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b Es hat lange gedauert: Nach Jahren der Biotecheuphorie, neue Medikamente in Windeseile zu entdecken, und anschließendem Wundenlecken, überwiegt jetzt Realitätssinn. Das ist erfrischend anders. In die Branche fließt in Deutschland zwar noch immer kaum Venture Capital, um risiko- reiche Projekte zu ermöglichen: Im Jahr 2011 waren es nur 141 Mio. Euro nach immerhin 650 Mio. Euro im Vorjahr. Doch die Branche hat sich ihren eigenen Weg gebahnt. Peter Heinrich, Vor- sitzender der deutschen Dachor- ganisation BIO Deutschland fin- det die Branche inzwischen kri- senerprobt: „Die deutschen Bio- technologie-Unternehmen haben sich erstaunlich gut an die Fi- nanzmittelknappheit angepasst.“ 1) Langsam und nachhaltig b Es ist ein guter Trend, sich an die wirtschaftlichen Gegebenhei- ten anzupassen. Umsätze sind oh- nehin unternehmerisch tragfähi- ger. Die Unbilden des Finanz- markts forcieren so neue Produkte sowie ein größeres Dienstleis- tungsangebot. Zumal nach dem Regensburger Unternehmen Gene- art im Jahr 2006 in Deutschland kein Biotech-Unternehmen mehr an die Börse ging. Wenn BIO Deutschland nun in der bereits sechsten jährlichen Umfrage unter Biotech-Unterneh- men und Branchendienstleistern für die Aussichten einen Indexwert von 96 feststellt (Basis 2006 = 100), dann ist das Branchenrealis- mus auf gleich bleibend hohem Ni- veau. Auch im laufenden Ge- schäftsjahr werden viele Unterneh- men Mitarbeiter einstellen. Bei et- wa 16 000 Angestellten und einer Wachstumsrate von zuletzt jähr- lich drei Prozent wird es in diesem Jahr mehrere hundert neue Ar- beitsplätze geben. 2) Biotech drängt in den Alltag b Biotechnologie strahlt aus. In- zwischen gehören etwa der Ener- giesektor und Automotive dazu – Branchen, in denen man bis vor kurzem noch keinen Bezug zu En- zymen oder Produkten aus Mikro- organismen hatte. Großunterneh- men, allen voran aus Pharma, Che- mie und Agro bieten weitere 17 000 Biotecharbeitsplätze. Biotechnologie hat uns im All- tag längst erreicht, wie Waschmit- telenzyme beweisen. Zwei Trends werden die Sichtbarkeit weiter er- höhen: Die industrielle Biotech- nik – auch als weiß bezeichnet, um sie von der roten Biopharma- zie und der grünen Pflanzenbio- technik abzugrenzen – wird der chemischen Industrie neue Wert- schöpfungsketten bringen. Und die personalisierte Medizin be- stimmt zunehmend unseren Pa- tientenalltag: Wer möchte nicht individuell vor der Tablettenein- nahme deren Wirksamkeit prüfen lassen oder Nebenwirkungen aus- schließen? Industrielle Biotechnik b In Europa ist Deutschland in der industriellen Biotechnologie sehr gut aufgestellt (Abbildung). 3) Ein Hauptschwerpunkt bilden En- zymhersteller. Mit AB Enzymes, ASA Spezialenzyme, Brain, c-Lecta, Direvo, Evocatal und Sternenzym sind führende Spezialisten unter- wegs, gefolgt vom Nachwuchs: Ca- protec, Enzymicals, Sesam und an- deren. Darüber hinaus gibt es Spe- zialisten für Zusatzstoffe für Kos- Holger Bengs Unternehmen passen sich an die Finanzsituation an und sind so erfolgreich. Biotech: behauptet mit gedämpftem Optimismus BChemiewirtschaftV Verteilung der kleinen und mittleren Unternehmen in der industriellen Biotechnik in Westeuropa. Grün: Protein- und Enzymhersteller; rot: andere Biotechunternehmen; gelb: Zulieferer- und Querschnittsin- dustrien. (Quelle: Industrial Biotech Database, Karte: Easymap 9.2) 463 Nachrichten aus der Chemie| 60 | April 2012 | www.gdch.de/nachrichten

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b Es hat lange gedauert: Nach Jahren der Biotecheuphorie, neue Medikamente in Windeseile zu entdecken, und anschließendem Wundenlecken, überwiegt jetzt Realitätssinn. Das ist erfrischend anders. In die Branche fließt in Deutschland zwar noch immer kaum Venture Capital, um risiko-reiche Projekte zu ermöglichen: Im Jahr 2011 waren es nur 141 Mio. Euro nach immerhin 650 Mio. Euro im Vorjahr. Doch die Branche hat sich ihren eigenen Weg gebahnt. Peter Heinrich, Vor-sitzender der deutschen Dachor-ganisation BIO Deutschland fin-det die Branche inzwischen kri-senerprobt: „Die deutschen Bio-technologie-Unternehmen haben sich erstaunlich gut an die Fi-nanzmittelknappheit angepasst.“1)

Langsam und nachhaltig

b Es ist ein guter Trend, sich an die wirtschaftlichen Gegebenhei-ten anzupassen. Umsätze sind oh-nehin unternehmerisch tragfähi-ger. Die Unbilden des Finanz-markts forcieren so neue Produkte sowie ein größeres Dienstleis-tungsangebot. Zumal nach dem Regensburger Unternehmen Gene-art im Jahr 2006 in Deutschland kein Biotech-Unternehmen mehr an die Börse ging.

Wenn BIO Deutschland nun in der bereits sechsten jährlichen Umfrage unter Biotech-Unterneh-men und Branchendienstleistern für die Aussichten einen Indexwert

von 96 feststellt (Basis 2006 = 100), dann ist das Branchenrealis-mus auf gleich bleibend hohem Ni-veau. Auch im laufenden Ge-schäftsjahr werden viele Unterneh-men Mitarbeiter einstellen. Bei et-wa 16 000 Angestellten und einer Wachstumsrate von zuletzt jähr-lich drei Prozent wird es in diesem Jahr mehrere hundert neue Ar-beitsplätze geben.2)

Biotech drängt in den Alltag

b Biotechnologie strahlt aus. In-zwischen gehören etwa der Ener-giesektor und Automotive dazu – Branchen, in denen man bis vor kurzem noch keinen Bezug zu En-zymen oder Produkten aus Mikro-organismen hatte. Großunterneh-men, allen voran aus Pharma, Che-mie und Agro bieten weitere 17 000 Biotecharbeitsplätze.

Biotechnologie hat uns im All-tag längst erreicht, wie Waschmit-telenzyme beweisen. Zwei Trends werden die Sichtbarkeit weiter er-höhen: Die industrielle Biotech-nik – auch als weiß bezeichnet, um sie von der roten Biopharma-zie und der grünen Pflanzenbio-technik abzugrenzen – wird der chemischen Industrie neue Wert-schöpfungsketten bringen. Und die personalisierte Medizin be-stimmt zunehmend unseren Pa-tientenalltag: Wer möchte nicht individuell vor der Tablettenein-nahme deren Wirksamkeit prüfen lassen oder Nebenwirkungen aus-schließen?

Industrielle Biotechnik

b In Europa ist Deutschland in der industriellen Biotechnologie sehr gut aufgestellt (Abbildung).3) Ein Hauptschwerpunkt bilden En-zymhersteller. Mit AB Enzymes, ASA Spezialenzyme, Brain, c-Lecta, Direvo, Evocatal und Sternenzym sind führende Spezialisten unter-wegs, gefolgt vom Nachwuchs: Ca-protec, Enzymicals, Sesam und an-deren. Darüber hinaus gibt es Spe-zialisten für Zusatzstoffe für Kos-

Holger Bengs

Unternehmen passen sich an die Finanzsituation an und sind so erfolgreich.

Biotech: behauptet mit gedämpftem Optimismus

BChemiewirtschaftV

Verteilung der kleinen und mittleren Unternehmen

in der industriellen Biotechnik in Westeuropa.

Grün: Protein- und Enzymhersteller; rot:

andere Biotechunternehmen; gelb:

Zulieferer- und Querschnittsin-

dustrien. (Quelle: Industrial

Biotech Database, Karte:

Easymap 9.2)

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Nachrichten aus der Chemie| 60 | April 2012 | www.gdch.de/nachrichten

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metika (Bitop) und biologischen Pflanzenschutz (Emcid) sowie Un-ternehmen mit Querschnittstech-niken wie der funktionellen Gen-analyse (Sirion), der Bioinformatik (Insilico) oder synthetischen Biolo-gie (ATG: biosynthetics).

Der Markt für Fein- und Spezial-chemikalien wird seit Jahren auf bis zu 25 % Umsatzanteil vom Ge-samtmarkt geschätzt.4) Dabei geht es nicht nur um Nischenmärkte. So steht die zur Clariant gehörende Süd-Chemie kurz davor, eine Pro-duktionsanlage bei München zur Herstellung von Treibstoffen aus Stroh einzuweihen. Verlaufen die Tests erfolgreich, könnte dies ein weiterer Baustein beim Wandel

weg von den fossilen Brennstoffen hin zu nachwachsenden Rohstof-fen sein.

Personalisierte Medizin

b Inzwischen bekennen sich alle großen Pharma-Unternehmen zur Stratifizierung von Patientengrup-pen, also dem Einteilen der Patien-ten in kleine, aber homogene Gruppen an Hand genomischer Daten. Um die richtigen Medika-mente an den richtigen Patienten zu bringen, werden neue Thera-peutika an die Diagnostik gekop-pelt. Companion Diagnostics, Test-kits oder deren Biomarker sind ein hervorragendes Feld für innovative Biotechunternehmen, so ein Text-kit zur wirksamen Verabreichung von Tamoxifen in der nachbehan-delnden Brustkrebstherapie.

Solch innovative Biotechunter-nehmen gibt es allein in Deutsch-land etwa 100.5) Jüngster Coup: Das Melsunger Unternehmen B. Braun beteiligt sich zu 20 % an der erst im Jahr 2009 gegründeten Cegat aus Tübingen, die über gen-diagnostische Panels Krankheiten aufschlüsselt und dafür den Deut-schen Gründerpreis 2011 bekam.6)

Biomarker und Testkits gehören genauso wie Enzyme und Additive aus der industriellen Biotechnik zu den 700 Produkten, die im vergan-genen Jahr die deutsche Biotechin-dustrie erfolgreich im Markt ein-führte. Für dieses Jahr ist eine ähn-liche Zahl zu erwarten. Viola Bron-

sema, Geschäftsführerin von BIO Deutschland erläutert: „Immer mehr Unternehmen wollen aus dem eigenen Cashflow Produktent-wicklungen voranbringen und fah-ren Mischgeschäftsmodelle.“

Ausblick

b Deutschland ist laut Peter Hein-rich in der Biotechnologie in Europa die Nummer eins. „Mit Kreativität und Beharrlichkeit“ wurden die Herausforderungen ge-meistert, anders als in der Schweiz und in England. Diese zwei Länder haben wegen eines starken Fokus auf Medikamentenentwicklung derzeit Probleme. Alarmierend bleibt jedoch die Einschätzung der politischen Unterstützung der deutschen Biotechunternehmer (Abbildung). Hier ist in erster Linie die mangelnde steuerliche For-schungsförderung junger Unter-nehmen zu nennen, ein Punkt den auch die OECD kritisiert hat.7)

Zeit zum Ausruhen bleibt keine, zumal aus Asien mit Japan, China und Indien ernst zu nehmende Konkurrenten drängen. Mit einer hohen Anzahl gut und teils im Westen ausgebildeter Wissen-schaftler und Ingenieure kommt Konkurrenz auf Deutschland zu;8) nicht nur in Chemie und Biotech-nologie. Das Schicksal der deut-schen Fotovoltaikbranche, die von asiatischen Herstellern ausge-bremst wird, sollte der Biotechin-dustrie hierzulande erspart bleiben.

Der promovierte Chemiker Holger Bengs ist

geschäftsführender Gesellschafter von BCNP

Consultants in Frankfurt am Main.

Literatur

1) Pressemitteilung BIO Deutschland,

16.1.2012.

2) Die deutsche Biotechnologie-Branche

2011.

3) GoingPublic Magazin, Special Industriel

Biotechnology 2012.

4) Festel Capital, 2003 .

5) BCNP Consultants, Personalisierte Medi-

zin, 2011.

6) Pressemeldung CeGaT vom 31.1.2012.

7) OECD, Pressemitteilung Bericht Deutsch-

land, 15.2.2012.

8) www.twitter.com/bcnpconsultants

Künftiges politisches Klimain der Biotechnik entsprechend der Umfrage im jeweiligen Jahr

mit der Basis von 100 im Jahr 2006. (Quelle: BIO Deutschland)

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