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I Der Nebel, der über den Anfängen der Photographie liegt, ist nicht ganz so dicht wie jener, der über den Beginn des Buch- drucks sich lagert; kenntlicher vielleicht als für diesen ist, daß die Stunde für die Erfindung gekommen war und von mehr als einem verspürt wurde; Männern, die unabhängig voneinander dem gleichenZiele z-ustrebten: die Bilder in der camera obscura, die spätestens seit Leonardo bekannt waren, festzuhalten. Als das nach ungefähr fünfjährigen Bemühungen Nidpce und Da- guerre zu gleicher Zeit geglückr war, griff der Staat, begünstigt durch patentrechtliche Schwierigkeiten, auf die die E,rfinder stießen, die Sache auf und machte sie unter deren Sc}adloshal- tung zu einer öffentlichen. Damit waren die Bedingungen einer fortdauernd beschleunigten Entwicklung gegeben, die für lange Zeft jeden Rückblick ausschloß. So kommt es, dal3 die histori- schen oder, wenn man will, philosophischen Fragen, die Aufstieg und Verfall der Photographie nahelegen, jahrzehntelang un- beachtet geblieben sind. Und wenn sie heute beginnerr, ins Be- wußtsein zu treten, so hat das einen genauen Grund. Die jüng- ste Literatur schließt an den auffallenden Tatbestand an, daß die Blüte der Photographie die Wirksamkeit der Hill und Cameron, der Hugo und Nadar - in ihr erstes Jahrzehnt fällt. Das ist nun aber das Jahrzehnt, welches ihrer Industrialisierung vor- ausging. Nicht als ob nicht bereits in dieser Frühzeit Markt- schreier und Scharlatane der neuen Technik aus Erwerbsgründen sich bemächtigt hätten; sie taten das sogar massenweise. Aber das stand den Künsten des Jahrmarkts, auf dem die Photogra- phie ja bis heute heimisch gewesen ist, näher als der Industrie. f)ie eroberte sich das Feld erst mit der Visitkarten-Aufnahme, dercn erster Hersteller bezeichnenderweise zum Millionär wur- de. Es wäre nicht zu verwundern, wenn die photographischen Praktiken, die heut zum erstenmal den Blick auf jene vorindu- stricllc Blütczcit zurücklcnkcn, in unterirdischem Zusammen- hang mit der Erschütterung der kapitalistischen Industrie stün- den. Darum jedoch ist es um nichts leichter, den Reiz der Bilder, die in den schönen jüngst erschienenenPublikationen alterPhoto- graphiel vorliegen, für wirkliche Einsichten in deren Wesen I Helmuth Th[eodor] Bossert und Heinridr Guttmann: Aus der Frühzeit der Pho- +7

BENJAMIN Kleine Geschichte Der Fotografie

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IDer Nebel, der über den Anfängen der Photographie liegt, istnicht ganz so dicht wie jener, der über den Beginn des Buch-drucks sich lagert; kenntlicher vielleicht als für diesen ist, daßdie Stunde für die Erfindung gekommen war und von mehr alseinem verspürt wurde; Männern, die unabhängig voneinanderdem gleichenZiele z-ustrebten: die Bilder in der camera obscura,die spätestens seit Leonardo bekannt waren, festzuhalten. Alsdas nach ungefähr fünfjährigen Bemühungen Nidpce und Da-guerre zu gleicher Zeit geglückr war, griff der Staat, begünstigtdurch patentrechtliche Schwierigkeiten, auf die die E,rfinderstießen, die Sache auf und machte sie unter deren Sc}adloshal-tung zu einer öffentlichen. Damit waren die Bedingungen einerfortdauernd beschleunigten Entwicklung gegeben, die für langeZeft jeden Rückblick ausschloß. So kommt es, dal3 die histori-schen oder, wenn man will, philosophischen Fragen, die Aufstiegund Verfall der Photographie nahelegen, jahrzehntelang un-beachtet geblieben sind. Und wenn sie heute beginnerr, ins Be-wußtsein zu treten, so hat das einen genauen Grund. Die jüng-ste Literatur schließt an den auffallenden Tatbestand an, daß dieBlüte der Photographie die Wirksamkeit der Hill und Cameron,der Hugo und Nadar - in ihr erstes Jahrzehnt fällt. Das istnun aber das Jahrzehnt, welches ihrer Industrialisierung vor-ausging. Nicht als ob nicht bereits in dieser Frühzeit Markt-schreier und Scharlatane der neuen Technik aus Erwerbsgründensich bemächtigt hätten; sie taten das sogar massenweise. Aberdas stand den Künsten des Jahrmarkts, auf dem die Photogra-phie ja bis heute heimisch gewesen ist, näher als der Industrie.f)ie eroberte sich das Feld erst mit der Visitkarten-Aufnahme,dercn erster Hersteller bezeichnenderweise zum Millionär wur-de. Es wäre nicht zu verwundern, wenn die photographischenPraktiken, die heut zum erstenmal den Blick auf jene vorindu-stricllc Blütczcit zurücklcnkcn, in unterirdischem Zusammen-hang mit der Erschütterung der kapitalistischen Industrie stün-den. Darum jedoch ist es um nichts leichter, den Reiz der Bilder,die in den schönen jüngst erschienenenPublikationen alterPhoto-graphiel vorliegen, für wirkliche Einsichten in deren WesenI Helmuth Th[eodor] Bossert und Heinridr Guttmann: Aus der Frühzeit der Pho-

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nutzbar zu machen. überaus rudimentär sind die Versuche, derSache theoretisch Herr zu werden. Und so viele Debatten imvorigen Jahrhundert über sie geführt wurden, im Grunde habcnsie sich nicht von dem skurrilen Schema freigemacht, mit demein chauvinistisches Blättchen, der "Leipziger Anzeiger", glaub-t€, beizeiten der französischen Teufelskunst entgegentretenzu müssen. oFlüchtige Spiegelbilder festhalten zu wollen,heißt es da, dies ist nicht bloß ein Ding der Unmöglichkeit,wie es sich nach gründlicher deutscher Untersuchung herausge-stellt hat, sondern schon der Wunsch, dies zu wollen, ist eineGotteslästerung. Der Mensch ist nach dem Ebenbilde Gottesgeschaffen und Gottes Bild kann durch keine menschiiche Ma-schine festgehalten werden. Höchstens der göttliche I(ünstlerdarf, begeistert von himmlischer Eingebung, es wagen, die gott-menschlichen Züge, im Augenblick höchster Weihe, auf denhöheren Befehl seines Genius, ohne lede Maschinenhilfe wieder-zugeben." Hier tritt mit dem Schwergewicht seiner Plumpheitder Banausenbegriff von der oKunst.. auf, dem jede technischeErwägung fremd ist und welcher mit dem provozierenden lrr-scheinen der neuen Technik scin Ende gekommen fühlt. Dem-ungeachtet ist es dieser fetischistische, von Grund auf antitech-nische Begriff von Kunst, mit dem die Theoretiker der Photo-graphie fast hundert Jahre lang die Auseinandersetzung such-ten, natürlich ohne zum geringsten Ilrgebnis zu kommen. Dennsie unternahmen nichts anderes, als den Photographen vor ebenjenem Richterstuhl zu beglaubigen, den er umwarf. Da wehteine ganz andere Luft aus dem Expos6, mit dern der PhysikerArago als Fürsprecher der Daguerreschen Erfindung am 3. -fulir839 vor die Kammer der Deputierten trat. Es ist das Schönean dieser Rede, wie sie an alle Seiten menschlicher Tätigkeit denAnschluß findet. Das Panorama, das sie entwirft, ist groß genug,

um die zweifelhafte Beglaubigung der Photographie vor derMalerei, die auch in ihm nicht fehlt, belanglos erscheinen, viel-mehr die Ahnung von der wirklichen Tragweite der E,rfindungsich entfalten zu lassen. "\Wenn Erfinder eines neuen Instru-mentes<<, sagt Arago, "dieses zur Beobadrtung der Natur anwen-

tographie. 184o-7o, Ein Bildbuch nadr zoo Originalen. Frankfurt am Mai;-r r9-Jo. -Heinridr Sdrwarz: David Octavius Hill. Der Meister der Photographie. Mit 8o

Bildtafeln. Leipzig t 93r.

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den, so ist das, was sie davon gehofft haben, immer eine Kleinig-kcit im Vergleich zu der Reihe nachfolgender Entded<ungen,wovon das Instrument der Ursprung war.<< In großem Bogenumspannt diese Rede das Gebiet der neuen Technik von derAstrophysik bis zur Philologie: neben dem Ausblick auf dieSternphotographie steht die Idee, ein corpus der ägyptischenHieroglyphen aufzunehmen.I)aguerres Lichtbilder waren jodierte und in der camera obscurabelichtete Silberplatten, die hin- und hergewendet sein wollten,bis man in richtiger Beleuchtung ein zartgraues Bild darauf er-kennen konnte. Sie waren unica; im Durchschnitt bezahlre manim Jahre r839 für eine Platte zy Goldfrank. Nichr selten wur-den sie wie Schmuck in Etuis verwahrt. In der Hand mancherMaler aber verwandelten sie sich in technische Hilfsmittel. tVie

siebzig Jahre später Utrillo seine faszinierenden Ansichten vonden Häusern der Bannmeile r,on Paris nicht nach der Natur,sondern nach Ansichtskarten verfertigte, so legte der geschätzteenglische Porträtmaler David Octavius Hill seinem Fresko derersten Generalsynode der schottischen Kirche im Jahre r843 einegroße Reihe von Porträtaufnahmen zugrunde. Diese Aufnah-men aber machte er selbst. Und sie, anspruchslose, zum internenGebrauch bestimmte Behelfe, sind es, die seinem Namen diehistorische Stelle geben, während er als Maler verschollen ist.Freilich führen tiefer noch als die Reihen dieser Porträtköpfein die neue Technik einige Studien ein: namenlose Menschen-bilder, nicht Porträts. Solche Köpfe gab es längst auf Ge-mälden. Blieben sie im Familienbesitz, fragte man hin und wie-der noch nach den Dargestellten. Nach zwei, drei Generationenaber ist dies Interesse verstummt: die Bilder, soweit sie dauern,tun es nur als Zeugnis für die Kunst dessen, der sie gemalt hat.Bei der Photographie aber begegnet man etwas Neuem undSonderbarem: in jenem Fisdrweib aus New Flaven, das mit so

lässiger, verführerisdrer Scham zu Boden blickt, bleibt etv/as,was im Zeugnis ftir die Kunsr des Photographen Hill nichtaufgeht, etwas, was nicht zum Schweigen zu bringen ist, unge-bärdig nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat, dieauch hier nodr wirklich ist und niemals gänzlidr in die "Kunst,.wird eingehen wollen. "Und ich frage: wie hat dieser haare zier

I

Und dieses blidres die früheren wesen umzingelt! | \flie

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dieser mund hier geküßt zu dem die begier I Sinnlos hinanals rauch ohne flamme sich ringelt!" Oder man schlägt das Bildvon Dauthendey, dem Photographen, auf, dem Vater des Dich-ters, aus der Zeit des Brautstands mit jener Frau, die er danneines Tages, kurz nach der Geburt ihres sechsten Kindes, imSchlafzimmer seines Moskauer Hauses mit durchschnittenenPulsadern liegen fand. Sie ist hier neben ihm zu sehen, er scheint

sie zu halten; ihr Blid< aber geht an ihm vorüber, saugend an

eine unheilvolle Ferne geheftet. Hat man sich lange genug in so

ein Bild vertieft, erkennt man, wie sehr auch hier die Gegensätze

sich berühren: die exakteste Technik kann ihren Hervorbrin-gungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemal-tes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Pho-tographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines ll'1o-

dells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang,in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufal\, Hier und Jetzt,zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleich-

sam durchgesengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, inwelcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künfti-ge noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es ent-

dec}en können. Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kameraals welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die

Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums

ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblicl, daß einer,

beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben,

sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr vonihrer Haltung im Sekundenbruchteil des "Ausscl-rreitens". DiePhotographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerun-gen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erf;ihrter erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die

Psychoanalyse. Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit deneu

Technik, Medizin zu rechnen pflegen - all dieses ist der Kameraursprünglich verwandter als die stimmungsvolle Landschaft

oder das seelenvolle Porträt. Zugleich aber erölTnet die Photo-graphie in diesem Material die physiognomischen Aspekte,

Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verbor-gen genug, um inWachträumenUnterschlupf gefunden zu haben,

nun aber, groß und formulierbar wie sie geworden sind, die

Diflerenz von Technik und Magie als durdr und durch histori-

)v

sche Variable ersichtlich zu machen. So hat Bloßfeldt2 mit seinencrstar-rnlichen Pflanzenphotos in Schachtelhalmen älteste Säu-lenformen, im Straußfarn den Bischofsstab, im zehnfach ver-qrößerten Kastanien- und Ahornsproß Totembäume, in derVeberkarde gotisches Maßwerk zum Vorschein gebracht. Darumsind wohl auch die Modelle eines Hiil nicht weit von der Vahr-heit entfernt gewesen, wenn ihnen "das Phänomen der Photo-graphie" noch "ein großes geheimnisvolles Erlebnisu war; magdas für sie auch nichts als das Bewußtsein gewesen sein, ovoreinem Apparat zu stehen, der in kürzester Zeit ein Bild dersichtbaren Umwelt erz-eugen konnte, das so lebendig und wahr-haft wirkte wie die Natur selbst.o Man hat von der KameraHills gesagt, daß sie diskrete Zurückhaltung wahre. Seine Mo-delle ihrerseits sind aber nicht weniger reserviert; sie behalteneine gewisse Scheu vor dem Apparat, und der Leitsatz eines

späteren Photographen aus der Blütezeit: "Sieh nie in die Ka-mera< könnte aus ihrem Verhalten abgeleitet sein. Doch wardan-rit nicht jenes osehen dich an" von Tieren, Menschen oderBabi's eemeint, das den Käufer auf so unsaubere \Weise cir"rmengt

und dem nichts besseres entgegenzusetzen ist als die 'W'endung,

n-rit welcher der alte Dauthendey von der Daguerreotypiespricht: nMan getraute sich... zuerst nicht, so berichtete er, dieersten Bilder, die er anfertigte, lange anzusehen. Man scheute

sich vor der Deutlichkeit der Menschen und glaubte, daß diekleinen winzigen Gesichter der Personen, die auf dem Bildewaren, einen selbst sehen könnten, so verblüffend wirkte dieungewohnte Deutlichkeit und die ungewohnte Naturtreue derersten Daguerreotypbilder auf jeden".Diese ersten reproduzierten Menschen traten in den Blickraumder Photographie unbescholten oder besser gesagt unbeschriftet.Noch waren Zeitungen Luxusgegenstände, die man selten käuf-lich erwarb, eher in Cafdhäusern einsah, noch u'ar das photo-graphische Verfahren nicht zu ihrem Werkzeug geworden, noch

sahen die wenigsten Menschen ihren Namen gedruckt. Dasmenschliche Antlitz hatte ein Schweigen um sich, in dem derBlick ruhte. Kurz, alle Möglichkeiten dieser Porträtkunst beru-hen darauf, daß noch die Berührung zwischen Aktualität und

2 Karl Bloßfeldt: Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder. Hrsg. miteiner Einleitung von Karl Nierendorf . tzo Bildtafeln. Berlin o. J. Ir928].

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Photo nicht cingetreten ist. Auf dem Edinburgher Friedhof vonGreyfriars sind viele Bildnisse Hills entstanden - nichts ist fürdiese Frühzeit bez-eichnender, es sei denn, wie die Modclle aufihm zu Hause waren. Und wirklich ist dieser Friedhof nacheinem Bilde, das Hill gemacht hat, selbst wie ein Interieur, einabgeschiedencr, cingehegter Raum, wo, an Brandmauern ge-lehnt, aus dem Grasboden Grabmäler aufsteigen, die, ausge-höhlt wie l(amine, in ihrem Innern Schriftzüge statt der Flam-menzungen zeigen. Nie aber hätte dies Lokal zu seiner großenVirkung kommen können, wäre seine \Wahl nicht technischbegründet gewesen. Geringere Lichtempfindlichkeit der frühenPlatten machte eine lange Belichtung im Freien erfordcrlich.Dicse wiederum ließ es wünschenswert scheinen, den Aufzuneh-menden in möglichster Abgeschiedenheit an einem Orte unter-zubringen, wo ruhiger Sammlung nichts im Wege 51xni. "DieSynthese des Ausdruc*es, die durch das lange Stillhalten des Mo-dells erzwungen wird, sagt Orlik von der frühen Photographie,ist der Hauptgrund, weshalb diese Lichtbilder neben ihrerSchlichtheit gleic'h guten gczcichneten oder gemalten Bildnisscneine eindringlichere und länger andauernde Wirkung auf dcnBeschauer ausüben als neuere Photograpl-rien." Das Verfahrensclbst veranlaßte die Modelle, nicht aus .lem Augenblick heraus,

sondern in ihn hinein zu leben; während der langen Dauer dic-ser Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein undtraten so in den entschiedensten Kontrast zu den Erscheinungenauf ciner Momentaufnahme, die jener veränderten IJmwelt ent-spricht, in der es, wie Kracauer treffcnd bemerkt hat, von dem-selben Bruchteil einer Sekunde, den die Belichtung dauert, ab-hängt, ,,ob ein Sportsmann so berühmt wird, daß ihn imAuftrag der Illustrierten die Photographen belichten". Alles an

diesen frühen Bildern war angelegr zv dauern; nicht nur dieunvergleichlichen Gruppen, zu denen die Lcute zusammentra-ten und deren Verschwinden gewiß eins der präzisestenSymptome dessen war, was in der zweiten Hälfte des Jahrhun-derts in der Gesellschaft vorging - selbst die Falten, die einGewand auf diesen Bildern wirft, halten länger. Man betrachtenur Schellings Rock; der kann recht zuversichtlich mit in dieUnsterblichkeit hinübergehen; die Formen, die er an seincm

Träger annahm, sind der Falten in dessen Antlitz nicht unwert.

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Kurz, alles spricht dafür, Bernard von Brentano habe mit seinerVernrurung recht, "daß ein Photograph von r8yo auf der glei-chen Höhe mit seinem Instrument stand" - zum ersten- undfür lange zum letztenmal.Man muß im übrigen, um sich die gewaltige \flirkung der Da-sucrrcotypie im Zekalter ihrer Entdeckun g g nz gegenwärtig zumachen, bedenken, daß die Pleinairmalerei damals den vorge-schrittensten unter den Malern ganz neue Perspektiven zu ent-dccken begonnen hatte. Im Bewußtsein, daß gerade in dieserSache die Photographie von der Malerei die Stafetre zü iiber-nehmen habe, heißt es denn auch bei Arago im historischenRückblick auf die frühen Versuche Giovanni Battista Portasausdrücklicl-r: "\ü7as die Virkung betrifft, welche von der unvoll-kommenen Durchsichtigkeit unserer Atmosphäre abhängt (undwclchc man durch den uneigentlichen Ausdruck ,Luftperspek-tive, charakterisiert hat), so hoffen selbst die geübten Malernicht, daß die camera obscurao - will sagen das Kopiercn derin ihr erscheinenden Bilder - ,ihnen dazu behilflich sein könnte,dieselben mit Genauigkeit hervorzubringen.o Im Augenblick, daes Daguerre geglückt war, dic Bilder der camera obscura zufixicren, waren die Maler an diescm Punkte vom Techniker ver-abschiedet worden. Das eigentliche Opfer der Photographie aberwurde nicht die Landschaftsmalerei, sondern die Porträtminia-tur. Die Dinge entwickelten sich so schnell, daß schon um r84odie meisten unter den zahllosen Miniaturmalern Bcrufsphoto-graphen wurden, zunächst nur nebenher, bald aber ausschließ-lich. Dabei kamen ihnen die E,rfahrungen ihrer ursprünglichenBrotarbeit zustatten, und nicht ihre künstlerische, sondern ihrehandwerkliche Vorbildung ist es, der man das hohe Niveauihrer photographischen Leistungen zu verdanken hat. Sehr all-mählich verschwand diesc Generation des Übergangs; ja cs

scheint eine Art von biblischem Segen auf jenen ersten Photo-graphen geruht zu haben: die Nadar, Stelzner, Pierson, Bayardsincl alle an die Neunzig odcr Hundert herangerückt. Schließ-lich aber drangen von überallher Geschäftsleute in den StanddcrBerufsphotographen ein, und als dann späterhin dieNegativ-rctuschc, mit welcher der schlechte Maler sich an der Photogra-phie rächtc, allgemein üblich wurde, setzte ein jäher Verfall des

Geschmacks ein. Das war die Zeit, da die Photographiealben

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sich zu füllen begannen.An den frostigsten Stellen der'Wohnung,auf Konsolen oder Gueridons im Besuchszimmer, fanden sie sich

am liebsten: Lederschwarten mit abstoßenden Metallbeschlägenund den fingerdicken goldumrandeten Blättern, auf denen när-risch drapierte oder verschnürte Figuren - Onkel Alex undTante Riekchen, Trudchen wie sie noch klein war, Papa im ersten

Semester - verteilt waren und endlich, um die Schande voll zumachen, wir selbst: als Salontiroler, jodelnd, den Hut gegen

gepinselte Firnen schwingend, oder als adretter lvlatrose, Stand-bein und Spielbein, wie es sich gehört, gegen einen poliertenPfosten gelehnt. Noch erinnert die Staffage solcher Porträts mitihren Postamenten, Balustraden und ovalen Tischchen an dieZeft, da man der langen Expositionsdauer wegen den ModellenStützpunkte geben mußte, damit sie fixiert blieben. Hatte mananfangs mit "Kopfhalter" oder "Kniebrille" sich begnügt, so

folgte bald "weiteres Beiwerk, wie es in berühmten Gemäldenvorkam und darum ,künstlerisch, sein mußte. Zunächst wares die Säule und der Vorhang". Gegen diesen Unfug mußten sich

fähigere Männer schon in den sechziger Jahren wenden. So heißtes damals in einem englischen Fachblatt: "In gemalten Bildenrhat die Säule einen Schein von Möglichkeit, die Art aber, wie sie

in der Photographie angewendet wird, ist absurd; denn sie stehtgewöhnlich auf einem Teppich. Nun wird aber jedermann über-zevgt sein, daß Marmor- oder Steinsäulen nicht mit einem Tep-pich als Fundament aufgebaut werden.., Damals sind jene Ate-liers mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleienentstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsen-tation, Folterkammer und Thronsaal schwankten und aus denen

ein erschütterndes Zeugnis ein frühes Bildnis von Kafka bringt.Da steht in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posa-

menten überiadenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige

Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft. Palmenwedelstarren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolstertenTropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modellin der Linken einen unmäßig großen Hut mit breiter Krempe,wie ihn Spanier haben. Gewi$, daß es in diesem Arrangementverschwände, wenn nicht die unermeßlich traurigen Augen diese

ihnen vorbestimmte Landschaft beherrschen würden.Dies Bild in seiner uferlosen Trauer ist ein Pendant der frühen

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Photographie, auf welcher die Menschen noch nicht abgesprengt

und gotrverloren in die vek sahen wie hier der Knabe. Es wareine Aura um sie. ein Medium, das ihrem Blick, indem er es

durchdringt, die Fülle und die Sicherheit gibt. und wieder liegt

das technische Äquivalent davon auf der Hand; es besreht indem absoluten Kontinuum von hellstem Licht zu dunkelstem

Scharten. Auch hier bewährt sich im übrigen das Gesetz der

vorverkündung neuerer Errungenschaften in älterer Technik,

indem die ehemalige Porträtmalerei vor ihrem Niedergange eing

einzigartige Blüte der Schabkunst heraufgeführt hatte. Freilich

handelte es sich in diesem Schabkunstverfahren um eine Repro-

duktionstechnik, wie sie sich mit der neuen photographischen

erst später vereinigte. \Wie auf Schabkunstblättern ringt sich bei

einem Hill mühsam das Licht aus dem Dunkel: Orlik sprichtvon der durch die lange Expositionsdauer veranlaßten >>zusam-

menfassenden Lichtführungn, die "diesen früheren Lichtbildernihre Größe., gibt. und unter den Zeitgenossen der Erfindungbemerkte schon Delaroche den früher ,nie erreichten, köstlichen,

in nichts die Ruhe der Massen störenden" allgemeinen Eindruck.

Soviel vom technischen Bedingtsein der auratischen Erscheinung.

Besonders manche Gruppenaufnahmen halten ein beschwingtes

Miteinander noch einmal fest, wie es hier für eine kurze Spanne

auf der Platte erscheint, bevor es an der "Originalaufrlahmenzugrunde geht. Es ist dieser Hauchkreis, der schön und sinnvollbisweilen äurch die nunmehr altmodische ovale Form des Bild-ausschnitts umschrieben wird. Darum heißt es diese Inkunabelnder photographie mißdeuten, in ihnen die "künstlerische voll-endungo od.i d..t oGeschmacku zu betonen. Diese Bilder sind

in Räumen entstanden, in denen jedem Kunden im Photogra-phen vorab ein Techniker nach der neuesten Schule entgegentrat'

äem photographen aber in jedem Kunden der Angehörige ein-er

im Aufstieg u.n"ati.tten Klasse mit einer Aura, die bis in die

Falten des Bürgerrocks oder der Lavalliöre sic} eingenistet

hatte. Denn das bloße Erzeugnis einer primitiven Kamera istjene Aura ja nicht. vielmehr entsprechen sich in jener Frühzeit-ouj.k,

und Technik genau so scharf, wie sie in der anschließen-

den Verfallsperiode auseinandertreten. Bald nämlich verfügteeine fortgeschrittene Optik über Instrumente, die das Dunkelganz überwanden und die Ersdreinungen spiegelhaft aufz,eichne-

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ten. Die Photographen jedoch sahen in der Zeit nach r88o ihreAufgabe vielmehr darin, die Aura, die von Hause aus mit derVerdrängung des Dunkels durch lichtstärkere Objektive aus demBilde genau so verdrängt wurde wie durch die zunehmendeEntartung des imperialistischen Bürgertums aus der Virklich-keit - sie sahen es als ihre Aufgabe an, diese Aura durch alleKünste der Retusche, insbesondere jedoch durch sogenannteGummidrucke vorzutäuschen. So wurde, zumal im Jugendstil,ein schummeriger Ton, von künstlichen Reflexen unterbrochen'Mode; dem Zwielicht zum Trotz aber zeichnete immer klarereine Pose sich ab, deren Starrheit die Ohnrnacht jener Genera-tion im Angesicht des technischen Fortschritts verriet.Und docl-r ist, was über die Photographie entscheidet, immerwieder das Verhältnis des Photographen zu seiner Technik. Ca-mille Recht hat es in einem hübschen Bilde gekennzeichnet. ,,DerGeigenspieler, sagt €r, muß den Ton erst bilden, muß ihnsuchcn, blitzschnell finden, der Klavierspieler schlägt die Tastean: der Ton erklingt. Das Instrument steht dem Maler wie dcmPhotographen zur Verfügung. Zeichnung und Farbengebungdes Malers entsprechen der Tonbildung des Geigenspiels, derPhotograph hat mit dem Klavierspieler das Maschinclle voraus,das einschränkenden Gesetzcn unterworfen ist, die dem Geigerlange nicht den gleichen Zwang auferlegen. Kein Paderewskiwird jemals den Ruhm ernten, den beinahe sagenhaften Zau-ber ausüben, den ein Paganini geerntet, den er ausgeübt hat." E,s

gibt aber, um im Bilde zu bleiben, einen Busoni der Photogra-phie, und der ist Atget. Beide waren Virtuosen, zugleich aberVorläufer. Das beispiellose Aufgehen in der Sache, verbundenmit der höchsten Präzision, ist ihnen gemeinsam. Sogar in ihrenZigen gibt es Verwandtes. Atget war ein Schauspieler, der, an-gewidert vom Betrieb, die Maske abwischte und dann daran

Bing, auch die Wirklichkeit abzuschminken. Arm und unbe-kannt lebte er in Paris, seine Photographien schlug er an Lieb-haber los, die kaum weniger exzentrisch sein konnten als er,und vor kurzem ist er,, unter Hinterlassung eines cuvre vonmehr als viertausend Bildern, gestorben. Berenice Abbot aus

New York hat diese Blätter gesammelt, und eine Auswahl vonihnen erscheint soeben in einem hervorragend schönen Bande3,3 E[ugäne] Atget: Lid-rtbilder. Eingeleitet von Camille Redrt. Paris u. Leipzig r93o.

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rlcn Camille Recht herausgegeben hat. Die zeitgenössische Pu-blizistik ,wußte nichts von dem Mann, der mit scinen Bildernzumcist in den Ateliers hcrumzog, sie für weirige Groschen ver-schleudertc, oft nur für den Preis einer dieserAnsichtskarten, u,'ic

sie um rgoo herum die Städtcbilder so schön zeigtcn, in blaueNacht getaucht, mit retuschiertem Mond. Er hat den Pol hcichster

Meisterschaft erreicht; aber in der verbissenen Bescheidcnheiteines großen Könners, der immer im Schattcn lebt, hat er es

unterlassen, scinc Fahne dort aufz-upflanzen. So kann manclter

elauben, den Pol entdeckt zu haben, den Atgec schon vor ihtnbetreten hat.o In der Tat: Atgets Pariser Photos sind dieVorläufer der surrcalistischen Photographie; Vortrupps der ein-zigen wirklich brcitcn Kolonne, die der Surrealismus hat in Be-wegung setzen können. Als erstcr dcsinfiziert cr die stickigeAtmosphäre, die die konventioncllc Porträtphotographie derVcrfallsepochc vcrbreitct hat. Er reinigt diese Atmosph:irc, ja

bereinigt sie: cr lcitet die Bcfreiung des Objekts von der Auraein, dic das unbezweifelbarste Vcrdienst dcr jüngsten Photo-graphenschule ist. Wenn "Bifur" oder oVaridtön, Zeitschriftender Avantgardc, unter der Bcschriftung "Vestminster,,, olille..,oAntwerpen.. oder ,Breslau,. nur Details bringen, einmal einStück von cincr Balustradc, dann einen kahlen Wipfel, desseu

Aste vielfältig eine Gaslaterne übcrschne idcn, ein andcrmaleine Brandmauer oder einen Kandelabcr mit eincm Rettungs-ring, auf dem der Name der Stadt steht, so sind das nichts als

literarische Pointicrungen voll Motiven, dic Atget entdeckte. Ersuchte das Verschollenc und Verschlagene, und so wcnden auch

solche Bilder sich gegen den exotischcn, prunkenden, romanti-schen Klang der Stadtnamen; sie saugctr die Aura aus der Wirk-lichkeit wie Wasser aus einem sinkenden Schiff. \Was isteigcntlich Aura? E,in sondcrbares Gespinst von Raum und Zeit:einmalige Erscheinung einer Fcrne, so nah sie sein mag. An cinemSommermittag ruhend einem Gcbirgszug am Horizont odereinem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Bctrachterwirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Er-scheinung hat - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweigesatmen. Nun ist, die Dinge sich, vielmehr den Massen "näher-zubringen,,, eine genau so leidenschaftliche Neigung der Heuti-gen, wie die Überwindung des Einmaligen in jeder Lage durch

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deren Reproduzierung. Tagtäglich macht sich unabweisbarerdas Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe imBild, vielmehr im Abbild habhaft zu werden. Und unverkenn-bar unterscheidet sich das Abbild, wie illustrierte Zeitung undWochenschau es in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeitund Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchrigkeitund Wiederholbarkeit in jenem. Die Entschälung des Gegen-stands aus seiner Hülle, dte Zertrümmerung der Aura ist dieSignatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für alles Gleichartigeauf der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduk-rion auch dem Einmaligen abgewinnt. Atget ist oan den großenSichten und an den sogenannten Wahrzeichen., fasr immer vor-übergegangen; nicht aber an einer langen Reihe von Stiefellei-sten; nicht an den Pariser Höfen, wo von abends bis morgensdie Handwagen ir-r Reih und Glied stehen; nicht an den abge-sessenen Tischen und den unaufgeräumten Waschgeschirren, wiesie zu gleicher Zeit zu Hunderttausenden da sind; nicht ani Bor-dell rue... r1o y, dessen Fünf an vier verschiedenen Srellen derFassade riesengroß erscheint. N{erkwürdigerweise sind aber fastalle diese Bilder leer. Leer die Porte d'Arcueil an den fortifs,leer die Prunktreppen, leer die Höfe, leer die Caföhausterrassen,leer, wie es sich gehört, die Place du Tertre. Sie sind niclrt ein-sam, sondern stimmuneslos; die Stadt auf diesen Bildcrn istausgeräumt wie eir-re Vohr-rung, die noch keinen neuen lrlietereefunden hat. Diese Leistungen sind es, in denen die surre,rlisti-schc Photographie cine heilsamc Entfremdung zwischen Urnweltund Mensch vorbereitet. Sie macht dem politisch geschultenBlick das Feld frei, dem alle L-rtimitäten zugunsten der Erhel-lung des Details fallen.Auf der Hand liegt, daß dieser neue Blick am n'enissten daeinzuheimsen hat. wo marl sich sonst am läßlichsten erging: inder entgeltlichen, repräsentativer-r Porträtaufnahme. Anderer-seits ist derVerz-ichr auf der-r Menschen für die Photographie derunvollziehbarstc unter allen. Und wer es nicht gewulSt hat, denhaben die besten Russenfilnre es gelehrt, daß auch Nlilieu undLandsdraft unter den Photographen erst dem sich erschließen, dersie in der namenloscn Erscheinung, die sie inr Antlitz haben,aufzufassen weiß. Jedoch dic Möglichkeit davon ist wieder inhohem Grad bedingt durch den Aufgenommenen. Die Gcnera-

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tion, die nicht darauf versessen war, in Aufnahmen auf dieNachwelt zu liommen, eher im Angesicht solcher Veranstal-rungen sich etwas scheu in ihren Lebensraum zurückzog - wieSchopenhauer auf dem Frankfurter Bilde um i81o in die Tiefentics Sessels -, eben darum aber diesen Lebensraum mit auf die

Platte gelangen ließ: diese Generation hat ihre Tugcnden nichtvererbt. Da gab zum erstenmal seit Jahrzehnten der Spielfilmcler Russcn Gelcgenheit, Menschcn vor der Kamera erscheinen

z-u lassen, die für ihr Photo keinc Verwendung haben. Undeugcnblicklich trat das menschliche Gcsicht mit neuer, unermeß-licher Bedcutung auf die Platte. Aber es war kein Porträt mehr.

Vas war es? Es ist das eminente Verdienst eines deutschen

Photographen, diese Frage beantwortet zLl haben' August San-dera hat cine Reihe von Köpfen zusammengestellt, die der

gervaltigen physiognornischen Galerie, die ein Eisenstein oder

Pudowkin eröffr-rct haben, in gar nichts nachsteht, und cr tat es

unter q,'issenschaftlichern Gesichtspunkt. "Sein Gesamtwerk ist

aufgebaut in sieben Gruppen, die der bestehenden Gesellschafts-ordrrung entsprcchen, und soll in etwa 4y Mappen zu ic rz Licht-bildcrn veröffentlicht u'erden." Bisher liegt davon ein Auswahl-band mit 6o Reproduktionen vor, die unerschöpflichcn Stoffzur Betrachtung bieten. "sander gcht vom Bauern, dem erdge-

bundenen Menschen aus. führt den Bctrachter durch alle Schich-

ten und Berufsarten bis zu den Repr:isentanterl der höchsten

Zivilisation und abwärts bis zum Idioten." Der Autor ist an

diese unseheure Aufgabe nicht als Gclehrter hcrangetreten,

nicht von Rassentheorctikern oder Sozialforschern beraten,sondern, wie der Verlag sagt) >aus dcr unmittelbaren Beobach-

tung<. Sie ist bestimmt eine sehr vorurteilslose, ja kühne, zu-gleich aber auch zarte gewcsen, nämlich im Sinn des Gocthi-schcn Wortes: "Es gibt eine zarte E,mpirie, die sich mit dem

Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen

The'orie wird.o Demnach ist es ganz in der Ordnung, daß ein

Betrachter wie Döblin gerade auf die wissenschaftlichcn Mo-mente in diesem Werk gestoßen ist und bemerkt: "Wie es eine

vergleichcnde Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffas-sung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat

4 August Sander: Antlitz der Zeir. Sechzig Aufnahmen deutsdrer lvlenschen des zo,

Jahrhunderts. Mit einer Einleitung von Alfred Döblin. Mündren o. J. lr9z9l.

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dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben undhat damit einen wissenschaftlichen Sta'dpunkt oberhalb derDctailphotographen gewonnen.r, Es wäre ein Jammer, wenndie n'irtschaftliche' verhältnisse die weirere veröffe'tlichu'gdicses außerordentlichen corpus verhinderte'. Dem verlag abeikann man neben dieser grundsätzlichen noch eine genauereAufn'runterung zuteil w-erden lassen. über Nacht könnte Wer-kerl rvie dcm von Sandcr eine unvermurere Aktualität zuwach-scn. X,lachtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind,pflcgen die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auf-fassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man magvon rechts kommen oder von links - man wird sich darangervöhnen müssen, darauf angesehen zu werden, woher mankommt. Man wird es, seinerseits, den andern anzusehen haben.Sanders Werk ist mchr als ein Bildbuch: ein übungsarlas.

"Es gibt in unserem Zeitalter kein Kunsrwerk, das so aufmerk-sam betrachtet würde, wie die Bildnisphorographie des eigenenSelbst. der näcl-rsten Verwandten und Freunde, der Gelicbten..,Irat sclron im Jahre r9o7 Lichtwark geschrieben u'd damit dieI-Jntersuchunll aus dern Bereich ästhetischer Distinktionen in densozialcr Fr.rnktionen gerückt. Nur von hier aus kann sie weitervorstoßen. E,s ist ja bez-eichnend, daß die Debatte sich da arnmcisten versteift hat, wo cs um die Asthetik der "Photographieals Kunst., eing, indes mal beispielsweise dem soviel fragloserensozialen Tatbcstand der "Kunst als Photographie" kaum eincnBlick gönnte. Und doch ist die \flirkung der photographischenRcproduktion von Kunsrwerken für die Funktion derKunst vonsehr viel größerer Wichtigkeit als die mehr oder minder künst-lerische Gestaltung einer Photographie, der das Erlebnis zur

"Kamerabeure< wird. In der Tat ist der heimkehrende Ama-teur mit seiner Unzahi künstlerischer Originalaufnahmen nichterfreulicher als ein Jäger, der vom Anstand mit Massen vonWild zurückkommt, die nur für den Händler verwertbar sind.Und wirklich scheint der Tag vor der Tür zu srehen, da es mehrillustrierte Blätter als Wild- und Geflügelhandlungen gebenwird. Soviel vom "Knipsen,,. Doch die Akzente springenvöllig um, wender man sich von der Photographie als Kunst zurKunst als Photographie. Jeder wird die Beobachtung habenmachen können, wieviel leichter ein Bild, vor allem aber eine

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l)lastik, und nun gar Architektur, im Photo sich erfassen lassen

els in der Wirklichkeit. Die Versuchung liegt nahc ger,ug, das

schlechterdings auf den Verfall des Kunstsinns, auf ein Versa-gen der Zeitgenossen zu schieben. Dem aber stellt sich die Er-kenntnis in den Weg, wie ungefähr zu gleicl-rer Zeit mit derAusbildung reproduktiver Techniken dieAuffassung von großenWcrken sich gewandelt hat. Man kann sie nicht mehr als Hcr-vorbringungen Einzciner ansehen; sie sind kollcktive Gebildegeworden, so mächtig, daß, sie zu assimilieren, ecradez-u an diellcdingung geknüpft ist, sie zu verkleinern.Im Ende{fekt sind clie

mechanischen Rcproduktionsmethoden eine Verklcinerungstccli-nik und verhelfcn dcm N{enschen zu jenem Gracl von f-Icrr-scl-raft übcr dic \üZerkc, ohne ''n'eichen sie gar nicht mchr znr Vcr-wcndung kommen"V/cnn cins die hcutigen Beziehungen zwischen Kunst unci Photo-graphie kcnnzeichnct, so ist es die unausgctragcnc Spannung,wclche durch die Photograpfrie der Krinstwerke zwischen clen

bciden eintrat. Viele von denen, die als Photograilhen cias heu-tigc Gesicht dieser T'cchnik bcstimmen, sind von dcr Nlalcrciausgegangcn. Sie haben ihr dcn Rückcn gekchrt nach Vcrsr-l-cl.ren, deren Ausdrucksmittel in einen lebcndigen, eindcutigcnZusammcnhang mit dem heutigen Leben zu rücken. Je wachcrihr Sinn für die Signatur der Zeit war, desto problematischerist ihncn nach und nach ihr Ausgangspunkt gcwordcn. Dcnnwicdcr wie vor achtzig Jahren hat die Photographie von derMalerei die Stafette sich geben lassen. oDie schüpferischcnMöglichkeiten dcs Neucn, sagt Moholy-Nagy, werden ntcistlangsam durch solche alten Formen, alten Instrumente und Ge-staltungsgebietc aufgedeckt, welche durch das E,rscheinen des

Neucn im Grunde schon erledigt sind, aber unter dem Druckdcs sich vorbcreitenden Neuen sich zu cinem euphorischen Auf-bltjhen treiben lassen. So lieferte z. B. dic futuristische (statischc)Malerei die später sie selbst vernichtende, fcstumrissene Proble-matik der Bewegungssimultancitär, die Gestaltung des Zcitmo-mcntcs; und zwar dies in einer Zeit, da dcr Irilm schon bekannt,aber noch lange nicht erfaßt war . . . E,benso kann man - nritVorsicht - einige von den heute mit darstelierisch-gcgenständ-lichen Mitteln arbeitenden Malern (Neoklassizisten und Veri-sten) als Vorbereiter einer neuen darstellerischen optischen

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Gestalturrs, die sich bald nur mechanisch technischer l\{itrel be-dierren wird, betrachten." Und Tristan Tzara, r922t "Als alles,was sich Kunst nannte, gichtbrüchig geworden war, entzündereder Photograph seine tauscndkerzige Lampe und stufenweiseabsorbierte das lichtempfindliche Papier die Schwärze einigerGebrauchscegenstände. Er hatte die Tragweite eines zarren, un-berührten Aufblitzens entdeckt, das wichtiger war als alle Kon-stellationen, die uns zur Augenweide gestellt werden.,, DiePhotographen, die nicht aus opportunistischen Ern'ägungen,nicht z-ufällig, nicht aus Bequemlichkeit von der bildenden Kunstzurn Photo gekommen sind, bildcn heute die Avantgarde unterden Fachgenosscn, weil sie dr.rrch ihren E,ntwicklungsgang gegendie größte Gcfahr der hcutigcn Photograpl.rie, den kunstgewcrb-lichen Einschlag, einigermalien gcsichert sind. "Photographieals Kunst, sagt Sasha Stone, ist ein schr gcfährlichcs Gebiet."Hat die Photographie sich aus Zusammenhängen herausbegeben,wic sie cin Siudcr, eine Germaine Krull, ein Bioßfeldt geben,vom physiognornischen, politischen, wissenschaftlichen Intcressesich emanzipiert, so wird sie "schöpferisch". Aneelegenhcit desObjektivs wird die,,Zusammenschau.,; der photographischeSchmock tritt auf. "Der Geist, übcrwindend die Nlechanik, deu-tet ihre exakten Ergebnisse zu Gleichnissen des Lclrens um." Jemchr die Krise der heutigen Gesellschaftsordnung um sich greift,je starrer ihre einzelnen Momente einander in toter Gegcnsätz-lichkcit gcgcnübertrercn, desto mehr isr das Schöpferische -dem ticfsten Wescn nach Variante; der Widerspruch sein Vaterund die Nachahmung seinc Mutter - zunl Fetisch geworden,dessen Züge thr Leben nur dem V/echsel modischer Beleuchtungdanken. Das Schöpferische am Photographieren isr dessen über-antwortung an die Mode. "Die Velt ist schön" - genau das istihre Devise. In ihr entlarvr sich die Flaltung einer Photographie,die jede Konservenbüchse ins All monrieren, aber nicht eincnder menschlichen Zusammenhänge fassen kann, in denen sie auf-tritt, und die damit noch in ihren traumverlorensren Sujersmehr ein Voriäufer von deren Verkäuflichkeit als von derenErkenntnis ist. Weil aber das wahre Gesicht dieses photographi-schen Schöpfertums die Reklame oder die Assoziation ist, darumist ihr rechtmäßiger Gegcnpart die Entlarvung oder die Kon-struktion. Denn die Lage, sagt Brecht, wird odadurch so kom-

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i,liricrt, d,rß weniger denn je eine einfache ,Wiedergabe derli,,rlitit. etwas über die Realität aussast. Eine Phot.rgr;'rphie,1,'r' iiruppt,erke oder der A.E.G. ergibt beiriahe nici'rts üirer,li..sc lnstitute. l)ie eigentliche Realität ist in die Funktionale gc-

rulscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziel-rungen, also

, rri ;r die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also

r.rrs.icl-rlic[, )etwas aufzubauen<, etwas'I(ülstliches,,,Gestell-rt s,.. Vegbereiter einer solchen phot<.rgraphischen Konstruktionl',,r'rrpgebildet zv halren, ist das Verdienst der Surrcalisten.I rr;e rveitere Etappe in dieser Auseinandersetzung zrvischen

,lröpferischer und konstruktiver Photographie bezeichnet der

i(rrssen6lm. E,s ist nicht z-uviel gesagt: die großen Lcistungerr, iner Regisseure warcn nur miiglich in einem Lande, wo clie

i'irr:tographie nicht auf P.eiz uncl Suggestion, sondcrn auf Iix-r,,'rimen! und Beiehrung eusgeht. In dicsem Sinne, und nur in,lrnr, läßt sich der imposanten Begrüßung, nrit der im Jahre 1855

,1cr ungeschlachte Idcenmaler Antoine Wiertz der Pirotographieptgegenkam, auch heut loc| ein Sinl abgewir-rne,r-r. "Vor eili-

.ierr Jahrcn ist uns, der Ru[m unseres Zcitalters, cine Maschileilei)oren rvorden, die tagtäglich das Stautren ullsercr Gedlnken,urcl der Schrecken unserer Augen ist. F,he noch ein Jahrhundertrrpr ist, wird diese Maschine der Pinsel, die Palette, dic lrarben,

,lic Geschicklichkeit, die Erfahr:ung, die Geduld, die Behendig-i.rerr, die Trcffsicherheit, das Koiorit, die Lasur, das Vorbild,,lic Vollendung, der Extrakt der Malerci sein ... Glaube n-ran

rricht, daß die Daguerreotypie clie Kunst tijte ... Wcnn die

I ).rguerreotypie, dicses Riesenkind, hcrangcwachsetl sein wird;\\ cirn all seine Kupst und Stärke sich wird cntfaltet haben,

,i,rrrrr r.r'ird dcr Gcnius es plötzlich mit der Hand am Genick

;,.r.,1.,cn und laut rufen: Hierher! N{ir gehörst du jetzt! Wir wer-rit rr zusarrmen ;rrbciten.o Wie nüchtern, ja pessirnistisch dagegen

,iic Worte, in denen vier Jahre später im oSalon von 1859"

li rLrdelaire die ncue Tcchnik scinen Lesern ankündigt. Sie lassen

,rch s<.r rvenig wie die eben angefiihrten heute ohne cine leise

\lizcnn'ersclricbung mehr lesen. Aber indcm sie von jenen das(,eqcnstück sirrd, fiaben sie ihren guten Sinn behalten als schärf-

r,, Abrvchr rrller Usurpationen künstlcrischer Photographie. "In,liescn klägiichen Tagen ist cine neue Industrie hervorgetreten',iic nicfit *'enig daz.u beitrug, clie platte I)umrrrheit in ihrem

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Glar:ben zu bestärkcfl . . ., daß die Kunsr nichts anderes ist undscin hann als dic senaue Wieclergabe der Natur . . . I:in rächeri-schcr Gott hat die Stiinmc dicscr Menge erhört. Daguerre wardsein l{cssias.u LInd: ',Wird es dcr Photographie erlaubt, dieIr''unSt in eir-rigcn ihrcr Funktioncn z.u ergänz.er1, so wird dieseaisb:,irl virliig von ihr verdrängr und verderbt scin, dank dcrirati,irlichcn Bundesgcnossenschaft, dic aus dcr Menge ihr erwach-sen v.ird. Sie muß daher zu ihrer eigentlichen Pflicht zurück-hchren, die darin bestcht, dcr \Wissenschaften und der KünsteI)icnerin zu sein,..]jins abcr isc d:rn-rals von beiclen - \(/icrtz und Baudclaire -nicht crfaßt wordcn, das sind die Weisungen, die in der Authen-rizirät der Photographie liegen. Nicht immer wird es gelingen,nrit r:irrcr Reportage sie zu umgehen, deren Klischces nur dieWrrkunq h;rber, sprachliche im Bctrachter sich zu assoziicrcn.Jmmcr klcincr rvird dic Kamera, immer rnehr bereit, flüchtigeund gchcirlc ßildcr festzuhalten, deren Chock im Betrachtercicir Assoz.ierionsmccha'ismus zvm Stehc' bri.gt. An dieserStcllc hat dic Beschriftung einzusetzen, wclche die Photographieiicr Litcrarisicru'g ailer Lebensverhältnisse einbegreift, und ohneclie a"lle photographische Konstruktion im Ungefährcn steckcnblciben muß. Nichr urlsonsr hat man Aufnahmen von Atgetnrit dcnen cines Tatorts verglichen. Al'ter ist nicht jeder Fleckr.urscrcr Städte cin 'Iatorr? nicht ieder ihrer Passanten ein'l'dter? l-Iat nicht dcr Photograph - Nachfahr der Augurn undder Haruspexe - die Schuld auf seinen Bildern aufzudeckenuncl c]cn Schulcligcn zu bezeichnen? "Nicht der Schrift-, sondernJcr Photographicunkundige wird, so hat man gesagr, der Anal-phabct der Zukunft sein." Aber muß nicht weniger als ein Anal-phabet cin Photograph geiren, der seine eigenen Bilder nichtiescn kann? Wird die iJeschriftung nicht zum wesentlichstenBestrrndteil dcr Aufnahme werden? Das sind die Fragen, inrvclchcn der Abstand von neunzig Jahren, der die Fleutigen vonder Daguerreotypie trennt, seiner historischen Spannungen sichcntiridt. Im Schcine dieser Funken isr es, daß die ersren Photo-graphien so schön und unnahbar aus dem Dunkel der Groß-vätcrtage heraustreten.

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l:cluard Fuchs, der SammlerLrnd der Historiker