumsptllte, dann gurgelte, wieder herumsptllte u. s. f. und sie nach 1/.~ 8/4 Minuten aus dem Munde entfernte. 5--10 Minuten nach der Entfernung der LSsung aus der MundhShle ist dann, wenn der unter 11 beschriebene LSffelversuch mit Aether angestellt wird, in der Mundhiihle KMte zu verspilren, aber keine Spur von bitterem Geschmaek. Auch das Brennen ist ganz aufgehoben oder wenigstens sehr herabgesetzt.

Wenn nun, wiihrend die MundhShle ganz unter der Wirkung des Cocain steht, die aber, was auch hier bemerkt werden muss, nicht eine halbe Stunde lang anhalt, Aether durch die Nase ein- gezogen wird, so nimmt man deutlich Bitterempfindung wahr, welche also auch nut yon hinteren, beim Gurgeln nicht getroffenen Schmeck- flachen herrilhren kann. Man kann sich hier ebenfalls yon der Unempfindlichkeit der Mundhtihle gegen bittere Substanzen durch Controlversuche mit Chininltisung ilberzeugen. Dagegen ist auch bier der Sgtssgeschmack erhalten (Chloroform, Zucker, Glycerin). Auch beim Einathmen yon Aetherdiimpfen dutch die MundhShle empfindet man nach der Coca~'nisirung in der angefilhrten Weise erst ganz hinten bitter, wegen des Aufsteigens yon Aetherdampfen in den Rachen und die Nase.

Es ist mir aber auch bei Versuchen, wie den vorhergehenden, nicht schwierig geworden, dutch Eingiessen yon 2 %iger Coca'inlSsung yon tier Nase her in den Rachen mittelst Schiffchens oder Nasen- spillers und Aussptfiens derselben dutch den Mund die hintere Gaumenfiache und den Rachen so zu treffen, dass auch noch das nasale Bitterschmecken aufgehoben war, so class beim Einziehen von Aether durch die Nase nur der atherische Geruch und Kalte- gefilhl wahrgenommen wurden.

I lL Beobachtungen fiber und naeh Anosmieen.

Ich habe zwei Mal die unerwilnschte Gelegenheit gehabt, bei kilnstlich erworbenen Anosmieen an mir selbst Beobachtungen zu machen, deren Mittheilung nicht ohne Interesse sein wird.

Vorausschicken will ich, dass ich oft vorher meine Geruchs- schi~rfe mit einem Kautschuk-Olfactometer, welches ich mir nach Z w a a r d e m a k e r ' s Angaben 1) selbst construirte, und mit einem von Z w a a r d e m a k e r ' s Mechaniker, H a r t i n g B a n k in Utrecht,

1) I. c. S. 85, 86 und 89.

Page 30: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

412 Alexander Rollett:

bezogenen Kautsehuk-Olfactometer bestimmt hatte. Darnach war meine Riechschi~rfe sehr gross. Ich roch bei beiden. Olfactometern 0,5 cm.

Z w a a r d e m a k e r gibt als norm ales minimum perceptibile bekanntlich 0,7 cm Kautschuk an.

Das erste Mal zog ich mir eine ktinstliche Anosmie in folgender Weise zu. Ich wiederholte die Versuche yon A r o n s o h n fiber das Riechen yon Kaliumpermanganat. welches in 0,76 %ige C1Na-LSsung aufgenommen war. Ich suchte mir eine solche LSsung mit der Nasendouche tiber die Riechregion zu spti]en i das gelang auch, so dass ich A r o n s o h n ' s Angabe yon dem angenehmen Geruch, der dabei entsteht, bestatigen konnte.

Bei einem dieser Versuche machte ich aber einen zu grossen Zusatz yon Kaliumpermanganat zur KochsalzlSsung und erzeugte mir damit eine Anosmie, die reich be~ngstigte, denn viele Stunden nach dem Versuche roch ich noch keine einzige Geruchsprobe aus einer Serie yon Repr~isentanten der neun Geruchsclassen.

Ich babe fiber diese Anosmie nut sparliehe Aufzeichnungen. Es war Ende Februar 1897 eines Tages Abends 6 Uhr, als der Versuch angestellt wurde. Beim Abendessen um 9 Uhr schmeckte ich Salz, Zucker, Essig sehr scharf salzig, sfiss und sauer. Wein schmeckte sauerlich, und tibermangansaures Kali, mit welchem ich die Mund- hShle nach dem Essen ausspfilte, schmeckte scharf bitter. Alle Ge- schmacksqualiti~ten waren also vorhanden, aber dennoch Speise und Trank ohne alles Aroma und darum yon geringem Anreiz. Obwohl ich frfiher oft die Fadigkeit alles Essens und Trinkens bei Schnupfen erlebt hatte, so war doch der Zustand, in welchem ich reich bei vollkommen durchgi~ngiger Nase wiihrend der ktinstlichen Anosmie befand, ein far reich ganz eigenthtimlicher, als ob mir tiberall etwas ffir die Orientirung gefehlt hi~tte.

Am nachsten Morgen nahm ich aber schwach die Probesubstanzen aus den neun Geruchsclassen (I. Ananasather, II. ~elkenSl, III. Va- nille, IV. Moschus, V. Mercaptan, VI. Kreosot, VII. Capronsaure, VIII. Nicotin, IX. Skatol) wieder wahr. Von den] sonst immer scharf wahrgenommenen, abet einen geringen Olfactienwerth be- Sitzenden vulkanisirten Kautschuk nahm ich noch nichts wahr. Erst Nachmittags um 5 Uhr, also beinahe 24 Stunden nach dem Ver- suche, nahm ich wieder die ersten Spuren yon Kautschukgeruch wahr.

Am ni~chsten Morgen waren Kautschuk und alle anderen Proben

Page 31: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 413

schon wieder Sti~rker zu:riechen, und im Laufe dieses Tages wurde die ganze Geruchsempfindung wieder normal. Diese Sti~rung war verhi~ltnissmassig rasch voriibergegangen im u mit der lange dauernden Sch~tdigung des Geruchsorganes, welche ich mir bei dem unter 12, Abschn. I erwahnten Versuche mit Gymnemasi~ure- 15sung zuzog.

Bei diesem Versuche hatte ich eigentlich nicht im Entferntesten die Absicht, am Geruchsorgane zu experimentiren. Es war nur ein Missgeschick, welches reich traf, als das Geruchsorgan dabei ge- schadigt wurde.

Ich habe am angefiihrten Orte Schon den auf diesen Versuch erfolgten Eintritt einer totalen Anosmie beschrieben. Wie diese bei jenem Versuche besonders veranlasst wurde, weiss ich nicht an, zugeben. Dass yon der Gymnemasi~ure-Lhsung selbst etwas in die Riechspalte gelangt ist, glaube ich nicht. Vielleicht war es der im Lhsungsmittel vorhandene Alkohol, der eine verderbliche Reizwirkung auf die ganze Nasenschleimhaut ausilbte. Jedenfalls hing die Sch~tdigung des Geruchsora'anes mit der bei dem angef~hrten, oft wiederholten Niesen auftretenden reichlichen Secretion aus der Nase zusamnlen.

Vom 9. Juli bis 12. Juli war totale Anosmie gegen Repri~sen- tanten aller Geruchsclassen yon Z w a a r d e m a k e r vorhanden.

Als ich aber am 12. Juli unter den Geruchsproben Kreosot ganz schwach wahrnahm, schOpfte ich Hoffnung, dass sich nun das ganze Geruchsvermhgen wieder einstellen werde, allein diese Hoffnung war vorerst noch eine triigerische.

Kreosot wurde aber auch bei den Proben an den folgenden Tao'en, und zwar mit steigender Deutlichkeit wahrgenomn~en, so dass am 17. Juli das Kreosot in der gewohnten Eigenthi~mlichkeit gerochen wurde. An diesem Tage nahm ich auch Guajakol deutlich und verschieden vom Kreosot ~'ahr und roch auch Theer; am 19. Juli waren diese brenzlichen Geriiche etwas intensiver, und eine Pri~fung mit einem Olfactometer mit getheertem Cylinder ergab, dass 6 cm eben gerochen wurden. Es bedeutet das bei dem hohen Olfactien- werthe des Theers noeh immer eine Herabsetzung der Geruchsscharfe auf etwa 1/6ooo der normalen Geruchssch~rfe.

Aber am 22. Juli wurden schon 0,5 cm Theer gerochen, was einer Herabsetzung der Geruchsschhrfe auf etwa 1/5oo tier normalen Geruchsschi~rfe entspreehen wiirde.

Page 32: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

414 Alexander Rol le t t :

Ich glaube nun, dass aus dieser Thatsache die merkwilrdige Folgerung zu ziehen i s t , dass das Verm5gen, brenzlich rieehende Substanzen wahrzunehmen, sich zuerst hersteUte, denn es wurden aus der Classe der brenzlichen Geriiche (VI. Z w a a r d e m a k e r ) die genannten Substanzen, welche allerdings auch sehr stark riechende sind, zuerst wieder wahrgenommen. Man kann aber ihre Wahrnehmbarkeit nicht ausschliesslich auf die Sti~rke ihres Geruches zuriickfi~hren, weil gleich- zeitig noch vSllige Anosmie fiir Substanzen yon hohem Olfactien- werthe aus anderen Geruchsclassen, z. B. Mercaptan (V. Z w a a r d e - m a k e r), Skatol (IX. Z w a a r d e m a k e r), Hammeltalg (VII. Z w a a r d e m a k e r ) , Moschus (IV. Z w a a r d e m a k e r ) be- stand. Die zweite Qualiti~t welche ich zum ersten Male ganz schwach am 17. Juli wahrnahm, war die der hircinischen Geriiche (VII. Z w a a r d e m a k e r ) . Ich roch ni~miich an diesem Tage ganz schwach eine Probe yon Capronsiiure. Auch die Fahigkeit, solche hireinische Geri~che wahrzunehmen, stieg in den darauf folgenden Tagen, am 20. Juli nahm ich auch Talg wahr und roch an einem Olfactometer aus Hammeltalg 10 cm. Am 22. Juli ergab das Ol- factometer mit Talgcylinder, dass schon 2 cm Talg gerochen wurden.

Inzwischen wurden am 20. Juli auch Skatol und Mercaptan, also Geriiche aus der Classe der ekelhaften und zwiebelartigen (IX. und V. Z w a a r d e m a k e r ) schwach wahrgenommen, wenn die Gl~tser, in welchen sie enthalten waren, umnittelbar vor die Nase gebracht und daran kriiftig gerochen wurde.

Am 21. Juli nahm ich dann in derselben Weise auch Ananas- ather und gelbes Wachs, ~ttherische Gertiche (I. Z w a a r d e m ak er), Anis und NelkenS1, aromatische Geri:lche (II. Z w a a r d e m a k e r ) , Vanille und Benzoeharz, balsamische Geriiche (III. Z w a a r d e - m a k e r) sehr schwach wahr, aber yon Moschus, ambrosischer Ge- ruch (IV. Z w a a r d e m a k e r), und von Opium, widerlicher Geruch (VIII. Z w a a r d e m a k e r ) , welche Substanzen hohe Olfaetienwerthe besitzen, noch keine Spur.

Erst am 26. Juli bemerkte ich bei iihnliehen Versuchen auch schwach den Geruch yon Moschus und Opium. Es hatte sich also nun die Empf~nglichkeit far die verschiedensten Gertiche, und zwar so eingestellt, dass ich genau das Specifische eines jeden Geruches ganz deutlich unterscheiden konnte, obwohl alle Eindrticke mit husnahme der brenzlichen und hircinischen Geriiehe i~usserst schwach blieben, und sieh bei nur ganz kurzem Riechen sofort eine Ermildung einstellte.

Page 33: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitr~ge zu~ Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 415

Ich glaubte nun, dass sieh bald aueh die Geruchsschftrfe stetig bessern

wilrde, und wollte die Wiederherstellung derselben mit geeigneten

Olfactometern verfolgen. Allein das war nicht ausfiihrbar, denn es trat ein ganz eigen-

thamliches Hin- und Herschwanken in Bezug auf die Wahrnehmung

der meisten specifischen Gerache auf, und durch lange Zeit blieb die Geruchsschi~rfe fiir dieselben eben eine sehr geringe.

Niemals mehr verschwand die Wahrnehmbarkeit der genannten

brenzlichen Geriiche, ja diese blieben sogar immer ziemlich scharf wahrnehmbar, und eben so gin~: die Wahrnehmbarkeit der genannten Boel(sger~]ehe und des ekelhaften Skatol~eruehes niemals mehr wieder

ganz verloren, obwohl sie zeitweise mehr und zeitweise wenio'er deutlieh wahrzunehmen waren und im Ganzen kein wesentlieber

Fortsehritt der Geruehsseharfe far dieselben eintrat. Dagegen roeh ieh yon den rlbrigen Proben einmal gelbes Waebs

und Ananas:ather ~[. Classe) und aueh Anis und Nelken61 (II. Classe~.

da~ea'en winder keine Spur von Vanille oder Benzo~harz d lL ClasseJ

oder yon Mosehus ~IV. Classe,. Am allerhfmfigsten versa~ten Opium tVIIL ClasseJ und Mosehus ~IV. Classe~, wenn alle anderen Geraehe wahrnehmbar waren. Ein anderes Mal nahm ieh gelbes Waehs u~d

Ananasather und Vanille oder BenzoSharz wieder nieht wahr, wohl

aber Nelken01 und Anis. Mereaptan (V. Classe), welches so intensiv riecht~ blieb in den

ersten Zeiten auch manehmal aus, yon Ende Juli an war es abe l weml aueh unvergleiehlieh schwach, immer zu rieehen. Alle Oe- ri~ehe mit Ausnahme der brenzliehen und hireinisehen waren aueh,

wenn sie vorhan,len waren, sehr sehwaeh. Das blieb so ohne eine wesentliehe Aenderung tier Erseheinungen

his Ende August. Wiihrend dieser langen Zeit nahm ieh kein Weinbouquet, kein

Aroma yon Frachten oder Kitsen wahr und keine Speisewarzen.

Alles Essen war fade. Ieh versp~rte aueh keine Blumengeriiehe; Rosen, Reseda, Minzenkraut, Cyklamen, direct an die Nase gebraeht und beroehen, maehten keinen Eindruek. Wenn auf Spazier-

gfingen yon meiner Umgebung der wiirzige Waidesduft, der Gerueh yon Sehw:,tmmen, Heugerueh oder Gestanke hervorgehoben wurden, ging das Alles spurlos an mir voraber. E r s t zu Anfang des Septembers trat hierin eine allm~fiige aber wieder mit Sehwankungen

verbundene Aenderung ein. E. P f l i i g e r , Arohiv filr Physiologie. Bd. 7~, ~8

Page 34: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

416 Alexander Rollett:

Ich bemerkte die ersten Spuren yon gustatorischem Riechen. Es fiel mir das zuerst auf bei Ki~se und bei Birnen und dann auch

bei Wein, und erschien es mir, dass ich ein schwaches Aroma dieser

Speisen beim Essen derselben noch deutlicher wahrnahm, als wenn

ich sie vor die Nase hielt und beroch. Bald aber wurde ihr Geruch auch beim i~usseren Riechen deutlich, und dann nahm ich auch

Gertiche yon Blumen, die ich unmittelbar vor die Nase hielt, wahr, ebenso wie den Geruch yon Fichten- und Tanneazweigen, die ich in den Hftnden zerrieb und dann an die Nase brachte. Alle Geruchs-

proben waren jetzt schon viel deutlicher, und keine versagte mehr. Um Mitre September nahm ich zuerst auch ganz schwach den Heu-

geruch yon frisch gemi~htem Grase auf die Distanz yon einigen Schritten wahr.

Und ganz allmalig besserte sich auch der Zustand fortschreitend

his zum Anfange des Octobers. Das Essen wurde vergnfiglicber, Blumenduft auf einige Ent-

fernung wahrgenommen, alle Geruchsproben wurden wirksamer, und

die brenzlichen und hircinischen Gerache traten jetzt schon mit sebr grosser Intensiti~t auf.

Am 4. October nahm ich zuerst ganz sicher auch Kautschuk- geruch wahr.

Dieser hatte sich, vom Versuche am 9. Juli angefangen, die ganze

lange Zeit his zum 4. October nicht wahrnehmen lassen, weder mittelst des Olfactometers, noch auch beim Beriechen eines grossen zusammengeballten und wieder entfalteten Kautschukhandschuhes, der friiher ftir reich penetrant roch.

Am 4. October roch ich aber bei einer vorgenommenen Priifung

den Handschuh und darauf auch deutlich eben 10 cm des Kautschuk- Olfactometers, und jetzt hatte ich einen Anhaltspunkt, um ver- gleichende Versuche mit meiner friiheren Geruchsschi~rfe anzustellen,

da sich voraussichtlich der Riechcylinder meiner Kautschuk-Olfacto- meter, der immer sehr gut verwahrt und gedeckt blieb, nicht wesent-

lich gei~ndert haben diirftel). 10 cm bedeutet im Vergleiche zu meiner friiheren Geruchs-

scharfe ~= 1 einen Olfactus 1/2o, also noch betri~chtlich herabgesetzte

Geruchsscharfe. Sie blieb es wieder durch einige Zeit, und nur ganz allmi~lig schritt die weitere Wiederherstellung fort. Ich fiihre yon

1) Vgl. Zwaardemaker h c. S. 136.

Page 35: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 417

den Bestimmungen nur jene vom 31, October an, welche ergab, dass 5 cm Kautschuk gerochen wurden, was einem Olfactus yon 1/,o ent- spricht. Alle Geruchsproben gaben jetzt noch promptere Eindriicke

u n d das gustatorische Riechen schien um Vieles gebessert. Vollstandig wiedergekehrt ist meine frtihere Geruchsschi~rfe auch

jetzt noch nicht ; die letzte Bestimmung, 11. Januar 1899~ ergab 2 cm Kautsckuk, also Olfactus 1/4.

Wir wollen uns in Bezug auf die Schlt~sse, welche aus den an- gef~hrten Beobachtungen gezogen werden kSnnen, der gr0ssten Vor- sicht befleissigen.

Stellen wir uns die zwei Anschauungen gegeniiber, welche fiber die Endigungen der Geruchsnerven aui~estellt werden kSnnen.

Alle Geruchsnervenendigungen sind einander gleichwerthig, und jede kann tier Perception eines jeden Geruches, d. h. jeder Qualitat dieses unseres qualiti~tenreichsten Sinnes dienen und die andere, nach welcher es, wie beim Seh-, H0r- und Geschmackssinne und den Haut- sinnen, innerhalb eines jeden Bereiches dieser specifisch verschiedenen Sinne selbst noch eine Anzahl specifisch verschiedener Enden gibt; dann kSnnen wir fragen, welche dieser Anschauungen durch unsere Beobachtungen mehr gestfitzt wird.

Die Antwort auf diese Frage scheint mir nun entschieden zu Gunsten der zweiten Anschauung zu lauten.

Diese wird auch yon Z w a a r d e m a k e r * ) vertheidigt un(1 friiher noch yon Ar o n s o h n~). So wie diese Anschauung gestiltzt wird durch die partiellen Anosmieen~ welche man durch Ermt'ldung hervorbringen kann, und durch die partiellen Anosmieeu, welche man individnell als Defecte beobachtet hat, ferner durch Erfahrungen i;ff)er Mischgeriiche und die Compensation yon GerOchen, so wird sie auch durch unsere Beobachtungen fiber den Verlauf tier Wiederherstellung yon (let durch schadliche Einwirkung auf die ~Nasenschleimhaut er- worbenen totalen Anosmie begi~nstigt.

Besonders ist hier das beschriebene Vorhandensein brandiger Geri~che hervorzuheben, w~thrend alle anderen fehlen, ferner die hhnlich wie die brandigen Geriiche sich einstellenden Bocksgeri~che~ ferner die besondere Wiederkehr der ekelhaften Geriiche, das lange Anhalten partieller Anosmie fiir Mosehus und widerliche Ger~che,

1) 1. c. 8. 255. 2) Arch. s Anat. u. Physiol. (Physiol. Abth.) 1884 8 . 163; 1886 S. 321.

Centralbl. f. d. reed. Wiss. 1888 Nr. 20. 28*

Page 36: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

~:418 Alexander Rol le t t :

das Schwinden und Wiederauftreten partieller Anosmie fiir htherische,

aromatische, balsamische und zwiebelartige Gertiche. Ob in der

That den neun yon Z w a a r d e m a k e r unterschi{~denen Geruchs-

classen, von welchen sieben yon L i n n ~ , eine yon L o r r y und eine

yon H a l l e r eingefiihrt wurden, auch neun specifische Energieen ent- sprechen, ist wegen der MOglichkeit. dass aueh nicht sicher fassbare

Quantitiitsunterschiede bei der Erregung eine Rolle spielen kiinnten,

nicht mit Sicherheit zu erweisen. Einen Anhaltspunkt fiir die Kritik der von Z w a a r d e m a k e r

erSrterten Localisation der verschiedenen Energieen in besonderen

Zonen dee Riechregion und Scalen innerhalb der Zonen gewi~hren

unsere Beobachtungen nicht.

IV. Ueber die W i r k u n g des Menthols auf die Hautnerven.

Das Menthol beansprucht eine ganz besondere Stellung in der Physiologie, seit G o l d s c h e i d e r l l zu erweisen suchte, dass das Ki~ltegefi~hl, welches durch das Menthol auf der Haut erzeugt wird. nicht in Folge dee Verdunstung des fifichti~zen Menthols, sondern durch eine chemische Erregung dee specifischen Kiiltenerven durch

das Menthol zu Stande kommt. Er stiitzt seine Behauptung vor-

zugsweise auf fol~ende Grflnde: Die Temperatur der mentholisirten Haut zeigt sich nicht er-

niedrigt, sondern erhSht: alas Menthol erzeugt auch Ki~ltegefiihl. wenn dessen Verdunstm~u' verhindert wird; das Menthol erzeugt

auch Stechen, Prickeln, Brennen, also eine chemische Reizung dee

Geffihlsnerven, warum sollte man also eine solche der Ki~ltenerven

ableh hen ? Unter besonderen Umst~mden errege das Menthol auch die

Wi~rmenerven. Die letztere Thatsache ist zu constatiren an solchen

Hautstellen ( G o l d s c h e i d e r fiihrt die Haut dee Augenlider und

der Volarseite des Unterarms unter dem Cubitalgelenk an), welche eine exquisite Warmeempfindlichkeit besitzen. Dass auf den meisten

Hautstellen Kalte und nut auf einigen Wi~rme durch Menthol erregt wird, ist auf das Ueberwiegen der Ki~lte- fiber die Wi~rmepunkte

und auf die grSssere Affinitat des Menthols zu den Kalte- als zu den

1)Goldscheider, Ueber die specif. Wirkung des Menthols auf die Tem- peraturnerven S. 250. G. Leipzig 1898.

Page 37: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrage zur Physiologie des Geruchs; des Geschmacks, der Hautsinne etc. 419

W~rmeaerven zurackzufahren. Die Affinit~it des: Menthols zu den Temperatur-Nervenendigungen vergleicht G old s chei d e r schliess+ lich mit der chemisch electiven Wirkung der Geruchs- und Ge- schmacksreize.

Die zuletzt ausgesprochene Anschauung G o 1 d sc h e ide r ' s kann nur verstanden werden, wenn man auch den Temperatur-l~ervenendi- guugen an sich eine besondere Arteigenthfimlichkeit zuschreibt, gerade so, wie auch die chemisch elective Wirkung der Geruchs- und Ge- schmacksreize eine solche besondere hrteigenth~mlichkeit der Ge- ruchs- und Geschmacks-Nervenendigungen voraussetzt.

Ich gche nun zu meinea eigeneu Versuchen aber. 1. Wenn ich mir mit dem kraftig aufgesetzten Mentholstift die

Haut der Stirne~ yon einer zur anderen Seite hin- und herfahrend, ffinf Mal hinter einander bestreiche, nehme ich trotz kleiner Ab- weichungen bei den einzelnen Versuchen~ die sich auf geringe Ver- schiebung der auftretenden Empfindungen in den anzufilhre~(len Perioden beziehen~ das Folgende wahr:

Eine ~vu tritt erst nach einigen Secunden als leises eigenth~m- liches Brennen auf. G o l d s c h e i d e r sagt fiber die Mentholwirkung: ,Zugleich mit dem Kaltegeft~hl tritt auch ein Stechen, Prickeln, Brennen, kurz, eine Sensation der Geft~hlsnerven auf; diese ist an empfindlicheu Theilen so erheblich, dass sie schmerzhaft wird." Ich finde, dass dieses eigentht~mtiche Brennen der Ktlhlempfindung schon vorausgeht.

In einer halben Minute wird das Brennen stSrker, und mischt sich demselben leise die Empfindung des K~hlenden bei; nach einer Minute wird die Empfindung des Brennens und der Ktdflung starker, und dieses hnwachsen dauert his zu fanf Minuten an, daan tritt das Ki;lhlende meh~" hervor a~s das Brennende; aber ein oder das andere M~l his zur Zeit yon 15 Minuten, his zu welcher (lie aufgetretene Empfindung mit grosser Intensitat fortdauert, tritt in das dominirende Gefahl des Kt'lhtenden wieder far kurze Zeit das Brennen ein, bis in der Zeit vo~ 15--20 Minuten das Brennen nur mehr 5usserst leise in dem gleich- fells abfallenden Gefflhle des Kahlenden hervortritt, um zwischen der 20. und 30. Minute immer schwhcher zu werden, so dass nut eine schwer zu definirende, ganz leise Empfindung zurackbleibt;: welche auch nach 30 Minuten noch l~ingere Zeit andauern kann, Wegeu der langen Dauer der Mentholwirkung ist es unbedingt geboten, solche Versuche nur in lano~en Zeitintervallen auf ein~nder folgen zu lassen. Ich babe nie mehr als zwei Versuche an einem Tage an-

Page 38: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

420 Alexander Rollett:

gestellt, und diese waren durch einen Zeitraum von mindestens ffmf Stunden yon einander geschieden.

2. Wird mit dem Mentholstifte 1), indem man ft~nf Mal bin- und

herfahrt, das Roth tier Unter)ippe bei vollkommen ,geschlossenem MundebeStrichen, so tritt in wenigen Secunden leichtes Brennen

auf, welches schon nach 1/4 Minute noch starker wird, undes mischt sich demselben leicht die Empfindung des Kahtenden bei. Nach einer Minute findet man die Empfindung des Brennenden und Kahlenden starker, beide Eindrficke wachsen dann noch an his zur

2., 3. 5. Minute, his nach der 5. Minute die Empfindung des Kiihlenden zu dominiren anfi~ngt, und in derselben nur manchmal

wieder das Brennen starker hervortritt. Dieser Wechsel dauert his

zu 15 Minuten fort, wahrend welcher das Ktihlende immer mehr die Oberhand gewinnt~ und das Brennen immer leiser wird. Nach der

15. Minute bis zur 20. Minute sinkt der ganze Eindruck ab und nach 30 Minuten noch mehr, aber langere Zeit bleibt noch eine leichte,

schwer zu definirende Empfindung zuriick. Auch in diesem Ver- suche sind die hauptsachlichsten Stadien der durch Menthol hervor-

gerufenen Empfindungen, wie ich sie am haufiosten beobachtete, beschrieben; es kommen kleine Abweichungen im ~r der Einzelversuche vor. die aber keine Bedeutung far unsere weiteren Schltisse haben werden.

Eine sehr wichtige Thatsache muss aber besonders hervor- gehoben werden.

Die vorher beSchriebenen Erscheinungen sind bei einem Ver-

suche vorhanden, bei welchem die Lippen geschlossen und ganz ruhig gehalten werden und gegen den Athemluftstrom durch ein zwischen Nase und Mund gehaltenes Brettchen geschiitzt sind, und auch keine

Bewegungen des Kopfes ausgefahrt werden. Oeffnet man dagegen die Mundspalte nur leicht und zieht durch den Mund Luft ein, so dass

die Lippe davon bestrichen wird, so hat man sofort eine intensivere Kalteempfindung.

Bekanntlich erzeugt auch bei nicht mentholisirten Lippen ein bei wenig geSffneter Mundspalte fiber die Lippen eingezogener Luft- strom die Empfindung der Ki~Ite. Diese Empfindung tritt aber an den mentholisirten Lippen viel intensiver hervor.

Wir haben es bier offenbar mit derselben Erscheinung zu thun, welche G o l d s c h e i d e r sehr gut beschrieben hat , dass ni~mlich

1) Dtinner als der ki~ufliche. Man ]:ann sich Stifte in improvisirten Pastillen- pressen aus Krystallen in beliebiger Dicke hersteUen.

Page 39: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrhge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks. der Hautsinne etc. 421

mentholisirte Hautstellen Ki~ltereize intensiver wahrnehmen als nicht

mentholisirte. Die Erkli~rung, welche G o 1 d s c h e i d e r dafiir gibt, lautet, dass

die durch das Menthol chemisch gereizten Ki~lte-Nervenenden auch

hyperi~sthetisch far Kaltereize sind. Danach miisste diese Erscheinung als eine sehr auffallende und

seltsame physiologische Thatsache bezeichnet werden, da raan eigent- lich das Gegentheil fi]r die in einer durch cheraischen Reiz bewirkten Dauererregung befindlichen Ki~ltenerven voraussetzen sollte.

3. Setzt man ein runde% 20 ram weites und 12 ram hohes Glas-

schalchen, auf dessen Boden sich eine raehrere Millimeter dicke Schicht yon Mentholkrystallen befindet, luftdicht fiber die Mitte der Lippen des geschlossenen Mundes bei nach abw~rts geneigtem Kopfe, so nirarat man nach einer halben Minute leises, nach einer Minute

stgtrkeres Brennen wahl-, nach 2 Minuten raischt sich dera sti~rkeren Brennen Erapfindung yon Kiihle bei, und es bleibt rait Brennen stark gemischte Erapfindung yon Kiihle vorhanden, wenn man das Schi~lchen 5 Minuten an die Lippen halt.

Wird dann das SchSlchen rasch entfernt, so dauert anfangs die

stark rait Brennen geraischte Erapfindung yon K[lhle fort. Nach einigen Minuten wird die Erapfiudung yon Kiihle reiner, dann kann aber ein eigenthtiraliches Wechseln yon bald etwas dorainirendem Brennen, dann wieder dorainirender Kiihle eintreten und so die Empfindung immer schwlicher ~erden.

Auch bei dieser Form des Versuches wird, wenn man nach der

Entfernung des Schalchens in einem Stadium der noch vorhandenen Mentholwirkung fiber die wenig ge0ffneten Lippen Luft in den Mund

einzieht~ der Luftstrora mit intensiverer Kalte wahrgenoraraen als you den nicht mentholisirten Lippen.

4. Fiihre ich, wie bei den friiher ~lber Chloroform und Aether angestellten Versuchen, einen LSffel, der aber rait Mentholkrystallen angeftillt ist, in die MundhShle ein, dann nehrae ich am Gauraen

und darauf an der Zunge nach ~/2 Minute eine :,iusserst rainiraale, leicht zu iibersehende (und manchraal auch wirklich fehlende) Era-

pfindung yon Brennen wahr, der sieh sofort aueh Empfindung der Kiihle beiraischt. Nach einer Minute wird die Kiihle intensiver, und

diese Erapfindung niramt, indera raanchraal ganz leises Brennen aus dem dorainirenden Gefilhl der Kilhle herYorzutreten scheint, bis zur

dritten Minute zn, yon da bis zur filnften Minute dagegen nicht mehr wesentlich.

Page 40: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

422 Alexander Rollett :

Wird der LSffel clann rasch entfernt, so bleibt anfangs die Empfindung bestehen, und wi~hrend Kiihle immer vorherrscht, geht

dieselbe bis nach 10 Minuten, immer schwiicher werdend, wieder ver-

loren; eine schwache, unbestimmte Sensation dauert noch li~nger nach.

5. Bestreiche ich kraftig, mit dem Mentholstifte ftinf Mal hin- und hergehend, das obere Augenlid, so tr i t t 'nach wenigen Secunden ein

Brennen auf, welches nach einer halben Minute schon sehr intensiv wird und dann in tier folgenden Zeit mit grosser Intensitat als

feuriges Brennen bis zu 10 Minuten und dart~ber hinaus andauert. um dann allmiilig schw~tcher zu werden; w~thrend dieses Brennen

immer dominirt, tritt namentlich in den spi~teren Stadien eine leise Beimischung yon Ki~hle auf. Aehnlich verlaufen die Eindrticke, wenn man das untere Augenlid withlt: das ist abet nicht zu empfehlen,

well man vom oberen Lide aus keine wesentliche, vom unteren Lide aus aber eine sehr unangenehme Beli~.stigung der Conjunctiva ftihlt. Der

Versuch am Augenlide ist also. zusammengehalten mit dem LSffelver- suche, alas eine Extrem, der LSffelversuch das andere. In der Mund- hOMe dominirt die Kiihle, an den Lidern das Brennen. Am besten

ist dieser Gegensatz merklich, wenn man, was ja hier leicht miiglich ist, die beiden Versuche unmittelbar nach einander anstellt. Das

Menthol tibt also eine zweifache Wirkung aus. Die zwei Wirkungen des Menthols kSnnen in der mannigfachsten

Weise interferiren, aber es kann auch die eine losgelSst yon der

andern wahrgenommen werden. Das ist aber ein ausserst merkwfirdiges Ergebniss, wenn man

nun noch die Wirkung z. B. des Bestreichens der Stirne und des

Lippenrothes mit Menthol mit jener des Bestreichens derselben Haut- stellen mit Chloroform oder Aether vergleicht (vero'leiche das Friihere).

Bei dieser Vergleichung ergibt sich eine auffallende Abweichung in Bezug auf den Eintritt und die Dauer zuni~chst der KMteempfindung.

Die KMteempfindung bei Anwendung von Chloroform oder Aether

folgt der Beriihrungsempfindung fast unmittelbar, gelangt rasch auf ihre HShe. um eben so rasch wieder zu schwinden

Erst daran schliesst sich dann nach einiger Zeit das Brennen,

welches dann liingere Zeit nachdauert. Bei Anwendung des Menthols geht ein erst nach einiger Zeit auftretendes Brennen, welches eine

der durch Chloroform und Aether hervorgerufenen Sensation durch- aus iihnliche Empfindung ist, der Empfindung der Kflhle voraus; beide Empfindungen entwickeln sich dann allmalig zur H0he und

dauern lange nach, um erst allm~tlig wieder zu verschwinden.

Page 41: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrhge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc, 4.23

Die Ki~ltewirkung des Menthols i s t also in der That eine ganz andere als die Wirkung :solcher Mittel, welche durch Wi~rme- bindung bei tier Verdunstung eine KMteempfindung yon der Haut aus erzeugen.

Das wird noch des Weiteren erhi~rtet dadureh, dass feste Suh- stanzen, die so wie das Menthol fliichtig sind, ja noch flt~chtiger, wenn man sie nach Art des Mentholstiftes auf die Haut applicirt, gal" keine KMtecmpfindung hervorrufen. Ich habe in dieser Beziehung den Kampher, das Acetoxim und das Chinon ganz wirkungslos gefunden.

Feste flfichtige Substanzen erscheinen also nicht geeignet, yon der Haut aus solche Wirkungen hervorzubringen, wie sie rascb fli;~chtige Fliissigkeiten, wie Chloroform und Aether und andere, be- wirken. G o l d s e h e i d e r hat also in der That Recht, wenn er be- streitet, dass die KMteempfindung, welche man nach der Application des Menthols hat, auf die Abki~hlung der Haut dutch Abdunstung des Menthols zuriickzufi~hren sei. Wir miissen seiner gegentheiligen An- schauung vollkommen beistimmen.

Oh wit aber darum auch seine Erkl::trung der Mentholwirkung dutch eine ~om Menthol gesetzte ehemische Erregung der Temperatur- Nervenendigungen, insbesondere der K~ilte-Nervenendio'ungen annehmen re%sen, dari~ber werden wit uns erst im zweitni~chsten Abschnitte ,~ersti~ndigen kOnnen.

V. Einige theoretische Betra('htungen zur Sinnesphysiologie. (Idiotropie tier Neuren.)

Durch die eben beriihrten Anschauungen G ol d s che i de r ' s giber die Wirkung des Menthols wurde eine Reihe yon Fragen in mir angeregt.

Sie beziehen sich auf die peripheren Endigungen specifisch functionirender Nerven, auf die functionelle Verschiedenheit tier Nerven und die specifische Energie der Sinnesnerven, undes mSge gestattet sein~ diese Fragen einer ganz all~'emeinen,Besprechnng zu unterziehen.

Es ~verden sich in derselbeu leicht die zu bestimmten Zweckeu herangezogenen bekannten wissenschaftlichen Erkenntnisse von neuen thatsi~chlichen Feststellungen und diese wieder yon dem Hypothetischen, das die Besprechung enthalten soll, unterscheiden lassen. Ich babe die Mittheilung des Letzteren nicht gescheut, well

Page 42: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

424 Alexander Rollett:

gerade darin der Hinweis auf manche Aufgaben gelegen sein wird,

deren LOsung i'fir die Physiologie der Sinne yon grosser Wichtig- keit ware.

Die alte Lehre, dass die functionelle Verschiedenheit der ~Nerven theils auf der Verschiedenheit ihrer peripheren Endigungen, haupt-

s~chlich aber auf der Verschiedenheit ihrer centralen Einpfianzung beruhe, und dass die Nerven, abgetrennt gedacht von ihren peripheren und centralen Enden, iiberall mit denselben Eigenschaften ausgeriistete~ einheitlich functionirende Leiter darstellen, war nicht zu harem

Sie hatte sich eingebtirgert in der Zeit, wo man glaubte, dass

die Theile des Centralorganes des Nervensystems mit den motorischen und sensoriellen Einrichtungen an der Peripherie durch, wenn auch

sehr complicirt verlaufende, so doch anatomisch continuirliche Nervenleitungen verkni~pft seien, eine hnschauung, die bekanntlich

noch die schOnen Entdeckungen fiber die Localisation in der Hirn- rinde iiberdauert hat.

Seit man aber durch G o l g i und seine Nachfolger namentlich

S. R a m o n y Ca ja l~ K S l l i k e r und R e t z i u s , auf Grund yon mit Gliick und Scharfsinn aufgefundenen und ebenso beniitzten Methoden weiss1), dass die Impulse yon den Nervencentren zur

Periphelie und umgekehrt durch kettenartig in eigenthilmlicher

Weise neben einander aufgereihte Glieder geleitet werden, yon welchen jedes einzelne in einer Nervenzelle sein besonderes Centrum

besitzt, ist es bekanntlich nothwendig geworden, unsere Vorstellungen t~ber die Leitung zwischen Centrum und Peripherie dem ~euron ~) der Nerveneinheit, anzupassen, wie W a I d e y e r 8) das einzelne Glied

jener Ketten genannt hat. Es gibt bekanntlich morphologisch sehr verschiedene Neuren.

Im Allgemeinen werden aber an einem Neuron die folgenden Theile

unterschieden. Die Ganglien- oder Nervenzelle (Neurocyt), die protoplasmatischen Forts~tze der Zelle (Dendriten), die Nerven-

1) Vgl. Waldeyer , Ueber einige neue Forschungen im Gebiet der Anat. des Centralnervensystems. Leipzig 1891 : K 511ik e r, Handbuch der Gewebelehre. 6. Aufl. Bd. 2. Leipzig 1893 1896; v. Lenhossek, Der ieine Bau des Nerven- systems etc. 2. Aufl. Berlin 1895; van Gehuchten, Anat. du syst. nerv. dd. 2. Louvain 1897: B echter ew, Leitungsbahnen im Gehirn und Riickenmark. 2. Aufl. deutsch. Leipzig 1899, welche Werke die umfangreiche Literatur enthalten.

2) Wird immer als /%utrum gebraucht und im Plural Neuren. 3) I. c. S. 52.

Page 43: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrage zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 425

fortsatze der Zelle (Neuraxonen, Neuriten), das Endbi~umchen (Telo- dendrion) der Nervenfortsi~tze.

Was man vor diesen Entdeckungen als Nervenstamme an- gesehea hat, waren die aus dem Him und Riickenmark austretenden, sich im Verlaufe zur Peripherie verzweigenden Nerven, die man andererseits ohne wesentliche Aenderung der eigentlich leitenden Theile in die intracentralen Nervenbahnen i~bergehen liess.

Jetzt mussen wir in diesen Nervenstgtmmen Btmdel yon in Nerventasern ubergegangenen Axonen sehen, die parallel in derselben Bahn zwischen den Neurocyten und Telodendrien zusammengehOriger Neuren verlaufen.

Die gauze allgemeine Nerveuphysiologie ist aber~ ehe man yon diesen morphologisehen Verh~tltnissen eine Ahnung hatte, ganz vorzugs- weise auf Versuehe gebaut worden, die zuerst nut an mit ver- sehiedenen $cheiden versehenen, ~vhhrend des normalen Ablaufes der Lebenserseheinungen im Organismus naeh einer bestimmten Richtung leitenden Axonenbandeln, den motorisehen Nerven, angestellt wurden.

Die an diesen gesammelten Erfahrungen suehte man aber dann auf im entgegengesetzten Sinne leitende Axonenbilndel, die sensiblen Nerveu, zu iibertragen und an denselben zu bewahrheiten.

Man ist dabei, sicher beeinfiusst yon den allzu einfacheIl morpho- logisehen Vorstellungen, ~elehe man sich maehte, zu wenig unter- seheidend vorgegangen, denn heute sieht man sich ja aueh dureh physiologisehe Erfahrungen abgedrfmgt yon der Ansehauung tier iiberall gleiehen Besehaffenheit der Nerven als Leiter zwisehen Centrum und Peripherie oder um#'ekehrt.

Es kann auf altbekannte und neugefundene Thatsaeben hin- gewiesen werden, welehe mit jener Ansehauut~g nieht vereinbar sind. Eine Zusammenstellung derselben hat En gelin a n n ' ) zu geben gesueht.

Da wir jetzt bei tier Frage naeh tier funetionellen Versehiedenheit tier Nerven mit so vielen Faetoren zu reehnen haben: mit der u sehiedenheit tier peripheren Endigung, mit der Versehiedenheit tier kettenartigen Neurenleitung und mit der Versehiedenheit der terminalen

1) Pfltiger's Archiv Bd. 65 S. 549; vgl. auch Griitzner, Pflfiger's Archiv Bd. 58 S. 69. Bonn 1894; {)hl, Arch. ital. (t. Biolog. t. 29 p. 259,

Page 44: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

426 Alexander Rol le t t :

Neuren, welche die Kette im Centralorgane schliessen, kann uns das nicht fiberraschen.

Namentlich in der Physiologie der Sinnesorgane im Gewande der Neurenlehre drangen sich uns viele Fragen auf, welche alle drei zu einem Sinnesorgane gehOrigen Haupttheile') betreffen, den be- sonderen, die Eindrficke an der Peripherie empfangenden Apparat, die _Neurenleitung von diesem Apparat zu einer bestimmten Region des Centraloro~anes, und dieses letztere selbst.

Gerade fiber einige dieser Fragen mSchte ich reich aussern, nach, dem ich vorerst noch einige Anschauungen fiber organische Ent- wicklung vorgebracht haben werde, die ich an eine Gedankenreihe ankntipfen will, welche ich in einem vor llingerer Zeit gehaltenen Vortrao.e 2) niedergelegt habe.

Nach der Lehre D a r w i n ' s sind die Organismen zur Mannig- faltigkeit ihrer Sinnesorgane dadurch gelangt, dass sich dieselben bei der Fortentwicklung der Organismen aus den niedrigst stehenden Organismen zu immer h0heren, ursprfinglich als einfache 8) und dann immer complicirtere Organe durch Differencirung entwickelt haben.

Die einfachste Form selbststandigen lebendigen Seins, welche in unserer Erfahrung gegeben ist. ist das individualisirte Protoplasma. Ueber dasselbe habe ich reich aber damals in der folgenden Weise ausgesprochen. Wir finden das Protoplasma einmal mit zaher Ausdauer beharren in der Fornl der einfachsten Lebewesen, welche unter wesentlich unveranderten ausseren Bedingungen ihrer Existenz als: feste Typen in das System der Organismen aufgenommen sind.

Das andere Mal zeigt es eine i~beraus grosse Yerlinderlichkeit, eine erstaunliche Leichtigkeit des Variirens, ein ausserst gesteigertes AnpassungsvermSgen an bestimmt gegebene aussere Bedingungen.

Das Alles ist im hiichsten Grade der Fall unter den Umstanden, unter welche es bei der individuellen Entwieklung der durch An- passung und Vererbung im Laufe der phylogenetischen Entwickelung hiiher organisirten Wesen gelangt.

Es ware ganz und gar ungerechtfertigt, die mannigfachen speci-

1) Vgl. A. Rollett, Ueber Geruch und Geschmack. u Mittheilungen d. naturw. Vereins ftir Steiermark 1897 S. 10.

2) A. Rollett . Ueber die Erscheinungsformen des Lebens und den beharr- lichen Zeugen ihres Zusammenhanges. Wien 1872. Almanach d. K. A](ad. d. Wissenschaften.

3) Vgl. W. A. •agel, Bibliotheca zoolog, vol. 7 p. 1. Stuttga;rt 1894--96.

Page 45: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrhge zur Physiologie des: Gcruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 427

fischeu Lebensthi~tigkeiten der Organismen und der denselbeu dienen- den Organe etwa nur auf blosse Verschiedenheit i n d e r Gruppirung und Aneinandeflagerung individualisirter Protoplasmamassen ein- faeher Zellen zurtickfiihren zu wollen; das kann in Wirklichkeit, wie die gewShnlichsten mikroskopischen Beobaehtungen lehren, durehaus nicht geschehen. Unseren Erfahrungen gemass kOnnen wir dem Protoplasma nur gewisse elementare Lebenseigensehaften zusehreiben, die F~higkeit, eigenthfimliche Bewegungen auszufahren, sieh zu n~thren und sieh dureh Theilung fortzupflanzen. Und was sehr wiehtig ist, das Protoplasma tragt diese elementaren Lebensphanomene in die ganze Reihe tier Organismen hinein und beh~tlt sie~ woes als solehes vorhanden bleibt, aueh in der ganzen Reihe der Organismen bei. Allein so wie die Organismen sieh hSher entwickeln, so er- werben sie und zwar mit zunehmender Steigerung aueh noeh sped- fisehe Lebensthrttigkeiten. Diese fordern aber mehr als das blosse Protoplasma far ihre Erkl~rung.

Sie tbrdern (lie mit den Organen zugleich ausgebildeten be- stimmten Gewebe, aus welehen die Organe zusammengesetzt werden, die Gewebe, deren mikroskopisehe Elementartheile, obwohl sie alle aus einfaehen Zellen sich entwiekelt haben~ doeh yon diesen ganz wesentlieh und eharakteristisch versehiedene Gebilde sind; zu diesen besonderen Formen, zu den speeifisehen mikroskopisehen Elementar- theilen tier einzelnen Gewebe, bildet sieh das Protoplasma der an- fangliehen Anlage erst alhnftlig fort. Das Protoplasma ist tier Generator aller der mannigfaehen organisirten lebendigen Elementar- theile tier versehiedenartigen Gewebe des KSrpers.

Die im Laufe der phylogenetisehen und individuellen Entwieklung zmn Zweeke der Austibung speeifiseher Lebensfunetionen dureh An- passung und Vererbung erworbene Eigenart der lebendigen Gewebe- elemente, ideren moeular-meehaniseh-ehemisehe Erklftrung im ge- gebenen Falle zu den Aufgaben der Physiologie gehSrt, will ieh kurz mit dem Ausdrueke ihrer Idiotropie bezeiehnen.

Von den Eigensehaften des lebendigen, d. i. sieh bewegenden~ Nahrung aufnehmenden und mnsetzenden und sieh fortpflanzenden Protoplasmas interessirt uns nun am meisten die Erregbarkeit des- selben und die Leitung der Erregung in demselben.

Als Erregung und Erregungsleitung bezeiehnen wir bekanntlieh die wShrend des normalen Ablaufes des Lebens sieh fortwShrend abspielenden AuslSsungsvorghnge yon Energieen.

Page 46: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

428 Alexander Rollett:

Der Erregbarkeit verdankt das Protoplasma auch seine Fahigkeit, Reize, die wit ihm kt~nstlich zufilhren, mit Reactionen zu beantworten. Der letztere Vorgang muss abet so definirt werden, dass qualitativ und quantitativ bestimmte Energieen, die ktinstlich gesetzten Reize, qualita- tiv und quantitativ andere Energieen der lebendigen Substanz ausl0sen. Als kt~nstliche Reize far das Protoplasma hat uns die Experimental- physiologie eine Reihe yon Einwirkungen kennen gelehrt, die wir gewShnlich als mechanische, thermische~ chemische und elektrische Reize untertheilen. Es ist aber klar, dass in allen oder einzelnen dieser Kategorieen auch die nat~rlichen Reize, welche die Ausl0sung der Energieen wi~hrend des normalen Ablaufes des Lebens bedingen, ihren Platz finden m~ssen.

Die aufgestellten Kategorieen ,~llgemeiner Reize der irritablen Substanzen verdienen noch eine weitere Betraebtung. Die Be- zeichnungen far dieselben sind sehr umfassend. Sie kSnnen uus ihrem Begriffe nach aueh befriedigen insofern, als wir nicht in Verlegenheit sein werden, einen bestimmten angewendeten oder er- kannten Reiz in die eine oder die andere Kategorie einzureihen; ftir die Uebersicht der in die Kategorieen fallenden Reize leisten sie aber wenig. Das tritt am meisten zu Tage bei den chemischen Reizen, dear. diese umfassen ~tusserst viele und mannigfache Qualitiiten yon Einwirkungen, die aus noch viel mehr solchen chemischen Qualitaten ausgewahlt sind, die keine Reizwirkung austiben. In geringerem Maasse gilt dasselbe aber auch yon den anderen oben besonders unter- schiedenen Reizkategorieeu.

Es darf far die in allen Kategorieen stehenden Reize niemals aus dem Auge verloren werden, dass die bestimmte Energieform, in welcher sie auftreten, zu den Enel~'ieen der lebendigen Substanz immer nur in dem Verhaltnisse einer aulSsenden Energie zu den ausgelSsten Energieen steht, also nur eine quantitative, aber nicht oder nur zu- fallig eine qualitative Beziehung zwischen beiden sich ergeben kann.

Stellen wir uns nach dieseu Erinnerungen schon hSher stehende Organismen vor, welche im Laufe der genealogischen Descendenz im Sinne D a r w i n ' s durch Anpassung und Vererbung aus niedersten Organismea sich entwickelt haben, und die schon mit different ent- wickelten Geweben und darunter auch mit Neuren (Nerveneinheiten) ausgeriistet sind.

Die letzteren sind wie die Elementartheile aller Gewebe bei der individuellen Entwicklung durch divergentes Variiren der protoplas-

Page 47: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 429

matischen Bildungszellen entstanden, und das Neuron bat dabei noch

den Charakter als Einzelzelle beibehalten. Innerhalb der Grenzen

unserer Erfahrung kSnnen wir dann als Beispiel heranziehen das sen,

sible Nervensystem beim Regenwurme, welches v. L e n h o s s e k l ) ,

und das yon oligochaten und polychi~ten Wi~rmern und yon Mollusken,

welches R e t z i u s 2) untersucht hat. Dort sehen wir eine bipolare Zelle, als erstes Neuron, mit einem

ungetheilten, absteigenden Fortsatze. 1)ieser Fortsatz ist entweder

kurz und ist dann die Zelle selbst noch, oder er ist li~nger und ist

dann nur dieser absteigende Fortsatz der Zelte bis an die Oberfli~che

zwischen die Epithelzellen tier Haut vorgeschoben, wahrend der aui:

steigende 3) Fortsatz der im Epithel oder im Gewebe der Haut

liegenden Nervenzelle zu den centralen Theilen des Nervensystems

(Baucbstran.g) zieht, um dort mit einem Endb~iumchen ohne directen

Zusammenhang mit anderen Zellen zu endigen. Ein solches Neuron hat seine Erregbarkeit und die Fahigkeit,

die Erregung zu leiten, yore Protoplasma iiberkommen. Aus diesem hat es sich dutch bestimlnte Ordnung und Abi~nderung

tier Lage und des Bestandes der Moleciile der lebendigen Substanz

entwickelt, dadurch hat es seine specifische Eigenart, seine Idiotropie

als Gewebeelement erworben, aber eine wichtige Eigenschaff des

Protoplasmas, ' die Erregbarkeit und Erregungsleitung, ist eben bei

dieser Fortbildung zum specifischen Elementartheile nicht verloren

gegangen. Welchen besonderen Reizen sich die Sinneszellen (das

erste Neuron) bei diesen niedrig stehenden Thieren angepasst haben mSgen, kSnnen wit nur vermuthen; aber als sehr wahrscheinlich

re%sen wir annehmen, dass die frtlher angeft'fl~rten sogenannten all-

gemeinen Reize for das Protoplasma, wenn auch nicht auf alle, so

doch auf die meisten Theile des Neurons wirksam geblieben sind,

wesswegen sie nun auch als allgemeine Nervenreize zu be-

zeichnen sind.

1) Archiv f: mikroskop. Anat. Bd. 39 S. 102. 1892. 2) Biolog. Untersuch. N. F. Bd. 3 S. 1; Bd. 4 S. 1 u. 11, Stockholm 1892;

Bd. 6 S. 6, Jena 1895; Bd. 8 S. 94, Jena 1898. 3) Die Bezeichnungen auf- und absteigend will ich der Kt~rze halber immer

gebrauchen, um die Ausdr[lcke centralw~rts und peripherwarts oder proximal und distal (ira Sinne Fror ieps , Anat. Anz. 1892 S. 764) zu vermeiden; was damit gemeint ist, ergibt sich aus dem, was ebcn angeftihrt wurde, wonach aufsteigend, centralw~rts und proximal und absteigend, peripherwi~rts und distal Synonyma sind.

Page 48: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

430 Alexander Rol le t t :

Die Morphologie lehrt uns nun, dass in der Anlage hOherer Sinnesorgane in das Oberflachenepithel vorgeschobene bip01are Zellen

als erstes Neuron wiederkehren. In der Erkenntniss dieser That- saehe hat bekanntlich eines unserer specifischen Sinnesorgane eine

wichtige Rolle gespieIt, n~mlich das Geruchsorgan. Daran hahen

sich aber auch wichtige Erfahrungen bei den i~brigen Sinnesorganen angeschlossen. Wit wollen uns in kurzer Uebe r s i ch t in Erinnerung bringen, was uns dieselben zunachst in morphologiseher Beziehung sagen, indem wir zugleich an eine yon R e t z i u s l ) gegebene

Zusammenstellung erinnern, in der sich auch trefftiche schematische Abbildungen finden.

Durch G o l g i ~ ) , S . R a m o n y C a j a l 3 ) , v an G e h u c h t e n 4 ) ,

K S l l i k e r ~) und R e t z i u s 6) ist festgestellt, dass die Riechzellen yon Max S ch ul t z e bipolaren Nervenzellen entsprechen, welche im

Epithel liegen, deren absteigender Fortsatz das Riechst~tbchen ist,

und w e l c h e einen aufsteigenden Fortsatz zu den Glomerulis des Bulbus olfactorius senden, der sich dort in ein Endbaumchen auflOst.

Das ist das erste Neuron.

Das Endbi~umchen dieses Neurons bildet zusammen mit dem End- b~mmchen eines absteigenden Fortsatzes einer Mitralzelle den Glome-

rulus, in welchem diese zweierlei Endbttumchen, ohne eine directe Verbindung einzugehen, in einander geschoben, dicht beisammen

liegen. Ein aufsteigender Fortsatz der Mitralzelle (zweites Neuron) bildet dann wieder ein Endb~tumchen, welches mit dem eines weiteren Neurons vergesellschaftet ist, und so fort bis zu filnf Neuren, yon

deren physiologischer Bedeutung bier nur erwahnt werden soll, dass

darunter auch die psychosensorischen: Zellen des Riechcentrums sich befinden.

Ich muss nun Gelegenheit nehmen, zuerst morphologisch und darauf folgend physiologisch auch der tibrigen Sinnesorgane etwas zu gedenken.

Was ich vorbringe, wird in seinem Zusammenhange wesentlich dazu

1) Biolog. Untersuch. :N. F. Bd. 4 S. 49. 2) Ricerche sulla fin. : strut, d. bulb. olfact, Reggio-Emilia, 1875, 3) Origen y Terminacion de las fibr. herr. olfact. Ext. d. l, gaz. Sanit.

munic, d. 10 d. diciemb. 1890. Barcelona. 4) La cellule t. 7 p. 205. 1891 . . . . . 5) Sitzungsber: d. phys.-reed. Gesellsch. Wtirzburg 1892. :Nr. I. Gewebe-

lehre Bd: 2 S, 700. 6) Biolog. Untersuchungen :N. F, Bd. 3 S, 25, Bd: 4 S. 62.

Page 49: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 431

beitragen, t~ber einige yon den gegenwhrtig geltenden Anschauungen wesentlich abweichende Anschauungen, welche ich d~rlegen werde, alas richtige Urtheil zu gewinnen.

Ich hoffe, den Leser damit nicht zu ermt~den, und schliesse, zum morphologisehen Theile abergehend, an das Geruchsorgan die Netz- haut des Auges an.

Far diese ist yon S. R a m o n y C a j a l i ) , R e t z i u s 2 ) und v a n G e h u c h t e n 8) nachgewiesea, dass sie bus drei Lagen yon in Contiguitii, t stehenden Neuren gebildet wird.

Das erste Neuron sind die St~tbchen und Zapfen, bipolare Zellen, deren absteigender Fortsatz die eigentlichen Stabchen und Zapfen, deren KSrper die St~bchen- und Zapfenk0rner bilden, deren auf- steigender Fortsatz die Stabchen- und Zapfenfasern bildet, die ihre Endbaulnchen in der ZwischenkSrnerschicht haben. Mit dieser steht in Contiguit:,'tt das Endb~iumchen des absteigenden Fortsatzes eines inneren Kornes (bipolare Zelle), welches seinen aufsteigenden Fort- satz, der Bin Endbhumehen bildet, dem Endb~umchen des absteigen- den Fortsatzes einer Zelle der Gangtienschichte entgegensehickt, deren aufsteigender Fortsatz als Faser in den Opticus iibergeht und dutch Neurenverkettung zu den psychosensorischen Zellen des Sehcentrums gelangt.

Die schwer zu deutenden Zellen der sogenannten indireeten Leitung in tier Retina, die horizontalen Zellen and die amakrinen Zellen, haben wir hier nicht besonders aufgefi]hrt, huch sind die sogenannten centri- thgal leitenden Opticusfasern, welche man hypothetiseh fi;lr die Objecti- virung tier Gesichtseindriicke heranziehen wollte oder als hemmende Fasern gedeutet hat, deren Natur aber noch ~msserst zweifelhaft ist, und die auch bei anderen Sinnesnerven ihre Analoga haben, weder bier, noch bei den anderen Sinnen in unsere Uebersicht mit ein- bezogen.

Beim GehSrorgane 4) sind an tier Peripherie andere Verhaltnisse vorhanden als bei den beschriebenen Organen.

Dort stellen dis bipolaren Ganglien des keusticus die Centren des ersten Neurons vor. Oer absteigende Fortsatz einer solchen

1) Die Retina tier Wirbelthiere. Deutsch VOll Gree f . Wiesbaden 1894.

2) Biolog. Untersuchungen N. F. Bd. 4 S. 54. 3) 1. c. S, 203. 4) l ~ e t z i u s , BioIog. Umer~. Bd. 3 S. 29; Bd. 5 S, 35; Bd, 6 S. 46 u. 52.

E. Pflfi_ger, ArcMv f~r Physiologie. Bd. 74. ~9

Page 50: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

432 Alexander Rol le t t :

bipolaren Zelle hat sein Endbfiumchen zwischen den Haarzellen und

den diese tragenden, oft sehr complicirten Deckgebilden, diese Ge-

bilde umspinnend. Die letzteren sind als Sinnesepithelien auf- zufassen, der aufsteigende Fortsatz jeder Zelle ist wieder durch

Neurenverkettung mit den psychosensorischen Zellen des HSrcentrums verbunden.

Das erste Neuron der Hautsinnesnerven hat seine weit in's Innere des Organismus zurtickgeschobene Zelle in den Spinalganglien

und den diesen entsprechenden Ganglien an den Hirnnervenwurzeln. Die Zellen dieser Ganglien sind nach R a n v i e r ' s 1) von R e t z i u s 2) und L e n h o s s e k 8) besti~tigter Entdeekung, wie sieh R e t z i u s aus-

driickt, yon bipolarem aber in pseudounipolaren umgewandelten

Typus, da sicb der Nervenfortsatz jeder Zelle nach kurzem Verlaufe in zwei Schenkel theilt, yon welchen der eine absteigend li~uft und ein Telodendrion in der Haut bildet, tier andere aufsteigend lauft

und Telodendrien zum Theil an motorischen Zellen und Kernen der Centralorgane und endlich an sensiblen Kernen des Centralorganes

bildet und dann durch Neurenverkettung mit der Hirnrinde im Zu- sammenhange steht.

Was das Geschmacksorgan anbelangt, so soll nach R e t z i u s ~) die Zelle des ersten Neurons in i~hnlicher Weise zur•ckgezogen er- scheinen, und zwar in Ganglien an der sensiblen WurT.el des Tri- geminus und des Glossopharyngeus.

Der absteigende Fortsatz dieser Zellen endigt mit einem Teloden- dl%n zwischen den Zellen der Geschmacksknospen.

In letzterer Beziehung stimmt auch v. L e n h o s s e k ~) voll- kommen mit R e t z i u s ilberein.

Der aufsteigende Fortsatz der genannten Nervenzellen tritt in's Gehirn ein und gelangt mit einem Telodendrion an sensible Kerne,

die durch Neurenketten mit der Hirnrinde verbunden sind.

In Bezug auf die Deutung des beschriebenen ersten Neurons ist

1) Compt. rend. 1875 p. 1274; 1882 p. 1167. Trait6 technique etc. Paris 1875--1888 p. 1033 ft.

2) Archly f. Anat. u. Physiol, 1880. Anat. Abth. S. 369. Biolog. Unters. N. F. Bd. 1 S. 97; Bd. 4 S. 54 u. 59.

3) Archiv f. mikrosk. Anat. Bd. 26 S. 370. 4) Biolog. Untersuchungen N. F. Bd. 4 S. 19 u. 26; Bd. 5 8. 69. 5) Anatomischer Anzeiger Bd. 8 S. 721. 1893. Die Geschmacksknospen

in den blattfSrmigen Papillen der Kaninchen. Wtirzburg 1894.

Page 51: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 433

mir aber, sofern sie die Geschmacksknospen betrifft, jene yon R e t z i u s fraglich geworden. Ich halte es auf einige Wahrnehmungen hin fi~r wahrscheinlicher, dass, wie v. L e n h o s s e k schon aus- gesprochen hat, die yon den Deckzellen der Geschmacksknospen ver- schiedenen, im Innern der Knospen liegenden Geschmackszellen ein kurzes, in das Epithel vorgeschobenes Neuron darstellen, so dass eine gewisse Aehnlichkeit der Einrichtung des Geruchs- und Geschmacks- organes gegebeu ware und das frt~her als erstes Neuron beschriebene Neuron des Geschmacksorganes schon als das zweite Glied der Kette anzusehen ware, eine Anschauung, welche sich yon der dutch R e t z i u s 1) widerlegten Anscbauung yon F u s a r i und P a n a s c i 2 ) , nach welchen die Geschma@szellen direct mit Nervenfasern zusammen- httngen sollten, wesentlich unterscheidet. Ki~rzer war die voraus- geschickte Uebersicht nicht zu fassen. Ehe ich sie physiologisch verwerthe, mSchte ich nut noch durch einige kritische Bemerkungen einen histologischen Doctrinarismus ablehnen, der mir nicht gerecht- fertigt erscheint, den man abet zur Grundlage einer physiologischen Lehre zu machen suchte.

Diese ist besonders in v a n G e h u c h t e n ' s a) verdienstlichem grossen Werke t~berall festgehalten, aber auch S. R a m o n y Caj al 4) Re tz ius '~ ) , B e c h t e r e w 6) und L e n h o s s e k 7) neigen derselbenin ausgesprochener Weise oder mehr oder weniger entschieden zu. Ich meine die Lehre yon der dynamischen Polarisation der Nerven- demente. Wir mi~ssen sie in ihren tfistologisdmn und physiologischen Wurzeln untersuchen und prt~fen.

Die ersteren ft~hren zurt'~ek auf D e i t e r s S ) , welcher zuerst an den motorischen Ganglienzellen in den VorderhSrnern des Rt~cken- markes die verzweigten protoplasmatischen Forts:~tze yon dem einen ungetheilten Achsencylinderfortsatze, welcher in den Achsencylinder einer motorischen, centrifugal leitenden Nervenfaser t~bergeht, unter- schieden und morphologisch charakterisirt hat.

1) 2) 3) 4)

microg. 5) 6) 7) 8)

1. c. Bd. 4 S. 19. Atti. d. r. Accad. di Torino vol. 25 Disp. 15 a p. 835. Anatonaie dt~ syst@m nerveux etc. 2e 6dit. p. 170 ft. LouY~in 1897. Revista de Ciencias medicas de Barcelona 1891 Nr. 22 u. 23. Rev. trim. t. 2. p. 1.

Biolog. Untersuchungen N. F. Bd. 4 S. 55. 1. c. S. 611. Der feinere Bau des Nervensystems etc. S. 141. Untersuchtmgen i~ber Gehirn und R~ckenmark. Br~tunsehweig 1865.

29 *

Page 52: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

434 Alexander Rol le t t :

G o l g i 1) fand diese Verschiedenheit der Fortsi~tze bei seinem Verfabren best~ttigt, nicht nur an den multipolaren Ganglien im

Vorderhorne, sondern an vie]en anderen multipolaren Nervenzellen~ und ebenso alle seine :NacMblger; und heute bezeichnet man den

Achsencylinder oder Nervenfortsatz als Axon oder Neuriten~ die

protoplasmatischen Fortsatze a l s Dendriten. Auch die yon M a x S c h u l t z e 2 ) , begonnenen, yon NisslS), R o s i n 4 ) , de G u e r v a i n S ) ,

G o l d s c h e i d e r und F l a t a u G) u. h. dutch neu erfundene Methoden und experimentelle und pathologische Studien weiter geftihrten, hSchst

wichtigen Studien fiber die Structur der Neurocyten haben die fest- gestellte Unterscheidung yon Axon und Dendriten bei den ge-

nannten Zellen nicht mehr ver~indert. Sie bekri~ftigen nur die Richtigkeit dieser Unterscheidung, indem sie im Zellk(irper und in

den Dendriten eine Reihe yon iibereinstimmenden Structurelementen nachweisen, welche im Axon fehlen. Im ZellkOrper und in den

Dendriten, wenigstens auf weite Strecken ihrer aus dem ZellkSrper hervortretenden Theile hin, ist die in verschieden geforlnten Massen

auftretende chromatische Substanz enthalten in einer achromatischen Grundsubstanz, in das Axon geht nur die letztere fiber, fiir welche

wir, abgesehen yon allen histologischen Controversen, die daraber noch geftihrt werden, auf Grund ihres physikalischen Verhaltens Fibrillen als Elemente ihrer Structur voraussetzen mtissen.

Andererseits haben abet , was ebenso wichtig ist, gerade diese Structurstudien auch wieder eine gewisse innere Uebereinstimmung aller Fortsatze einer Nervenzelle dargethan, wie sich aus der folgen-

den Ueberlegung ergibt: Die mit N i s s l ' s Methode nachweisbaren Veri~nderungen der

chromatischen Substanz bei verschiedenen Zusti~nden der Zellen und die ebenso nachweisbaren Veri~nderungen dieser Substanz in den

Zellen bei Vergiftung und Entgiftung von Thieren zeigen, dass die

1) Sulla fina anatonlia degli organi centrali del systema nervoso. Milano 1885--1886.

2) 8 t r icker ' s Handbuch der Lehre yon den Geweben Bd. ! S. 108, Leipzig 1871.

3) Allgem. Zeitschrift filr Psychiatrie Bd. 50 S. 370. 1894. Bd, 54 S. 1. 1897. -- Neurolog. Centralblatt Bd. 13 S. 676.

4) Neurologisches Centralblatt Bd. 12 S. 803. 1894. 5) u Archiv Bd. 133 S. 844. 1893. 6) Normale und patholog, Anatomie der Nervenzellen. Berlin 1898.

Page 53: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 435

chromatische Substanz eine vdchtige Rolle im Leben der Nervenzelle spielt. Nichtsdestoweniger muss man sich aber nach dem Mit- getheilten doch die in allen Theilen des Neurons vorhandene achromatische Substanz in directester Beziehung zur physiologischen Function des Neurons stehend vorstellen. Auf diesen Standpunkt sahen sich in der That auch die neueren Untersucher, G o l d - s c h e i d e r und F l a t a u l ) , gefiihrt.

Was die physiologisehen Wurzeln der genannten Lehre betrifft, so ist zuerst die van G olgi vertheidigte Anschauung tiber die Function der Dendriten und des Axons anzufiihren. Die Dendriten sollen danach der Zelle nur yah allen Seiten ~Tahrmaterial zufiihren, also eine rein nutritive Bedeutung haben~ wiihrend das Axon allein der Leitung der Erregung dienen soll. Diese Lehre van G olgi aber die rein nutritive Bedeutung der Dendriten wurde aber bald verlassen.

S. R a m o n y Ca ja l bei seinen Untersuchungen abet den O1- factorius, van G e h u c h t e n und R e t z i u s sprachen sich dagegeu aus und nahmen auch far die Dendriten die Function als Leiter tier Erregung und nicht eine ausschliesslich nutritive Function in Anspruch.

Fiir den Nervenfortsatz des erw~hnten motorischen Neurons war es abet klar, dass er im Neuron wahrend des normalen Ablauh, s der Lebenserscheinungen cellulifugal ( K O l l i k e r ) leiten masse, w~thrend man den Dendriten derselben eiue cellulipetale Leitung zu- schreiben musste. Diese zweite, wie ersichtlich physiologische Scheidung der Forts~'ttze des motorischen Neurons ist aber nun der Ausgangspunkt far einen sonderbaren circulus van Schlhssen ge- warden. Weil der als Axon morphologisch gut charakterisirte Fort- satz des motorischen Neurons eellulifugal leitet, wurde far die sen- siblen Neuren auch der cellulifugal leitende aufsteigende Fortsatz als Axon angesehen, alle in entgegengesetzter Richtung gehenden Fort- shtze, welche cellulipetal leiten, ~'urden aber ohne Racksicht auf ihre morphologischen Eigenschaften und Charaktere nur auf Grund dieser Vorstellung als Dendriten gedeutet.

Und es entstand die ,,th~orie de la conductibilit~ cellulip~te des prolongements protoplasmatiques et de la conductibilit~ cellulifuge des

1) 1. c. S. 36.

Page 54: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

436 Alexander Ro l l e t t :

prolongements cylindraxiles" 1) oder die Lehre von der dynamischen

Polarisation der Nervenelemente.

Die strengen Anhanger dieser Lehre sehen in dem peripheren

Fortsatz der Spinalganglienzellen nur ,einen modificirten, mark-

bekleideten Dendriten " 2).

Ffir sie wiirden der Olfactorius und Opticusstamm Axonen, da-

gegen der Stature des Acusticus bis zum Ganglion nur Dendriten

enthalten und ebenso auch die Sti~mme tier Geschmacksnerven (?) und~

wie oben erwahnt, auch die Sti~mme aller anderen sensiblen ~Nerven.

In dieser Form ist die erwi~hnte Lehre nicht zu halten, wie

v. L e n h o s s e k ausftihrlich zeigte, v. L e n h o s s e k sucht sie aber

merkwtirdiger Weise in modificirter und beschri~nkter Form trotz der ge-

wichtigsten Gegengri~nde, die gerade er anfi~hrt, noch bestehen zu lassen.

v. L e n h o s s e k 8) sucht zu erweisen, dass bei allen ~erven-

zellen, welche nut einen Nervenfortsatz besitzen, dieser die Erreguug

stets in cellulifugaler Richtung leitet. Also far Monaxonen soll

der Satz gelten! Fiir Diaxonen, wie uns solche als Spinalganglien-

zellen entgegentreten, sagt v. L e n h o s s e k, dass die peripheren so-

wohl, als die centralen Forts~tze derselben durchaus den Charakter

yon b~ervenfortsgttzen, yon richtigen Achsencylindern aufweisen, und

dass kein Grund vorhanden sei, den einen oder den anderen far

etwas Anderes als einen Nervenfortsatz anzusehen, der eine leite aber

cellulipetal, der andere cellulifugal.

Wenn v. L e n h o s s e k dann hinzufflgt, dass der periphere Fort-

satz vielleicht in seiner Entwicklung auf einen umgebildeten Dendriten

zuri~ckzuftihren sei, so muss bemerkt werden, dass man entwicklungs-

geschichtlich auch fiir den centralen Fortsatz nichts Anderes an-

nehmen kann.

Uebrigens hat v. L e n h o s s e k selbst eine Thatsache hervor-

gehoben, welche zeigt, dass das erwahnte Gesetz auch fiir Monaxonen

nicht streng gt~ltig ist. Es ist das die schon yon D e i t e r s gekannte

und von vielen sp~tteren Untersuchern besti~tigte Thatsache, dass

der b~ervenfortsatz nicht direct vom ZellkSrper, sondern yon einem

Dendriten entspringt. Hier muss also eine cellulifugale Leitung

durch den Dendriten zum Nervenfortsatz gehen.

1) van Gehuchten, L c. S. 207. 2) Vgi. Bech te rew, 1. c. S. 602--604. 3) 1. c. S. 126. 4) 1. c. S. 139.

Page 55: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. zi37

Wenn v. Le n h o s s ek diesen Gegensatz zur Lehre yon der dynamischen Polarisation nur einen scheinbaren nennt, well auch alle anderen Dendriten die Erregung nicht nur cellulipetal, sondern auch zum Ursprunge des Axons hinfiihren, so kann ich nicht finden, dass damit die cellulifugale Leitung im Dendriten, aus welchem der Nervenfortsatz entspringt, widerlegt wi~re. Ausserdem fahrt v. L e n h o s s e k ' ) an einer anderen Stelle auch noch an, dass der Satz nur eine besehri~nkte Geltung far die Wirbelthiere habe, nicht aber auch far Wirbellose gelte.

lch glaube, dass der Satz yon der dynamischen Polarisation der Nervenelemente aus den angefi~hrten Griinden auch far die typischen Monaxonen, filr welche ihn v. L e n h o s s e k l~od~ anerkelmen will, fallen gelassen werden muss.

Mit Raeksicht auf die Diaxonen ist aber auch die neue Form, welche S. R a m o n y C a j a l der Lehre zu geben sucht und wonach die Dendriten immer axopetal, die Axonen aber dendrifugal oder somatofugal leiten sollen, nicht annehmbar.

lch bin viehnehr zu den folgenden Ansehauungen abet die far die Nervenleitung wiehtigen Forts~ttze der Neurocyten gelangt.

Die Kenntnisse, welche wir uns abet Aufbau und funetionelle Bedeutung der Elemente des gesammten Nervensystems erworben haben, zeigen uns, dass alas Neuron die F~thigkeit hat, sich ge- gebenen Bedingungen sowohl mit Reiz empfangenden als aueh mit Reiz abertragenden Fortsatzen anzupassen. Es gesehieht das je nach den dureh die Entwieklung des Organismus bedingten r~ium- lichen Anordnungen mit bald kt~rzeren, bald lhngeren, bald sehr langen Fortshtzen, welche sieh in Nervenfasern umbilden und dadureh eine yon den Dendriten abweiehende Beschaffenheit erwerben; das Ende dieser Forts~tze bildet gewShnlieh ein Telodendrion, abet nicht immer, es kSnnen namentlieh die Reiz empfangenden Fortsfttze ein- faeh und in besonderer Weise welter ditIerenzirt auffreten, wie wit es eben bei den Sinnesorganen gesehen haben.

Dieses doppelte AnpassungsvermSgen der Neuren seheint mir aber ein Hinweis darauf zu sein, dass die Einriehtung des doppel- sinnigen LeitungsvermSgens, welches die Physiologen an den Axonen motoriseher und sensibler Neuren zuerst und sehon vor langer Zeit erkannt haben, sehon im Neuron realisirt ist und yon daher auf die Axonen iiberkommen ist.

1) s. 129.

Page 56: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

438 Alexander Rollett:

Von einer dynamischen Polarisation tier Nervenelemente in dem oben angeffihrten Sinne kann keine Rede sein. Aus den soeben entwickelten Gesichtspunkten lassen sich die frfiher angefilhrten Er- scheinungen der Zu- und Ableitung der Erregung zum und vom Neurocyten ohne Schwierigkeit begreifen.

Gehen wir nun fiber zu unserer physiologischen Uebersicht der Sinnesorgane, und kehren wir zu dem Zwecke zurfick zum ersten �9 des Geruchsorganes, yon welchem wir fraher ausgegangen sind, um auch jetzt yon demselben unseren Ausgang zu nehmen. In demselben ist der periphere Aufnahmeapparat dieses Sinues reali- sift, sowie auch die anderen Sinne ihre specifischen Aufnahme- apparate besitzen. Wenn wir im ersten Neuron des Geruchsorganes auch noch das Wesen einer bipolaren Nervenzelle morphologisch und genetisch erkennen, so hat doch eine selbst morphologisch erkenn- bare physiologische Differenzirung stattgefunden, der absteigende Fortsatz der Zelle ist zum Riechsti~bchen geworden und die periphe- rische Einriehtung dem adi~quaten Reize angepasst.

Die allerwahrscheinlichste Annahme, welche man machen kann, ist, dass der erste Anstoss zur Differencirung bier, wie bei jedem anderen Sinnesorgane, von tier Peripherie her, yon der Aussenwelt erfolgt ist.

Die Trennung in bestimmte Bahnen, auf welchen die verschieden differenzirten peripheren Einrichtungen die yon ihnen aufgenom- menen Impulse dem Centralorgane zuleiten, und die Sonderung der centralen Aufnahmeapparate in bestimlnt localisirte Gruppen, und damit die Ausbildung eines vollkommenen specifischen Sinnesorganes hat sich durch eine Reihe yon Fortbildungsprocessen erst allmii.lig vollzogen.

Die adiiquaten Reize ffir das Geruchsorgan sind die Riechstoffe, sie wirken durch ihre chemischen Affinitaten. Der Geruch hat sich ausgebildet als ein Hfilfsmittel zur Aufsuchung und Auslese geeig- neter Nahrung, als Wachter an den Pforten des Athmungsorganes, um Schi~dliches zu meiden und Nfitzliches zu suchen 1).

Wir nennen ihn ebenso wie den Geschmackssinn, den wir spater erwi~hnen werden, mit vollem Rechte einen chemischen Sinn2). Wenn auch andere :Nerven dutch chemische Reize ierregt werden,

1) Vgl. A. Rollett, Ueber Geruch und Geschmack, 1. c. S. 10. 2) Vgl. W. A. Nagel, 1. c.

Page 57: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 439

so f~hrt das doch nicht zu einer Unterscheidung der letzteren yon einander.

Beim Rieehen und Schmecken ist das anders. Mit diesen Sinnen erkennen wir bestimmte ber{lhrende chemische Substanzen, wir nehmen sie wahr und unterscheiden sie vermSge ihrer besonderen Eigen- schaften. Es findet eine wirkliche chemische Sinnesthatigkeit in Form einer reaetiven Auswahl start.

An dem Geruchsorgane haben wir ein Beispiel daffir, dass bei der Anpassung des Aufnahmeapparates an den ad~tquaten Reiz eine Qualibtt der frt~her wirksam gewesenen allgemeinen Reize wirksam geblieben ist und ffir diese P~eizqualit~tt noch eine viel welter gehende Differenzirung aufgetreten ist, und wir kSnnen hier nur an eine der Hauptsaehe nach moleculare Umlagerung der lebendigen Substanz der giechst~behen denken. Wie sie, h dieselben gegen mechanische, thermisehe und elektrisehe Reize verhalten, wissen wit nicht.

Der elektrisehe Gerueh darf nieht hier angezogen werden, denn die Einwirkungen, dutch welehe wir ihn hervorbringen, treffen nieht die Rieehsthbehen allein, sondern such den Stature des Olfaetorius.

Far die Fortbildung zum speeifisehen Sinnesorgane werden wir am allerwahrseheinliehsten annehmen massen~ (lass dieselbe um so vollkommener erreieht ist, je aussehliesslieher die Anpassung der Endorgane an den ad~,tquaten Reiz erfolgt ist, und je weniger An- griffspunkte die fri]her wirksam gewesenen allgemeinen Nervenreize an der Peripherie des Sinnesorganes finden.

In dem ersten Neuron des Geruehsorganes hat sieh ein speei- fisehes Gewebeelement yon bestimmter Idiotropie ausgebildet.

Die Anpassung hat beim Geruehsorgan anfiinglieh an gewisse Nahrungs- und Zersetzungsgeraehe ~) stattgefunden, und es ist sehr wahrseheinlieh, dass dabei allm~alig eine Auswahl und Sonderung der, gewissen Qualit~tten angepassten, Apparate stattfand, so dass uns die zahlreiehen Geri~ehe gruppenweise gesondert erseheinen, so viel, als nothwendig ist, um uns i]ber miSgliehst viele versehiedene Gernehe zu orientiren (~'ergl S. 417),

Waren auf diese Weise wirklieh, wie es in hohem Grade wahr- seheinlieh ist, eine Reihe versehiedener, in bestimmten Rieehstabehen und den zngehSrigen Neuren realisirter Geruehssinnsubstanzen, idio- troper Gewebeelemente, entstanden, dann wiirde sieh dureh eine

1) Ygl. Zwaardemaker, Die Physiologie des Geruchs S. 235. Leipzig 1895.

Page 58: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

440 Alexander Rollett~

Wirkungsweise yon Geruchsreizen, die ithnlich ist tier Wirkung des Geruchsreizes, f~lr welchen die Anpassung stattgefunden hat, und eine mehrfache Wirkungsweise auf verschiedenen Geriichen an- gepasste Endapparate die Riechbarkeit von Substanzen erkli~ren, die weder jemals als Nahrungs- noch als Zersetzungsgert~che vorhanden ge- wesen sein kSnnen~ well sie durch Substanzen hervorgebracht werden, welche ausschliesslich synthetische Erfindungen der Chemiker sind.

Auch fiir die adi~quaten Reize darf niemals aus dem Auge verloren werden, dass ihre bestimmte Energieform zu den in den Endapparaten auftretenden Energieen nur im Verhi~ltnisse einer auslOsenden Energie zu den ausgelSsten Energieen steht. Die letzteren werden aber immer eine Form annehmen mi~ssen, welcher der ft~r die Fortleitung der Erregung bestimmte Theil des Neurons zugi~nglich bleibt. '~

Eine neue AuslSsung miissen wir uns an der Grenze zweier b~euren vorstellen; nur ein durch die Energie des ersten Neurons gesetzter Process in der die Neuren trennenden Substanz kann die Energie des zweiten b~eurons ausliisen, und solche AuslSsungsvorghnge miissen sich an den Grenzen aller weiteren Neuren der Kette wiederholen.

Wir wollen uns nun vorstellen, dass der eigenartige, idiotrope Vorgang, welcher im Endapparate des specifischen Sinnesorganes durch den adaquaten Reiz zuerst hervorgerufen wurde, auch in jenem Theile des peripheren Neurons, welcher nicht primar dem ad~iquaten Reize angepasst wurde, die Folge gehabt hat, dass dieser sich eine ganz bestimmte Eigenart erwirbt, und die Erregung in demselben in ganz bestimmter Weise auftritt und sich fortpfianzt, und dass dadurch auch der Vorgang an der Grenze der Neuren und in den neuen Neuren bestimmt wird.

Ferner wollen wir uns vorstellen, dass diese Eigenart der Aus- 15sungs- und Erregungsvorgi~nge, die Idiotropie des bestimmten Nerven- apparates, nach und nach so dominirend und ausschliesslich sich aus- gebildet habe, dass nicht nur der adi~quate Reiz, dem nur die an- gepassten Endapparate zugi~nglich sind, sondern auch allgemeine Reize, fiir welche der nicht primi~r angepasste Theil der Neuren- leitung zugi~nglich geblieben ist, nichts Anderes mehr auszulSsen im Stande sind, als den der Idiotropie des specifisch entwickelten Gewebe- elementes entsprechenden Vorgang.

Um die u yon der idiotropischen Umbildung der Neuren zu erliiutern und versti~ndlich zu machen, sei es nun erlaubt, mit

Page 59: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrhge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 4~1

dieser Umbildung die Entstehung auderer idiotroper Gewebeelemente durch die Umbildung des Protoplasmas zu vergleichen~ wie eine solche beispielsweise vorkommt, wenn aus dem Protoplasma der Bildungszellen eine Muskelfaser entsteht.

Protoplasma und Muskel sind erregbare contractile Sub- stauzen. Das Protoplasma ist nach allen l:~ichtungen beweglich, es gleicht einer FlOssigkeit, welche zwar yon einer idealen Fliissigkeit dutch einen gevdsseu Grad you Z~ddgkeit abweicht, abet der Widerstand, welehen es einer kenderung seiner Form ohne gleichzeitige Aenderung des Volumens entgegensetzt, ist ein wenig merklieher. Seine Theile bewegen sieh nieht um eine bestimmte Gleichgewiehtslage. Anders bei den Muskeln. Diese haben eine orientirte Contraetionsrichtung, die Theilehen bewegen sich in einer festen kehse, welehe mit der Lhngenachse der Faser zusammenfMlt.

Nati]rliche und kOnstliehe Reize, die meehanisehen, thermischen, ehemischen und elektrischen Reize, 16sen balm Protoplasma nur Bewegungen der ersteren, beim Muskel nur Bewegungen der letzteren Art aus.

Die Bewegung der Theilchen des Muskels ist eine ganz be- sondere. Ein einer ganz bestimmten Einrichtung entspreehender Vorgang tritt bei der Erregung des Muskels auf und erfolgt bei jedwedem Reiz, der den Muskel trifft.

Im Muskel liegt ein Gewebeelement yon besonderer Idiotropie vor. So, ineine ieh, erwerben auch die Neuren ihre bestimmte Idio-

tropie. In den versehiedenen Neuren muss eine Reihe soleher Idiotropieen realisirt sein.

Wenn wit den Ausdruek Idiotropie der 7Nervenelemente ge- brauehen, so meinen wit unserer oben gegebenen Definition zu Folge etwas total knderes, als was van G e h u c h t e n und S. R a m o n y C a j a l und Andere unter der dynamisehen Polarisation der >-erven- elemente verstehen.

Mit der Annahme einer Idiotropie der erregbaren Substanzen ware abet eine materielle Grundlage ftir die speeifisehe Energie der Sinnesnerven gewonnen.

Und dasselbe genetische Prineip wt~rde dann sowohl die Moda- litaten der versehiedenen Sinne, als aueh die Qualit~ten des einzelnen Sinnes umfassen. Wir hhtten es bei den versehiedenen Sinnen mit nieht oder wenig verwandten, bei den Qualitaten jedes Sinnes mit nahe verwandten Idiotropieen der erregbaren b~ervenelemente zu thun.

Page 60: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

442 Alexander Rollett :

Ich babe mich hie tiberzeugen kSnnen, dass J o h a n n e s M t i l l e r ' s

Lehre umgestossen werden kOnne, wenn man sie nur als einen empirischen Ausdruck tilt die bei allen Sinnen durch Versuche fest-

zustellenden Tbatsachen ansieht~ als welcher sie ursprtinglich auf- gestellt wurde. Anders Verhiilt es sich allerdings, wenn man an den

Inhalt der Lehre die Sonde des Causaliti~tsprincipes anlegt, wie es

J o h a n n e s M ii I 1 e r selbst spi~ter und viele Physiologen und Philo- sophen nacb ihm gethan haben.

Dass beide Standpunkte nicht immer scharf getrennt wurden~ hat zu zahlreichen Verirrungen gef~hrtl).

In unseren friiheren Auseinandersetzungen ist gezeigt worden, wie man vom Standpunkte der Genese, yon welchem aus alle physio- logischen Einrichtungen allein verstanden werden kbnnen, auch zu

einem genetischen Verstandnisse der specifischen Energie der Sinnes- nerven gelangen kann.

Trotz der Kenntniss der verschiedenen peripherischen Sinnes- apparate und der besonderen Leitungsbahnen zu besonderen locali-

sirten Sinnesspharen wt'lrde uns ein solches Versti~ndniss nicht ver- mittelt werden, wenn wir an der Annahme tiberall gleicher und uniformer Beschaffenheit jener Leiter festhalten m~ssten2). Nur mit

der Umbildung der Neuren ist auch die Umbildung der Sinnes-

spharen zu idiotropischen Einrichtungen zu begreifen. Ich glaube

nicht, dass gegen unsere Ansehauungen yon der Existenz yon Nerven- apparaten yon verschiedener Idiotropie der Einwurf erhoben werden

kann, dass damit eine zu grosse Mannigfaltigkeit der molecularen Vorgiinge in den Nerven vorausgesetzt wilrde.

Ein solcher Einwurf kann nicht ernstlich gemacht werden, wenn man sich die unendliche Mannigfaltigkeit der molecularen und ato-

mistischen VorghL~ge vergegenwhrtigt, auf welche die Gesammtheit der Erscheinungen in der belebten und unbelebten Natur zuriickfiihrt.

Wir sind bei der Entwickelung unserer Anschauungen vom

1) Vgl. Weinmann, Die Lehre yon den specifischen Sinnesenergieen. Hamburg und Leipzig 1895.

2) Vgl. auch Ewald H ering, Zur Theorie der •erventhiitigkeit. Leipzig 1899. Mir ist dieser wichtige Vortrag yon Hering, tier die biologische In- dividualit~t der 1Neuren betont, erst zugekommen, als ich meine in diesen Ab- schnitt niedergelegten Anschauungen schon ausgearbeitet hatte. Ich babe reich nicht veranlasst gesehen, in meinen Darlegungen etwas zu hndern.

Page 61: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrhge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 443

Geruchsorgane ausgegangen und haben dort auch schon des Ge- schmacksorganes gedacht.

Auch die Enden der Geschmacksnerven haben sich chemischen Reizen ill besonderer Weise angepasst. Auch bei der Ausbildung des Geschmacksorganes ist die Hauptsache das Entstehen tier be- stimmten Idiotropie der Neuren. Eine periphere Anpassung ist, soweit es unseren jetzigen vielleicht nicht ersch5pfenden Kenntnissen v o n d e r Endigung der GesehmaeksLerven entspricht, in den Ge- schmackszellen der Geschmacksknospen realisirt. Dass andere als chemische Reize auf die letzteren wirken~ ist nicht bekannt, eine thermisehe Erregung kennt man nicht. Der elektrische Geschmack kann nicht in Betracht kommen. Denn man mag (tie eine oder die andere der gegen einander streitenden Anschauungen iilber die Ent- stehun~' des elektrischen Geschmackes annehmen, so ist er entweder auf Stammesreizung, wie man sich friiher ausdrt'lckte, oder auf indirecte chemische Reizung zuriickzufflhren.

Was den oft besproehenen mechanischen Geschmack betrifft, so hat es J o h a n n e s Mt i l l e r ~) fi]r nieht unmSglich erkl5rt, dass die Geschmaeksnerven (es sind deren Enden in der Zunge gemeint) auch dureh mechanische Reize erregt werden, und seither ist eine Reihe yon Angaben ilber mechanischen Geschmaek gemacht worden. Man findet sie bei V i n t s e h g a u 2) und bei G o l d s c h e i d e r a) zu- sammengestetlt. V i n t s c h g a u bezeichnet den mechanischen Ge- schmack noch immer als fraglieh. Ich habe reich dureh Wiederholung vieler Yersuche ganz vergebens belni~ht~ einen solchen Geschmack wahrzunehmen. Es scheint mir vielmehr, dass mit der Anpassung der peripheren Theile dieses Sinnesorganes an den adaquaten Reiz, soweit wieder die Gesehmaeksknoslpen in Betraeht kommen, ein Anpassungsmoment sinnfMligerer Naturals die molecularen Aende- rungen, ntimlich eine Sicherung gegen den nieht ad:,iquaten meehanisehen I{eiz, einhergeht. Ieh glaube, dass es gelingen wird naehzuweisen, dass die eigenthamliehe Endigungsweise der Gesehmaeksnerven in den Knospen, die Lage tier Gesehmaekszellen in denselben und die Form und Iliehtung der Gesehmaeksknospen und ihre verborgene Lage darauf abzielen, meehanisehe Reize yon den Enden der Nerven abzuhalten und sie gegen diesen inadttquaten Reiz zu sehatzen.

1) Handbueh der Physiologie Band 2 S. 489. Coblenz 1837. 2) Hermann, H~ndbuch der Physiologie Bd. 3 Th. '2 8. 188. Leipzig 1880. 3) Gesammelte Abhandlungen Bd. 1 S. 25. Leipzig 1898.

Page 62: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

444 Alexander Rollett:

Was hatte eine chemische Sinnestht~tigkeit in Form einer reactiven Auswahl, wie wir sie bei den Geschmacksnerven vorfinden, ffir einen Nutzen, wenn beim Zerkauen von ganz geschmacklosen Sub- stanzen, bei der Bissenbildung aus denselben und beim Verschlingen derselben in Folge der mechanischen Erregung der Enden der Ge- schmacksnerven auch Siiss, Sauer, Bitter und Salzig durcheinander geschmeckt wtlrde? Ein solches Geschmacksorgan ware dem adaquaten Reize nut sehr unvollkommen angepasst.

Schon G o l d s c h e i d e r 1) aussert sich dahin~ dass es in der That ein unzweckmassiges Verhalten ware, wenn die Geschmacks- nerven in keiner Weise vor mechanischen Attacken geschtitzt w~tren.

Betrachten wir nun das Gesichtsorgan. Es ist ein Beispiel dafiir, dass bei der Anpassung der peripheren ~euren eine Reactions- fahigkeit auf Reize, welche nicht als allgemeine Nervenreize ver- blieben sind, erworben werden kann2).

Dass unter den Schichten der Netzhaut allein die Stabchen und Zapfen gegen Licht empfindlich sind, wird allgemein angenommen.

Auch bier 10st der Lichtreiz nur die Energie der Endapparate aus, und diese letzteren miissen auch hier eine Form annehmen, welcher der fiir die Fortleitung der Erregung bestimmte Theil des Neurons zugiinglich ist, und auch hier mtissen durch die Energie des ersten Neurons in der die Neuren trennenden Substanz Processe gesetzt werden, welche die Energie des zweiten Neurons auslOsen u. s. f. Von den Stabchen und Zapfen ist es in hohem Grade wahr- scheinlich, dass sie fi~r sich inadaquaten Reizen unzuganglich sind.

Das Gegentheil ist nicht sicher bewiesen. Bei mechanischen und elektrischen Einwirkungen auf die Retina (Druckbilder, elektrische Bilder) kommt die Reizung der allgemeiuen Nervenreizen zuganglich gebliebenen, idiotropisch umgebildeten Neuren in Betracht.

Auch beim Gesiehtsorgane hat eine Auswahl und Sonderung der gewissen Qualiti~ten angepassten Apparate stattgeflmden, so dass sie uns die Wellenlangen des Lichtes gruppenweise so welt sondern, als geni~gend ist, um uns in der Bewegung des umgebenden Lichtes zu orientiren.

Beim GehOrorgane muss man annehmen, dass die Anpassung an den adaquaten Reiz durch die Haarzellen und die mitschwingenden

1) 1. c. s. 30. 2) Anpassung an Lichtreiz reicht aber bekanntlich auch noch tiefer in die

Entwicklungsreihe herab.

Page 63: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitr~ige zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 445

Theile des inneren Ohres verwirklicht ist, und dass der Reiz nut diese t~bertragen wird.

TonhShen yon 8- -40000 Schwingungen reprhsentiren eben nahe an 40 000 verschiedene Bewegungsvorg~mge, die bier als Reize auftreten,

und die ausgesondert werden kSnnen; das heisst es, wenn man sagt, dass das Ohr die Schallbewegungen in einfach pendelartige

Schwingungen zerlegt. In welcber Weise in den mit den mitschwingenden Theilen in

Berahrung stehenden Telodendrien des ersten Neurons der neben einander liegenden Neurenketten die Energieen ausgelSst werden, ist

noch sehr wenig zu abersehen. Wenn man hier annimmt, dass es sich um eine mechanische :Nervenreizung handelt, so ist damit eigentlich sehr wenig gesagt. Wit" massen auch hier in jeder einem

besonderen Reize entsprechenden Neurenkette einen besonderen idio- tropen Vorgang annehmen.

Auf ein sehr schwieriges Gebiet wird man gefi~hrt bei der Betrachtung der ttautsinnesnerven.

Den wichtigsten Fortschritt in der Erkenntniss derselben brachte

der yon B l i x ~) und G o l d s c h e i d e r auf physiologische Versuche gegrtindete Nachweis ihrer trotz grosset Zahl und dichter Zusammen-

dr~ngung doch disseminirten, d. h. dutch Lacken getrennten

Endigungen. Aehnliches kommt nur beim Geschmacksorgane vor u n d i s t

an sich nur die anatotnische Consequenz des u der Zahl der Enden und der Ausdehnung der Sinnesfl~tche. Aueh bei den

ilbrigen Sinnen erscheinen die Endapparate i n flachenhafter An- ordnung entwickelt, aber sie stehen bei denselben dicht neben einander.

Entscheidend war aber bei den Hautsinnesnerven~ dass es die

disseminirte Elldigung derselben B l i x und G o l d s c h e i d e r und weiterhin v. F r e y ~) ermSglichte, besonders ausgetheilte und getrennte Druck-, Whrme-, Khlte- und Schmerzpunkte festzustellen. Far die

Druck- und Temperaturpunkte muss man annehmen, dass dort besondere Endigungen sich befinden, welche sich analog den

1) Zeitschrift f~lr Biologie Bd. 20 S. 141; Bd. 21 S. 145. 2) Gesammelte Abhandlungen Bd. 1. Leipzig 1898. 3) Berieht der math.-phys. Classe der Kgl. shchs. Gesellseh. der Wissenseb.

in Leipzig 1894 S. 185, 283; 1895 S. 166; 1897 S. 462. Abhandlungen derselben Bd. 23 S. 175, 1896. Die Gefiihle und ihr Verh~iltniss zu den Empfindungen. Leipzig 1894.

Page 64: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

446 Alexander Rollett:

Endigungen anderer Sinnesnerven adi~quaten Reizen angepasst haben, und ftir welche idiotropisch umgebildete :Neurenleitungen vorhanden sind. Wie steht es aber mit den Schmerzpunkten?

Zuerst die specifischen Sinnesnerven der Haut. v, F r ey 1) hat den u gemacht, die Endorgane fiir dieselben

aus den vorliegenden histologischen Bet)mden fiber die Endigungen der Hautnerven herauszusuchen. U n d e r ist zu folgenden Resul- taten gelangt:

1. die Endkolben sind wahrscheinlich die Endorgane der KMte- nerven,

2. die Nervenknauel sind mSglicher Weise die Endorgane der Warmenerven;

3. die Tastkih-perchen und besonderen Endigungen an den Haarwurzeln sind die Endorgane des Drucksinnes.

Die Begriindung dieser Lehren sehe man an genannten Orten nach. Wenn abet v. F r e y die Deutung jener wohl erkannten histo- logischen Gebilde auch nur als eine Wahrscheinlichkeit hinstellen konnte und noch Correcturen all seinen Schlilssen nSthig sein werden, so ist damit doch eine Mannigfaltigkeit der Endapparate, welche die Histologie schon friiher aufgedeckt hatte, dem Versuche einer physio- logischen Bewerthung, die nothwendig vorgenommen werden muss, zugefilhrt worden. Andererseits fordern die physiologischen Er- fahrungen, wie wir schon gesehen haben und noch sehen werden, solche verschiedene Endapparate. Nicht in Anspruch genommen fiir die specifischen Sinnesnerven der Haut sind bei der obigen Aus- theilung die frei in der Haut liegenden Endbaumchen des absteigenden Fortsatzes des Neurocyten des ersten :Neurons sensibler Hautnerven. Auf die Deutung dieser Endigungen kommen wir spater zurfick.

Gehen wir nun iiber zu den physiologischen Untersuchungen fiber die Hautsinne. Ueber die Existenz besonderer Druckpunkte, Warme- und K~ltepunkte ist ein Zweifel nicht berechtigt. Es herrscht in Bezug auf diese Thatsache auch zwischen B 1 ix, G old- s c h e i d e r und v. F r e y kein principieller Widerspruch. Der Ein- wurf yon D e s s o i r 2) kann nur erkl~rt werden dadurch, dass das Untersuchungsverfahren der friiher genannten Autoren nicht strenge eingehalten wurde.

1) Berichte der math.-physik. Classed. Kgl. s~tchs. Gesellsch. d. Wissensch. zu Leipzig 1894 S. 283; 1895 S. 166.

2) Archiv f. Anat. u. Physiol. 1892. Physiol. Abth. S. 175.

Page 65: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrage zur Physiologic des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. :447

Wenn icb das sage, habe ich nur die Erregung der Punkte mit punktf0rmig applicirten adiiquaten Reizen im Sinne. Nun hat es sich aber ereio'net, class B l i x , G o l d s c h e i d e r und v. F r e y zum Erweise der gesonderten, bestimmten adaquaten Reizen angepassten Sinnespunkte auf der Hautoberfltiche, was sich ja in der Bezeichnung: Druck-, Witrme- und Kiiltepunkte ausdrilcken soll, auch inaditquater Reize bedient haben. Es sollte damit erwiesen werden, dass die bestimmt angepassten Sinnespunkte der Haut auf jedweden Reiz, also auch auf einen solchen, welchem sie nicht angepasst sind, mit der specifischen Empfindung~ welche der adiiquate Reiz hervorruft~ reagiren, also wirklich specifische Sinnespunkte sind.

Dass Widerspruch in dem Inhalte dieser Beweisfiihrung gelegen ist, hat zuerst G o 1 d s c h e i d e r 1) selbst gefiihlt.

Bei der Darlegung tier mechanischen und elektrischen Erregbar- keit der Temperaturpunkte macht er die folgende Bemerkung: ,Ob durch die inechanische Erschiitterung die vorauszusetzenden End- organe gereizt werden oder die Nervenfasern selbst, ist zunachst nicht zu entscheiden~ jedoch d0.rite alas Letztere wahrscheinlicher sein. Wir werden Oelegenheit haben, auf diesen Punkt noch einmal zurtlckzukommen." Und all diesem anderen Orte ~) heisst es: ,Es war bereits oben die Frage beri~hrt worden, ob bei der mechanischen und elektrischen Erregung die Endapparate oder die Nervenenden selbst erregt werden. Diese Frag:e hat eine gewisse Bedeutung far alas Gesetz tier specifischen Energieen. Wenn man annimmt, dass die Nervenfaser nicht direct durch den allgemeinen Nervenreiz erregt wird~ sondern nur yore Endapparate her, so be- ruht dies auf der Voraussetzung, dass durch den mechanischen und elektrischen Reiz in dem Endapparate ein entsprechender Vorgang erzeugt ist, wie durch den ad~tquaten Reiz, denn der Begriff des Endorgans ist doch der, dass dasselbe durch einen bestimmten, den sogenannten aditquaten Reiz in einen ver~nderten Zustand ger~tth, w(~lcher derartig beschaffen ist, dass el" in tier Nervenfaser den Nervenprocess erzeugt. Diesem Begriff widerspricht es durchaus, dass alas Endorgan nun durch jeden anderen Reiz sollte in denselben Zustand gebracht werden." Und noch deutlicher zusammengefasst heisst es bei G o l d s c h e i d e r ferner: ,,Die Irritabilit~tt der Nerven-

1) Gesammelte Abhandlu,~gen Bd. 1 S. 120. Leipzig 1898.

2) 1. c. S. 129. E. Pflflger, Arc]fly fiir Physiologie. Bd. 74. 30

Page 66: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

448 Alexander Rollett:

laser und der Endapparate hat einen gegens~tzlichen Charakter: erstere ist dutch die verschiedensten Reize erregbar, letztere sind nur auf einen bestimmten Reiz eingerichtet. Es ist mir nach dieser Auffassung unvorstellbar, dass die mechanische und elektrische Reizung Yermittelst der Endorgane auf die Temperaturnerven wirken sollte."

Auch v. F r e y l ) gibt bei der Untersuchung des Verhaltens der Druckpunkte der Haut zu elektrischer Reizung an, dass er nicht sicher sei, ob die Endapparate der elektrischen Erregung zu g~nglich sind, well die zutretenden Nerven so leicht in Erregung gerathen, was bei der mechanisehen Reizung nicht vorkomme. Er scheint Aehnliches auch far die von ihm von den Druckpunkten scharf geschiedenen Sehmerzpunkte vorauszusetzen; davon werden wir sphter sprechen.

Nicht recht versthndlich ist mir, was ich gleich bier nebenbei bemerken will, dass v. F r e y dieser seiner Bemerkung beifiigt, class sich darin recht deutlich zeige, ,dass in der Organisation des KSrpers elektrische Reizung nicht vorgesehen ist, oder, mit anderen Worten, dass der elektrische Reiz eigentlich ein unphysiologischer ist".

Ich mSchte glauben, dass damit vielleicht doch zu viel behauptet ist. Wir wissen noch sehr wenig daraber, in welcher Weise elek- trische Vorgange in den normalen Ablauf der Lebenserscheinungen ein- greifen. Wahrscheinlich liegt dem Ausspruche yon v. F r e y die Thatsache zu Grunde, dass die Elektricitat eine Naturkraft ist, welcher sich nicht wie anderen Naturkr~ften ein besonderes Sinnes- organ angepasst hat, und die darum auch nicht, wie Licht, Warme, Schall, einea der physiologischen Wirkung entlehnten, man k6nnte sagen organopoetischen Namen tr~gt.

Darum aber zu meinen, dass in der Organisation des KSrpers elektrische Reizung nicht vorgeseben ist, kSnnte doch dutch weitere Erfahrungen sich als unzutreffend erweisen. Es waren ja doch, lange bevor der Mensch durch seine Entdeekungen und Erfindungen zur Kenntniss der galvanischen StrSme und der Voltaischen Saule gelangte, in der Natur organisch aufgebaute Einrichtungen tier letzteren Art yon kraftiger Wirkung in Form der elektrischen Organe der Fische realisirt vorhanden.

Dass unter den allgemeinen Reizen der einfachsten Lebens-

1) Berichte der math.-physik. Classe d, Kgl. shchs. Gesellsch. d. Wissensch. in Leipzig 1894 S. 291 u. 292.

Page 67: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrage zur Physiologie des: Geruchs, des Geschmacks, tier ttautsinne etc. 449

substanz auch elektrische Reize eine Stelle einnehmen, ist friiher schon 5fret beriihrt worden.

Nach dieser kurzen Abschweifung wenden wir uns jetzt den freien intraepithelialen Nervenenden in der Haut zu, den Endbhumchen

des absteigenden Fortsatzes des Neurocyten des ersten sensibten

Neurons.

In morphologischer Beziehuag miissen wir diese Endigung als die einfachste am Kiirper vorhandene sensible Nervenendigung be- zeichnen. Nachdem sie schon 1866 yon C o h n h e i m 1) zuerst in

der Hornhaut des Auges gesehen wurde, ist sie sp~ter als intra-

epitheliale Nervenendigung in der Haut aller Wirbelthierclassen durch zahlreiche Untersuchungen nacho:ewiesen worden2), v. F r e y sieht

m dersclben die Endigung der Schmerznerven der tlaut.

Oibt es solche, und entsprechen sie vielleicht in der That dem

phylogenetisch niedrigst stehenden aller unserer Sinne ?

Ob es besondere Schmerznerven gibt, ist eine alte bis in die Neuzeit fortgehende Streitfrage. Ich erinnere in dieser Beziehung an die Controversen z~vischen R i c h e t S ) ~ F r e d e r i c q ~ ) , L o m - b r o s o 5) und Tissi~,G). Abet in naher Beziehung zu unserer vor-

]iegenden Arbeit steht nur die viel gri~ndlichere Auseinandersetzung zwischen O o l d s c h e i d e r ~) und v. F r e y .

In Bezug auf die Analgesie der Warme- und Kaltepunkte herrscbt Uebereinstimmung zwischen den beiden Forschern.

Dagegen fehlt diese Uebereinstimmung in Bezug auf die Druck-

punkte. Wi~hrend O o 1 d s c h e i d e r far diese Druckpunkte quglita-

t ire Unterschiede in Bezug auf die Zughnglichkeit fi~r geize und nach der Reizintensitat verschiedene Reizerfolge, n~imlich Druckempfindung

und Schmerzgefithl trotz ihrer Innervation dureh einheitliche Tast- nerven vertheidigt, sind nach v. F r e y auch die Druckpunkte anal-

getisch und existiren neben denselben besondere Schmerzpunkte,

1) 9)

nissen Bd. 5 S. 55. 1895. 3) Revue scientif, t. 6 p. 225. 1896. 4) 1. c. p. 713. 5) 1. e. p. 816. 6) l. c. t. 8 p. 402. 1897. 7) Ueber den Schmerz. Berlin 1894.

Virchow's Archiv Bd. 38 S. 343. Vgl. die Zusgmmenstellung yon Kallius in Merkel-Bonnet ' s Ergeb-

30 *

Page 68: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

450 Alexander Rollett:

welche vou den Schmerznerven innervirt werden. Das verbesserte Verfahren v. F r e y ' s zur Bestimmuug der Schmerzpuukte dutch scharf begrenzte Reizuug~ die damit nachgewiesene verschiedene Topo- graphie der Druck- und Schmerzpunkte, der 5Tachweis zweier Reiz- schwellen far die mechanische Reizung der Druck- und der Schmerz- punkte und der Nachweis yon Hautstellen, welche Druck empfinden, aber schmerzfrei sind, oder welche eiu hohes Tastverm0geu bei geringer Schmerzempfindlichkeit, und anderer, die bei hoher Schmerz- empfindlichkeit eiu geringes TastvermSgen besitzeu, die zahlreichen pathologischeu Beobachtungen tiber Analgesie bei erhaltener Druck- empfindung und die in solchen Fallen erwiesenen gesonderten Bahnen far die Leitung der schmerzerregeudeu Impulse im Rticken- marke fallen ftir v. F r e y ' s Anschauung entscheidend in die Wage.

Mit Bezug auf die als Schmerznerven-Endigungen in der Haut angesprochenen freieu Nervenenden ist auch noch hervorzuheben, dass sich solche in fast allen Theilen des KSrpers vorfinden, so wie auch die Schmerzempfindung fast iiberall verbreitet ist, und dass dort, wo im Innern des KOrpers i~hn]ich wie in der Haut neben dem u Schmerz zu empfinden, noch andere Sinne realisirt sind, wie in erster Linie der Muskelsinn *), auch specifisch gebaute Nerven- apparate sich vorfinden, so ftir den Muskelsinn (Kraftsinn) die Endscholleu (R o 11 e t t), G o 1 g i ' schen KSrperchen, Sehneneudkolben (Golg i ) , Pac in i ' s c~en KOrperchen ( R a u b e r ) , die K~lhne'schen Muskelspindeln u. A., wie ich 2) sie schon vor lhngerer Zeit zusammen- gestellt habe.

SchmerZ wird erregt durch mechanische, thermische, elektrische und chemische Reize, und man muss annehmen, dass die Enden der Schmerznerven alien diesen allgemeinen Nervenreizen zugi~nglich geblieben sind. Die Application dieser Reize auf die Euden weist fiir dieselbeu, wenn auch die Reizschwelle mechanischer Reize ftir die Schmerzpunkte h0her liegt als far die Druckpunkte, doch einen viel geringeren Schwellenwertb aus, als bei der Application auf die Stitmme, bei welchen far gewisse Reize ein iiberraschend hoher Schwellenwerth gefunden wird, wie ftir chemische Reize schon im

1) Vgl. A. :Rollett, Muskelsinn. Real-Encyklopi~die der ges. Heilkunde. 3, Auflage. Dd. 16 S. 233. Wieu 1898. -- H. F. Mtiller, Ziemsseu's Archiv Bd. 55 S. 550.

2) l:[eal-Encyklopi~die d. ges. Heilkunde. 2. Aufl. t~d. 13 S. 581. Wien 1888.

Page 69: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 451

Jahre 1868 mein hochgeehrter Freund J. S e t c h e n o w , ) wahrend seines hufenthaltes in meinem Laboratorium nachgewiesen hat, und wie seither vielfaeh besti~tigt wurde. Aus diesen Grfinden muss man aueh far die Enden der Schmerznerven, obwohl man sie ihrem morphologischen Verhalten nach als freie Enden bezeichnet, doeh eine moleculiire Differenzirung gegen~ber ihrer Fortsetzung in die Sti~mme (Axonenbiindel) annehmen, ohne dass wir bisher uns eine u yon der Grenze machen kSnnten, bis zu welcher diese Differenzirung reicht.

VI. Ueber die chemische Erregung der tIautnerven, besonders durch Chloroform, Aether und Menthol.

Es sollen null in diesem Abschnitte die Fi~den wieder auf- genommen werden, welche am Ende des Abschnittes I, Unterabsc}mitt 10, am Ende des II. Abschnittes Unterabschnitt 8--10 und am I.:nde des IV. Abschnittes abgebrochen wurden, und soll fiber die Wirkung "des Chloroforms, des Aethers und des Menthols Weiteres mitgetheilt werden.

Ueber das Chloroform wurde am genannten Orte angeffihrt, dass es ein chemischer Reiz for gewisse Nerven der Haut ist, und das- selbe wurde dann auch vom Aether ausgesagt. Damit wollen wit uns nun nigher besch~ftigen.

Bei den so umfassenden und wichtigen Versuchen yon G o ld - s c h e i d e r und ebenso bei jenen yon v. F r e y fiber die Hautnerven ist der so schwierigen Frage der chemischen Reizung der Hautnerven, man weiss nicht, ob absichtlich oder nicht, aus dew Wege gegangen. Man findet bier wie dort die wichtigen chemischen Reize nur spora- disch und ganz fliichtig beriihrt.

Dagegen hat sich Gr i~ tzner 2) mit der chemischen Reizung sensibler Nerven nach einer besonderen Methode ausfi~hrlich be- sehhftigt. Er brachte sich kleine Schnittwunden in der Haut bei und reizte diese durch Betupfen mittelst eines in bestimmte Fliissig- keiten getauchten Haarpinsels. Als solche Fltissigkeiten wurden hquimoleeuli~re wi~sserige LSsungen yon Haloidsalzen, in Wasser

1) Ueber die elektrische und chemische Reizung der sensiblen Rticken- marksnerven des Frosches S. 64. Graz 1868.

2) Pfliiger's Archly Bd. 58 S. 69. 1894,

Page 70: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

452 Alexander Rol le t t :

gelSste Halogene, LSsungen yon Alkatien and Ammoniak, LSsungen

yon Si~uren und einige einatomige Alkohole verwendet. Die Resultate,

zu welchen G r i~ t z n e r l~ber die Reactionszeiten und iiber die Quanti- ti~t und Qualit~t der you dea Reizen attsgel6sten Schmerzempfindungen

gelangte, sind in hohem Grade interessant.

Das hSchste Interesse erregt aber die yon G r i i t z n e r am Schlusse seiner Arbeit angeft~hrte Bemerkung: ,,Obwohl eine grSssere Schnitt-

wunde Nerven der ver~schiedensten Art bloSs legt, und ein chemischer Stoff sie alle, wie man glauben sollte, erregen mtlsste, so ist doch be- merkenswerth, dass so gut wie nie - - wenn wir yon einigen ziemlich

unbestimmten Empfindungen absehen - - eine Erregung specifischer Sinnesnerven der Haut , die ein deutliches Wi~rme- oder Ki~lte- gef~hl ausgelSst h~tte, zu Stande gekommen ist.

Wenn die specifischen Schmerzfasern so stark erregt werden,

warum trifft die specifischen Sinnesfasern so gut wie gar kein Reiz?

Diese Thatsache, die t~brigens keineswegs der Annahme speci- fischer Schmerzfasern widerspricht, weist uns wohl wieder auf di~ Verschiedenheit der nerv6sen Endapparate him"

So welt G r t ~ t z n e r .

In dem Chloroform und Aether haben wir nun friiher chemische Reize kennen gelernt, welche nicht erst yon Wunden aus, sondern

yon der Oberfl~.che der unverletzten Haut her ihre Wirkung austiben.

Wir sehen dabei yon der frtiher auseinandergesetzten dynami=

schen Wirkung des Chloroforms und Aethers auf die Kaltenerven ab and ziehen nur ihre chemische Wirkung in Betracht.

Alich diese chemischen Reize e r regen die Drucknerven und die Wi~rme= und KMtenerven der Haut ,nicht~ denn keine der Erregung

dieser Nerven entsprechende Empfindungsqualitat bringen sie hervor,

~ur eine yon diesen Empfindungsqualiti~ten verschiedene Em- pfindungsqua!it~t: Die yon uns angewendeten Reize treffen nut die

Endigungen sensibler Nerven und sind yon den b~erven selbst aus Unwirksam, ' " . ,.

'; Ob 'bei dem Verfahrea yon G r f i t z n e r die Zahlreichen v~ ihm angewendeten chemischen Reize ihren Angriffspunkt in ~er~ea-

.endigungen oder ~erveafasern gefunden huben, i s t nicht zu ent- scheiden. M5glich ware Beides, weil freie h:ervenenden auch in der Tiefe liegen.

Page 71: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitr~ige zur Physiologie des: Geruchs, des GeschInacks. der Hautsinne etc. 453

Well bei G r i i t z n e r ' s Verfahren die chemischen Reize keine

anderen als Schmerzempfindungen auslbsten, kann man annehmen, dass die Enden tier Drucknerven, der Kiilte- und Wiirmenerven den yon ibm angewendeten Reizen unzugiinglich sind. Das wird

bei denselben die Folge der Anpassung an den adiiquaten Reiz sein. Man muss aber ferner aucb annehmen, dass die Fasern jener specifischen Nerven in ihrem Verlaufe den chemischen Reizen

nicht zugi~nglich sind, oder dass ihre Reizschwelle fiir dieselben so hoch liegt, dass sie nicht erregt werden.

Far unsere Versuche mit Chloroform und Aether ergibt sich~ dass die Enden der spedfischen Druck-, Wi~rme- und K~tltenerven ebenso wie deren St~tmme nicht auf diese chemischen Reize reagiren, dass

aber eine besondere Art yon Nervenenden ausserdem in tier Haut vorhanden sein muss, welche der chemischen Reizwirkung des Chloro- forms und des Aethers zugiinglich ist, w~hrend die Nervenstt~mme

das nicht sind. Betrachten wir uns die chemische Reizung der Hautnerven von

diesem Gesichtspunkte aus, dann ist alas Ergebniss dieser Reizung an

sich mit ein Argument far die Existenz gesonderter Schmerznerven.

Das Chloroform und der Aether erregen uns, wie aus den Abschnitten I und II sich ergibt, eine besondere Qualitiit yon Schmerzen.

Es ist bekannt, dass wir auf ~rosse Sehwierigkeiten stossen, wenn wir nach einem ursaehlichem Grunde far die $chmerzqualitiiten

suchen, oder sagen wit lieber, ft'lr die besonderen und wechselnden und durch besondere Benennungen gekennzeichneten Abarten der Em-

pfindung, die uns ausser Druck-, W~trme- und Kalteempfindung yon der Haut aus noch vermittelt werden.

Wir wissen nur, class es viele solche Abarten, die wir als brennende, stechende, schneidende u. s. w. Empfindungen und

Schmerzen unterscheiden, gibt, und dass dieselben an bestimmte Quati- ti~ten des Reizes gebunden sind, aber nieht derart, class nur eine be-

stimmte Reizqualit~t eine bestimmte Schmerzqualit~it hervorbringt, sonderu d ieselbe Schmerzqualit~t kann dutch eine gr0ssere oder ge- ringere Zahl verschiedener Reizqualit~ten ausgelbst werden.

Ich bin bier nicht in der Lage, auf die schwierige Analyse tier

sogenannten Schmerzqualitiiten welter einzugehen. Aber den Temperaturschmerz muss ich etwas nigher behandeln,

um an die Wirkung des Chloroforms und des Aethers einerseits und

Page 72: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

4 5 4 A l e x a n d e r R o l l e t t :

an die Wirkung des Menthols andererseits einige besondere Ergeb- nisse anzuknilpfen.

Die Temperaturpunkte der Haut sind nicht nur analgetisch gegen mechanische und elekh~sche Reize, sondern auch gegen thermische Reize. Wi~rme- und Ki~ltegrade, welche uns Schmerzen erzeugen, ver- ursachen diese Schmerzen, Temperaturschmerzen, wie man s iege ' nannt hat, nicht yon den Wi~rme- und Kaltepunkten aus I), sondem yon jenen Nerven aus, welche uns die Schmerzempfindung ver- mitteln. Es liegt mir nun daran, das Folgende hervorzuheben.

Wenn ich mir durch grosse Hitze yon der Haut aus Schmerzen erzeuge, so empfinde ich diese Wi~rmeschmerzen als eine ganz andere Qualiti~t, als wenn ich mir yon der Haut aus Schmerzen durch sehr intensive Ki~lte erzeuge.

Und der Kalteschmerz ist far mich eben wieder yon ganz anderer Qualitat als der Warmeschmerz.

Nun wird das gewShnlich seit E. H. W e b e r ~), obwohl dieser den beim Eintauchen des Ellenbogens in Eiswasserbrei durch Reizung der Ulnaris entstehenden, excentrisch wahrgenommenen, yon der Temperaturempfindung gesonderten Ki~lteschmerz zuerst gut be- schrieben hatS), so erkliirt, dass der Temperaturschmerz eine zu- sammengesetzte Empfindung ist, n~tmlich zusammengesetzt aus einer Temperaturempfindung und aus Schmerz, und eben nur die dem Schmerz in dem einen und in dem anderen Falle beigemengte Temperaturempfindung bedinge die verschiedene Qualitat des Wi~rme~. und Kalteschmerzes; so wie man ja ilberhaupt die Schmerzqualiti~ten, yon welchen oben gesprochen wurde, auf durch beigemengte andere Sensationen complicirte Schmerzempfindungen ft~r gewShnlich zurack- zufilhren sucht.

Eine Erkli~rung der abweichenden Qualiti~t des Warme- und Ki~lteschmerzes, wie wir sie eben angefahrt haben, ist aber eine blosse Hypothese~ solange es nicht gelingt, den Wi~rme- und Ki~lte- schmerZ yon den beigemengten Temperaturempfindungen zu trennen und sich zu i~berzeugen, ob dann der Schmerz, sei er durch Warme oder Ki~lte erzeugt, dieselbe Qualiti~t besitzt, oder ob der

1) G o 1 d s c h ei d e r , Gesammelte Abhandlungen Bd. 1 S. 126. Leipzig 1898.

2) Tastsinn und Gemeingefiihl. W a g n e r ' s Handw6rterbuch d. Physiolog. Bd. 3 Abth. 2 S. 569.

3) 1. c. S, 504.

Page 73: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitriige zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 455

SO in der einen oder anderen Weise erzeugte Schmerz auch dann noch eine verschiedene Qualitat besitzt.

Daffir, dass das Letztere der Fall ist, spricht die Erfahrung, dass der Wi~rme- und K~tlteschmerz unabhangig vonder Temperatur, die ihn herbeigefahrt hat, nachdauert, ohne seine Qualitat zu andern, also die ihm anfanglich beigemischte Temperaturempfindung fiber- dauert. Ich babe darfber auch einige Versuche angestellt.

Ehe ich dieselben bespreche, muss ich aber einen Versueh E. H. W e b e r ' s mittheilen, weil er leicht als ein Einwurf gegen meine Versuche angefahrt werden kSnnte, was bei genauerer Betrachtung nicht geschehen kann. Ich fahre denselben mit E. H, W e b e r ' s 1) eigenen Worten an: ,,Zieht man die Hand, wenn man in heissem Wasser Brennen empfindet, sogleich heraus, und bertihrt man damit einen kalten K0rper oder taucht sie sehr schnell auf einen Moment in kahles Wasser, so empfindet man die Kalte des letzteren nicht. Wiederholt man dieses Eintauchen in kahles Wasser mehrmals und sehr schnell hinter einander, so beobachtet man, wie allmMio' das Vermi)gen, Kalte zu f~hlen, zurackkehrt, so dass man beim dritten Eintauchen eine schwache Kalteempfindung hat, die beim vierten und ffinften Eintauchen immer starker und deutlicher wird."

Es liegt E. H. W e b e r duran, mittelst dieses Yersuches zu be- weisen, dass durch Temperaturen, welche Warme- oder KMteschmerz hervorbringen, die Empfindlichkeit derjenigen Theile, welche Warme oder Kalte empfinden, ffir einige Zeit geschwacht oder sogar ganz aufgehoben wird, was zeige, dass der Schlnerz, der durch Warme und KMte entsteht, auf einem anderen Vorgange beruhe als die Empfindung yon Warme und KMte.

Leider aussert sich E. H. W e b e r darfiber gar nicht, was far reich bei seinem Versuche das Wichtigste und Interessanteste ware, namlich, wie und warm der im heissen Wasser hervorgerufene Warmeschmerz erlischt, und oh er noch wahrgenommen wird, wahrend KMte wirkt und die Empfindlichkeit gegen KMte abgestumpft ist.

Das wollen wir jetzt durch Versuche in Erfahrung zu bringen suchen, und dabei soll sich zeigen, ob Wiirmeschmerz nur zugleich mit Warme, und KMteschmerz nur zugleich mit KMte wahrgenommen werden kann, also die verschiedene Qualitat des Warme- und Kalte

1) 1. c. S. 570.

Page 74: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

4~6 Alexander Rollet t :

schmerzes nur yon der beigemengten Temperaturempfindung beding~

wird oder selbststandig besteht. Eine Reihe von Versuchen wurde in folgender Weise angestellt: Von zwei gleichen, circa 20 cm hohen und 15 cm weiten

cylindrischen Becherglasern wird das eine mit 2 Liter Wasser yon 0 ~ C. gefiillt und das Wasser durch schmelzende Eisstiickchen auf

dieser Temperatur erhalten. Das andere Glas wird mit 2 Liter Wasser yon 35 o C. geffillt. Das Wasser von 0 o C. erzeugt heftigen Kalteschmerz, das von 35 o C. ist angenehm warm.

Ich tauche nun eine Hand bis zum Handgelenke in das eiskalte Wasser dutch 1/4--1/2 Minute; es entsteht ein heftiger Kalteschmerz.

Bringe ich nun rasch die Hand in das Wasser yon 35 ~ so nehme ich sofort, trotz der Unterempfindlichkeit der Haut gegen Warme doch deutlich Warme wahr, aber der eigentht~mliche Ki~lteschmcrz dauert

noch einige Zeit fort ; in dem Maasse, als er schwindet und die Unter-

empfindlichkeit gegen Warme aufgehoben wird, wird das warme Wasser immer warmer und zuletzt angenehm warm empfunden.

In einer anderen Reihe von Versuchen fiillte ich das eine Glas

mit Wasser von 50 o C., welches heftigen Wi~rmeschmerz erzeugt, das andere Glas mit Wasser ,con 15 ~ welches keinen Kalteschmerz

erzeugt. Bringe ich nun die Hand fiir sehr kurze Zeit in das erstere Glas und erzeuge mir bald ganz unertraglichen Wgtrmeschmerz und

tauche dann sofort die Hand in das zweite Glas, so nehme ich, trotz der Unterempfindlichkeit der Haut gegen Kalte, sofort deutlich k a l t wahr, aber der eigenthtimliche Warmeschmerz dauert noch einige

Zeit fort, und in dem Maasse, als er schwindet und die Unter-

empfindlichkeit gegen Kgdte aufgehoben wird, wird das kalte Wasser immer ki~lter und schliesslich angenehm kalt empfunden. Diese

Versuche sprechen flit eine yon der Temperaturempfindung unab- hi~ngige Qualiti~t des Warme- und Ki~lteschmerzes.

Sie mfissen sehr vorsichtig und durch lange Intervalle ge-

trennt angestellt werden, well man den stark erregten Schmerz- nerven far ihre vollkommene Erholung Zeit lassen muss. Denn wenn man nach dem einen oder dem anderen dieser Versuche

(lie Hand aus dem Wasser gebracht und wieder getrocknet hat ,und unter gewi~hnlichen Bedingungen seinen Geschi~ften nachgeht, bemerkt

man durch ein fortdauerndes, eigentht'~mliches, ganz leicht kribbelndes Geftlhl, welches manchmal an Ameisenlaufen erinnert, dass die

Nerven bei diesen Versuchen stark angegriffen werdem

Page 75: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitriige zur Physiologie des :Geruchs, des ~Geschmacks, der Hautsinne etc. 457

Wi r haben nun frtiher auch schon~sehr merkw~rdige Erfahrnngen gemacht, welche daftir sprechen, dass dein Wi~rmeschmerz eine yon einer beigemengten Temperaturempfindung unabh~ngige besondere Qualiti~t zukommen~ muss. Wir haben ni;tmlich am Ende yon Unter- abschnitt 10 des Abschnittes I angefi~hrt~ dass sich an Orten, welche keine W~rmepunkte enthalten, durch thermische Reize schwach brennende Empfindungen i n Folge der Erregung der Schmerzner~en einstellen, welche sich mit umschriebenen Warmeempfindungen ver- wechseln lassen. Eine ganz i~hnliche Empfindungsqualitht wird aber unter UmstSnden auch dureh Chloroform und, wir fi~gen hier hinzu, auch durch Aether, welche die Wiirmenerven nieht erregen, in Folge einer wenig intensiven chemischen Reizung der Schmerznerven hervorgerufen.

Eine Empfindung also, die entstanden gedacht warden muss durch immer mehr herabgesetzte Erregung derjenigen Hautnerven, die uns auf der HShe der Erregung durch bestimmte thermische oder chemische Reize schmerzhaftes Brennen verursachen, scheint in unserer Empfindung zusammenzufliessen mit wirklieher Warmeempfin- dung. Auch diese Erfahrungen sprechen far eine g~nz bestimmte Qu~tlitht des WSrmeschmerzes an sich.

Der durch Chloroform und Aether hervorgerufenen Empfindung ist nun aueh~ wie wir gesehen haben, die eine der zwei Menthol- wirkungen, welche wir im Abschnitte IV angeft]hrt haben~ sehr verwandt.

Mit grmksieht auf die eben angefahrten Thatsaehen u n d im tIinblieke auf unsere i;lber die Wirkung des Menthols im Absehnitte IV mitgetheilt~n anderweitigen Erfahrungen, ferner im ttinblieke auf die Erfahrungeu, welehe wit iiber ehemisehe geizung tier Hautnerven im Allgemeinen im Anfange dieses Absehnittes angefahrt haben, ist der u in mir rege geworden, ob uns nieht aueh die Menthol- vdrkung nur Temperaturempfindungen, Krdte- und Wiirmeempfin- dungen, vortfmseht. Und ieh i'asste zunaehst die Empfindung der Kahle, ~-elehe das Menthol hervorruft, in's Auge .und s~ te mir;~ dass dieselbe ,vielleieht ein geringer G r a d ~'on Ki~ltesehmerz ist, hervorgerufen dureh Erregung derjenigen Nerven, welehe uns bei intensi~er Erregung heftigen Krdtesehmerz erzeugen. Es wiirde dann bei der Mentholwirkung die besonder e Qualit~tt des Kaltesehmerzes, die dabei ohne beigemeugte Temperaturempfindung~ in geringem Grade auftritt, die Veranlassung zur Verwechslung mit einer Kftlteempfindung geben,

Page 76: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

458 Alexander Rollett:

wie wit hnaloges bei der Verweehslung yon durch Chloroform hervorgerufenem leisen Brennen mit einer W~rmeempfindung gesehen haben.

Wenn man sich aber nun fragt, wie diese Vermuthung geprfft werden kSnnte, so ergeben sich folgende Wege:

1. Bei der Application yon Menthol auf Stellen, wo nur Schmerz- nerven, abel" keine Temperaturnerven endigen, miisste dann das Menthol dieselben Empfindungen hervorrufen wie an allen auch mit Temperaturpunkten ausgert~steten Hautstellen. Solche Orte waren nach v. F r e y die Cornea mit Ausnahme ihrer Randtheile, das Dentin und die Pulpa der Zahne. Ich habe daran, weil mir die Stellen nicht ganz geeignet waren, keine Versuche angestellt. Far die Cornea und Conjunctiva musste auch berfcksichtigt werden, dass v. F r e y in Folge der Einwfrfe ~ a g e l ' s 1) seine ursprtingliche An- gabe einschranken musste. Der letztere stellte auch auf der Cornea Berfhrungs- und KMteempfindung lest. Nut in Bezug auf die Ab- wesenheit der Warmeempfindung stimmt er mit v. F r e y fberein.

2. Bei der Application von Menthol auf Stellen, wo Temperatur- nerven, aber keine Schmerznerven endigen, miisste keine Wirkung desselben auftreten. An solchen Stellen mfssten aber Controlversuche mit Chloroform und Aether nach unseren Erfahrungen fiber diese Reize ergeben: Ki~lteempfindung in Folge der Erregung der KMtenerven durch die dynamische Wirkung des Chloroforms und des Aethers, aber kein darauf folgendes Brennen, wegen Abwesenheit der Schmerz- nerven.

Eine schmerzfreie Oberfli~che hat Zuerst Ki e s o w 2) bei seinen Untersuchungen fiber das Verhalten der Oberfli~chen "des Mund- raumes gegen mechanische Schmerzreize constatirt und zwar an der Backe. , ,Die schmerzfreie Stelle setzt sich yon der Mitte der Backenschleimhaut in einem schmalen Streifen nach dem Mundwinkel hin fort." Spater wies v. F r e y 8) nach, dass auch elektrische und chemische Reize yon jener Stelle keine Schmerzempfindung auslSsen, und v. F r e y zeigte auch, dass Orte, die in fast eben so hohem Grade schmerzh'ei gefunden werden, die untere Zungenfli~che und die Schleimhautfli~che der Lippen sind.

1) Pfliiger's Archly Bd, 59 S. 563. 2) Wundt, Philosophische Studien Bd. 9 S. 510. Leipzig 1894. 3) Berichte der math.-phys. Classe der Kgl. sachs. Gesellsch. d. Wissenscb.

zu Leipzig 1894 S. 293 und 1895 S. 180.

Page 77: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitr~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne etc. 459

Nachdem ich reich yon der Richtigkeit dieser Angaben yon K i e s o w und v. F r e y iiberzeugt hatte, wi~hlte ich die innere Fliiche der Unterlippe zu meinen Versuchen.

Die Lippe wurde bei geschlossenen Kiefern nach unten um- gesti~lpt und mittelst Zeige- und Mittelfinger, die an den Saum angelegt bleiben, in der Lage festgehalten. Das kann geschehen, ohne dass irgend welcher sti~rkere Druck ausgeiibt wird.

Die innere Fli~che der umgestiilpten Lippe erscheint dann rechts und links und unten vom inneren Rande des Lippenroths begrenzt. Yon diesem inneren Rande des Lippenroths yon rechts und links gegen die Mitte gemessen und yon unten nach oben gemessen liegt dann yon dem genannten Rande in den angeftihrten drei Richtungen je 10 mm entfernt in der Mitte der umgesti~lpten Lippe ein Versuchs- feld yon 20 mm L~/tnge (von rechts nach links gemessen) und 10 mm Breite (yon unten nach oben gemessen), also yon 2 qcm Fliichen- inllalt yon der Schleimhautfl~iche der Unterlippe vor, welches zwei gleiche Hi~lften jederseits vonder Sagittalebene bildet.

:Nach dem Umstiidpen wird die Schleimhautfii~che mit reiner Bruns 'scher Charpiebaumwolle gut getrocknet und dann das be- zeichnete Feld mit sorgfhltiger Einhaltung seiner Grenzen und Ver- meidung der Beriihrung irgend eines anderen Theiles der Unter- und Oberlippe mit dem Mentholstifte fhnf Mal hin- und hergehend be- strichen. Es tritt auch nach 10 his 15 Minuten keine Wirkung des Menthols auf. L~isst man dann die bis dahin gehaltene Lippe frei, dann wird an den benachbarten oder gegeni~berliegenden Theilen der MundhShle sofort die bekannte Mentholwirkung, wenn auch schw~'tcher als bei directer Application, wahrgenommen.

Macht man nun zu anderer Zeit, am besten in 12--24sti;mdigen Intervallen, um gegen alle stSrenden Einflt~sse gesichert zu sein, auf demselben Felde Yersuche mit Aether oder Chloroform, indem man mittelst eines in diese Agentien getauchten Pinsels das Feld bestreicht, wieder sorgfSltig jede Wirkung auf benachbarte Theile vermeidend, so nimmt man wahr: 1. (lie Berii~hrung, 2. die K~ilte, wie man sic bei dieser Application yon Chloroform oder Aether auf andere Hautstellen wahrnimmt, aber die auf anderen Hautstellen bei der gleichen Application wahrgenommene dritte Sensation, das Brennen, also die chemische Wirkung des Chloroforms oder Aethers bleibt voll- sti~ndig aus.

Diese Versuche zeigen auch, dass wit die zweite durch die

Page 78: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

4~0 Alexander Rollett:

beiden Mittel horv0rgebrachte Sensation an anderen Hautstellen mit Recht auf die Erregung der Schlnerznerven zurfickgeffihrt haben; sie zeigen abel" auch dutch die KMteempfindung, welche Aether und Chloroform erregen, whhrend eine solche bei der Application des Menthols vollst~ndig ausbleibt, dass das Menthol kein chemisches Reizmittel ffir die Kaltenerven sein kann, Dass es an der besagten Stelle der Schleimhautfli~che der Lippen fiberhaupt keine Wirkung hervorbringt, ist dem Fehlen der Schmerznerven zuzuschreiben.

Wo alas Menthol eine Wirkung hervorbringen soll, dort mfissen Schmerznerven vorhanden sein.

Wir haben frfiher der sti~rkeren Wirkung "con Ki~ltereizen auf mentholisirte Hautstellen und der Erkliirung G o 1 d s c h ei d e r ' s ge, dacht, welche diese Erscheinung auf eine dutch das Menthol bewirkte Hyperasthesie der Ki~ltenerven zurfickzuffihren sucht.

Das Factum haben wir nicht bestritten, im Gegentheile be- sti~tigt.

Wie kSnnen wires mit Rficksicht auf unsere Anschauung fiber die Mentholwirkung erkl~tren?

Unsere Erkli~rung lautet: Diese Erscheinung kann nur zurfick- geffihrt werden auf eine Summirung yon Empfindungen sehr merk- wiirdiger Natur; zu der eine KMteempfindung vorthuschenden~ durch das Menthol bewirkten Erregung tier Schmerznerven addirt sich eine wirkliche KMteempfindung, und beide fiiessen in dem Inhalte unserer Empfindung zusammen.

Diese Erkliirung wird unterstfitzt durch die folgende Entgegen- stellung yon Versuchen.

Man mentholisire sich die Wangenhaut der einen Seite, indem man den Mentholstift in einem yore Jochbeine zum Nasenfiiigel reichenden Streifen linear bin- und herffihrt. Ist die Mentholwirkung auf- getreten, dann lege man an jede Wange je eine yon zwei gleichen, mit gleich temperirtem kalten Wasser geffillte Eprouvetten symme- trisch, so dass die eine Eprouvette fiber die mentholisirte Haut~ die andere fiber den correspondirenden Streifen der anderen Wange zu liegen kommt. Man wird an der mentholisirten Wange eine viel intensivere Khlte ffihlen als an der anderen.

Wenn man aber nun, und zwar wieder in gehi~rigen Intervallen. den eben beschriebenen Versuch so modificirt ausffihrt, dass man den Streifen der einen Wange mit Aether oder mit Chloroform mittelst Pinsels be- streicht und abwartet, his das Brennen in Folge der Aether- oder Chloro-

Page 79: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrhge zur Physiologie des: Geruchs~ des Geschmacks, der Hautsinne etc. 461

formwirkung auftritt~ und dann zwei gleiche mit:gleich temperirtem warmen Wasser gefiillte Eprouvetten an beide Wangen legt, so wlrd auf der Seite, wo die Wangenhaut unter der Wirkung des Aethers 0der Chloroforms steht, eine viel intensivere Warme gefahlt als auf der anderen. Oder, besser gesagt, es tritt daselbst ein Hitzegeftihl auf.

G 0 1 d s c h e i d e r 1) fahrt einmal kurz an, dass ein leicht er- wi~rmter Cylinder in der ersten Zeit nach tier Application yon Chloro: form auf die Haut Schmerz erzeugt, und er sucht diese Erscheinung auf eine I-lyperalgesie gegen Whrmereize zurtickzufi~hren.

Es handelt sich aber hier, wie bei dem Mentholversuche, um die Smnmirung Yon Empfindungen, und zwar wie in dem frtiher angeftihrten Falle, um die Summirung einer dutch die Erregung tier Schmerznerven erzeugten, der Kalteempfindung verwandten Empfindung und einer wirklichen~Ki~lteempfindung, so jetzt um die Summirung einer durch die Erregung der Schmerznerven erzeugten, der Warmeempfindung verwandten Empfindung und einer wirklichen Warmeempfindung.

Diese Summirung erscheint um so merkwtirdiger, als wir ftir ein bestimmtes Reizmittel der Schmerznerven, namlich das Menthol, fraher eine duale Wirkung nachgewiesen haben, die gleichzeitig oder zeitlich isolirt und an bestimmten Orten in dem Sinne der. einen oder anderen Wirkung allein oder besonders dominirend auf- treten kann. Aus allem fraher Angeftihrten kann ich also, ~ie viele Be!ehrung ich auch sonst aus den hervorragenden und vielfaltigen Arbeiten G o l d s c h e i d e r ' s tiber die Hautsinnesnerven geschSpft habe, doch tier Anschauung G o l d s c h e i d e r ' s , class das Menthol ein chemischer Reiz for die Temperaturnerven, namentlich die speci- fischen Kaltenervenenden sei, nicht beistimmen.

Ich glaube vielmehr, durch meine Erklfirung der Mentholwirkung, zu welcher ich nut Schritt far Schritt gelangte, und die reich selbst tiberraschte, einige neue und wichtige Ausblicke namentlich in die Physiologie der Schmerznerven erSfi'net zu haben.

Die Entscheidung der Frage, ob es qualitativ verschiedene Schmerznerven gebe, wofiir die duale Wirkung des Menthols und die besondere Zugang'lichkeit verschiedener Hautstellen einmal far die eine, das andere Mal ftir die andere Mentholwirkung sehr zu sprechen scheint, muss ich mir fiir spSter aufbehalten.

1) Gesammelte Abhandlungen S. 272.

Page 80: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

462 Alexander lr

Ebenso kann ich vorerst fiber die Kohlens~mre, welche G o l d - s c h e i d e r 1) und spater R. du B o i s - R e y m o n d 2) durch wohl und welt erwogene Ausschliessung anderer Mi~glichkeiten ihrer Wirkung als einen chemischen Reiz fiir die Warmenerven zu erweisen suchen, nur anffihren, dass ieh keine Spur yon Wi~rmeempfindung wahrnehme, wenn ich mir die MundhOhle mit Kohlensi~ure anfiille. Ich bezweifle darum ihre ehemisehe Reizwirkung auf die Wi~rmenerven und bin nicht i~ber- zeugt, dass mit den yon G o l d s c h e i d e r und du B o i s - R e y m o n d erwogenen MSglichkeiten ihrer Wi~rmegeftihl erzeugenden Wirkung wirklich alle diese MSglichkeiten erschOpft wurden; doch das fordert noch weitere Studien.

u Kurze Uebersicht des Inhaltes der Abhandlung.

Da in der vorliegenden Abhandlung so viele verschiedene Be- obachtungen, Versuche und theoretische Betrachtungen enthalten sind, m(ige hier am Schlusse eine Skizze des Inhaltes der Abhandlung Platz finden. Ich bemerke aber ausdri~cklich, dass ich nicht eine erschSpfende Zusammenstellung der Resultate, sondern, wie gesagt, nur eine auf einzelne besondere Punkte verweisende Inhaltsangabe beabsichtige.

I . , Es werden eine Reihe yon Versuchen fiber die Wirkung des Chloroforms beim Einziehen desselben durch die :Nase mitgetheilt, und der ittherische Geruch und tier st~sse Geschmack des Chloroforms und die Wirkung desselben auf die Kiilte- und Schmerznerven festgestellt, ferner gezeigt, class bei Anosmie der ittherische Geruch fehlt, aber tier

sfisse Geschmack beim nasalen Schmecken ebenso vorhanden ist, wie beim Aufnehmen des Chloroforms in die MundhShle. Es werden die verschiedenen Reactionszeiten far die durch Chloroform hervor- gerufenen Geruchs-, Ki~lte-, Gescbmacks- und Schmerzempfindungen besprochen. Es wird gezeigt, class das Chloroform an verschiedenen Hautstellen eine nahezu gleiche KMte-, aber eine sehr verschiedene Schmerzwirkung hervorbringt, und dies auf eine zweifache Wirkung des Chloroforms, eine dynamische und eine substantielle, zurfick- geft~hrt. Es wird das Chloroform als Mittel far die Untersuchung der Localisation der Geschmacksempfindung und tier Ausdehnung

1) Gesammelte Abhandlungen Bd. 1 S. 305. 2) Archly f. Anatom. u. Physiol. Physiol. Abth. ;1893 S. 187.

Page 81: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitrhge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, tier Hautsinne etc. 463

des Geschmacksfeldes untersucht und besonders die Schmeckfi~hig- keit der hinteren Oberflache des weichen Gaumens erwiesen. Durch Aufhebung der FShigkeit des Silsssehmeckens mittelst Gymnema- si~ure werdeiL die Ergebnisse der friiheren Versuche ilberprilft.

II. Dieselben Versuche wie mit Chloroform werden mit Aether angestellt, und sie fiihren zu ganz ahnlichen Resultaten. Auch tier Aether wirkt auf Geruch, Geschmack und auf KMte- und Schmerz- herren. Trotz seines mit dem Chloroformgeruche in eine Classe zu- sammenfallenden ~ttherisehen Geruches besitzt der Aether einen gegen- s~tzlichen, n~tmlich bitteren Gesehmack. Die Reactionszeiten filr die durch Aether hervorgerufenen Geruchs-, K~tlte-, Geschmacks- und Schmerzempfindungen verhalten sich so wie bei den dutch Chloro- form hervorgerufenen Empfindungen.

Auch beim Aether muss man eine dynamische und substantielle Wirkung auf die tlautsinnesnerven unterscheiden, far die Unter- suchung der Localisation der Geschmacksempfindungen und der Aus- dehnung des Geschmacksfeldes leistet der Aether dieselben Dienste ~'ie alas Chloroform. Durch die Aufhehung der F~higkeit des Bitter- sehmeekens mittelst Coea'in werden die Ergebnisse der fraheren Yer- suehe aberpraft.

IlL Es wird eine Reihe yon Beobaehtungen bei kanstlieh erzeugten Anosmieen mitgetheilt. Besonders wird der allm~lig und langsam erfolgenden Wiederherstellung des Geruehes naeh sehwerer Seh~tdigung des Geruehsorganes Auflnerksamkeit gewidmet und wird die wShrend dieser Wiederherstellung sieh einfindende partielle llieehf~higkeit far gewisse Geraehe und werden die verbleibenden Anosmieen far andere Ger~ehe als far die Existenz einer Reihe yon qualitativ versehiedenen Geruehsnerven spreehend hingestellt.

IV. Es wird yon der Wirkung des Menthols auf die Hautsinnes- nerven gehandelt und gezeigt, class das Menthol eine zweifaehe Wirkung ausabt, da es (tie Empfindnng der Kahle und des Brennens hervorbringt; es wird ferner gezeigt, dass die Empfindung der Kiihle nicht dadureh hervorgebraeht wird, dass das flflehtige Menthol dureh Verdunsten der Haut WSrme entzieht.

V. Es wird angeNhrt, dass die alte Lehre yon tier aberall gleiehen Besehatt?nheit aller yon Peripherie und Centrum abgetrennt gedaehten Nerven als Leitorgane, weil sie mit histologisehen und physiologisehen Erfahrungen im Widersprueh steht, aufgegeben werden musste.

E. P f l r age r~ Archly ftir Pl~ysiologie. P,d. 74. ~1

Page 82: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

464: Alexander l~ollett:

Es wird im Allgemeinen der Begriff der Idiotropie der speci- fischen Gewebeelemente entwiekelt und davon eine Anwendung auf die Elemente des Nervengewebes~ die Neuren, gemacht.

Es folgt eine histologische Uebersicht der Neurenlehre im Ge- biete der Sinnesorgane.

Es wird dann die Lehre yon der dynamischen Polarisation der Nervenelemente angefochten und dagegen die F/thigkeit tier Neuren hervorgehoben, sich sowohl mit Reiz empfangenden~ als auch mit Reiz t~bertragenden Fortshtzen gegebenen Bedingungen anzupassen, wodurch ein Licht auf das doppelsinnige LeitungsvermSgen der Nerven geworfen wird.

In einer darauf folgenden physiologisehen Uebersicht wird die Anpassung tier Neuren an den ad~quaten Reiz und die Ausbildung der Idiotropie der Neuren zunhchst beim Geruchsorgane n~her be- sprochen. Es wird dann erl/~utert~ wie uns dutch die Idiotropie der Neuren ein genetisches Verstandniss der specifischen Energie der Sinnesnerven er6ffnet wird.

Weitere allgemeine Betraehtungen werden dann dem Gesehmaek, Gesicht, GehSr und den Hautsinnen gewidmet, und far die letzteren wird die Annahme besonderer Druck-, W~trme-, Khlte- und Schmerz- nerven als geboten erkl~rt.

VI. Es wird far das Chloroform und den Aether hervorgehoben, dass sie chemische Reize far die Schmerznerven sind, und angefahrt, dass auch yon anderen bisher untersuchten ehemisehen Reizen nur die Schmerznerven getroffen werden. Nach einer Mittheilung aber die Schmerzqualithten, besonders die Qualit/~ten der Temperatur- schmerzen, wird auch far das Menthol gezeigt~ class es die Schmerz- nerven ehemiseh erregt und nicht, wie behauptet wurde, die Tem- peraturnerven.

Ich babe zum Schlusse noch dem Herrn Prof. Dr. Zo th und dem Herrn Dr. P r e gl zu danken, dass sie die wiehtigsten Reiz- versuche mit Chloroform, Aether und Menthol, was Geruch, Ge- schmaek und Hautsinne betrifft, aueh an sich anstellten; die Ergeb- nisse waren mit den meinen t~bereinstimmend.

Endlich konnte ich auch an einer Reihe yon Studirenden, den Herren cand. H e i n r i c h A h r e n s , W i l h e l m G o t t s c h a l l , A n t o n P ra sch~ C a r l R a u c h , H u m b e r t R o l l e t t und J o s e f v. S e l t m a n n , die sich in dankenswerther Weise zur Verft~gung

Page 83: Beiträge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der Hautsinne und der Sinne im Allgemeinen

Beitri~ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschm~cks~ der Hautsinne etc. 465

stellten, die Wirkung yon Chloroform und Aether auf Geruch und Geschmack, die verschiedene Localisation der Geschmacks- empfindung beim Einziehen der die genannten Substanzen enthalten- den Luft ein Mal durch die Nase und ein anderes Mal durch den Mund, ferner die verschiedenen Reactionszeiten for die tactile, dynamische und chemische Reizwirkung und (lie diesen Reiz- wirkungen entsprechenden ~'erschiedenen Empfindungen prilfen.

Ich bin dabei nur auf zwei auffallende Ausnahmen gestossen. Es war ni~mlich bei zweien der genannten Can didaten der bittere Geschmack des Aethers nur sehr unbestimmt vorhanden. Chinin wurde aber in beiden Fallen sehr deutlich bitter geschmeckt. Einer dieser beiden Herren gab an~ dass er erst beim Verschlucken des Aethers bitter schmecke, bei dem anderen wurde auch dabei die unbestimmte Ge- schmacksempfindung~ welche ihm Aether erzeugte, nicht deutlich bitter.

Abgesehen yon diesen Ausnahmen, die ich vorl5ufig nicht welter verfolgen konnte, ergaben die Versuche eine wesentliche Ueberein- stimmung unter einander und nfit den meinen.

31 *