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Robert Hugh Benson Die Geisterbeschwörer Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen Von R. Ettlinger Verlagsanstalt Benziger & Co A.-G. Einsiedeln, Waldshut, Köln a. Rh., Straßburg i. Eif.

Benson, Robert Hugh - Die Geisterbeschwörer (German, Deutsch, Fantasy, Esoterik, Spiritismus)

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Robert Hugh Benson

Die Geisterbeschwörer

Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen

Von R. Ettlinger

Verlagsanstalt Benziger & Co A.-G. Einsiedeln, Waldshut, Köln a. Rh., Straßburg i. Eif.

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Alle Rechte vorbehalten

[Der in Fraktur-Schrift gesetzte Originaldruck von 1930 wurde in die Times (10 Pkt.) konvertiert.

Der Umbruch ist nicht seitenkongruent mit dem Original. Die neue deutsche Rechtschreibung, die seit 2006 Gültigkeit hat,

ist nicht berücksichtigt worden.]

März 2011

Erstes Kapitel

I.

„Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der from-

men Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäubchen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Gesichtsfar-be wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit beschäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevoller und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie uner-schütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Kon-flikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhn-lich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend — niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. —

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „er-schien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich ge-wesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charak-

ter sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwar-ten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindse-ligkeit hinzu.

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„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben

nachdenklichen Miene. „Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube

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nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon ab-riet, Priester zu werden, und ich glaube, dies entmutigte den armen Laurie.“

„Ich verstehe“, sagte das junge Mädchen kurz. Und Frau Baxter widmete sich wieder ihrer Handarbeit. Es war in der Tat eine recht schwere Zeit für die alte Dame. Sie war ei-

ne ruhige und heitere Seele, und es schien, als ob sie dazu verurteilt sei, be-ständig über einem Vulkan zu leben. Das machte einen so rührenden Ein-druck, wie wenn ein freundliches Kätzchen auf einem Gewehrstand schlafen will und gerade auf dem Sprung ist.

Der erste ernstliche Ausbruch hatte vor zwei Jahren stattgefunden, als ihr Sohn, damals in seinem dritten Jahre in Oxford, mit der Ankündigung zu-rückgekommen war, daß Rom die einzige würdige Stätte für seine empor-strebende Seele sei, und daß er binnen sechs Wochen in die katholische Kir-che aufgenommen werden müsse. Sie hatte kleine Schriften zu seiner Erbau-ung herbeigebracht, hatte pflichtschuldigst anglikanische Gottesgelehrte zu ihrem Beistand aufgeboten, aber alles war umsonst gewesen, und Laurie war als erklärter Proselyt nach Oxford zurückgekehrt.

Sie hatte sich bald an die Idee gewöhnt und sie sogar, als der erste Schrecken vorüber war, nicht allzusehr mißbilligt, zumal da ihre eigene Adoptivtochter, Margareta Marie Deronnais, die väterlicherseits von franzö-sischer Abkunft war, in demselben Glauben erzogen und eine durchaus ein-wandfreie Persönlichkeit war. Den nächsten Schrecken verursachte Lauries Ankündigung seiner Absicht, in den Priesterstand und vielleicht auch in einen Orden einzutreten; aber auch dieser Schlag wurde gemildert durch die Erwägung, daß in dem Falle Maggie dies Haus erben und dessen Traditionen in angemessener Weise fortpflanzen würde. Maggie war vor drei Jahren, als sie die Klosterschule verließ, — einer vor ihrer Mutter Tod getroffenen Ab-machung zufolge — zu Frau Baxter gekommen. Sie besaß ein hinreichendes Einkommen, und ihre Lebensweise, ihr vernünftiges Wesen, ihr Anpas-sungsvermögen, ihre Präsentationsfähigkeit hatten der alten Dame die Beru-higung beigebracht, daß der Katholizismus doch zu ertragen sei. Ja sie hatte sogar einmal gehofft, daß es zwischen Laurie und Maggie zu einem Einver-ständnis kommen würde, das allen Schwierigkeiten wegen der Zukunft sei-nes Hauses und seines Gutes vorbeugen konnte; aber der vierte vulkanische Ausbruch hatte nochmals die Welt in Stücke gerissen, die um Frau Bax-

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ters empfindliche Ohren flogen, und während der letzten drei Monate hatte sie die Aussicht ins Auge zu fassen gehabt, daß Laurie die ziemlich unge-bildete, hübsche, ein wenig stotternde, zarte und rosenwangige Tochter eines baptistischen Gewürzkrämers aus dem Dorfe als Frau ins Haus brin-gen werde.

Das war eine furchtbare Geschichte gewesen. Wie es bei einer gewissen Art junger Leute üblich ist, war Laurie mit dieser Amy Nugent zusammen-getroffen, hatte mit ihr gesprochen und sie schließlich, an einem Sommer-abend, als die Sterne am Himmel erschienen, auch geküßt. Aber mit einer in solchen Fällen nicht gewöhnlichen Ritterlichkeit hatte er sich auch ohne wei-teres aufrichtig in sie verliebt, mit einer Romantik, die sonst für passendere Neigungen aufgespart bleibt. Aus Lauries Worten schien hervorzugehen, daß Amy mit jeder Anmut des Körpers, des Geistes und der Seele begabt war, die man von einer zukünftigen Gebieterin des Herrenhauses verlangen konn-te; wie Laurie erklärte, war es keineswegs nur eine Liebelei; er sei nicht der Mann, sagte er, der sich eines hübschen Gesichtes wegen zum Narren ma-che. Nein, Amy sei ein seltenes Wesen, eine auf steinigem Boden erblühte Blume — auf sandigem Boden sei vielleicht der richtigere Ausdruck —, und es sei seine feste Absicht, sie zu seinem Weibe zu machen.

Dann folgten alle den Müttern so wohlbekannten Argumente, denn es war nicht wahrscheinlich, daß sogar eine Frau Baxter ohne Kampf ein Mäd-chen als Schwiegertochter annehmen werde, das noch vor fünf Jahren in der Kinderschürze vor ihr geknixt und mit recht großen Händen einen Korb voll Eier an ihre Hintertüre gebracht hatte. Dann hatte sie eingewilligt, das junge Mädchen zu sprechen, und die Unterredung im Garten hatte sie unglückli-cher gemacht denn je. (Dort hatte sich das Mißgeschick mit dem H ereignet.) Und so hatte der Kampf fortgedauert; Laurie hatte protestiert, getobt, ge-trotzt, seine Zuflucht abwechselnd zur Beredsamkeit und zu einer erhabenen Miene genommen, und seine Mutter hatte mit sanfter Beharrlichkeit Einwän-de erhoben, hatte stillgeschwiegen oder Gegengründe vorgebracht und Wi-derstand geleistet, Schritt für Schritt gegen das Unvermeidliche ankämpfend, ihren Sohn durch Leiden und ihren Gott durch Bitten zu gewinnen suchend, und dann mit eins, vor vier Tagen erst, schien es, als ob die Bitten den Sieg davongetragen hätten. Heute, um dieselbe Stunde, da die beiden Damen plaudernd im Empfangszimmer beisammensaßen, stand Laurie, das Herz von Kummer zerrissen, an einem offenen Grab im Dorfkirchhof und sah zwi-

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schen vier Brettern aus Ulmenholz, mit einer Messingplatte auf dem Deckel, zum letztenmal die Geliebte unter einer Fülle von Blüten, so rosa und weiß wie ihre Gesichtsfarbe.

Nun war eine neue Situation ins Auge zu fassen, und Frau Baxter sah ihr mit Besorgnis entgegen.

II.

Es ist wahr, daß Mütter zuweilen mehr von ihren Söhnen wissen als ihre Söhne von sich selbst; aber es gibt gewisse Seiten des Charakters, welche zuweilen weder von den Müttern noch von den Söhnen richtig beurteilt wer-den. Einige dieser Seiten zog Maggie Deronnais, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, nun in Erwägung. Es kam ihr sehr seltsam vor, daß weder der junge Mann selbst noch Frau Baxter die erstaunlich selbstsüchtige Handlungsweise ebendieses jungen Mannes empfand.

Sie kannte ihn nun seit drei Jahren, hatte aber durch ihren zeitweiligen Aufenthalt in Frankreich und seinen Aufenthalt in London nichts von dieser letzten Geschichte miterlebt. Zuerst hatte sie ihn außerordentlich gern ge-habt, er war ihr warmherzig, natürlich und großmütig vorgekommen. Seine Zuneigung zu seiner Mutter und die rückhaltlose Äußerung dieser Zunei-gung hatte ihr gefallen; ebenso sein gesittetes Benehmen, seine Art der Die-nerschaft gegenüber, seine von Herzen kommende Höflichkeit gegen sie selbst. Es gewährte ihr wahrhaftes Vergnügen, ihn Morgen für Morgen in seinen Kniehosen und seiner Norfolker Jacke oder in seinem leichten wol-lenen Anzug zu sehen, und Abend für Abend im Frack und weißen Hemd und in den kurzen Hosen und Schnallenschuhen, die er bei seinen künstleri-schen und romantischen Neigungen, einem unverkennbaren Zug seiner Na-tur folgend, in etwas herausfordernder Weise trug. Dann hatte sie allmählich seinen Egoismus erkannt, der noch augenfälliger war, seinen Eigenwillen, seine üble Laune, seine Hartnäckigkeit.

Obgleich sie natürlich seinen Übertritt zum Katholizismus gebilligt hatte, war sie doch nicht überzeugt, daß seine Motive ganz reine seien. Sie hatte al-lerdings gehofft, daß die Kirche mit ihrer wunderbaren Bestimmtheit zu sei-ner moralischen Bekehrung beitragen und eine Änderung seines künstleri-schen und intellektuellen Standpunktes herbeiführen werde. Aber dies war,

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wie es schien, nicht geschehen, und die letzte tolle Episode mit Amy Nugent hatte Maggies abfälliges Urteil in Entrüstung verwandelt. Romantik im all-gemeinen erschien ihr nicht tadelnswert — sie selbst lebte und webte darin —, aber es gab Dinge, die weit wichtiger waren, und sie war so aufgebracht über diese letzte Äußerung von Selbstsucht, als sie schicklicherweise sein konnte.

Denn das Schlimmste bei alledem war, daß Laurie, wie sie sich sagte, ein Ausnahmemensch war, keineswegs nur der junge Tor der Dichtung. Eine merkliche Männlichkeit war ihm eigen, er war bis zu einem gewissen Grade weichherzig und hatte mehr als gewöhnlichen Verstand. Es schien unerträg-lich, daß ein solcher Mann sich so töricht zeigte.

Sie fragte sich im stillen, wie der Kummer wohl auf ihn wirken werde. Am Abend zuvor war sie von Schottland gekommen und diesen Morgen hierher nach Hertfordshire; sie hatte ihn bis jetzt noch nicht gesehen, und eben war er bei dem Leichenbegängnis…

Nun, der Kummer würde eine Prüfung für ihn sein. Wie würde er sie bestehen?

Frau Baxter störte sie in ihren Betrachtungen. „Maggie, mein Liebling… Glaubst du, daß du etwas über ihn vermagst?

Du weißt, ich hoffte einst…“ Das junge Mädchen schaute plötzlich mit so erregter Miene auf, daß eine

Pause eintrat. Die alte Dame hielt inne. „Nun, nun“, sagte sie dann, „ist es denn ganz unmöglich, daß —“ „Bitte, frage nicht. Ich — ich kann nicht darüber sprechen. Es ist unmög-

lich — ganz unmöglich.“ Die alte Dame seufzte, dann sagte sie plötzlich, auf die Uhr über dem ei-

chenen Kaminsims blickend: „Es ist halb vorüber. Ich erwarte —“ Sie brach ab, als die Vordertüre der Halle geöffnet und wieder geschlos-

sen wurde, und wartete, ein wenig erbleichend, ob Schritte draußen auf den Fliesen ertönten; aber die Schritte verloren sich auf der Treppe, und wieder herrschte Stille.

„Er ist zurückgekommen“, sagte sie. „O, meine Liebe!“ „Wie wirst du ihm begegnen?“ fragte das junge Mädchen neugierig. Die alte Dame beugte sich wieder über ihre Stickerei. „Ich glaube, ich werde gar nichts sagen. Hoffentlich reitet er heute nach-

mittag aus. Willst du ihn begleiten?“

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„Ich glaube, nicht. Er wird niemand wollen. Ich kenne Laurie.“ Frau Baxter blickte sie von der Seite forschend an, und Maggie fuhr lang-

sam, aber in entschiedenem Tone fort: „Beim Frühstück wird er wunderlich sein. Dann wird er wahrscheinlich

allein ausreiten und zu spät zum Tee kommen. Dann, morgen —“ „O, meine Liebe, Frau Stapleton kommt morgen zum Frühstück. Glaubst

du, es wird ihm unangenehm sein?“ „Wer ist Frau Stapleton?“ Die alte Dame zögerte. „Sie — sie ist die Gattin von Oberst Stapleton. Sie vertritt das, was man,

glaube ich die ,neue Ideeʻ nennt, wenigstens sagte mir dies jemand im ver-gangenen Monat. Ich fürchte, sie ist nicht sehr stetig in ihrem Wesen. Im ver-gangenen Jahr war sie Vegetarierin, nun aber, glaube ich, ist sie wieder da-von abgekommen.“

Maggie lächelte gedankenvoll, dabei eine Reihe sehr weißer, starker Zähne zeigend.

„Ich verstehe, Tantchen“, sagte sie. „Nein, ich glaube nicht, daß es Laurie sehr unangenehm sein wird. Vielleicht wird er auch schon am Vormittag in die Stadt zurückkehren.“

„Nein, meine Liebe, er bleibt bis Donnerstag hier.“ Wieder trat jene angenehme Stille ein, die nur auf dem Lande möglich ist.

Draußen der Garten und die Wiesen jenseits der Dorfstraße lagen in dem sü-ßen, gedämpften, warm gefärbten Septembersonnenlicht, welches das Haus in Frieden einzuwiegen schien. Von der Meierei jenseits der Stallungen drang das Krähen eines Hahnes herüber und das sachte Girren einer Taube, die sich irgendwo oben zwischen den gewundenen Schornsteinen niederge-lassen. Auch innerhalb dieses Zimmers atmete alles Frieden. Auf dem Tisch und dem glatten Fußboden lag der Sonnenschein, begrenzt von dem Schatten der Fensterkreuze und da und dort mit farbigen Lichtern, welche durch die an den Scheiben hängenden kleinen flämischen Embleme und Wappen hervor-gezaubert wurden. An dem offenen Kamin saßen die beiden Frauengestalten, die in ihrer Gemütsruhe und Gelassenheit hier so vollständig an ihrem Platze waren, und dachten an das unfriedliche Element, verkörpert in einem schwarz-gekleideten jungen Mann mit bleichem, schmerzverzerrtem Gesicht, der eben die Treppe hinaufgegangen war.

Das Haus war eines von jenen, welche eine ebenso ausgesprochene, ge-

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heimnisvolle Persönlichkeit haben wie die eines Menschen. Es wirkte in ganz merkwürdiger Weise auf die Leute ein. Es trug Sorge für den gelegentlichen Gast, unterhielt ihn und tat ihm wohl und beschwichtigte ihn zuweilen, und es breitete über alle darin Lebenden einen unerklärlichen und zugleich hinrei-ßenden Zauber aus. Von außen war nichts Bemerkenswertes daran zu sehen.

Es war ein großes, im Viereck gebautes Haus, dicht an der Landstraße, aber durch ein eichenes Staket mit hohem Tor aus Schmiedeeisen und durch einen kurzen, geraden Gartenweg davon getrennt. Ursprünglich war es in frühgotischem Stil gebaut, aber es hatte eine Jahrhunderte währende Ent-wicklungszeit hinter sich. Die warme rote Backsteinfassade stammte aus der Zeit der Königin Anna, und ein Hintergebäude aus Backsteinen und Eichen-holz war auf moderne Art beworfen. Hinten schlossen alte Brauhäuser einen mit Kies bedeckten Hof beinahe vollständig ein. Hinter diesem lag ein großer Küchengarten, dessen von Buchs eingefaßte Wege ihn in zwölf Rechtecke teilten; von dem Obstgarten und der Eibenallee war er durch eine breite, dop-pelte Hecke getrennt, in deren Mitte sich ein schattiger Pfad hinzog. Rings um die Südseite des Hauses und auf einem schmalen Streifen nach Westen zogen sich große Rasenplätze hin, von hohen Bäumen umgeben, die es voll-ständig den Blicken der Bewohner des fünfzig Yards entfernten kleinen Dor-fes entzogen.

Im Innern war das Haus derart modernisiert, daß es beinahe auf das Ni-veau des Alltäglichen herabgesunken war. Von einem kleinen Vestibül ge-langte man links in das Speisezimmer und rechts in das Empfangszimmer, ein großes, prächtiges, von der Decke bis zum Fußboden getäfeltes Ge-mach, wo die beiden Damen jetzt saßen. Dem Eingang des Vestibüls gegen-über lagen das Rauchzimmer und die innere Halle, große Küchen- und Ne-benräume schlossen das Erdgeschoß ab. Von den beiden oberen Stockwerken bestand das erste aus einer Flucht von großen, luftigen, hohen und pompösen Zimmern, und das zweite aus Mansarden, einer Reihe niedriger, getünchter Kammern mit Fußböden aus Eichenholz und Dachfenstern, wo einige von der Dienerschaft in herrlicher Isolierung schliefen. Eine kleine Treppe mit re-gelmäßigen Stufen führte von dem großen Zimmer aus, wo die Haushälterin in ihrer Würde thronte, in den ersten Stock und zu den hintersten Zimmern in der Nähe der Küche und des Spülraumes.

Vom ersten Augenblick an, da Maggie dies Haus betrat, gewann sie es lieb. In ihrem französischen Kloster war sie vor den rauschenden Lustbarkei-

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ten der Welt und deren Versuchungen gewarnt worden, aber nachdem sie acht Tage in ihrem neuen Heim verbracht, schien ihr, daß man die Welt sehr verleumdet habe. Hier hatte sie eine Empfindung von Ruhe und Sicherheit, die sie sogar in der Schule kaum je gekannt, und nach und nach hatte sie sich hier mit Mutter und Sohn derart eingelebt, daß ihr die in London oder in den Häusern anderer Freunde verbrachten Tage nur wie unangenehme Unterbre-chungen und Störungen vorkamen, im Vergleich mit dem gemächlichen, be-hüteten Leben hier, wo sie so ungehindert lesen und beten, und wo sie ihren Seelenfrieden bewahren konnte. Der Liebeshandel Lauries war fast die erste Mahnung an das, was sie vom Hörensagen wußte, daß Liebe und Tod und Schmerz das Knochengerüst bilden, auf welchem das Leben seine äußere Form erhält.

Mit einer plötzlichen Bewegung beugte sie sich vor, ergriff den Blasebalg und begann die glimmenden Scheiter der Flamme anzufachen.

Unterdessen lag oben in seinem geräumigen Schlafzimmer, das zugleich Wohnzimmer war, auf einem großen Ruhebett am Kamin ein junger Mann regungslos auf dem Antlitz.

Noch acht Tage zuvor hatte er zu jenen Menschen gehört, die in beinahe jede Gesellschaft zu passen scheinen und gefallen und die vor allem sich selbst gefallen. Sein Leben war in der Tat ein sehr angenehmes gewesen.

Gerade vor einem Jahr war er von Oxford zurückgekehrt, entschlossen, die Dinge zu nehmen, wie sie waren, Bekanntschaften zu machen, ein wenig mit einem sympathischen Freund zu reisen, dann und wann in befreundeten Häusern Aufenthalt zu nehmen und sich seines Lebens zu freuen, bevor er sich dem Rechtsstudium ergab. Dies war ihm auch vollständig gelungen, und er hatte allem die Krone aufgesetzt, indem er sich an einem Juliabend, wie schon erzählt worden ist, in ein Mädchen verliebt hatte, das, seiner Überzeu-gung nach, die ihm für Zeit und Ewigkeit bestimmte Gefährtin war. In der Tat hatte sich sein Leben bis zu den letzten drei Tagen genau in der Weise gestaltet, die seinem Temperament am meisten entsprach. Er war der einzige Sohn einer Witwe, er hatte ein reichliches Einkommen, er erwarb sich überall Freunde, wohin er auch kam, und er hatte sich gerade eine reizende Woh-nung ganz nahe beim Temple gesichert. Er hatte viel Verstand, ein außeror-dentlich warmes Herz und war kürzlich zu einer Religion übergetreten, die seinen natürlichen Instinkten völlige Befriedigung gewährte. Diese Welt war die beste von allen möglichen Welten, und sie paßte ihm so gut wie seine ei-

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genen, gutsitzenden Kleider. Sie bestand für ihn aus Privilegien ohne Verant-wortlichkeit. Und nun war der Schlag gefallen alles war vorüber.

Als das Gong zum Frühstück rief, wandte Laurie sich um und blieb, zur Decke emporblickend, auf dem Rücken liegen.

Unter andern Umständen wäre sein Gesicht ein sehr anziehendes gewe-sen. Unter seinen braunen Locken, über denen ein Goldschimmer lag, schau-ten ein Paar graue, vor acht Tagen noch strahlende, nun von Tränen getrübte Augen hervor, um welche der Gram tiefe Linien gezogen hatte. Seine feinge-schnittenen, etwas leidenschaftlichen Lippen waren nun fest geschlossen, die Mundwinkel waren herabgezogen und drückten eine grimmige Selbstbeherr-schung aus, die Mitleid erregte, seine helle Gesichtsfarbe schien fleckig und matt zu sein. Noch niemals in seinem ganzen Leben hatte er sich von sol-chem Jammer etwas träumen lassen.

Während er hier lag, die Hände schlaff an der Seite, sie zuweilen in der Qual der Erinnerung fest an sich pressend, hatte er eine Vision nach der an-dern; dann und wann verlor er sich in die Betrachtung einer dunkeln Zukunft ohne wahres Leben, ohne Liebe und Hoffnung. Wieder sah er Amy, wie er sie zuerst an jenem hellen Juliabend gesehen, unter dem von glitzernden Ster-nen wie von Juwelen schimmernden Himmel, der im Westen, wo die Sonne strahlend untergegangen war, golden leuchtete. Sie trug einen leichten Som-merhut und ein Kattunkleid und kam ihm über die frischduftende Wiese ent-gegen, deren Gras und Blumen erst vor kurzem gemäht worden waren, und schaute ihn mit jener neugierigen, scheuen Bewunderung an, in der solch ei-ne entzückende Schmeichelei für ihn lag. Ihr Gesicht war gegen Westen ge-richtet, der leuchtende Widerschein des Abends lag verklärend darauf wie das Licht auf einer Blume, und ihre blauen Augen blickten ihn unter einem Heiligenschein von goldenen Haaren an.

Dann sah er sie wieder, wie er sie an einem mondhellen Abend gesehen, als die beiden beieinander an der Schleuse des Stromes standen, in der Stille des Waldes, unterhalb des Dorfes, ein Wunderland um sie her und in ihren Herzen. Sie hatte ein Tuch über ihren Kopf geworfen und sich auf abgelege-nen Pfaden, wie verabredet, hierhergeschlichen, um ihn zu treffen, als er, von all dem Glanz des Herrenhauses umwoben, im vollständigen Gesellschafts-anzug, in Schnallenschuhen und Kniehosen vom Mittagsmahl kam. Wie aber hatte sie damals ausgesehen — wie eine liebliche Nymphe aus Fleisch und Blut, vom Mondschein zu ätherischer Zartheit verklärt, mit der gesunden

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Blässe einer von der Sonne geküßten Haut, mit Augen, die wie Sterne unter ihrem Schal hervor ihn anschauten. Sie hatten sehr wenig gesprochen, dort am Schleusentor hatten sie gestanden, er hatte den Arm um sie gelegt, und sie hatte sich, wenn auch zitternd, zuweilen an ihn geschmiegt; sie blickten hinaus auf den schimmernden Spiegel des langsam dahinfließenden Stromes, von welchem sich in dem kaum wahrnehmbaren Lufthauch eine gespensti-sche Erscheinung nach der andern aus dem Wasserdunst erhob, um davonzu-treiben und sich in dem schlummernden Wald zu verlieren.

Und dann erinnerte er sich deutlicher als an alles andere, wie er sie an einem Augustmorgen, vor kaum drei Wochen beobachtet; er hatte das Ver-gnügen, sich zu zeigen, absichtlich hinausgeschoben, als sie wieder in ihrem leichten Sommerhut und im Kattunkleid auf dem sich am Hause hinziehen-den Weg dahergekommen war, während um sie der Tau auf Hecken und Grä-sern funkelte und der Nebel des Sommermorgens den tiefblauen Himmel ver-schleierte. Er hatte sie dann leise bei ihrem Namen gerufen, und sie hatte ihm ihr Gesicht zugewendet, das vor Liebe und Bangigkeit und plötzlicher Ver-wunderung glühte… Er erinnerte sich sogar jetzt mit einer Gedächtniskraft, die ihm alles fast wie wirklich vorzauberte, des Geruchs der Eibenbäume und der Gartenblumen.

Das also war ein Traum gewesen, und jetzt kam das Erwachen, das Ende! Das Ende war sogar schrecklicher gewesen, als er es an jenem entsetzli-

chen Freitagmorgen in der vergangenen Woche für möglich gehalten, wäh-rend er das Telegramm von ihrem Vater geöffnet hatte.

Niemals noch zuvor war ihm das Niedrige ihrer Umgebung so zum Be-wußtsein gekommen wie vor einer Stunde, als er am Grabe gestanden und seine Augen von dem langen, kastenartigen Sarg aus Ulmenholz mit der sil-bernen Platte und dem Blumenkranz zu den Leidtragenden auf der andern Seite des Grabes wanderten — zu ihrem in Tuch gekleideten Vater mit dem plumpen, glatten, vor Schmerz wunderlich verzerrten Gesicht; zu ihrer Mut-ter mit den roten, durch Tränen fleckigen Wangen, in ihrem ausgeklügelten Traueranzug mit dem widerwärtigen Krepp und dem mit Jett behangenen Mantel. Sogar diese Leute hatte er mit den Augen der Liebe betrachtet, er hatte gedacht, es seien einfache, biedere Menschen, Kinder dieses Bodens, aber gesund, natürlich und kraftvoll. Und nun, da das Juwel verloren war, war die Fassung leer, ja schlimmer als das, dort, in dem Ulmenkasten, lagen die Überreste des zerstörten Edelsteins… Am Sonntag hatte er sie auf ihrem

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Lager gesehen, ihr eingefallenes Gesicht, ihre hohlen Augen, alles einge-rahmt von dem starren Weiß der Leinwand und der Wachsblumen, aber den-noch ebenso rührend und ans Herz gehend wie je, und ebenso unentbehrlich für sein Leben. Dann kam ihm die Hauptsache, daß er sie verloren hatte, erst zum Bewußtsein — diese Hauptsache, welche ihm durch die Szene beim Lei-chenbegängnis am Morgen durch die unruhige Menge, welche gekommen war, um den jungen Squire zu sehen, durch den Kasten aus Ulmenholz, die Fülle von Blumen klarer und klarer geworden war — und die ihn nun auf dies Ruhebett geworfen hatte, niedergeschmettert, gebrochen und hoffnungs-los, wie junger Efeu nach einem Gewittersturm.

Seine Stimmung wechselte mit der Schnelligkeit dahinziehender Wolken. Einen Augenblick war er rasend vor Schmerz, im nächsten aus gleichem Grunde gebrochen und abgespannt. Im einen Moment tobte er, lästerte Gott in herausfordernder Weise und wünschte zu sterben, im nächsten sank er kraftlos zusammen wie ein gequältes Kind, während ihm Tränen über die Wangen liefen und ein Ächzen gleich dem eines Tieres sich seiner Kehle ent-rang. Gott war sein verhaßter Widersacher, ein unbarmherziger Richter… ein blindes Fatum… es gab keinen Gott… er war der böse Feind… nur Schmer-zen gab es auf der ganzen Welt und nichtigen Schein…

Doch zog sich durch all dies, wie ein immer wiederkehrender Grundton, sein Verlangen nach diesem Mädchen. Er wäre bereit gewesen, alles zu tun, alles zu ertragen, jedes momentane oder lebenslängliche Opfer zu bringen, wenn er sie nur wiedersehen, einen einzigen Augenblick ihre Hand halten und in ihre durch das Geheimnis des Todes so rätselhaften Augen hätte schauen können. Nur drei oder vier Worte hätte er ihr zu sagen gehabt, bloß um sich zu versichern, daß sie lebe und noch die Seinige sei, und dann… Dann würde er ihr zufrieden und glücklich Lebewohl sagen und warten, bis der Tod sie wieder vereinigen werde. Ach! Was er verlangte, war so wenig, und doch wollte Gott es ihm nicht gewähren.

Alles war also nur ein Possenspiel. Erst vergangenen Sommer hatte er sich eingebildet, in Maggie Deronnais verliebt zu sein. Es war ein Gefühl, das im stillen wuchs, sich langsam Woche für Woche entfaltete und sich von ihrer Gesundheit, ihrer Heiterkeit, ihrer ruhigen Kraft, ihren kühlen, ge-schickten Händen und von einem Blick in ihre klarblickenden Augen nährte; es war mehr Achtung als Leidenschaft, mehr Sehnsucht als Verlangen, es glich mehr dem Hunger als dem Durst. Dann war jenes andere, blendende

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und verwirrende Gefühl erwacht, und er sagte sich, er kenne jetzt den Unter-schied. Seine Lippen verzogen sich voll Bitterkeit und Groll, als er über die-sen Unterschied nachdachte. Und alles war dahin, vernichtet und verschwun-den, und auch Maggie kam nun nicht mehr in Frage.

Wieder wand er sich vor Schmerz und Sehnsucht, und so lag er nun hier. Zehn Minuten vergingen, ehe er sich wieder bewegte, und er raffte sich erst

auf, als er einen Schritt auf der Treppe hörte. Vielleicht war es seine Mutter. Er glitt von dem Ruhebett herab und richtete sich empor. Sein Gesicht trug

die Spuren davon, daß er darauf gelegen hatte. Er strich seine zerknitterten Kleider glatt. Ja, er mußte hinuntergehen. Er trat an die Türe und öffnete sie.

„Ich komme sogleich“, sagte er zu dem Diener. Beim Frühstück benahm er sich mit bemerkenswerter Selbstbeherr-

schung, obwohl er wenig oder nichts sagte. Seiner Mutter Gebaren fand er schwer zu ertragen, als er einmal oder zweimal ihren Augen begegnete, die ihn voll Mitgefühl anschauten; und er erlaubte sich, trotz seiner vorausgegan-genen Betrachtungen, sich zuweilen mit einer gewissen Erleichterung an Maggie zu wenden. Sie wenigstens ehrte seinen Kummer, sagte er sich. Sie betrug sich sehr natürlich, obwohl sie oft lange schwieg, und vermied es, sei-nem Blick zu begegnen. So bald als möglich entschuldigte er sich und schlich sich hinüber nach den Ställen. Wenigstens diesen Nachmittag wollte er allein sein. Als er aber eine halbe Stunde später wegritt, wurde er die schlanke kleine Gestalt seiner Mutter gewahr, die unter der Türe der Halle wartete, um, wenn möglich, mit ihm zu sprechen. Aber er biß die Zähne zu-sammen und tat, als ob er sie nicht sehe.

Es war einer jener vollkommen schönen Septembertage, die zuweilen wie ein Geschenk vom Himmel fallen, nachdem der Handel mit dem Sommer mehr oder weniger zu einem Abschluß gekommen ist. Als Laurie während des ganzen Nachmittags durch schmale Heckenwege und über Hochland ritt, wobei ihm die Aussicht gegen Norden immer von den großen, graublau vom strahlenden Himmel abstechenden Dünen oberhalb Royston versperrt wurde, war kaum das leiseste Zeichen einer andern Stimmung auf Erden oder am Himmel vorherrschend als Frieden. Doch gerade dieser Frieden peinigte ihn; er war wie ein Hohn. Die Vögel zwitscherten in dem dichten Gehölz, aus ei-nem Garten im Dorfe drangen heitere Kinderstimmen zu ihm, das sanfte Ta-geslicht lächelte ihm endlosen Segen zu, und doch schwand aus seinem Un-

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terbewußtsein niemals auch nur für einen Augenblick der lange Kasten aus Ulmenholz mit seinem Inhalt, dort, in dem erstickenden Dunkel, sechs Fuß tief unter dem Erdboden, in dem mit Gras bewachsenen Kirchhof auf dem Hügel oberhalb seines Heims. Dann und wann hätte er gern gewußt, welches das Schicksal des Geistes war, der jenen Körper beseelt und zu dem gemacht hatte, was er war; aber seine Einbildungskraft versagte hier. Was waren im Grunde alle Lehren der Theologie, so fragte er sich, als Worte, die herunter-geplappert wurden, um das entsetzliche Schweigen zu brechen! Himmel… Fegefeuer… Hölle. Was wußte man von diesen Dingen? Die Seele selbst —was war sie? Wie war im Grunde die unbegreifliche Umgebung für ein so unbegreifliches Ding?

Er bedurfte dieser Dinge nicht, sagte er sich, jetzt gewiß nicht — noch auch jener Anweisungen und Wegweiser in ein ungewisses, undenkbares Land. Er hatte Amy selbst nötig, oder wenigstens ein Zeichen, einen Ton oder Blick, der ihm zeigen konnte, daß sie in der Tat noch war, was sie immer gewesen, einerlei, ob nun auf Erden oder im Himmel, und daß es irgendwo etwas gebe, das sie selbst war, irgendein bestimmtes, persönliches Wesen, in dem das Bewußtsein fortdauert, das er gekannt hatte, noch cha-rakterisiert durch jene Anmut, die er, wie ihm schien, gewürdigt und si-cherlich geliebt. Ach! Er verlangte nicht viel! Es würde ja für Gott so leicht sein! Nur hieraußen, auf diesem einsamen Weg, wo er mit lose auf des Pfer-des Hals liegenden Zügeln unter den Baumästen dahinritt, während seine Au-gen, ohne etwas zu sehen, über Gebüsche und Wiesen, zu den nicht endenden Dünenhügeln schweiften, — ein für einen Augenblick erscheinendes Antlitz, lächelnd und wieder verschwindend; ein Flüstern in sein Ohr, mit jenem lieben, schüchternen Stammeln; eine Berührung seines Knies von jenen sich unablässig bewegenden Fingern, die er im Mondschein auf dem Schleusentor über dem mondbeleuchteten Strome leise hatte spielen sehen… Er wollte es niemand erzählen, wenn Gott wünsche, daß es geheim bleibe; er wollte es ganz für sich behalten. Er bat jetzt nicht darum, sie zu besitzen, er wollte nur gewiß sein, daß sie lebe, und daß der Tod nicht das sei, was er zu sein schien.

„Ist Father Mahon zuhause?“ fragte er, als er eine Meile von seinem ei-genen Heim im Dorfe haltmachte, wo die kleine Kirche kaum hundert Yards von ihrer älteren, ihr fremd gewordenen Schwester entfernt stand, die er und Maggie des Sonntags zu besuchen pflegten.

Die Haushälterin, welche auf der andern Seite des Zaunes Gemüse ein-

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sammelte, wandte sich um und bejahte. Er stieg ab, befestigte die Zügel an dem Türpfosten und trat ein.

Ach! Welch ein unangenehmes kleines Zimmer war das, worin er war-tete, während der Priester von oben geholt wurde.

Über dem Kaminsims hing ein großer Ölfarbendruck, ein Porträt Leos XIII. in Chorrock und Tiara, mit erhobener Hand Segen spendend und mit dem ewigen breitlippigen Lächeln; darunter standen ein paar Vasen mit ge-trockneten Gräsern, eine häßliche, übelriechende hölzerne Pfeife lag dazwi-schen. Die übrige Einrichtung war in demselben Stil: ein verblaßter, an der Türe abgenutzter Brüsseler Teppich bedeckte den Fußboden; wohlfeile Spit-zenvorhänge waren an den Fenstern befestigt, ein bemaltes Bücherbrett über dem unordentlich aussehenden Tisch enthielt ein Dutzend Bände, Andachts-bücher, Werke über Moral und dogmatische Theologie, und daneben hing ei-ne bunt ausgemalte Adresse in Goldrahmen.

Laurie betrachtete dies alles mit stummem Unbehagen. Er hatte es schon wieder und wieder gesehen, aber noch niemals zuvor hatte er einen solchen Widerwillen empfunden, wie er ihn jetzt aus der Tiefe seines eigenen Jam-mers heraus empfand.

War es wirklich wahr, daß seine Religion solche Ergebnisse haben konnte? Auf der Treppe ließ sich ein Schritt vernehmen — ein sehr schwerer

Schritt — und Father Mahon, ein großer, starker Mann mit rotem Gesicht, trat herein, das Zimmer mit seiner ganzen unätherischen Gegenwart füllend, und hielt ihm seine Hand mit einer gewissen Feierlichkeit hin. Laurie nahm sie und ließ sie wieder fahren.

„Setzen Sie sich, mein lieber Junge“, sagte der Priester und drängte ihn sanft zu einem mit Roßhaarstoff überzogenen Lehnstuhl. Laurie sträubte sich.

„Danke, Father, ich kann nicht bleiben.“ Er suchte in seiner Tasche und zog ein kleines, in Papier eingewickeltes

Paket heraus. „Wollen Sie eine Messe für mein Anliegen aufopfern, bitte?“ Und er leg-

te das Paketchen auf das Kaminsims. Der Priester nahm das Geld und ließ es in seine Westentasche gleiten. „Gewiß“, sagte er. „Ich glaube, ich weiß —“ Laurie wandte sich, leicht zusammenzuckend, ab. „Ich muß gehen“, sagte er. „Ich wollte nur einen kurzen Besuch ma-

chen —“

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„Herr Baxter“, sagte der andere, „ich hoffe, Sie gestatten mir zu sagen,

wie sehr —“ Laurie holte so rasch Atem, daß es wie ein Schmerzenslaut klang, und

schaute den Priester an. „Sie wissen wohl, was mein Anliegen ist?“ „Ei gewiß. Es ist doch für ihre Seele?“ „Ich denke“, sagte der junge Mann und entfernte sich.

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Zweites Kapitel

I.

„Ich habe es ihm mitgeteilt“, sagte Frau Baxter, als die beiden Damen ei-nes Morgens nach dem Frühstück unter den Eibenbäumen spazierengingen. „Er hat erwidert, er mache sich nichts daraus.“

Maggie sprach kein Wort. Sie war, wie sie ging und stand, ohne Hut her-ausgekommen, hatte ein in der Halle liegendes kurzes Messer ergriffen und war in diesem Augenblick stehengeblieben, um einen jungen Wegerich aus-zujäten, der sich mit unendlicher Mühe an der abschüssigen Seite des Pfades festgesetzt hatte. Sie arbeitete während einiger Sekunden daran, zog so viel wie möglich mit ihren starken Fingern heraus, warf die tote Pflanze unter den Efeu und ging dann weiter.

„Ich weiß nicht, ob ich etwas zu Frau Stapleton sagen soll oder nicht“, fuhr die alte Dame fort.

„Ich glaube, ich würde es nicht tun, Tantchen“, sagte das junge Mädchen bedächtig.

Sie sprachen einige Minuten darüber, während sie auf und ab gingen, aber Maggie war mit ihren Gedanken nicht vollständig bei der Sache.

Sie war am Morgen wie gewöhnlich zur Messe gegangen und sehr ver-wundert gewesen, Laurie schon in der Kirche zu finden; sie waren miteinan-der nach Hause gegangen, und zu ihrem Erstaunen hatte er ihr mitgeteilt, daß die Messe in seinem Anliegen gelesen worden sei.

Sie hatte ihm, so gut als sie vermochte, geantwortet, aber einige seiner Aussprüche, während sie sich ihrem Heim näherten, hatten sie etwas be-unruhigt.

Nicht als ob er etwas gesagt, was er als Katholik nicht hätte sagen sollen, aber ihr instinktives Gefühl flüsterte ihr zu, daß irgend etwas nicht in Ord-nung sei. Es war seine Art und Weise, sein Aussehen, wodurch sie sich beun-ruhigt fühlte. Welch seltsame Leute diese Konvertiten waren! Zu der einen Zeit zeigten sie so viel Eifer, zur andern so viel Kälte; jene gleichmäßige, all-

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tägliche Hinnahme religiöser Fakta, welche den geborenen Katholiken kenn-zeichnen, lag ihnen so fern.

„Frau Stapleton gehört zu den Leuten mit ,neuen Ideen̒ “, sagte sie. „So höre ich“, erwiderte die alte Dame mit einem Anflug von Unmut.

„Im vergangenen Jahr ist sie Vegetarianerin gewesen. Und ich glaube, vor fünf oder sechs Jahren eine Art von Buddhistin. Und dann vor kurzem wurde sie nahezu eine Christliche Gelehrte.“

Maggie lächelte. „Ich bin neugierig, worüber sie sprechen wird.“ „Sie wird hoffentlich nicht allzu extreme Ansichten äußern. Und du

meinst, es sei besser, ihr nichts über Laurie zu sagen?“ „Ich bin überzeugt davon“, antwortete das junge Mädchen, „sonst wird

sie ihm von ,tiefem Atemholenʻ oder ,Om*sagen̒ oder derartigen Dingen re-den. Nein, ich würde Laurie in Ruhe lassen.“

Es war kurz vor ein Uhr, als das Automobil an dem eisernen Tor anlangte und eine hohe, schlanke Frauengestalt in Hut und Schleier ausstieg und, wie Maggie von ihrem Schlafzimmer aus bemerkte, mit raschen Schritten den schmalen Pfad heraufkam. Das Automobil fuhr weiter, bog durch das Tor zur Linken ein und verstummte dann im Hof des Stalles.

„Es ist zu reizend von Ihnen, liebe Frau Baxter“, hörte Maggie, als sie einige Minuten später in das Empfangszimmer trat, die Fremde sagen, „mich hierher-kommen zu lassen. Ich habe schon soviel von diesem Hause gehört. Lady Laura hat mir gesagt, wie sehr hier alles mit der Psyche zusammenhängt.“

„Meine Adoptivtochter, Fräulein Deronnais“, bemerkte die alte Dame. Maggie sah bei der Begrüßung ein ganz hübsches, etwas verblühtes, drei-

eckiges Gesicht, mit schmalen roten Lippen, das den Blick auf sie richtete. „Ah! Wie edel all dies ist“, fuhr die Fremde, umhersehend, jetzt fort, „wie

anregend, wie bedeutungsvoll!“ Sie schlug ihren Mantel zurück, und Maggie bemerkte, daß sie sich mit

verschiedenen sehr schönen, kleinen Emblemen zu tun machte — mit einem Skarabäus, einer Schlange, die sich in den Schwanz biß, und derartigem —alles vortrefflich gearbeitet und an einer dünnen Kette aus einem grünen, Email –––––––––––– * Die Wiederholung des mystischen Wortes „Om“ ist eines der Mittel, durch welches indische Asketen ihre Seele mit der göttlichen Seele zu vereinigen suchen. Auch das willkürliche Beherr-schen des Atmens hängt mit solchen Bestrebungen zusammen. Anm. d. Ü.

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ähnlichen Material hängend. Unzweifelhaft war sie ein echter Typus. Als das Licht voll auf sie fiel, zeigte es sich, daß diese Seele aus einer andern Welt es nicht verschmähte, gewisse Toilettenkünste für ihr Gesicht anzu-wenden. Ein eigentümlicher, orientalischer Wohlgeruch entströmte auch ihrem Kleid.

Glücklicherweise hatte Maggie einen sehr ausgeprägten Sinn für Humor, und all dies ärgerte sie kaum. Ebensowenig, nachdem der herkömmliche Teil der Unterhaltung vorüber war, die taktvollen Anspielungen, welche die Da-me von Zeit zu Zeit darüber machte, daß das Christentum ausgespielt habe und daß ein höheres Licht aufdämmere. Frau Stapleton sagte dies nicht gera-dezu, aber es lief auf dasselbe hinaus. Sogar noch, ehe Laurie herabkam, zeigte es sich, daß die Dame nicht in die Kirche ging, daß sie aber — so großartig war ihre Denkungsart — gar nichts dagegen einzuwenden hatte, wenn andere hineingingen. Alles war doch nur eines und dasselbe in der tie-feren Einheit des Seins. Es war nicht wahr, daß es etwas für sich allein Be-stehendes gab, aber alles war sehr vielsagend und bedeutungsvoll und der symbolische Ausdruck von etwas anderem, wozu Frau Stapleton und wenige Freunde den Schlüssel hatten.

Frau Baxter machte mehrmals den Versuch, auf weltlichere Themen überzugehen, aber es war vergeblich. Wenn sogar das Wetter als Symbol dient, ist es um den einfachen Menschen geschehen.

Dann trat Laurie herein. Er sah an diesem Morgen sehr verschlossen und etwas bedrückt aus und

schüttelte der Dame die Hand, ohne ein Wort zu sagen. Hierauf ging man in das grün tapezierte Speisezimmer auf der andern Seite der Halle, und das vortreffliche Symbol des Frühstücks trat in die Erscheinung.

Wie es schien, gehörte Lady Laura zu jenen Leuten, welche den Reiz Stantons empfunden hatten, nur war es für sie eher ein psychischer als ein physischer, und all dies war auf ihre Freundin übergegangen. Es hatte den Anschein, daß die psychische Atmosphäre der meisten modernen Häuser von gelber Färbung war, aber daß von dieser ein goldbrauner Glanz ausging, wel-cher sehr eigentümlich und eine Ausnahme war. In der Tat war es diese Ei-gentümlichkeit, die Frau Stapleton veranlaßt hatte, um eine Einladung in dies Haus nachzusuchen. Mehr als einmal während des Frühstücks, wenn eine Pause im Gespräch eintrat, sah Maggie, daß sie den Kopf ein wenig zurück-warf, wie um irgendeinen Wohlgeruch oder eine Farbe recht zu würdigen,

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welche den Personen mit weniger feinen Nerven nicht zum Bewußtsein kommen. Einmal sprach sie dies auch aus.

„Die liebe Laura hatte ganz recht“, rief sie, „dies Haus ist einzig in seiner Art. Wie glücklich sind Sie, liebe Frau Baxter!“

„Der Großvater meines teuern Gatten hat es gekauft“, bemerkte die Her-rin des Hauses in schwermütigem Tone. „Wir haben es immer sehr friedlich und angenehm gefunden.“

„Sie haben recht! Und — und haben Sie irgendwelche Erfahrungen hier gemacht?“ Frau Baxter sah sie voll Bestürzung an. Maggie konnte kaum ein Lachen unterdrücken, wovon sich jedoch keine Spur in ihren regelmäßigen Gesichtszügen zeigte. Sie blickte auf Laurie, welcher mit bedrückter Miene sein Hammelfleisch aß.

„Ich sprach erst vergangene Woche Herrn Vincent, den großen Spiriti-sten“, fuhr die andere lebhaft fort. „Sie haben doch von ihm gehört, Frau Baxter? Ich wies ihn darauf hin, daß jeder Ort, wo man bedeutende Erregun-gen empfunden hat, die Farben und die Spuren davon trägt, wie alte Mauern die des Wetters. Auch hatte ich vor kaum sechs Wochen mit Kardinal New-man ein solch interessantes Gespräch über diesen Gegenstand.“ — Dabei lä-chelte sie Maggie in strahlender Weise an, wie um sie über ihre eigene Rechtgläubigkeit zu beruhigen.

Ein vielsagendes Stillschweigen trat ein. Frau Baxters Gabel sank auf ih-ren Teller herab.

„Ich begreife nicht“, sagte sie leise. „Kardinal Newman — gewiß —“ „Nun ja“, sagte die andere sanft. „Ich weiß, es klingt sehr abschreckend für

rechtgläubige Ohren, aber uns, den Vertretern der höhern Ideen, sind all diese Dinge ganz vertraut. Natürlich brauche ich wohl kaum zu sagen, daß Kardinal Newman nicht länger — aber vielleicht ist es besser, ich sage nichts mehr.“

Sie blickte schalkhaft auf Maggie. „O bitte, fahren Sie fort“, sagte Maggie heiter. „Mein liebes Fräulein Deronnais, werden Sie gewiß kein Ärgernis daran

nehmen?“ „Es freut mich immer, wenn mir ein neues Licht aufgeht“, sagte Maggie

feierlich. Die andere sah sie unsicher an, aber es lag keine Spur von Ironie in des

jungen Mädchens Gesicht. „Nun“, begann Frau Stapleton, „natürlich sieht man auf der andern Seite

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die Dinge von einem sehr verschiedenen Standpunkt an. Ich meine durchaus nicht, daß irgendeine Religion geradezu unwahr ist. O nein, man sagt uns, wenn wir ,das neue Lichtʻ nicht freudig begrüßen können, werde ,das alte Lichtʻ für jetzt vollständig genügen. Ja, wenn Katholiken zugegen sind, nimmt Kardinal Newman keinen Anstand, ihnen den römisch-katholischen Segen zu erteilen —“

„Ist es wahr, daß er mit amerikanischem Akzent spricht?“ fragte Maggie ernst. Die andere lachte schrill auf, mit etwas erzwungener Heiterkeit.

„Das ist zu schlimm, Fräulein Deronnais. Nun, natürlich wirkt die Per-sönlichkeit des Mediums auf den Zwischenträger ein, durch den die Mittei-lungen zustande kommen. Nichts Derartiges ist jedoch schwer zu fassen, wenn man die Hauptsache einmal begriffen hat.“

Frau Baxter fiel ihr ins Wort. Sie konnte das nicht länger ertragen. „Frau Stapleton, meinen Sie, daß Kardinal Newman in der Tat mit Ihnen

spricht?“ „Nun ja“, entgegnete die andere mit geduldiger Nachsicht. „Dergleichen

ist eine sehr häufige Erfahrung, aber Herr Vincent vermag noch viel mehr als das. Es ist eine ganz gewöhnliche Erfahrung, daß man ihn nicht nur sehen, sondern auch berühren kann. Ich habe ihm mehr als einmal die Hand ge-drückt… und ich habe gesehen, wie ein Katholik seinen Ring küßte.“

Frau Baxter blickte ratlos auf das junge Mädchen, und Maggie kam ihr nochmals zu Hilfe. „Dies klingt ziemlich fortschrittlich für uns“, sagte sie. „Wollen Sie nicht zuerst erklären, was dem allem zugrunde liegt?“

Frau Stapleton legte Messer und Gabel nieder, lehnte sich zurück und be-gann einen Vortrag zu halten. Als etwas später ihr Teller weggenommen wurde, wies sie den Nachtisch mit einer Handbewegung ab und fuhr fort.

Sie redete ununterbrochen ungefähr zehn Minuten lang, wobei sie sich selbst außerordentlich gut gefiel. Die andern aßen oder dankten für die Spei-sen in aufmerksamem Schweigen. Endlich kam sie zum Schluß.

„… Ich weiß, all dies muß denen, welche es noch nicht erfahren haben, ganz unsinnig und fanatisch erscheinen, und dennoch ist es für uns, die wir Jünger dieser Lehre sind, ebenso natürlich, mit unsern Freunden, die schon hinüber sind, zusammenzutreffen, wie mit denen, welche noch nicht hinüber sind… Liebe Frau Baxter, bedenken Sie, wie all dies das Leben erweitert. Es gibt keinen Tod mehr für die Wissenden. All diese Schranken sind entfernt; es ist gerade, wie wenn man von einem Zimmer in ein anderes ginge. Alle

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Wesen sind vereinigt in den Händen Allvaters“ — (Maggie erkannte hier das Strandgut der Christlichen Wissenschaft.) „O Tod!, wie Paulus sagt, wo ist dein Stachel? O Grab, wo ist dein Sieg?“

Frau Stapleton schaute mit einem strahlenden hilfsbereiten Blick auf die Gesichter ringsumher, verweilte einen Augenblick auf dem Lauries und lehn-te sich dann zurück.

Ein tiefes Schweigen folgte. „Wollen wir in das Empfangszimmer gehen?“ sagte Frau Baxter, sich er-

hebend, in mattem Tone. Auch ihr Gast erhob sich, wieder mit einem strah-lenden, nachsichtigen Lächeln, und schwebte hinaus. Maggie bekreuzte sich und sah Laurie an. Das Gesicht des jungen Mannes drückte halb Widerwil-len, halb Interesse aus, seine Augenlider senkten sich ein wenig und hoben sich dann wieder. Maggie folgte den andern nach.

II. „Ein schreckliches Weib“, bemerkte Frau Baxter eine halbe Stunde spä-

ter, als die beiden auf dem Gartenweg zurückgingen, nachdem ihnen Frau Stapletons fein behandschuhte Hand ermutigend über die Rückseite des stampfenden und hämmernden Automobils zugewinkt hatte.

„Ich vermute, sie ist überzeugt, daß sie das alles glaubt“, sagte Maggie. „Meine Liebe, diese Frau würde alles mögliche glauben. Ich hoffe, dem

armen Laurie ist es nicht allzu peinlich gewesen.“ „O, ich glaube, Laurie nahm es ganz richtig auf.“ „Es waren unglückselige Reden, die über den Tod und all das übrige…

Ei, hier kommt Laurie; ich glaubte, er sei ausgegangen.“ Der junge Mann kam ihnen um die Ecke des Hauses entgegen, den

Rest seiner Zigarette wegwerfend. Er trug immer noch seinen dunkeln An-zug, war barhäuptig, und nichts wies darauf hin, daß er die Absicht habe, auszureiten.

„Du bist also nicht ausgegangen, lieber Junge?“ bemerkte seine Mutter. „Noch nicht“, antwortete er und zögerte, während sie weitergingen. Frau Baxter bemerkte es. „Ich will gehen und mich fertigmachen“, sagte sie. „Der Wagen wird um

drei Uhr bereit sein, Maggie.“

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Als sie sich entfernt hatte, gingen die beiden zusammen hinaus auf den

Rasenplatz. „Was hältst du von jener Frau?“ fragte Laurie leichthin. Maggie blickte ihn an. Sein Ton war fast allzu leicht. „Ich halte sie für eine ganz schreckliche Frau“, erwiderte sie offen. „Du

nicht?“ fügte sie hinzu. „O ja, sie erscheint mir auch so“, sagte Laurie. Er zog eine Zigarette her-

aus und zündete sie an. „Du weißt doch, eine Menge Leute meinen, daß et-was daran sei“, sagte er dann.

„Woran?“ „Am Spiritismus.“ „Mag sein“, sagte Maggie. Ein Seitenblick zeigte ihr, daß Laurie sie

plötzlich scharf ansah. Sie selbst verabscheute das wenige, das sie von der Sache wußte, so ganz und gar und so aus tiefstem Herzen, daß ihr die Worte dafür fehlten. Neun Zehntel hielt sie für Betrug — wobei Perücken und indi-scher Musselin und Beleuchtungseffekte eine Rolle spielten — und das ande-re Zehntel, auch bei der großmütigsten Schätzung für eine der dunkelsten und schlechtesten Hintertreppengeschichten. Die prophetischen Ergüsse Frau Stapletons hatten Maggies Ansicht nicht geändert.

„Laurie“, sagte sie, „ich finde den Spiritismus ganz verabscheuungswür-dig. Ich gebe zu, daß ich nicht viel davon weiß, aber für das wenige, das ich weiß, danke ich.“

Laurie lächelte in etwas gönnerhafter Weise. „Nun“, sagte er in nachsichtigem Tone, „wenn du so denkst, hat es nicht

viel Zweck, darüber zu sprechen.“ „Allerdings nicht“, antwortete Maggie, den Kopf zurückwerfend. Viel mehr war nicht darüber zu sagen, und lautes Stampfen und Rufen im

Hofe veranlaßten das junge Mädchen, rasch ins Haus zu gehen. Während der Fahrt war Frau Baxter immer noch zu Klagen geneigt. Für

sie war es, wie Maggie bemerkte, eine versteckte Beleidigung, daß Dinge in ihrem Hause besprochen wurden, welche nicht zu ihrer eigenen Weltan-schauung zu passen schienen. Frau Baxter wußte ganz sicher, daß jede Seele, wenn sie diese Welt verläßt, entweder in jenen Ort eingeht, der von ihr Para-dies genannt wurde, oder in besonderen Ausnahmefällen an einen Ort, den sie nicht nennen mochte, und daß jeder dieser Orte in seiner eigenen Weise die Aufmerksamkeit seiner Bewohner vollständig absorbiert. Ferner hatte

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sich bei ihr die Ansicht festgesetzt, daß alle Mitglieder der geistigen Welt, je-ne Unglückseligen ausgenommen, eine Art von Anglikanern seien, mit einem zweifellos bedeutend erweiterten Geist, aber mit den ursprünglichen charak-teristischen Kennzeichen.

Geschichten wie die von Kardinal Newman waren daher ungemein widerwärtig und aufregend für sie.

Und auch Maggie hatte ihre eigene Theologie; auch ihr erschien es ganz unmöglich, daß Kardinal Newman im Empfangszimmer von Herrn Vincent verkehre, um Meinungen mit Frau Stapleton auszutauschen, aber sie war urwüchsiger in ihrer Antwort. Für sie war die Sache einfach nicht wahr, und sie war fertig damit. Sie fand es darum schwierig, dem Gedankengang ihrer Gefährtin zu folgen.

„Was sagte Frau Stapleton eigentlich?“ fragte Frau Baxter jetzt. „Ich habe ihre Ansichten über Materialismus nicht verstanden.“

„Ich glaube, sie nannte es Materialisation“, erklärte Maggie geduldig. „Sie sagte, wenn die Umstände sehr günstig seien und das Medium ein sehr gutes, so könne die Seele, welche sich mitzuteilen wünsche, sich selbst eine Art von Körper aus dem bilden, was sie den Astralstoff des Mediums oder der an der Sitzung Teilnehmenden nannte.“

„Aber unsere Körper sind doch sicherlich nicht so geartet?“ „Nein, ich denke das auch nicht. Aber sie sagte so.“ „Meine Liebe, bitte, erkläre es mir. Ich möchte diese Frau verstehen.“ Maggie runzelte ein wenig die Stirn. „Nun, das erste, was sie sagte, war, daß jene Seelen sich mitzuteilen wün-

schen, und sie beginnen dann gewöhnlich mit Tischklopfen, oder sie bewir-ken blaue Lichterscheinungen. Dann, wenn man weiß, daß sie da sind, kön-nen sie weiter gehen. Zuweilen erlangen sie Gewalt über das Medium, das in einem Trancezustand ist, und sprechen durch das Medium oder schreiben mit seiner Hand. Dann, wenn die Umstände günstig sind, fangen sie an, jenen Stoff an sich zu ziehen, und bilden sich daraus einen ganz dünnen und ätheri-schen Leib, so daß man mit der Hand hindurchfahren kann. Wenn dann die Umstände immer günstiger werden, gehen sie noch weiter und können diesen Leib so dicht machen, daß man ihn berühren kann. Nur ist dies zuweilen et-was gefährlich, da er noch einigermaßen mit dem Medium in Verbindung steht. Ich glaube, dies ist die Meinung.“

„Aber wozu dient das alles?“

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„Nun, siehst du, Frau Stapleton glaubt, daß es wirklich Seelen aus der an-

dern Welt sind, und daß sie uns allerlei Dinge darüber sagen können, auch über das, was wahr ist, und so weiter.“

„Aber du glaubst dies doch nicht?“ „Natürlich nicht“, sagte sie. „Wie erklärst du es dann?“ „Meiner Ansicht nach ist wahrscheinlich alles Betrug. Aber sicher weiß

ich es nicht. Auch scheint es mir nicht viel darauf anzukommen — —“ „Aber wenn es wahr wäre?“ Maggie zog lächelnd die Augenbrauen in die Höhe. „Liebes Tantchen, schlage es dir aus dem Kopf. Wie kann es wahr sein!“ Frau Baxters Mund zeigte einen möglichst strengen Ausdruck. „Ich werde den Vikar fragen“, sagte sie. „Wir können auf dem Rückweg

am Pfarrhaus anhalten.“ Sie hielt sich nicht oft im Pfarrhaus auf, da des Vikars Frau ganz und gar

nicht nach ihrem Sinne war. Die alte Dame war sehr stolz, und ihr schien zu-weilen, als ob Frau Rymer den Unterschied zwischen dem Herrenhaus und der Pfarrei nicht ganz begriffe. Insgeheim dachte sie mit Neid an die Einrich-tung des Zölibats in der römisch-katholischen Kirche; es war soviel leichter, mit einem geistlichen Ratgeber auszukommen, wenn man nicht Rücksicht auf dessen Frau zu nehmen hatte. Aber jetzt handelte es sich um eine An-gelegenheit, welche ein Geistlicher ein für allemal für sie feststellen mußte. So nahm sie eine etwas würdevolle Miene an, welche sie sehr gut kleidete, und nach vier Uhr fuhr der Wagen den kleinen steilen Weg hinauf, welcher zur Pfarrei führte.

III. Es war schon dämmerig geworden, als Laurie, planlos im Garten umher-

wandelnd, den Wagen vor dem Tore anhalten hörte. Er war wieder allein ausgeritten, und seine Gedanken hatten sich, wie zu

erwarten stand, fast ausschließlich mit der Dame beschäftigt, die kürzlich als Gast hier geweilt und mit ihren Ansichten ihn so sehr überrascht hatte. Er war ein intelligenter junger Mann und hatte sich durch die pseudomystischen Bemerkungen der Dame nicht beirren lassen. Doch lag in ihrer ungemeinen

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Sicherheit ein gewisses Etwas, das seine Wirkung auf ihn nicht verfehlte, gerade wie auch eine amüsante Andekdote, selbst wenn sie gegen den guten Geschmack verstößt, nicht verfehlt, beim Hörer ein sauersüßes Lächeln her-vorzurufen. Die Stellung, die er der Sache gegenüber einnahm, war die der Mehrzahl der Christen unter gleichen Verhältnissen. Nicht eine Minute lang glaubte er, daß diese Dinge buchstäblich zu nehmen seien und sich wirklich so verhielten, und doch war es schwierig, ein absolut ausschlaggebendes Ar-gument dagegen vorzubringen. Er wußte nur, daß sie ihm noch nicht begeg-net waren, daß sie mit der Erfahrung im Widerspruch zu stehen schienen, und daß ihre Vertreter gewöhnlich Menschen vom Schlage der Frau Sta-pleton waren.

Zweierlei Dinge jedoch waren Ursache, daß er jene Mitteilungen nicht vergessen konnte. Erstens das Gefühl seines Verlustes, seine eigene noch wie eine Wunde brennende Erfahrung von der unfaßbaren Leere, die der Tod mit sich bringt; zweitens das Verhalten Maggies. Wenn ein offenbar vernünfti-ges, sich selbst beherrschendes junges Mädchen ihre Überlegenheit zur Gel-tung bringt, kann es leicht dazu kommen, daß sie den jungen Mann, der sich in ihrer Gesellschaft befindet, so herausfordert und reizt, daß er ins feindliche Lager übergeht, wenn er nicht gerade verliebt in sie ist, — und zuweilen selbst dann noch. Waren die Beziehungen zwischen beiden einst noch inni-gere, so wird dies um so leichter geschehen.

Laurie war daher durchaus nicht in der geeigneten Stimmung, die Aus-sprüche des Vikars günstig aufzunehmen.

Sie wurden ihm gleich mitgeteilt, nachdem Frau Baxter ihre erste Tasse Tee aus Maggies Hand erhalten hatte.

„Herr Rymer sagt, es sei alles Unsinn“, fing Frau Baxter an. Laurie schaute auf. „Was?“ fragte er. „Herr Rymer sagt, der Spiritismus sei Unsinn. Er erzählte mir von einem

gewissen Eglingham, der einen Bart in der Reisetasche mit sich führte.“ „Eglington, meine ich. Tantchen“, warf Maggie ein. „Kann sein, mein Kind. Wie dem auch sei, es kommt auf eins heraus. Das

wußte ich im voraus.“ Mit nachdenklicher Miene nahm Laurie ein Stückchen Backwerk. „Meinst du denn, Mutter, Herr Rymer verstehe viel davon?“ „Mein lieber Junge, ich meine, er versteht so viel davon, als man davon

zu verstehen braucht. Überdies, wenn man es sich recht überlegt, wie wäre es

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möglich, daß Kardinal Newman in einem Salon erscheint? Besonders auch noch, da Frau Stapleton erklärt hat, er sei kein Christ mehr.“

Dies ließ eine doppelte und einigermaßen scherzhafte Auffassung zu, aber Laurie fand es nicht der Mühe wert, die humorvolle Seite zu betonen.

Statt dessen fragte er mit unschuldiger Miene: „Wie war das mit der Hexe von Endor?“ „O, das ist im Alten Testament“, erwiderte seine Mutter rasch. „Herr Ry-

mer hat darüber auch etwas gesagt.“ „So! War es nicht wirklich Samuel, der erschien?“ „Herr Rymer meint, daß damals Dinge zugelassen worden seien, die jetzt

nicht mehr gestattet sind.“ Laurie trank seine Tasse Tee aus. Es ist eine demütigende Erfahrung, daß

großer Schmerz die Betroffenen häufig verdrießlich macht. Laurie zeigte in diesem Augenblick deutliche Spuren von Verdrossenheit. Seine Nerven wa-ren aufs höchste gespannt.

„Nun, das ist ja recht bequem“, sagte er. „Maggie, weißt du, ob irgendein Buch über Spiritismus im Hause ist?“

Das junge Mädchen warf einen unsicheren Blick auf die Bücher neben dem Kamin.

„Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Doch ja, ich glaube, da oben steht etwas Derartiges. Ich meine es neulich gesehen zu haben.“

Laurie stand auf und trat vor die Bücherreihen. „Was für eine Farbe hat es?“ (Nein, danke, keinen Tee mehr.) „Ich… schwarz und rot, glaube ich“, sagte das junge Mädchen. „Ich erin-

nere mich nicht.“ Sie sah ihn mit einem leisen Unbehagen an, als er langsam ein Buch von

dem Schaft nahm und darin blätterte. „Ja, das ist es“, sagte er, „vielen Dank… Nein, ich möchte wirklich kei-

nen Tee mehr, danke, Mutter.“ Hierauf ging er mit seinen leichten, etwas langen Schritten auf die Türe

zu und verschwand. Sie hörten seine im Vestibül verhallenden Tritte. Dann wurde oben eine Türe zugemacht.

Frau Baxter schenkte sich zufrieden noch eine Tasse Tee ein. „Der arme Junge“, sagte sie. „Er denkt noch immer an jenes Mädchen. Ich

bin froh, daß er etwas gefunden hat, was seine Gedanken in Anspruch nimmt.“ Lauries Zimmer war das letzte im ersten Stock. Es war ein geräumiges

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Gemach mit zwei Fenstern und einem großen, offenen Kamin, und er hatte den Umstand, daß es ein Schlafzimmer war, geschickt zu verkleiden gewußt, indem er die Möbel so stellte, daß Bett und Waschgeräte durch einen Wand-schirm völlig verdeckt waren.

Der übrige Teil des Raumes bot das Bild eines hübschen Herrenzimmers mit einem großen Diwan quer vor dem Kamin, einem Schreibtisch und Stüh-len und einem tiefen Lehnsessel neben der Tür. Zwischen Tür und Fenster, der Wand entlang, lief ein breites, hohes Büchergestell, mit Werken aller Art, teils in schönen Lederbänden. Neben hübschen Bildern und Dekorationen an den Wänden war auch sein Ruder aus der Studentenzeit angebracht.

Maggie betrat das Zimmer nicht oft, und fast nie unaufgefordert, aber heute gegen sieben Uhr, eine halbe Stunde, ehe sie sich zum Diner ankleiden mußte, dachte sie, sie wolle ein paar Minuten zu ihm hineingehen. Sie war immer noch etwas in Unruhe um seinetwillen, ohne gerade zu wissen, war-um; es sei ja zu lächerlich, sagte sie sich, zu denken, ein junger, verständiger Mensch wie Laurie könne sich vom Spiritismus, dem gottlosen Unsinn, wie sie es nannte, ernstlich beeinflussen lassen.

Dennoch ging sie zu ihm hinein, indem sie sich sagte, Lauries Trauer ent-schuldige es, wenn sie ihm eine besondere Freundlichkeit erweise. Auch wollte sie ihn fragen, ob er wirklich beabsichtige, am Donnerstag in die Stadt zurückzukehren.

Zweimal klopfte sie an, ehe sie eine Antwort bekam, und dann hatte Lauries Stimme einen Klang, als ob es ihm an Atem fehle.

Er saß bolzengerade aufgerichtet auf der Kante des Sofas, mit zwei Ker-zen neben sich und dem Buch in der Hand. In seinen Augen lag ein gespann-ter Ausdruck tiefsten Interesses.

„Darf ich auf ein paar Minuten eintreten? Es ist beinahe Zeit zum An-kleiden“, sagte sie.

„O — ja — gewiß.“ Er erhob sich etwas steif, mit einem Finger die aufgeschlagene Seite des

Buches festhaltend, während sie sich setzte. Auch er nahm seinen Platz wie-der ein, und einen Augenblick herrschte Schweigen.

„Ei, du rauchst ja nicht“, sagte sie. „Ich dachte nicht daran. Ich will es aber jetzt tun, wenn es dir nicht

unangenehm ist.“ Als er seine Hand seitwärts nach einer Schachtel Zigaretten ausstreckte,

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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bemerkte sie, daß seine Finger leicht zitterten. Das Buch legte er weg, nach-dem er sich noch einmal die Seite angesehen hatte.

Nun konnte sie mit ihrer Frage nicht länger an sich halten. „Was denkst du davon?“ sagte sie, auf das Buch deutend. Er sog den Rauch ein und blies ihn wieder langsam aus. „Ich finde es höchst merkwürdig“, sagte er kurz. „Inwiefern?“ Wieder machte er eine kleine Pause, ehe er antwortete. Dann sprach er

langsam und bedächtig: „Wenn menschliches Zeugnis auch nur den geringsten Wert hat, so ereig-

nen sich solche Dinge wirklich.“ „Was für Dinge?“ „Daß die Toten wiederkehren.“ Maggie sah ihn an; sie war sich bewußt, daß er absichtlich eine gewisse

dramatische Kürze anstrebte. Mit gesuchter Aufmerksamkeit betrachtete er das Ende seiner Zigarette, und sein blasses Gesicht trug den entschlossenen Ausdruck, den sie früher schon ein- oder zweimal bei Gelegenheit einer häuslichen Szene an ihm wahrgenommen hatte.

„Willst du wirklich sagen, daß du daran glaubst?“ fragte sie, mit einem absichtlichen Anflug von Bitterkeit in der Stimme.

„Ja, ich glaube daran“, sagte er, „denn sonst —“ „Nun?“ „Denn sonst wäre menschliches Zeugnis ganz wertlos.“ Maggie verstand ihn sehr wohl, aber sie machte sich klar, daß dies nicht

der rechte Moment war, die Streitfrage auf die Spitze zu treiben. Sie legte wieder den Ton leiser Ironie in ihre Stimme.

„Du glaubst wirklich, daß Kardinal Newman in Herrn Vincents Salon kommt und an Tische klopft?“

„Ich glaube wirklich, daß es möglich ist, mit denen, die wir für tot halten, in Beziehungen zu treten. Natürlich muß jedes Beispiel für sich selbst den Beweis bringen.“

„Und Kardinal Newman?“ „Ich habe die Zeugenaussagen in Kardinal Newmans Fall nicht studiert“,

bemerkte Laurie im Fistelton. „Laß mich doch einmal das Buch ansehen“, bat Maggie, von einem plötz-

lichen Impuls getrieben.

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Er reichte es ihr hin, und sie begann darin zu blättern, verweilte ab und zu

bei einer besonderen Stelle und betrachtete einmal fast eine Minute lang eine Illustration. Das Buch schien in der Tat sehr interessant geschrieben zu sein, und sie las einige Beweisführungen, die sehr vernünftig dargestellt waren. Doch stieß es sie sonderbar ab; selbst das tote Papier und die Druckerschwär-ze waren ihr unangenehm in der Hand. Es kam ihr wie etwas Obszönes vor. Zuletzt warf sie es auf das Sofa.

Laurie wartete, aber sie sagte nichts. „Nun?“ fragte er endlich, ohne sie anzusehen. „Mir kommt es schrecklich vor“, sagte sie. Laurie machte sich mit seiner Zigarette zu schaffen. „Ist das nicht unvernünftig?“ fragte er. „Du hast es kaum angesehen.“ Maggie kannte diese Stimmung an ihm nur zu gut. Er sparte sie für Ge-

legenheiten auf, wenn er zum Kampf entschlossen war. Mit Beweisgründen richtete man dann nichts aus.

„Lieber Laurie“, sagte sie mit Anstrengung, „es tut mir leid; es mag ja un-vernünftig sein. Aber solche Sachen widern mich an. Das ist es eben… Ich kam aber nicht, um darüber zu sprechen… Sage mir —“

„Nicht?“ fragte Laurie. Maggie gab keine Antwort. „Nicht?“ wiederholte er. „Nun — ja — ich kam deshalb. Ich möchte aber jetzt nicht mehr dar-

über reden.“ Laurie lächelte in ostentativer Weise. „Nun, was wolltest du denn sagen?“ Er blickte absichtlich auf das Buch.

Maggie tat, als bemerkte sie es nicht. „Ich wollte nur sehen, wie es dir geht.“ „Wie meinst du das? Wie es mir mit dem Buche geht?“ „Nein, überhaupt.“ Er warf ihr einen kurzen, raschen Blick zu, und sie sah, wie groß sein

Schmerz noch war, trotz seiner Versuche, unbekümmerte Überlegenheit zur Schau zu tragen, trotz seiner höflichen Art ihr Widerpart zu halten und trotz seines gefaßten Gesichtsausdruckes. Sie fühlte plötzlich ein tiefes Mitleid mit ihm.

„O Laurie, es ist mir so leid um dich“, rief sie aus. „Kann ich denn nichts für dich tun?“

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„Nichts, danke, gar nichts“, erwiderte er gelassen. Wieder gewannen Schmerz und Mitleid die Oberhand in ihr, und sie ließ

alle Klugheit außer acht. Sie hatte es sich nicht klargemacht, wie lieb ihr dieser junge Mann war, bis sie wieder jenen Ausdruck in seinen Augen gesehen hatte.

„O, Laurie, du weißt, es war mir nicht recht, aber — aber es tut mir so leid, ich weiß nicht, was ich tun soll. Aber mache nicht alles noch schlim-mer“, setzte sie ungestüm hinzu, kaum wissend, was sie befürchte.

„Was meinst du?“ „Du weißt, was ich meine. Mache es nicht schlimmer, indem du dir aller-

lei Sachen einbildest.“ „Maggie“, sagte der junge Mann ruhig, „du mußt mich mir selbst über-

lassen. Du kannst mir nicht helfen.“ „Nicht?“ „Du kannst mir nicht helfen“, wiederholte er. Ich muß meine eigenen We-

ge gehen. Bitte, sprich nicht mehr davon. Ich kann es nicht ertragen.“ Totenstille trat ein. Dann faßte sich Maggie und stand auf. Auch er er-

hob sich. „Vergib mir, Laurie, willst du? Eines muß ich noch sagen. Denke daran,

daß ich immer alles tun werde, was ich vermag.“ Und hiermit verließ sie das Zimmer.

IV. Die Damen in Stantons gingen früh zu Bett. Punkt zehn Uhr hörte man

auf dem Vorplatz das Klirren der Schlafzimmerleuchter und dann das Schlie-ßen von Türen. Das war das Signal. Mit der Pünktlichkeit einer Kloster-schwester beim Ertönen des Glockenzeichens legte Frau Baxter ihre Stickerei aus der Hand und sagte nur die zwei Worte:

„Meine Lieben.“ Zuweilen erhoben die beiden am Spieltisch lebhaften Einspruch, aber in

neun Fällen von zehn hatte man das Spiel mit einem Blick auf die Uhr begonnen, und es gab selten eine Verzögerung. Frau Baxter küßte ihren Sohn und nahm Maggies Arm. Laurie folgte ihnen, gab ihnen ihre Leuchter in die Hand und nahm meist auch gleich den seinen.

Aber heute abend hatte man nicht Pikett gespielt. Laurie war länger als

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gewöhnlich im Speisezimmer geblieben und war dann, als er zu den andern ins Wohnzimmer kam, ruhelos auf und ab gewandert. Er blickte in eine Lon-doner Abendzeitung, schritt umher, verschwand wieder und kehrte erst zu-rück, als die Damen sich anschickten, das Zimmer zu verlassen. Er reichte ihnen ihre Leuchter und ging dann ins Wohnzimmer zurück.

Er war in der Tat viel verstörter und erregter, als selbst Maggie ahnte. Sie hatte ihn unterbrochen, als er das Buch halb durchgelesen, aber dann hatte er wieder ununterbrochen weitergelesen bis fünf Minuten vor dem Abendessen und war auch nachher zu der Lektüre zurückgekehrt. Jetzt war er damit zu Ende und wollte darüber nachdenken.

Das Buch hatte eine überraschend starke Wirkung auf ihn ausgeübt, um so mehr, als es ihn in einer Verfassung traf, in welcher seine Seele durch den Schmerz bis in die tiefsten Tiefen aufgewühlt war. Verdrossenheit, wie ich schon gesagt habe, war die psychologisch erklärbare Folge seiner Erregung, aber diese Erregung war darum nicht weniger vorhanden. Der Schaum des Schlagrahms ist immerhin auch Rahm.

Laurie hatte vollständig eingesehen, wie wenig Überzeugendes Frau Stap-leton vorzubringen wußte, und es war ihm nach dem Frühstück mit seinem mißbilligenden Achselzucken auf Maggies Befragen wirklich Ernst gewesen. Dennoch hatten die Bemerkungen jener Dame genügt, in seinen Gedanken-gang einen zündenden Funken zu werfen. Dieser Funke, während der Nach-mittagsstunden schwach weiterglimmend, war durch zwei Luftströmungen leicht angefacht worden: durch das Gefühl von Maggies Überlegenheit und durch ein schwaches Gefühl von Auflehnung, das seine Religion in ihm her-vorrief. Er hatte zwar diesen Morgen für Amy eine Messe lesen lassen, hatte dies aber mehr aus einem abergläubischen als einem religiösen Instinkt ge-tan. Er befand sich in der Tat in jenem Zustand religiöser Lauheit, der Neu-bekehrte nach ihrem Religionswechsel früher oder später befällt. Die treiben-de Kraft der alten Gedankenassoziation fehlt, und die Macht des Neuen ist geschwunden.

Man darf nicht vergessen, daß das einzige Gefühl, das Laurie unter alldiesen Regungen als intensive Wirklichkeit empfand, das Gefühl seines Ver-lustes der einzigen Seele war, in der die seine ganz aufgegangen. Sogar an diesem Nachmittag und ebenso schon gestern und heute morgen, als er wach lag, hatte er den unwiderstehlichen Drang gefühlt, ein Zeichen zu verlangen, einen Blick zu tun in das, was ihm jetzt verschlossen war.

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In solcher Stimmung las er das Buch; kein Wunder, daß es ihn aufregte. Denn hinter dem gemachten Mystizismus, neben den unerträglichen Ge-

schraubtheiten und der grotesken Parodie der Welt des Geistes, die es enthielt, — er erkannte all dies ganz klar — zeigte es ihm doch den Schim-mer einer Aussicht auf eine immerhin mögliche Hoffnung, die er sich nie hätte träumen lassen, eine auf jener halben Selbsttäuschung beruhende Hoff-nung, die für gewisse Charaktere etwas so Verführerisches hat.

Dieses Buch hier, von einem lebenden Menschen geschrieben, dessen Na-me und Adresse angegeben waren, enthielt sehr überraschende Geschichten und Theorien, die scheinbar untereinander und mit andern teilweise bekann-ten Tatsachen übereinstimmten, — Geschichten und Theorien, die überdies seinem vorherrschenden Wunsch so genau entsprachen, daß seine Ergriffen-heit nicht wundernehmen darf.

Natürlich waren ihm während des Lesens tausend Antworten und Ein-würfe in den Sinn gekommen — er dachte an Betrug, Lüge, Halluzinationen — und dennoch, eine Möglichkeit blieb übrig. Hier war die Rede von leben-den Männern und Frauen, die, mit normalen Sinnen und mit Vernunft begabt, kategorisch und ins Einzelne gehend, erklärten, daß sie an dem und dem Tag, an dem und dem Ort — nach Beobachtung aller möglichen Vorsichtsmaßre-geln gegen Betrug — Botschaften von Verstorbenen erhalten hätten — Bot-schaften, deren Bedeutung niemand verstand als sie selbst —, daß sie bei ge-nügendem Licht mit eigenen Augen die Züge geliebter Toter wirklich ge-sehen, daß sie sogar deren Hände gedrückt und einen Augenblick lang die Körper derer angefaßt hätten, die sie hatten sterben sehen und deren Begräb-nis sie beigewohnt.

Als die Schritte der Damen oben verhallt waren, ging Laurie an das fran-zösische Fenster, öffnete es und trat hinaus auf den Rasenplatz.

Er wunderte sich über die Wärme der Septembernacht. Der leichte Wind, der am Nachmittag frostig gewesen war, hatte sich mit einbrechender Dunkel-heit gelegt, und das Laubwerk hob sich regungslos gegen den Himmel ab. Er ging um das Haus herum unter die Eibenbäume und setzte sich auf eine Bank.

Hier war es dunkler als außen auf dem Rasen. Unter seinen Füßen lagen die weichen Nadeln, und als er, in Gedanken versunken, emporschaute, er-blickte er über sich zwischen den Zweigen hindurch einige glitzernde Sterne.

Es war eine milde, würzige Nacht. Kein Laut drang aus dem kleinen, aus wenigen Häusern bestehenden Weiler jenseits des Gartens herüber; auch das

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Herrenhaus hinter ihm lag in tiefer Stille da. Das Licht in einem der Fenster des ersten Stockwerkes erlosch, während er hinschaute, wie die Seele in ei-nem Körper; einmal zirpte ein schläfriger Vogel in den Sträuchern seinen Kameraden zu und verstummte wieder.

Während er sich noch an allerlei Argumenten abarbeitete, eins dem an-dern gegenüberstellte, eins gegen das andre abwog, wurde er von seinen Ge-fühlen wie von einem unwiderstehlichen Strom fortgerissen. Alles Überlegen hörte auf. Der einzige Gedanke beherrschte ihn: Amy sehen oder sterben.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — Es währte fünf oder sechs Minuten, bis sich der Zustand, den seine plötz-

liche Leidenschaft hervorgerufen, seine geballten Hände, seine straff angezo-genen Muskeln sich lösten.

Während dieser Minuten hatte er seinen ganzen Willen auf den einen Ge-danken gerichtet gehabt: sie möge ihm erscheinen, hier und sofort in der war-men, würzigen Dunkelheit, den Blicken aller verborgen — in der süßen Stil-le, bei welcher der Schlaf Wache hielt. Derartiges war schon vorgekommen, mußte schon vorgekommen sein, denn der Wille und die Liebe eines Men-schen sind die am mächtigsten wirkenden Kräfte der Schöpfung. Sicherlich war derartiges wieder und wieder vorgekommen; es mußte irgendwo in der Welt immer wieder Menschen gegeben haben, die die Toten zurückgerufen, — ein leise im Dunkeln schluchzender Gatte, ein nach seiner Mutter jam-merndes Kind; sicherlich war es im Lauf der Zeiten vorgekommen, daß durch die Kraft des Willens die teure Persönlichkeit, die alles war, was der Himmel gewähren konnte, zurückgerufen worden war und sich in irgendeiner den Anschein des Lebens tragenden Gestalt verkörpert hatte. Derartiges muß-te geschehen sein — nur war das Geheimnis streng bewahrt worden.

Der junge Mann hatte mit der ganzen Kraft seines Willens so gewollt, und dennoch war das Dunkel leer geblieben; kein Schatten, kein noch so schwach umrissenes Antlitz war auch nur für einen Augenblick zwischen ihn und den Stern getreten, an dem sein Blick haftete; keine Hand hatte seine Schulter berührt, kein Flüsterton war an sein Ohr gedrungen. Als er hier in der Stille mit der ganzen Kraft seines Willens darnach strebte, hatte es ge-schienen, als müsse etwas geschehen, als könne konzentrierter, intensiver Kraft keine Grenze gesetzt sein. Dennoch war nichts erfolgt…

Einmal hatte ihn ein Schauder überlaufen, und selbst der Schauder der Furcht barg noch ein Gefühl süßer, zitternder Erwartung. Dennoch war nichts erfolgt.

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Lauries gespannte Muskeln lösten sich, und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, und nun fiel ihm das Buch wieder ein, das er gelesen, und Frau Stapletons selbstbewußte, aufgeregte Meinungen.

Eine halbe Stunde später hörte ihn seine horchende Mutter an ihrem Zim-mer vorübergehen.

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Drittes Kapitel

Lady Laura Bethel, eine unverheiratete Dame, war soeben mit ihrer teu-ersten Freundin, Frau Stapleton, in ihr Haus in Queen̓ s Gate zurückgekehrt, um während einiger Tage psychische Orgien zu feiern. Ebensooft wie in manchem andern in London waren in ihrem Hause die modernen Propheten zu treffen — streng aussehende Frauen in unförmigen Kleidern, geringe und vornehme Männer mit langen Haaren und in langen Mänteln. In ihrem Emp-fangszimmer wurde denen, die Fragen stellen wollten, Tee mit Königinkeks aufgewartet; wenn die Feierlichkeiten vorüber waren, las man Schriften und diskutierte darüber.

Lady Laura selbst war noch nicht vollständig emanzipiert von dem, was ihre Freunde zuweilen die Sterbekleider der sogenannten Offenbarung nannten. Ihr schien es eine tiefe Wahrheit zu sein, daß die Dinge gleichzei-tig wahr und unwahr sein könnten — was, nach ihrer Art sich auszudrük-ken, auf dieser Seite Wirklichkeit sein mochte, mochte auf der andern Lüge sein. Sie war daher gewohnt, des Morgens in der Allerheiligenkirche in Carlton Gardens ihre Andacht zu verrichten, und des Abends Empfangs-zimmer oder Versammlungssäle für Spiritisten zu besuchen und ihrenFreunden zu erklären, wie schön die eine Ansicht die andere beleuchte und erläutere.

Übrigens war sie eine kleine Frau mit hellen Haaren, schön gezeichneten, dunkeln Augenbrauen, einer kleinen Adlernase, trug ein goldenes Pincenez und war äußerst geschmackvoll gekleidet.

An diesem Dienstagabend, acht Tage nach Frau Stapletons Besuch in Stantons, saßen die beiden im Empfangszimmer des Hauses in Queenʼs Gate bei Überresten, die einem Fünf-Uhr-Tee entsprachen. Ich sage „entspra-chen“, weil beide genügend vorgeschritten waren, um völlig auf Tee zu ver-zichten. Frau Stapleton nahm ein wenig heißes Wasser aus einer kupfernen Kanne, ihre Wirtin ein wenig gekochte Milch. Ihre Plasmonbiskuite teilten sie miteinander. Diese Dinge wurden als wichtig für diejenigen betrachtet, welche mit Erfolg das höhere Licht suchen wollten.

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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In diesem Augenblick sprachen sie über Herrn Vincent. „Meine Teuerste, er kommt mir so verschieden von den andern vor“, mi-

aute Lady Laura. „Er ist ein richtiger Mann, weißt du. Jene andern sind oft ganz und gar nicht wie Männer, sie tragen so possierliche Kleider und ma-chen sich das Haar so wunderlich.“

„Liebes Herz, ich weiß, was du meinst. Ja, an James Vincent ist etwas. Sogar der liebe Tom war beinahe höflich gegen ihn; die andern konnte er nicht ausstehen, er sagte, es komme ihm immer vor, als ob sie ihm schmei-cheln wollten.“

„Und dann die Macht, die ihm verliehen ist“, fuhr Lady Laura fort —„seine Macht erscheint mir jedesmal größer. Der Magnetismus zeigt sich da-bei in so offenkundiger Weise.“

Frau Stapleton trank ihr heißes Wasser aus. „Wir gehen doch am Sonntag?“ sagte sie in fragendem Ton. „Ja, es ist nur eine kleine Gesellschaft. Und er kommt morgen, wie du

dich erinnern wirst, hierher, damit wir miteinander reden können. Ich habe einen Geistlichen, den ich kenne, aufgefordert, ihn bei mir zu treffen. Es ist, wie mich dünkt, so schade, daß unsere Religionslehrer so wenig von dem wissen, was vorgeht.“

„Wer ist es?“ „O, Herr Jamieson… ein junger Geistlicher, mit dem ich im Sommer zu-

sammengetroffen bin. Ich versprach, ihn wissen zu lassen, wann Herr Vincent das nächste Mal zu mir komme.“

Frau Stapleton ließ ein Murmeln der Befriedigung hören. Die beiden hatten in der Tat auch außer ihrem Glauben viel Gemeinsa-

mes. Freilich war Frau Stapleton vierzig und ihre Freundin nur einunddreißig Jahre alt, aber jene tat alles mögliche, um durch geschickte Toilettenkünste dies auszugleichen. Beide waren gewohnt, sich in weiche Stoffe zu kleiden und lange Ketten mit verschiedenen Emblemen zu tragen; sie machten ihr Haar auf gleiche Art, sie pflegten in den gleichen Tönen zu sprechen, in einer schnurrenden, miauenden Weise, die an impulsive Kätzchen erinnert. Beide hatten die Leidenschaft, Proselyten zu machen. Aber sonst waren sie ver-schieden. Außer den kätzchenhaften Eigenschaften besaß Frau Stapleton noch eine Menge anderer. Sie war sehr wohl imstande, öffentlich zu spre-chen; sie hatte einige wirklich gut geschriebene Artikel in verschiedenen be-deutenden Zeitschriften veröffentlicht, und sie besaß eine Willenskraft, die

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über das gewöhnliche Maß hinausging. Da, wo Lady Laura anfing zu bitten und zu besänftigen, fing Frau Stapleton an, sozusagen das Feld für das Tref-fen kampfbereit zu machen, sich eifrig, ja sogar beredt zu zeigen. Sie hielt den lieben Tom, den Obersten, nie für niedergeschmettert oder geschlagen, denn das wäre über menschliche Macht hinausgegangen, aber sie wußte, daß er sich stillschweigend in ihr Programm fügte. Er gestattete ihr sogar, ihre prophetischen Freunde dann und wann auf seine Kosten zu unterhalten, und enthielt sich, wenn er unter andern Männern war, der allzu bitteren Reden. Die Freunde des Obersten pflegten zu sagen, die Frau Oberst wisse ihre Zun-ge gut zu gebrauchen. Jedenfalls regierte sie ihr Haus gut und tat ihre Pflicht, und nur während eines Aufenthaltes ihres Gatten in Schottland erlaubte sie sich eine Erholung von acht oder vierzehn Tagen unter den Erleuchteten.

Ungefähr um sechs Uhr kündigte Lady Laura ihre Absicht an, sich zu ihrer abendlichen Meditation zurückzuziehen. Von ihrem Schlafzimmer gelangte man in ein kleines Ankleidekabinett, das sie zu jenem Zwecke mit all dem Viel-sagenden ausgestattet hatte, was die „höheren Ideen“ kennzeichnet, mit sinn-bildlichen Ornamenten von wenigstens drei Religionen, außerdem mit einem Betstuhl und mit einem bequemen Lehnsessel. Hier war sie gewohnt eine Stunde vor dem Mittagessen zu verbringen, machte sich mit geschlossenen Augen von den Fesseln der Sinne frei und erhob sich zur richtigen Schätzung des Nichts-seins, das alles ist, aus dem alles kommt und zu dem alles zurückkehrt.

„Ich muß gehen, meine Teuerste, es ist Zeit.“ Es klingelte an der Türe, und sie hielt inne. „Glaubst du, daß es Herr Vincent sein kann?“ fragte sie in scherzhafter

Besorgnis. „Es ist nicht der richtige Tag, aber man kann es nie wissen.“ Ein Diener trat ein. „Herr Baxter, Mylady… Empfangen Euer Gnaden?“ „Herr Baxter —“ Frau Stapleton erhob sich. „Laß mich an deiner Stelle mit ihm sprechen, meine Teuerste… Erinnerst

du dich?… von Stantons.“ „Ich möchte wissen, was er wünscht“, murmelte ihre Gastgeberin. „Ja,

sprich du mit ihm, Maud, du kannst mich jederzeit rufen, wenn es sich um et-was Besonderes handelt.“

Damit ging sie. Frau Stapleton sank wieder auf einen Stuhl, und einen Augenblick später schüttelte Laurie ihr die Hand.

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Sie war es gewohnt, mit jungen Leuten umzugehen, und sie hatte durch lange Erfahrung gelernt, wie man ihnen schmeichelt, ohne daß es so aussieht. Mit Lauries Art war sie indessen weniger vertraut. Sie zog jene jungen Leute vor, die ihr Haar lang wachsen lassen, umgeschlagene Kragen tragen und die hoffnungslose Banalität aller Rechtgläubigkeit entdeckt haben. Sie hatte so-gar dann Nachsicht mit ihnen, wenn sie sich selbst unmoralisch nannten. Sie erinnerte sich Lauries, des jungen Mannes, welcher bei jenem Frühstück in der vergangenen Woche so schweigsam gewesen war, sie hatte sogar mit La-dy Laura von ihm gesprochen und eine zum Teil richtige Auskunft über jenes junge Mädchen aus dem Dorf erhalten. Auch wußte sie, daß er Katholik war.

Sie reichte ihm die Hand, ohne sich zu erheben. „Lady Laura bat mich, sie bei Ihnen zu entschuldigen, Herr Baxter. Die

Wahrheit zu sagen, sie ist zu Hause und soeben, ihrer Meditation wegen, nach oben gegangen.“

„Wirklich!“ „Ja, wissen Sie, wir halten das für ebenso wichtig wie Sie. Setzen Sie

sich, Herr Baxter. Haben Sie schon Tee getrunken?“ „Ja, danke.“ „Ich hoffe, sie wird herabkommen, ehe Sie wieder gehen. Ich glaube nicht,

daß sie heute abend sehr lange dabei verweilen wird. Kann ich ihr eine Botschaft ausrichten, Herr Baxter, im Falle Sie sie nicht mehr sprechen sollten?“

Laurie legte sorgfältig Hut und Stock weg und schlug die Beine überei-nander.

„Nein, ich danke“, sagte er. „Ich bin teilweise gekommen, um Ihre Ad-resse ausfindig zu machen.“

Frau Stapleton machte eine Bewegung, daß ihr Kleid raschelte, und nahm dann wieder ihre frühere Haltung an.

„O! Aber das ist reizend von Ihnen“, sagte sie. „Handelt es sich um etwas Besonderes?“

„Ja“, erwiderte Laurie langsam, „wenigstens scheint es mir etwas Beson-deres zu sein. Es handelt sich um das, worüber Sie kürzlich sprachen.“

„Wie hübsch ist es von Ihnen, dies zu sagen. Wissen Sie, während wir darüber plauderten, war ich etwas verwundert. Nun sagen Sie mir genau, was Ihnen auf dem Herzen liegt, Herr Baxter.“

Frau Stapleton hatte eine höchst angenehme Empfindung und war sichderen bewußt. Gewöhnlich hatte sie diese Art von Männern sehr schwer von

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Begriff und plump gefunden. Laurie schien völlig unbefangen zu sein, war in passender Weise gekleidet und war so präsentationsfähig, wie es gewöhnlich nur Philister zu sein pflegen. Sie beschloß ihr Bestes für ihn zu tun.

„Darf ich ganz offen sprechen?“ fragte er, ihr gerade ins Gesicht schauend. „Bi tte, bitte“, sagte sie mit jenem Anflug kindlicher Teilnahme, welche in

den Augen ihrer Freunde so unschuldig und schön war. „Es verhält sich so“, sagte Laurie, „all diese Dinge waren mir immer

mehr zuwider, als ich sagen kann. Sie schienen mir so — nun — so unzu-länglich, wissen Sie; und dann, ich bin Katholik, sehen Sie, und somit —“

„Nun?“ „Nun, ich habe Stainton Moses gelesen und einige andere Bücher, und

ich muß sagen, daß furchtbar viel davon mir noch wie großer Unsinn er-scheint; und dann ist auf diesem Gebiet viel Betrug im Spiel, nicht, Frau Stapleton?“

„Leider! Ja!“ „Aber dann weiß ich nicht, was ich aus den noch übrigbleibenden Bewei-

sen machen soll. Mir scheint, wenn ein Zeugnis überhaupt etwas wert ist, muß es doch auf etwas Wirklichem beruhen. Und dann, wenn es so ist, wenn es wirklich wahr ist, daß man mit Verstorbenen in Verbindung treten kann, — ich meine in eine wirkliche und wahre, so daß kein Zweifel darüber herrscht — nun, das scheint mir zu den wichtigsten Dingen in der Welt zu gehören. Wissen Sie, wie ich das meine?“

Sie richtete einen Moment ihre Augen auf sein Gesicht. Offenbar war er erregt; sein Gesicht sah im Lampenlicht etwas bleich aus, und seine Hände waren über dem Knie so fest zusammengepreßt, daß die Knöchel weiß wur-den. Sie erinnerte sich der Bemerkungen Lady Lauras über das Dorfkind und begriff alles. Aber sie fühlte auch, daß sie jetzt noch keinen Versuch machen dürfe, auf vertrauten Fuß mit diesem jungen Mann zu kommen, da er es un-angenehm empfinden würde. Zudem war sie klug genug, an seinem Beneh-men zu merken, daß sie ihm ganz und gar nicht gefiel.

Sie nickte ein- oder zweimal gedankenvoll. Dann wandte sie sich mit ei-nem strahlenden Lächeln zu ihm. „Ich verstehe Sie vollständig“, sagte sie. „Darf auch ich ganz offen mit Ihnen reden? Ja? Nun, ich bin so froh, daß Sie sich ausgesprochen haben. Natürlich sind wir ganz daran gewöhnt, daß man uns mißtraut und uns fürchtet. Im Grunde ist es das Privilegium aller Wahr-heitsucher, zu leiden; nicht? Nun, ich will Ihnen meine innersten Gedanken

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sagen. Erstens haben Sie ganz recht, daß einige unserer Mitarbeiter zuweilen unehrlich sind. Sie haben sich Blößen gegeben, Herr Baxter, ich selbst habe dies bei mehr als einem gesehen. Aber das ist natürlich, nicht? Ei, es gibt auch schlechte Katholiken, oder nicht? Und im Grunde sind wir nur Menschen, und die Versuchung, die Leute nicht enttäuscht fortzuschicken, ist zuweilen groß. Ich vermute, Sie haben von solchen Geschichten gehört, Herr Baxter?“

„Ich habe von Herrn Eglington gehört.“ „Ach! Der arme Willy… Ja, aber er hatte große Fähigkeiten bei alle-

dem… Nun, aber die Hauptsache, worauf es Ihnen ankommt, ist doch: Ist wirklich Wahrheit in alledem enthalten? Ist es das?“

Laurie nickte, sie unverwandt anblickend. Sie beugte sich vor. „Herr Baxter, bei allem, was mir heilig ist, versichere ich Ihnen, daß ich

selbst meinen eigenen Vater, der vor zwanzig Jahren hinüber ist, gesehen und berührt… berühr t habe. Ich habe Botschaften von seinen eigenen Lippen erhalten... und auch andere Mitteilungen über Angelegenheiten, die nur ihm und mir bekannt sind. Ist das genügend?

Nein“ — sie hielt ihre zarte Hand, Stillschweigen gebietend, empor —, „nein, ich will nicht verlangen, daß Sie mir nur auf mein Wort glauben. Ich möchte, daß Sie sich selbst davon überzeugen.“

Nun beugte sich auch Laurie in seinem niederen Stuhle vor, er hielt die Hände zwischen den Knien gefaltet.

„Sie wollen — wollen also, daß ich mich selbst davon überzeuge?“ fragte er mit leiser Stimme.

Sie lehnte sich zurück und schob die Falten ihres Gewandes zurecht. Sie war in kostbare Seide gekleidet, die an ihrer hohen, schlanken Gestalt bis zu den kupferfarbigen Schuhen herabfiel.

„Hören Sie, Herr Baxter. Morgen wird das zweifellos größte Medium in London, wenn nicht in Europa, in dies Haus kommen. Natürlich können wir nicht mit dem Orient konkurrieren. Wir sind nur Kinder im Vergleich mit je-nen. Nun, dieser Mann, Herr Vincent — ich glaube, ich sprach Ihnen vergan-gene Woche von ihm — kommt zu einer Unterredung mit einigen Freunden hierher. Ihrem Wunsche wird nichts in den Weg gelegt werden. Ich will mit Lady Laura sprechen, ehe Sie weggehen.“

Laurie sah sie an, ohne sich zu rühren. „Ich werde Ihnen sehr verbunden sein“, sagte er. „Denken Sie daran, daß

ich noch keineswegs überzeugt bin. Ich möchte nur mehr von alledem wissen.“

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„So ist̓ s recht. Das ist alles, was wir verlangen. Wir verlangen keinen

blinden Glauben, Herr Baxter — nur Glauben an das, was man gesehen hat.“ Laurie nickte langsam. „Das scheint mir vernünftig zu sein“, sagte er. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann entschloß sie sich zu einem

kühnen Schritt. „Es kommt wohl dabei eine bestimmte Person in Betracht, Herr Baxter,

— verzeihen Sie, daß ich frage — jemand, der hinübergegangen ist —“ Sie ließ ihre Stimme in einer Weise sinken, die, wie man ihr gesagt hatte,

mitfühlend klang, und sie war keineswegs auf dies plötzliche Erstarren seines Gesichtes vorbereitet.

„Das ist meine Sache, Frau Stapleton.“ „Nun gut.“ Sie war voreilig gewesen. Sie wolle Lady Laura holen, sagte

sie, zu solchem Zweck dürfe sie es wagen. Sie würde nur drei Minuten abwe-send sein. Dann rauschte sie hinaus.

Laurie trat ans Feuer, um zu warten, und blieb hier stehen, mechanisch sich die Hände wärmend und auf die glimmenden Kohlen starrend.

Er hatte sich gewaltsam zusammengenommen, um überhaupt kommen zu können. Trotz seiner mutigen Worte Maggie gegenüber fühlte er sich von der ganzen Sache eigentümlich abgestoßen — er hatte ein Gefühl von Verach-tung der maßlosen Affektation dieser Frau gegenüber, die zu beraten er sich entschlossen hatte. Dennoch war er gekommen. Was er soeben gesagt hatte, war vollkommen wahr. Er war noch nicht im geringsten überzeugt, aber er war erregt, tief und leidenschaftlich erregt, und von Verlangen verzehrt.

Ach! All das war ja so absurd und phantastisch — hier in London, in die-sem Jahrhundert. Er wandte sich um, betrachtete das von der Lampe erleuch-tete Zimmer und ließ die Augen über die mit Bildern behängten Wände schweifen, über die blaue Tapete, die Empiremöbel, diese Zeichen von Be-haglichkeit und von gesundem modernen Leben. Es war absurd und phantas-tisch, er würde abermals enttäuscht werden, wie er in allem andern enttäuscht worden war. Diese Dinge kamen nicht vor — die Toten kehrten nicht wieder. Schritt für Schritt waren diese Dinge, welche man jahrhundertelang als Be-weise für das Übernatürliche betrachtet hatte, eines nach dem andern erklärt und außer Kurs gesetzt worden. Hypnotismus, Wünschelruten, Zaubereien und dergleichen hatten früher als unbestreitbare Beweise eines Lebens nach dem Tode gegolten, Beweise für seltsame, übernatürliche Wesen, und einer

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nach dem andern war entweder natürlich gedeutet oder als wertlos erkannt worden. Er war ein Tor, unruhig oder erregt zu sein. Nein, er wollte der Sa-che auf den Grund kommen, nichts erwarten, nichts hoffen. Aber er wollte ihr auf den Grund kommen, nur um sich selbst genugzutun.

Die Türe öffnete sich, und die beiden Damen traten ein. „Ich bin sehr erfreut, daß Sie gekommen sind, Herr Baxter, und mit ei-

nem solchen Anliegen.“ Lady Laura streckte ihre Hand aus, vor Vergnügen zitternd bei der Mög-

lichkeit, einen neuen Anhänger zu gewinnen. „Frau Stapleton wird Ihnen auseinandergesetzt haben —“, begann Laurie. „Ich begreife alles. Sie kommen als Skeptiker — nein, nicht als Skepti-

ker, sondern als Forscher. Das ist alles, was wir wünschen… Also morgen um halb fünf Uhr.“

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Viertes Kapitel

I.

Es war ein milder Oktobernachmittag, und der Himmel war von der sichneigenden Sonne rosig angehaucht, als Laurie sich am folgenden Tag durch das Südende des Parkes zu der verabredeten Zusammenkunft begab. Die Einwirkung dieser Umgebung machte sein Gemüt wenig geneigt, sich übernatürlichen Geheimnissen hinzugeben. Der glühende Himmel, die Lichter, die da und dort auftauchten, obwohl es eine Stunde vor Sonnenuntergang war, richteten seine Gedanken eher auf natürliche Dinge und häusliche Angelegenheiten.

Er fragte sich im stillen, was seine Mutter und Maggie wohl sagen wür-den, wenn sie von seinem Vorhaben wüßten, denn er hatte die Selbstbeherr-schung gehabt, ihnen seine Absichten nicht mitzuteilen. Seiner Mutter wegen machte er sich keine Gedanken. Natürlich würde sie ihn bitten, davon abzu-stehen, und schwache Überredungsversuche machen, aber er wußte, daß dem nichts Tieferes zugrunde lag, außer einem Gefühl von Unbehagen dem Unbe-kannten gegenüber. Aber er empfand die innere Notwendigkeit, mit sich selbst wegen Maggie ins reine zu kommen. Die zornige Verachtung, die sie fühlen würde, erforderte eine Antwort, und er gab sie sich selbst, indem er sich ins Gedächtnis zurückrief, daß sie in einer Klosterschule erzogen wor-den, daß sie nichts von der Welt wisse, und endlich, daß er selbst die Sache nicht ernst nehme. Er war sich auch klar darüber, daß der instinktive, heftige Widerwillen, den sie fühlte, ein gewisses Echo in seinen eigenen Empfindun-gen fand, aber er suchte sich dies aus der Neuheit der Sache zu erklären.

Seine Gemütsverfassung, in die er sich mit mehr oder weniger Erfolg hin-einsteigerte, war die eines Menschen, welcher sich zu einem Geisterbeschwö-rer begibt. Es müßte komisch sein, einen Tisch tanzen zu sehen, dachte er; aber dabei kam jene unerklärliche Neigung gewisser Naturen mit ins Spiel, sich absichtlich über das zu täuschen, was ihnen am meisten am Herzen liegt.

Herr Vincent war noch nicht angelangt, als man Laurie die Treppe hi-naufführte, obwohl auch er spät kam. Es geschah dies mit Vorsatz, weil er es

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es für das beste hielt, eine gewisse Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Im Zimmer bei den Damen befand sich nur ein junger Geistlicher, und die bei-den wurden einander vorgestellt.

„Herr Baxter — Herr Jamieson.“ Er kam Laurie wie ein harmloser junger Mann vor, der offenbar etwas

nervös war, wie etwa ein Windhund in einem Hundestall wohlerzogenen Jagdhunden gegenüber. Er war sehr sorgfältig gekleidet, trug einen römi-schen Kragen und eine steife Halsbinde und hatte augenscheinlich erst vor kurzem ein theologisches College verlassen. Er legte eine gewinnende Höf-lichkeit an den Tag, hatte den Gesichtsschnitt eines Geistlichen und lockiges schwarzes Haar und balancierte sitzend eine feine Tasse auf den Knien.

„Herr Jamieson ist so gespannt darauf, alles zu erfahren, was vorgeht“, erklärte Lady Laura mit redseliger Offenheit. „Wie er mir kürzlich sagte, hält er es für so nötig, mit der Zeit vorwärtszugehen.“

Laurie stimmte bei, im stillen den jungen Mann wegen seines unbeson-nenen Vertrauens bemitleidend. Der Geistliche sah sehr pedantisch aus, trotz seiner Bemühungen, nicht so zu erscheinen.

„An Sonntagen hält er einen Kursus für junge Männer“, fuhr die Wirtin fort (Noch ein Biskuit, Maud, liebes Herz?) „und er trachtet darnach, ihnen Interesse an allen modernen Strömungen beizubringen. Er hält dies für so wichtig.“

Herr Jamieson räusperte sich energisch. „So ist es“, sagte er, „genau so.“ „Und so sagte ich ihm, er müsse in der Tat kommen, um mit Herrn Vin-

cent zusammenzutreffen… Ich kann mir nicht denken, weshalb dieser so spät kommt, aber seine Zeit ist so vielfach in Anspruch genommen, daß ich mich überhaupt wundere —“

„Herr Vincent“, kündigte der Diener an. Die fast elegante Gestalt eines Mannes trat ins Zimmer, der mit weit

mehr Geschmack gekleidet war, als Laurie erwartet hatte, und keineswegs, wie er gefürchtet, dem Typus eines verrückten Dissenters im Tuchrock glich. Es war ein großer Mann mit einer etwas gebückten Haltung und mit Neigung zur Korpulenz, mit einem lockigen, graumelierten Vollbart, mit überhängenden Brauen und einer hohen Stirn, von der das graumelierte Lockenhaar schon zurückzuweichen begann. Er trug einen Gehrock von gutem Schnitt und dunkle Beinkleider, einen neumodischen Kragen und ei-ne dunkle Halsbinde.

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Lady Laura bewegte sich aufgeregt hin und her, während sie ihn in kur-

zen, abgebrochenen Sätzen begrüßte, ihn zu einem Sitz führte, ihn vorstellte und ihm Erfrischungen aufnötigte.

„Das ist zu gütig von Ihnen“, sagte sie, „zu gütig, bei all Ihren Verpflich-tungen… Diese Herren sind äußerst gespannt… Frau Stapleton, Sie wissen natürlich… Und Sie wollen sich zu uns setzen und mit uns reden… wie mit Freunden… wollen Sie? … Nein, nein! Keine formelle Rede… nur ein paar Worte… und Sie erlauben uns, Fragen an Sie zu richten…“

Sind so ging es weiter. Unterdessen beobachtete Laurie den Hohenpriester aufmerksam und ge-

nau und war außerstande, irgendeine der unangenehmen Eigenschaften zu entdecken, die er erwartet hatte. Herr Vincent saß gemächlich da, ohne Selbstgefühl oder Arroganz oder unangenehme Unterwürfigkeit. Er hatte an-genehme, kluge und gütige Augen, und wenn er einige Worte sagte, um Lady Lauras Redestrom zu beantworten, war seine Stimme von jener wohlklin-genden Weichheit, die man stets mit Vergnügen hört. In der Tat, seine ganze Haltung, seine Persönlichkeit war die eines außergewöhnlichen, aber nicht anormalen Menschen, etwa eines Verlegers oder eines Advokaten, der sich zurückgezogen, oder eines Familienvaters mit ruhiger pflichterfüllter Lebens-weise, welcher dazu einen gesunden, gütigen und starken Charakter mit-brachte. Laurie wußte kaum, ob er erfreut oder enttäuscht sein solle. Er hätte fast eine wilde, in einen Mantel gehüllte Gestalt mit rollenden Augen vorge-zogen, dennoch hätte er sich insgeheim über einen solchen Menschen belu-stigt und ihn verachtet.

„Die Sitzung am Sonntag muß ausfallen, Lady Laura“, sagte der An-kömmling.

„Wirklich? Wieso kommt dies?“ „Oh! Es gab ein Mißverständnis wegen der Zimmer, es ist die Schuld des

Sekretärs, mich dürfen Sie nicht tadeln.“ Lady Laura sprach laut ihre Bestürzung und Enttäuschung aus, und Frau

Stapleton sang den Chor dazu. „Das ist unangenehm“, sagten sie ärgerlich, „besonders jetzt, da ,Annie̒

so gefällig war.“ Frau Stapleton erklärte den beiden jungen Leuten freund-lich, daß ,Annie̒ ein Geist sei, welcher kürzlich verschiedene sehr interessan-te Enthüllungen gemacht habe. „Was war zu tun? Waren keine anderen Zim-mer zu haben?“

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Herr Vincent schüttelte den Kopf. Es sei zu spät, sagte er, noch Anord-nungen zu treffen.

Während die Damen weiterschwatzten und Herr Jamieson, auf der äu-ßersten Ecke seines Stuhles sitzend, ihnen zuhörte, machte Laurie im stillen seine Bemerkungen. Er war äußerst betroffen über den so merklichen Un-terschied zwischen dem Propheten und seinen Jüngern, diese so durchaus oberflächlich, jener so wirksam durch das, was im Verkehr am einfachsten ist und am schwierigsten nachzuahmen: echte Menschlichkeit. Laurie ver-mochte nicht, diese beiden Erscheinungen in Einklang miteinander zu brin-gen. Dieser Mann war duldsam diesen Frauen gegenüber, ja, wie es schien, sogar sehr liebenswürdig und freundlich. Es schien ihm jene Sicherheit in-nezuwohnen, welche eine wohlgeordnete Ideenwelt und eine völlige Zuver-sicht darauf verleihen.

Eine Pause trat endlich ein. Herr Vincent setzte zum zweitenmal seine Tasse nieder, lehnte die ihm

angebotenen Butterschnitten ab und saß erwartungsvoll da. „Ja, rauchen Sie nur, Herr Vincent.“ Er zog sein Zigarettenetui hervor und bot es lächelnd den beiden Herren.

Laurie nahm eine Zigarette, der Geistliche dankte. „Und nun, Herr Vincent?“ Wieder lächelte dieser in einer halbverlegenen Weise. „Aber von einem Vortrag, denke ich, war nicht die Rede“, bemerkte er. „O! Sie wissen, was ich meine; genau so wie unter Freunden. Behandeln

Sie uns alle so.“ Frau Stapleton stand auf, kam dem Kreis näher, setzte sich mit Geräusch

nieder und versank in ein absichtliches Schweigen. „Nun, was ist es, was diese Herren zu hören wünschen?“ „Alles — alles“, rief Lady Laura. „Sie behaupten, gar nichts zu wissen.“ Laurie dachte, es sei an der Zeit, sich etwas näher zu erklären. Er mochte

nicht gern aus der Verlegenheit dieses Mannes einen unbilligen Vorteil ziehen. „Ich möchte etwas sagen“, bemerkte er. „Ich habe bereits Frau Stapleton da-von gesprochen. Es ist dies: Ich gestehe, daß ich, soweit die Sache mich be-trifft, nicht zu den Gläubigen gehöre. Aber ich bin auch kein Skeptiker. Ich bin nur tatsächlich ein Agnostiker in dieser Sache. Ich habe verschiedene Bü-cher gelesen, und sie haben Eindruck auf mich gemacht. Aber sehr vieles darin kommt mir wie Unsinn vor; vielleicht sollte ich sagen, das, was ich

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nicht verstehe. Die Materialisierungsgeschichte zum Beispiel… Ich kann be-greifen, daß die Geister der Verstorbenen auf unsern Geist einwirken können; aber ich sehe nicht ein, wie sie auf Sachen einwirken sollen — so beim Tischklopfen zum Beispiel, und gar noch durch ihr Erscheinen, und daß wir die Fähigkeit haben sollten, sie zu berühren und zu sehen… Das ist mein Standpunkt“, so schloß er in etwas verlegener Weise.

Tatsache war, daß er durch die Augen des andern etwas aus der Fassung gebracht wurde. Es waren, wie schon gesagt, gütige und kluge Augen, aber sie hatten auch etwas Bezwingendes. Herr Vincent blieb während dieser klei-nen Rede Lauries unbeweglich sitzen und sah ihm unverwandt ins Gesicht. Dies geschah keineswegs in beleidigender Weise, hatte aber doch die Wir-kung, daß der junge Mann sich wie ein trotziger, unartiger kleiner Knabe vor-kam, der sich etwas zu erklären untersteht.

Laurie lehnte sich zurück und sog heftig an seiner Zigarette. „Ich begreife das vollkommen“, sagte die gleichmäßige Stimme. „Sie ste-

hen auf einem sehr vernünftigen Standpunkt. Ich wünschte, alle wären so of-fenherzig. Darf ich einige Worte sagen?

„Bitte.“ „Nun, es ist die Materialisierung, die Sie irremacht, nicht?“ „Ganz richtig“, sagte Laurie. „Unsere Theologen lehren uns — hier

möchte ich bemerken, daß ich Katholik bin“ (der andere machte eine leichte Verbeugung), „unsere Theologen lehren uns, wie ich glaube, daß derartiges nicht vorkommen kann, ausgenommen unter ganz besonderen Umständen, wie in dem Leben der Heiligen und Ähnlichem.“

„Sind Sie verpflichtet, alles zu glauben, was Ihre Theologen lehren?“ fragte der andere ruhig.

„Nun, es würde in der Tat sehr voreilig sein —“ begann Laurie. „Ganz richtig. Aber wie, wenn Sie sich statt dessen der Sache von einer

anderen Seite aus näherten und auszufinden suchten, ob diese Dinge tatsäch-lich vorkommen? Ich möchte nicht hart sein, Herr Baxter; aber Sie werden sich erinnern, daß Ihre Theologen, wie Sie wissen, in bezug auf Galilei im Irrtum waren.“

Laurie zuckte ein wenig zusammen. Herr Jamieson räusperte sich in sanft zustimmender Weise.

„Nun, ich verlange nicht, daß Sie etwas Ihrem Glauben Widersprechen-des annehmen sollen“, fuhr der andere sanft fort; „aber wenn Sie wirklich

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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wünschen, einen Blick in diese Dinge zu tun, müssen Sie für jetzt alle andern Voraussetzungen beiseitelassen. Sie dürfen nicht annehmen, daß die Theo-logen immer im Recht sind, noch fragen, wie und warum diese Dinge sich er-eignen. Der Hauptpunkt ist der: Ereignen sie sich tatsächl ich?“

Seine letzten Worte machten einen merkwürdigen Effekt, wie wenn plötzlich eine Flamme aufschlägt. Er hatte weich und ruhig gesprochen; dann hatte er plötzlich einen unerwarteten Nachdruck auf den kurzen Schlußsatz gelegt. Ja, dies war der Hauptpunkt, Laurie mußte es innerlich zugeben. Aber es bäumte sich etwas in ihm dagegen auf.

„Nun“, fuhr der andere fort, wieder in dem langsamen, beruhigenden To-ne, während er die Asche seiner Zigarette abstreifte, „ist es Ihnen möglich zu zweifeln, daß diese Dinge tatsächlich vorgehen? Darf ich fragen, welche Bü-cher Sie gelesen haben?“

Laurie nannte drei oder vier. „Und sie haben Sie nicht überzeugt?“ „Nicht ganz.“ „Dennoch lassen Sie menschliches Zeugnis für weit mehr und weit

merkwürdigere Dinge gelten als diese — da Sie Katholik sind.“ „Das ist göttliche Offenbarung“, sagte Laurie, seiner Begründung sicher. „Verzeihen Sie“, sagte der andere, „ich sage keineswegs, daß es keine

göttliche Offenbarung ist — das ist eine andere Frage —, aber Sie empfan-gen die Versicherung, daß dem so sei, durch das Wort eines Menschen. Ist dem nicht so?“

Laurie schwieg. Er wußte nicht, was er sagen solle, und er fürchtete bei-nahe jedes weitere Wort. Aber er war erstaunt, daß der andere diesen Punkt nicht weiterverfolgte.

„Denken Sie darüber nach, Herr Baxter. Das ist alles, was ich verlange, und nun zur Hauptsache. Wünschen Sie aufrichtig, überzeugt zu werden?“

„Ich bin bereit, mich überzeugen zu lassen.“ Herr Vincent schwieg einen Augenblick und schaute aufmerksam in das

Kaminfeuer. Dann warf er den Stumpen seiner Zigarette weg und zündete ei-ne andere an. Die beiden Damen saßen regungslos da.

„Sie scheinen für Argumente a priori sehr eingenommen zu sein, Herr Baxter“, begann er wieder mit einem gütigen Lächeln. „Wir wollen also ei-nes oder zwei ins Auge fassen. Betrachten Sie zuerst die Beziehungen zwi-schen Ihrer Seele und Ihrem Körper. Die sind doch unendlich geheimnisvoll,

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nicht? Eine Erregung bemächtigt sich Ihrer Seele, und ein plötzliches Erröten gibt ihr Ausdruck. Das ist der unterbewußte Mechanismus Ihres Körpers. Aber es so zu nennen, heißt nicht es erklären. Es ist nur eine Art der Bezeich-nung. Folgen Sie meinem Gedankengang? Ja? Noch geheimnisvoller ist die Macht Ihres Bewußtseins. Sie wollen Ihre Hand erheben und sie gehorcht. Muskelbewegung? O ja; aber das ist auch nur eine Bezeichnung.“ Er wandte seine plötzlich verdüsterten Augen auf den ihn unverwandt anblickenden, lauschenden jungen Mann und erhob die Stimme ein wenig. „Schlagen Sie den geraden Weg ein, um hinter all das zu kommen, bis hinab zu den tiefsten Geheimnissen, Herr Baxter. Was ist das Band zwischen Seele und Körper? Sie wissen es nicht. Noch weiß es der weiseste Gelehrte auf der Welt. Noch wird er es jemals wissen. Dennoch ist es da!“

Wieder machte er eine Pause. Laurie fühlte, wie ein fast aufgeregtes Interesse in ihm erwachte, das weit

über die Bedeutung der von ihm vernommenen Worte hinausging. Aber auch diese waren schlagend. Das war nicht der falsche Mystizismus, den er erwar-tet hatte. Es lag eine gewisse Ehrerbietung darin, ein Zugeben von Geheim-nissen, das sich mit seinen Vorstellungen von dem Dogmatismus dieser Leu-te nicht leicht vereinigen ließ.

„Nun fangen wir wieder von vorne an“, fuhr die ruhige, männliche Stim-me fort. „Sie glauben als ein Christ an die Unsterblichkeit der Seele und an die Fortdauer der Persönlichkeit nach dem Tode. Gott sei Dank dafür! In un-sern Tagen tun das nicht alle. Ich brauche also nach dieser Seite hin mich nicht zu bemühen.

Nun, Herr Baxter, stellen Sie sich irgendeine Seele vor, die Sie leiden-schaftlich geliebt haben und die hinübergegangen ist.“ (Laurie holte leise tief Atem, sich mit geballten Händen zusammenraffend.) „Sie ist in die undenk-bare Seligkeit eingegangen, ihrem Wert entsprechend; sie ist am Ende aller Zweifel und Furcht und Sorgen. Sie weiß, weil sie sehend ist… Aber glauben Sie, daß sie ganz in diesen Dingen aufgeht? Sie wissen nichts von menschli-cher Liebe, Herr Baxter — die Stimme des Redenden bebte vor Rührung —, „wenn Sie so denken können … Wenn Sie denken können, daß die Gedanken jener Seele sich nur um sich selbst und ihre eigenen Freuden drehen. Ihr Le-ben wurde, nach unserer Hypothese, in der Liebe zu Ihnen verlebt —, Sie waren vielleicht an ihrem Bett, als sie starb; und sie klammerte sich an Sie wie an Gott selbst, als die Schatten sich tiefer herabsenkten. Glauben Sie, daß

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ihr erster Gedanke, oder wenigstens ihr zweiter, nicht Ihnen gilt?… Bei al-lem, was sie sieht, wird sie wünschen, Sie möchten es auch sehen. Sie wird kämpfen, bitten, heftig nach Ihnen begehren — nicht um Sie zu besitzen, sondern darum, daß Sie mit ihr eins sein möchten in ihrer jetzigen Existenz; sie wird Schwingungen auf Schwingungen voll Sympathie und Sehnsucht aussenden; und Sie, diesseits, werden auf sie gestimmt sein wie kein anderer — Sie, diesseits, werden hungern nach ihrer Liebe, ihrem Anblick und dem Ton ihrer Stimme… Ist der Tod denn so stark? — stärker als die Liebe? Kann ein Christ dies glauben?“

Die Veränderung, die in dem Mann vorging, war außerordentlich. Sein dichter Bart und seine Augenbrauen verdeckten die Hälfte seines Gesichtes, aber sein ganzes Wesen sprach mit einer leidenschaftlichen Glut aus seiner Stimme, ja sogar aus seinen Gebärden, und Laurie saß voll Erstaunen da. Je-des geäußerte Wort schien auf seinen eigenen Fall zu passen und die unbe-stimmten Gedanken, die während der letzten Woche sein Herz bestürmt, zu einem fast vollkommenen Ausdruck zu bringen. Es war Amy, von welcher dieser Mann sprach, Amy mit ihren Augen, ihrem Haar, wie sie aus dem himmlischen Dunkel herunterspähte, um einen Blick ihres Geliebten in dem bedeutungslosen Licht des Erdentages zu erhaschen.

Herr Vincent räusperte sich ein wenig, und bei diesem Ton rührten sich die vorher regungslosen Frauen, und ihre Gewänder rauschten ein wenig. Das Ge-räusch eines Hansom-cab, ein rascher Trab, das wintrige Geklingel von Glocken schwoll aus der Entfernung an, ging vorüber und schwieg, ehe Herr Vincent wie-der sprach. Dann fuhr er mit seiner gewöhnlichen leisen Stimme fort.

„Denken Sie sich solch eine Seele, Herr Baxter. Sie wünscht mit einem, den sie auf Erden liebte, in Verbindung zu treten, mit Ihnen oder mit mir, und es ist das ein menschlicher und unschuldiger Wunsch. Aber sie hat jene Ver-bindung verloren, jenen Mechanismus, von dem wir sprachen, — jene Ver-bindung zwischen Materie und Geist, von der wir nichts wissen, ausgenom-men, daß sie existiert. Was soll sie tun? Nun, sie wird wenigstens dies tun, sie wird alle Kraft, die sie besitzt, auf das Medium — ich meine die Materie —konzentrieren, durch welches allein die Verbindung zustande kommen kann; wie ein Mann auf einer Insel, außerhalb der Macht einer menschlichen Stimme, irgendein Mittel, wenn auch ein noch so groteskes, benützen wird, um einem vorüberfahrenden Schiff ein Zeichen zu geben. Würde irgendein anständiger Mann, Herr Baxter, sich über den Ernst dieser Zeichengebung lustig ma-

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chen, auch wenn es sich um ein so groteskes Ding wie ein Flanellhemd am Ende eines Ruders handelte? Dennoch spotten die Leute über das Tischklop-fen!…

Nun, diese sehnsüchtige Seele gebraucht jedes ihr zu Gebot stehende Mit-tel, sucht jede Macht, die sie besitzt, auf einen Punkt zu konzentrieren. Ist es so unvernünftig, so unchristlich, so entehrend für die Liebe zu Gott, zu den-ken, daß ihr das manchmal gelingt?… Daß sie imstande ist, unter verhältnis-mäßig außergewöhnlichen Umständen, die Verbindung mit materiellen Din-gen wiederherzustellen, die während ihres Erdenlebens so normal und so na-türlich für sie war?… Sagen Sie mir das, Herr Baxter.“

Laurie machte eine Bewegung. „Ich kann das nicht behaupten“, sprach er mit einer Stimme, die seinen

eigenen Ohren fremd klang. Das Medium lächelte ein wenig. „So viel über eine Begründung a priori“, sagte er. „Es bleibt nur noch die

Frage, ob solche Dinge vorkommen oder nicht. Darin muß ich Sie sich selbst überlassen, Herr Baxter.“

Laurie beugte sich plötzlich vor. „Aber das istʼs gerade, wobei ich Ihrer Hilfe bedarf, mein Herr“, sagte er.

Ein Murmeln brach gleichzeitig von den Lippen der Damen, das einem Beifall glich. Herr Jamieson lehnte sich zurück und schluckte in merklicher Weise.

„Sie haben so viel gesagt, mein Herr“, fuhr Laurie in entschlossener Wei-se fort, „daß Sie sozusagen eine Verpflichtung mir gegenüber haben. Ich muß Sie bitten, mich weiter zu führen.“

Herr Vincent lächelte ihn an. „Sie müssen in dieser Sache sich mit andern zusammentun“, sagte er.

„Diese Damen —“ „Herr Vincent, Herr Vincent“, rief Lady Laura. „Er hat ganz recht, Sie

müssen ihm helfen. Sie müssen uns allen helfen.“ „Nun, Sonntag in acht Tagen“, begann dieser in bittendem Tone. Frau Stapleton fiel ein. „Nein, nein; jetzt, Herr Vincent, jetzt. Tun Sie

jetzt etwas. Sicherlich sind die Umstände günstig.“ „Ich muß um halb sieben Uhr fort“, sagte er zögernd. Laurie fiel ein — er war in Verzweiflung —: „Wenn Sie mir irgend etwas Derartiges zeigen können, mein Herr, kön-

nen Sie es sicherlich jetzt zeigen. Wenn Sie es jetzt nicht zeigen —“

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„Nun, Herr Baxter?“ sprach Herr Vincents Stimme in scharfem, ein-

schneidendem Ton, als ob er eine Beleidigung erwarte und sie herausfordere. Laurie brach zusammen. „Ich kann nur sagen“, rief er, „daß ich Sie bitte und beschwöre, zu tun,

was Sie können, und das sogleich und hier.“ Ein Stillschweigen trat ein. „Und Sie, Herr Jamieson?“ Der junge Geistliche fuhr wie aus einer Betäubung auf. Dann erhob er

sich plötzlich. „Ich — ich muß gehen, Lady Laura“, sagte er. „Ich hatte keine Ahnung,

daß es so spät ist. Ich — ich habe eine Konfirmationsklasse…“ Einen Augenblick darauf war er fort. „Das ist ebenso gut“, bemerkte das Medium, „Und Sie, Herr Baxter,

wünschen Sie ernstlich, daß ich einen Versuch mache? Erinnern Sie sich, daß ich nichts verspreche.“

„Ich wünsche, daß Sie den Versuch machen.“ „Und wenn sich nichts ereignet?“ „Wenn sich nichts ereignet, will ich versprechen, mit — mit meinem

Nachforschen fortzufahren. Ich werde dann wissen, daß — daß es einer ernsthaften Sache gilt.“

Herr Vincent stand auf. „Einen kleinen Tisch gerade hierher, Lady Laura, wenn es Ihnen gefällig

wäre, und einen Bleistift und Papier… Wollen Sie die Güte haben, Ihre Plät-ze einzunehmen?… Ja, Herr Baxter, ziehen Sie Ihren Stuhl… hierher. Nun, bitte, muß völliges Schweigen herrschen und, soweit dies möglich ist, auch Schweigen der Gedanken.“

II. Der Tisch, ein kleiner runder Tisch aus Rosenholz, stand ohne jede Decke

auf der Kaminvorlage. Die beiden Damen saßen wieder wie zwei regungs-lose Statuen an der vom Feuer entferntesten Seite, mit leicht auf den Tisch gelegten Händen. Laurie saß auf einer, das Medium auf der andern Seite. Herr Vincent hatte sofort Papier und Bleistift erhalten und saß jetzt, mit der rechten Hand den Bleistift auf dem Papier haltend, wie zum Schreiben bereit,

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mit der linken Hand auf dem Knie und von dem Mittelpunkt des Tisches leicht abgewandt.

Laurie schaute ihn aufmerksam an. Und jetzt nahm er eine gewisse, ganz undefinierbare Veränderung in dem

Antlitz wahr, das er anschaute. Die Augen waren offen — nein, nicht in ihnen zeigte sich die Veränderung, noch in den Linien um den Mund, soweit er sie wahrnehmen konnte, noch in irgendeiner Einzelheit. Noch war es das Gesicht eines Träumers oder eines Nachtwandlers oder eines Toten, wenn dessen Linien undeutlich werden und das Leben schwindet. Es war ein lebendes, bewußtes Gesicht, und dennoch war es verändert. Die Lippen waren leicht geöffnet, und der Atem kam ebenmäßig zwischen ihnen hervor. Es war mehr das Gesicht eines Menschen, der in tiefe, absorbierende, nach innen gewandte Gedanken versunken ist. Laurie entschied sich für eine solche Erklärung.

Er schaute auf die Hand auf dem Papier, die — wohlgestaltet, bräunlich, geschickt — völlig bewegungslos den Bleistift leicht zwischen Finger und Daumen hielt. Dann blickte er auf die beiden Damen.

Auch sie waren völlig regungslos, aber es zeigte sich keine Veränderung an ihnen. Beide hatten die Augen niedergeschlagen und fest auf das Papier geheftet. Und als er hinschaute, sah er, wie Lady Laura langsam die Lider hob, wie um ihn anzuschauen. Er blickte wieder auf das Papier und die re-gungslosen Finger.

Er war erstaunt über die Schnelligkeit, mit welcher die Situation sich entwickelt hatte. Fünf Minuten vorher hatte er dem Gespräch zugehört und daran teilgenommen. Der Geistliche war hier gewesen, er selbst hatte etwas weiter hinten gesessen. Nun saßen sie hier, als ob sie seit einer Stunde so gesessen hätten. Es schien, als ob die Zeit stillstehe...

Dann begann er auf die Klänge der Welt dort draußen zu lauschen, denn hierinnen schien es, als ob eine Stille von seltsamer Art sich plötzlich herab-gesenkt habe und alles umfange. Es war, als ob ein Stück Welt — der Ort, wo er saß — aus Zeit und Raum ausgehoben sei. Es war losgelöst von allem, es war etwas ganz anderes geworden.

Er begann in intensiver und genauer Weise sich der äußeren Welt bewußt zu werden — so völlig bewußt, daß er das, worauf er starrte, nicht mehr wahrnahm; war es das Papier oder die starke, bewegungslose Hand, oder das in sich gekehrte Gesicht, das wußte er später nicht. Aber er hörte all den

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gedämpften Lärm des Londoner Abends und war imstande, den Ton eines jeden Instrumentes zu unterscheiden, das dazu beitrug, jenes unermüdliche, unzusammenhängende Orchester zu bilden. Aus weiter Entfernung von den nördlichen Stadtteilen her ließen sich die Töne eines starken Straßenverkehrs vernehmen, das Rollen von Rädern, Tausende von Hufschlägen, das Dröhnen von Motorwagen und das Geschrei der Straßenjungen; seine Aufmerksamkeit verweilte bei all diesen Dingen, während der Schall durch die äußeren Fenster hereindrang in dies tote Schweigen, das vom Lampenlicht erleuchtete Zimmer, dessen er sich bewußt war. Wieder kam ein Hansom-cab die Straße herauf mit Hufschlägen, Peitschenknallen und dem winterlichen Schellengeklingel…

Er begann, ruhig diese Dinge zu beobachten und innere Bilder dessen, was sie bedeuteten, mehr wahrzunehmen, als selbst zu formen; er sah den er-leuchteten Omnibus, sah die Bewegung der Gesichter um ein Zeitungsplakat.

Dann überlegte er, was ihn hierhergebracht habe; er schien sich selbst zu sehen, wie er in seinem dunkeln Anzug durch den Park ging, in die Einfahrt einbog und hindurchschritt. Er dachte an Amy, und es schien ihm, daß er in-mitten dieses intensiven und lebendigen Schweigens zum ersten Male seit zehn Tagen ihrer gedachte, ohne Kummer zu fühlen. Er begann zu überlegen…

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — Irgend etwas versetzte ihn plötzlich in das früher von ihm wahrgenomme-

ne Zimmer zurück, aber er wußte nicht, was es war, ob eine Bewegung oder ein Laut. Bei späterer Überlegung erinnerte er sich, daß es so war wie ein Laut, der einen Menschen in dem Augenblick weckt, als er einschlafen will, ein scharfes kurzes Ticken wie von einer Uhr. Dennoch war er nicht im ge-ringsten schläfrig gewesen.

Im Gegenteil, er gewahrte jetzt mit außerordentlicher, wachsamer Auf-merksamkeit die Hand auf dem Papier; er wandte sogar leicht den Kopf, um zu sehen, ob der Bleistift sich bewegt habe. Dieser bewegte sich ebensowe-nig wie zu Anfang. Laurie schaute etwas überrascht auf und in das Gesicht seiner Wirtin und sah, wie sie gerade die Augen von ihm abwandte. In ihrer Bewegung lag keine Ungeduld; ihr Gesicht war das einer ganz absorbierten, aufmerksam Lauschenden, ungleich dem bärtigen Gesicht ihr gegenüber, das, unmittelbar nach innen schauend, doch ein eifriger, wenn auch regungsloser Beobachter der äußeren Welt war. Laurie schaute Frau Stapleton an. Auch sie trug den gleichen Ausdruck von aufmerksamer Beobachtung aus ihrem sonst so langweiligen Gesicht.

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Dann wieder senkte sich Stille hernieder wie ein langes geräuschloses

Schscht. Diesmal aber machte er raschere und sicherere Fortschritte. Er durchflog

mit Gedankenschnelle jene Vorgänge, die vorher noch meßbar gewesen wa-ren, und hatte plötzlich ein schwaches Bewußtsein der vor Beginn der Sit-zung gesprochenen Worte:

„…Wenn möglich, ein Schweigen der Gedanken.“ Er dachte, jetzt verstehe er, was dies bedeute: er war im Begriff, es zu er-

fahren. Nicht länger verweilte er bei den Bildern, die an ihm vorüberzogen, noch betrachtete er sie in irgendwelcher freiwilligen Weise. Sie zogen viel-mehr an ihm vorüber, während er sie einfach ansah, ohne sie zu verstehen. Sein Wahrnehmungsvermögen eilte nach außen, wie durch konzentrische Kreise, aber er war ungewiß, ob er nach außen oder nach innen geführt wurde. Der Lärm Londons mit seiner Flucht von Gesichtsbildern versank hinter ihm, und ohne daß er das Gefühl einer geistigen Reise gehabt hätte, fand er sich wieder, wie er sein eigenes Heim betrachtete, ob in der Erinne-rung oder in der Phantasie oder in Wirklichkeit, das wußte er nicht. Aber er sah seine Mutter in dem vertrauten, lampenerhellten Zimmer bei ihrer Hand-arbeit, und Maggie — Maggie, die ihn mit einem seltsamen, fast erschreckten Ausdruck in ihren großen Augen anschaute. Dann verschwanden diese beiden, und er war draußen in irgendeiner warmen Stille, nur von einer einzi-gen Gegenwart erfüllt — die, welche er ersehnte; und hier verweilte er nun.

Es kam ihm nicht zum Bewußtsein, wie lange dies währte. Aber zu einem bestimmten Zeitpunkt fand er sich wieder, wie er fest auf das weiße Papier blickte, auf welchem die Hand nicht mehr lag, und hörte wieder plötzlich ir-gendeinen hellen Klang, der kein Echo hervorrief — und der so scharf war wie das Knallen einer Peitsche. Oh! Das Papier — das war der wichtigste Punkt. Er beugte sich vor und fühlte eine starke Enttäuschung, als er sah, daß es keine Schreibspuren trug. Dann war er erstaunt, daß die Hand und der Bleistift nicht mehr darauf lagen, und er schaute rasch auf.

Herr Vincent schaute ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an. Zuerst dachte er, er habe vielleicht eine Unterbrechung veranlaßt, und

fragte sich mit Unbehagen, ob dem wohl so sei. Aber es zeigte sich kein Zei-chen von Zorn in diesen Augen — nichts als ein merkwürdiges und gütiges Interesse.

„Hat sich nichts ereignet?“ rief er hastig aus. „Sie haben nichts geschrieben?“

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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Er schaute die Damen an. Auch Lady Laura schaute ihn mit demselben sonderbaren Interesse an,

wie das Medium getan. Frau Stapleton faltete eben, wie er wahrnahm, in un-auffälliger Weise verschiedene Blätter Papier zusammen, die er vorher nicht bemerkt hatte.

Er hatte eine Empfindung von Steifheit in den Gliedern und machte eine Bewegung, als ob er aufstehen wolle; aber zu seiner Verwunderung legte ihm der starke Mann, der rasch aufgestanden war, die Hände auf die Schultern.

„Bleiben Sie ruhig noch einige Minuten sitzen“, sagte seine gütige Stimme. „Bleiben Sie sitzen.“

„Warum — warum —“ begann Laurie verwirrt. „Ja, bleiben Sie ruhig sitzen“, fuhr die Stimme fort; „Sie fühlen sich ein

wenig müde.“ „Ein wenig“, sagte Laurie. „Aber —“ „Ja, ja, bleiben Sie sitzen. Nein, reden Sie nicht.“ Dann blieb alles still. Laurie fragte sich, was dies alles bedeute. Gewiß, er fühlte sich ermüdet,

aber doch in sonderbar gehobener Stimmung. Er fühlte gleichwohl keine Neigung sich zu bewegen und lehnte sich zurück, ganz passiv, und betrach-tete seine auf seinen Knien liegenden Hände. Er war enttäuscht, daß nichts vorgegangen war.

Dann kam ihm die Zeitfrage in den Sinn. Er nahm an, daß es ungefähr zehn Minuten vor sechs Uhr sein müsse. Er schaute nach der Uhr auf dem Kaminsims; aber es war eine von jener bauchigen, vergoldeten Empiresorte, die alles besser zeigen als die Stunde. Er wartete noch einen Augenblick mit dem Gefühl, daß all dies sehr ungewöhnlich und unpassend sei. Warum muß-te er hier wie ein Invalide sitzen, und warum mußten diese drei hier so dicht bei ihm sitzen und ihn beobachten?

Er bewegte sich ein wenig auf seinem Stuhl mit der Empfindung, daß er eine Anstrengung machen müsse. Die Frage nach der Zeit schien ihm ein schicklicher Anlaß, um das ihn verlegen machende Schweigen zu unterbrechen.

„Wieviel Uhr ist es?“ sagte er. „Ich fürchte, ich sollte —“ „Es ist noch lange Zeit“, sagte die ernste Stimme über den Tisch herüber. Mit einer plötzlichen Bewegung hatte Laurie sich erhoben, nach der Uhr

spähend mit dem Bewußtsein, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei. Dann wandte er sich verwirrt und argwöhnisch an die Gesellschaft.

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„Es ist beinahe acht Uhr“, rief er. Herr Vincent lächelte beruhigend. „Es ist ungefähr so viel“, sagte er. „Bitte, setzen Sie sich wieder, Herr

Baxter.“ „Aber — aber —“, begann Laurie. „Bitte, setzen Sie sich wieder, Herr Baxter“, wiederholte die Stimme in

einem fast gebieterischen Ton, dem nicht zu widerstehen war. Laurie setzte sich wieder, aber er war wachsam, argwöhnisch und sehr

beunruhigt. „Wollen Sie so gütig sein, mir zu sagen, was vorgegangen ist?“ fragte er

in scharfem Tone. „Fühlen Sie sich ermüdet?“ „Nein, ich bin ganz wohl. Bitte, sagen Sie mir, was vorgegangen ist.“ Er sah, wie Lady Laura in leisem Ton etwas flüsterte, das er nicht ver-

stand. Herr Vincent erhob sich mit einem Nicken, lehnte sich an das Kamin-sims und schaute auf den entrüsteten jungen Mann nieder.

„Gewiß“, sagte er. „Fühlen Sie sich wirklich nicht erschöpft, Herr Baxter?“ „Nicht im geringsten“, sagte Laurie. „Nun denn, Sie gerieten ungefähr fünf Minuten nach sechs Uhr in einen

Trancezustand —“ „Was?“ „Sie gerieten ungefähr fünf Minuten nach sechs Uhr in einen Trancezu-

stand; vor fünf Minuten war er vorüber.“ „Trancezustand?“ keuchte Laurie. „Gewiß. Einen sehr tiefen und befriedigenden Trancezustand. Dabei ist

nichts zum Erschrecken, Herr Baxter. Es ist eine ungewöhnliche Gabe, das ist alles. Ich habe selten ein befriedigenderes Beispiel gesehen. Darf ich eini-ge Fragen an Sie stellen?“

Laurie nickte in unsicherer Weise. Er versuchte vergeblich zu fassen, was gesagt worden war.

„Sie gerieten beinahe noch etwas früher in die Trance. Darf ich fragen, ob Sie etwas hörten oder sahen, was Sie zurückrief?“

Laurie schloß fest die Augen und versuchte nachzudenken. Er hatte ein unklares Gefühl von Stolz über sich selbst.

„Sie währte nur ganz kurze Zeit, dann kamen Sie zu sich und schauten Lady Laura an. Versuchen Sie sich dessen zu erinnern.“

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„Ich erinnere mich, daß ich dachte, ich höre einen Schall.“ Das Medium nickte. „Das würde dann der dritte sein“, sagte Lady Laura leise. „Der dritte inwiefern?“ fragte Laurie fast barsch. Niemand nahm davon Notiz. „Nun, können Sie etwas über die letzten anderthalb Stunden berichten?“

fuhr das Medium ruhig fort. Laurie überlegte wieder. Er war noch ein wenig verwirrt. „Ich erinnere mich, an die Straßen gedacht zu haben“, sagte er, „und dann

an mein eigenes Heim, und dann…“ Er hielt inne. „Ja; und dann?“ „Dann an eine bestimmte persönliche Angelegenheit.“ „Ach, wir dürfen dann nicht weiterforschen. Aber können Sie noch eine

Frage beantworten? Stand diese in Zusammenhang mit einer Person, die hin-überging?“

„Ja“, sagte Laurie kurz. „Richtig“, sagte das Medium. Laurie wurde argwöhnisch. „Warum fragen Sie das?“ sagte er. Herr Vincent schaute ihn fest an. „Ich glaube, es ist besser, es Ihnen zu sagen, Herr Baxter, es ist aufrichti-

ger, obwohl es Ihnen nicht angenehm sein wird. Sie werden überrascht sein zu hören, daß Sie während dieser anderthalb Stunden sehr viel gesprochen haben; und nach allem, was Sie sagten, muß ich annehmen, daß Sie von ei-nem Geist beherrscht wurden, der kürzlich hinübergegangen ist — ein junges Mädchen, das sich auf Befragen Amy Nugent nannte —“

Laurie sprang wütend auf. „Sie haben spioniert, Herr. Wie können Sie es wagen —“ „Setzen Sie sich, Herr Baxter, oder Sie werden nicht ein Wort mehr zu

hören bekommen“, erscholl laut die gebieterische und doch gelassene Stim-me. „Setzen Sie sich augenblicklich.“

Laurie warf einen Blick auf die beiden Damen. Dann kam er zu sich selbst. Er setzte sich nieder.

„Ich bin nicht im geringsten zornig, Herr Baxter“, sagte die Stimme wie-der in mildem, gütigem Tone. „Ihre Vermutung war ganz natürlich. Aber ich glaube, ich kann Ihnen beweisen, daß Sie im Irrtum sind.“

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Herr Vincent blickte mit einem kaum merkbaren Stirnrunzeln auf Frau

Stapleton. „Wir wollen sehen, Herr Baxter… Gibt es irgend jemanden auf der Welt

außer Ihnen, der weiß, daß Sie vor ungefähr zehn Tagen unter einigen Eiben-bäumen in Ihrem Garten saßen und an dies junge Mädchen dachten, — daß Sie —?“

Laurie schaute ihn mit einem dumpfen Mißbehagen an, und ein kurzer Laut brach von seinen Lippen.

„Nun, genügt das, Herr Baxter?“ ließ hier Lady Laura ihre Meinung ein-fließen.

„Lieber Herr Baxter, Sie brauchen sich nicht im geringsten deswegen zu beunruhigen. Alles, was hier vorging, bleibt natürlich so geheim wie in der Beichte. Wir denken nicht daran, ohne Ihre Erlaubnis —“

„Einen Augenblick“, keuchte der junge Mann. Er barg sein Gesicht in den Händen und saß ganz überwältigt da. Jetzt schaute er auf. „Aber ich wußte es“, sagte er. „Ich wußte es. Es war mein eigenes Ich,

welches sprach.“ Das Medium lächelte. „Ja“, sagte er, „natürlich ist dies die erste Antwort.“ Er legte eine Hand, sich vorbeugend, auf den Tisch und begann mit den

Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. Laurie betrachtete diese Bewe-gung, welche in unbestimmter Weise ihm vertraut war.

„Können Sie darüber Aufschluß geben, Herr Baxter? Sie machten diese Bewegung mehrere Male. Gleichwohl schien sie nicht zu Ihren Gewohnhei-ten zu gehören.

Laurie sah ihn stumm an. Die Erinnerung kam ihm nun. Er erhob die Hand, wie um zu protestieren.

„Und… haben Sie jemals gestammelt?“ fuhr der Mann fort. Immer noch schwieg Laurie. Dies ging über alle Begriffe. „Nun, wenn diese Dinge charakteristisch sind —“ „Halten Sie ein, mein Herr“, rief der junge Mann; dann sagte er: „Aber

auch dies kann unbewußte Nachahmung sein.“ „Das wäre möglich“, sagte der andere. „Aber wir hatten den Vorteil, Sie

beobachten zu können. Und noch manches andere ging da vor.“ „Also bitte?“

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„Ein lautes, unaufhörliches Klopfen ließ sich zu Anfang und am Schluß vernehmen. Sie wurden zweimal dadurch geweckt.“

Laurie blieb stumm und völlig regungslos sitzen. Er bemühte sich, diese Flut von wahnsinnigen Gedanken zu bekämpfen. Es war unglaublich, er-staunlich.

Dann erhob er sich. „Ich muß fort“, sagte er. „Ich — ich weiß nicht, was ich denken soll.“ „Sie würden besser tun, noch ein wenig zu bleiben und auszuruhen“, sag-

te das Medium gütig. Der Jüngling schüttelte den Kopf. „Ich muß sofort gehen“, sagte er. „Ich kann nicht mehr für mich selbst

einstehen.“ Er ging ohne ein weiteres Wort, von Herrn Vincent begleitet. Die beiden Damen sahen einander an. „Es war erstaunlich… erstaunlich“, seufzte Frau Stapleton. „Was für ein

Fund!“ Weiter wurde nichts gesprochen. Lady Laura saß da, als ob sie selbst in

der Trance sei. Dann kam Herr Vincent zurück. „Sie dürfen den jungen Mann nicht aus den Augen lassen“, sagte er plötz-

lich. „Es ist ein außerordentlicher Fall.“ „Ich habe alle Aufzeichnungen hier“, sagte Frau Stapleton. „Ja; es ist besser, Sie heben sie auf. Er darf sie jetzt noch nicht sehen.“

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Fünftes Kapitel

I.

Als Woche um Woche verging, schwand das Gefühl leichten Unbehagens in Maggie. Sie war eine von den glücklichen Personen, die im klaren darüber sind, daß sie das haben, was man „Nerven“ nennt, und die also auch mit de-ren Wirkungen rechnen.

Jenes Unbehagen hatte wenige Tage nach Lauries Abreise, als sie eines Abends nach dem Tee bei der alten Dame saß, seinen Höhepunkt in einem plötzlichen Gefühl des Schreckens gefunden, über das sie sich keine Rechen-schaft geben konnte.

„Was gibt's, meine Liebe?“ hatte die alte Dame unvermutet gefragt. Maggie las gerade, aber es schien, daß Frau Baxter bemerkt hatte, wie sie

plötzlich mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck das Buch sinken ließ. Maggie blinzelte einen Augenblick. „Nichts“, sagte sie. „Ich dachte gerade an Laurie; warum, weiß ich nicht.“ Seitdem war sie ruhiger geworden. Sie sagte sich, daß ihre Hirngespinste

eben Hirngespinste seien, und sie hatten sie nicht weiter beunruhigt. Die Briefe des jungen Mannes an seine Mutter waren herkömmlicher Art und na-türlich: er studiere gehörig; sein Kutscher habe sich ganz so nett gezeigt, wie er ihm zu Anfang geschienen; er hoffe, an Weihnachten für einige Tage nach Stantons kommen zu können. Nichts in diesen Zeilen gab Anlaß zu irgend-welcher Beunruhigung; er hatte offenbar seine lächerliche Ansicht über den Spiritismus aufgegeben, und was mehr war, er begann sich von dem Kum-mer, den er im September gehabt, zu erholen.

Es war ein außerordentlich friedliches, ereignisloses Leben, das die bei-den Frauen miteinander führten — jene Art von Leben, das vorhandene Nei-gungen bestärkt und zu neuen keinen Anlaß gibt, und das die Hauptzüge ei-nes Charakters und die ihn bewegenden Motive allmählich aufdeckt, wie tropfendes Wasser die verborgenen Wurzeln eines Baumes.

Für Frau Baxter, deren Charakter schon völlig ausgebildet war, war das

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recht gut und schön, aber nicht ganz so befriedigend für das junge Mädchen, obgleich sich alles in ganz angenehmer Weise abspielte.

Nach der Messe und dem Frühstück konnte Maggie den Morgen nach Wunsch verbringen, einige besondere Bereiche des Haushaltes beaufsichti-gen — die Gärtnerei, den Hühnerhof und so weiter — und lesen, was sie Lust hatte. Der Nachmittag war der alten Dame, die frische Luft schöpfen sollte, gewidmet, über den Abend bis zur Mahlzeit konnte Maggie verfügen, wie sie wollte; nach der Mahlzeit gab es irgendein behagliches Gespräch. Es ereig-nete sich sehr wenig. Der Vikar und seine Frau speisten gelegentlich mit, und noch häufiger kam Father Mahon zu Tisch. Dann und wann galt es, allerlei Unterhaltungen im Schulzimmer des Dorfes zu patronisieren, inmitten einer Atmosphäre von Tinte und Haaröl, oder auch einen trübseligen und steifen Verkehr mit den alten Familien der Umgegend aufrechtzuerhalten. Frau Bax-ter war bei feierlichen Gelegenheiten eine würdevolle und aristokratische Er-scheinung mit ihren ruhigen Augen und ihrem schwarzen Spitzenschleier, und Maggie begleitete sie.

Aber die Annehmlichkeiten dieses Lebens gewannen es mehr und mehr über Maggie. Sie gehörte zu jenen Leuten, die sich in dieser Welt wie im Schoße Gottes fühlen. Sie hatte nicht den leisesten Wunsch, ,amüsiertʻ oder angeregt zu werden oder Zerstreuung zu suchen. Sie war heiter und völlig zu-frieden mit dem Hühnerhof, dem Garten, mit ihren kleinen, selbsterwählten Obliegenheiten, mit ihrer Religion und mit sich selbst.

Wie immer in solchen Fällen waren es die gleichen Gedanken, die sie im-mer wieder beschäftigten, und sie tat in der Selbsterkenntnis einen guten Schritt vorwärts. Sie kannte ihre Fehler sehr gut, und sie war sich auch ihrer Vorzüge bewußt. Sie wußte sehr wohl, daß sie geneigt war, bei Gelegenheit innerlich sehr zornig zu werden, wennschon sie das nicht zeigte, und daß sie dann und wann eine ungebührliche, rücksichtslose Verachtung lästigen Leu-ten gegenüber an den Tag legte und ihnen bittere Dinge sagte, die sie nachher bereute. Sie wußte aber auch, daß sie Mut hatte, daß sie von vortrefflicher Gesundheit war, und daß eine Lebensweise sie befriedigte, die viele andere Leute eng und erdrückend gefunden hätten.

Ihr eigener Charakter war ein Hauptstudium für sie während ihres Lebens in Stantons, ohne daß dies Studium in krankhafte Weise ausgeartet wäre. Was sie jetzt, fast zu ihrer eigenen Überraschung, zu studieren begann, war Lauries Charakter. Sie wunderte sich darüber, wie häufig das Bild dieses jun-

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gen Mannes während einer stillen Spazierfahrt oder bei irgendeiner leichten mechanischen Gartenarbeit vor ihr auftauchte.

Sie hatte, wie gesagt, ein neues Beschäftigungsmaterial gefunden. Bis zu der Affäre Amy hatte sie sich die erstaunliche Selbstsucht des jungen Mannes nicht klargemacht, und es wurde eine angenehme psychologische Übung für sie, seine charakteristischen Eigenschaften zu einem überein-stimmenden Ganzen auszugestalten. Es war ihr, ehe sie diesen Versuch un-ternahm, nicht in den Sinn gekommen, daß Edelmut und Egoismus, weit davon entfernt, einander auszuschließen, sehr leicht einander wechselseitig ergänzen können.

So verbrachte sie denn ihre Tage — nach außen hin wie eine vielbe-schäftigte Person mit guten Anlagen, die sich für ein halbes Dutzend einfa-cher Dinge interessiert — nach innen prüfend, bedenkend, überlegend und voll Interesse an der Beobachtung zweier Charaktere — ihres eigenen und des Charakters ihres Adoptivbruders. Frau Baxters Charakter bedurfte keiner Zergliederung, er war ein mit sich übereinstimmendes Ganze, klar wie Kri-stall und ebenso fertig.

Es waren noch etwa fünf Wochen bis Weihnachten, als Maggie sich des-sen bewußt wurde, was sie, als ein englisches Mädchen, eigentlich schon längst hätte wissen müssen —, daß sie nämlich etwas zu viel an einen jungen Mann dachte, der, wie es schien, ihrer gar nicht gedachte. Wohl hatte er ein-mal eine Periode der Empfindsamkeit ihr gegenüber durchgemacht; aber die völlige Entmutigung, die ihm dabei zuteil geworden, hatte genügt.

Zur Klarheit über sich kam Maggie in folgender Weise: Frau Baxter öffnete eines Morgens einen Brief, indem sie dabei zufrieden

lächelte. „Von Laurie“, sagte sie. Maggie hörte einen Augenblick auf, geröstetes

Brot zu essen, und lauschte. Nun stieß die alte Dame einen kurzen, ärgerlichen Ausruf aus. „Er meint,

er könne nicht kommen“, sagte sie. Maggie fühlte plötzlich einen stechenden Ärger. „Was schreibt er? Warum nicht?“ frug sie. Eine Pause entstand. Sie beobachtete Frau Baxter, die ihre Augengläser

aufgesetzt hatte und deren Lippen sich langsam bewegten, und sah, wie sie eine Seite umwandte und wieder umwandte. Maggie nahm noch ein Stück geröstetes Brot.

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Es gibt wenig Dinge, die aufregender sind, als Brieffragmente in so zer-

stückelter Weise mitgeteilt zu bekommen. „Er sagt es nicht. Er sagt nur, daß er sehr beschäftigt sei und noch ein gut

Stück Weges vor sich habe, den er zurücklegen müsse.“ Die alte Dame fuhr ruhig fort zu lesen und legte dann den Brief nieder.

„Sonst nichts?“ frug Maggie, von Ärger verzehrt. „Er ist ein- oder zweimal im Theater gewesen… der liebe Laurie! Ich bin

froh, daß er wieder guter Laune ist.“ Maggie war in der Tat sehr zornig. Sie dachte, es sei abscheulich von dem

Jungen, seine Mutter in solcher Weise zu behandeln. Und dann war ja die Jagd geplant, die freilich nicht groß war, abgesehen von den Kaninchen, die man nach Ansicht des zeitweiligen Hegers an Zahl vermindern mußte, und einem Dutzend wilder Fasanen — diese Jagd hatte, wie sie gehört, immer um Weihnachten stattgefunden, seitdem der kleine Laurie alt genug war, eine Flinte zu halten.

Sie beschloß, ihm einen Brief zu schreiben. Als das Frühstück vorüber war, ging sie mit entschlossener Miene in ihr

Zimmer. Sie wollte diesem Jungen ernstlich einige derbe Wahrheiten sagen. Es war die Sache einer — einer Schwester, das zu tun. Die Mutter, das wußte sie wohl, würde höchstens ein bißchen darüber klagen und würde damit schließen, dem lieben Jungen zu sagen, er müsse alles am besten wissen, und sie sei bei dem Gedanken, welche Mühe er sich mit seinen Studien gebe, sehr glücklich. Irgend jemand mußte dem Jungen seine außerordentliche Selbstsucht klar-machen, und es schien ihr, daß sie selbst dazu da sei. Also wollte sie es tun.

Sie tat es in höflicher, aber nicht mißzuverstehender Weise; und da der Morgen schön war, kam ihr der Gedanke, sie wolle in das Dorf gehen und den Brief selbst zur Post geben. Sie wollte nicht mehr schwankend werden, und wenn einmal der Brief im Postkasten lag, war die Sache geschehen.

Es war in der Tat ein köstlicher Morgen. Als sie durch das eiserne Tor ging, stiegen die Bäume über ihrem Haupt mit ihren wenigen braunen ver-späteten Blättern wie Filigran von feinster Arbeit in den blauen klaren No-vemberhimmel auf, der so frisch war wie das Ei einer Baumnachtigall; der lebhafte Ton von Hahnengeschrei stieg silbern und frohlockend von dem Meierhof jenseits der Landstraße empor, und die enge Straße des Dörfchens sah so sauber aus wie ein holländisches Bild.

Sie bemerkte zur Rechten, eben als sie sich nach links dem Dorfe zu-wandte, den Laden des Krämers mit dem Namen „Nugent“ in so glänzenden

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und leuchtenden Buchstaben wie über dem Warenhaus eines Königlichen Kaufmanns. Herr Nugent konnte undeutlich im Innern wahrgenommen wer-den, in seinen weißen Hemdärmeln und seiner Schürze, wie er eben an einem Haufen von Käsen beschäftigt war. Im oberen Stock zeigten drei Paar Spit-zenvorhänge, von welchen jedes mit einer blauen Schleife geschmückt war, wo sich die Schlafzimmer befanden. Eines davon mußte das Amys gewesen sein. Sie fragte sich, welches…

Auf der ganzen Länge der Straße, die eine halbe Meile weit zum Dorfe führte, dachte sie über Amy nach. Ihres Wissens hatte sie das Mädchen nie gesehen, aber sie hatte ein ziemlich deutliches Bild von ihr durch Frau Bax-ters Schilderung… Ach, wie konnte Laurie? Wie konnte er?… Laurie gera-de? Es war das ein Beispiel mehr…

Nachdem sie ihren Brief in den Postkasten an der Ecke geworfen hatte, zögerte sie einen Augenblick. Dann wandte sie sich mit einem seltsamen Ge-sichtsausdruck rasch seitwärts, wo der Kirchturm über die entlaubten Bäume hervorragte.

Es war eine typische kleine Dorfkirche, mit dem Geruch ehrenwerter und etwas muffiger Heiligkeit, wie er dieser Art eigentümlich ist; sie hatte darüber mehr als einmal in Lauries Gegenwart die Nase gerümpft. Aber sie trat jetzt durch die Pforte des Kirchhofes und kam, über das nasse Gras schreitend, zu den Grabsteinen und an den kleinen Hügel, wo ein sehr weißer Marmorengel ein ebenso weißes Marmorkreuz umfaßte. Sie blieb davor stehen, ein wenig die Stirne runzelnd über diesen unerträglichen Mangel an Geschmack.

Das Kreuz war, wie sie bemerkte, mit einem Zweig aus elfenbeinweißem Marmor geschmückt. Der Engel war ein deutsches weibliches Wesen mit einem sehr runden Bein, das hinter einer Art von Knospe hervorkam; und am Fuß des Kreuzes befand sich die Inschrift in auffallendem Schwarz —

Amy Nugent

die teure und einzige Tochter von

Amos und Maria Nugent von Stantons

gestorben am 21. September 1901 von allen geachtet

„Ich werde sie wiedersehen, aber nicht jetzt.“

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Unten, so deutlich wie die Inschrift, standen des Verfertigers Name und die Stadt, wo er wohnte.

Hier lag sie also, dachte Maggie. So hatte es geendet. Ein Erdhügel, der

ein wenig geborsten und eingesunken war. Hier lag sie, und ihre nervösen Finger waren bewegungslos und ihr Stammeln verstummt. Und konnte es ein beredsameres Denkmal geben von dem, was sie war?… Dann kam Maggie wieder zu sich selbst, und sie machte das Zeichen des Kreuzes, während ihre Lippen sich einen Augenblick im Gebet für die Ruhe der armen Mädchensee-le bewegten. Dann ging sie wieder auf demselben Pfad zurück, um sich nach Hause zu begeben.

Als sie an der Kirchtüre vorbeikam, wurde ihr klar, warum sie gekommen war, und sie wurde sich zum ersten Male ihres wahren Seelenzustandes, wäh-rend sie an jenem Grab gestanden und die Inschrift gelesen hatte, bewußt, und wie ein Blitzstrahl traf sie die Erkenntnis, was alles dies eigentlich zu be-deuten habe.

Es war mit einem Wort dies: Sie war hierhergekommen, wie sie sich selbst sagte, um zu triumphieren,

um zu verurteilen. Oh! Sie schonte sich nicht, als sie hier stand, dunkelrot von Scham darüber, daß sie das Grab einer Nebenbuhlerin mit scheelen Au-gen angesehen. Amy war nichts Geringeres, und sie selbst — sie, Margrit Marie Deronnais — hatte sich von der Eifersucht auf diese Krämerstochter hinreißen lassen, weil… weil… sie für den Mann, dem sie an diesem Morgen den Brief geschrieben, eine Neigung zu fühlen begann, eine ernstliche Nei-gung. Und dieser Mann hatte kaum ein anderes Wort mit ihr gesprochen oder einen andern Blick auf sie geworfen als ein Bruder seiner Schwester gegen-über. Das war die nackte Wahrheit.

Ihre Gedanken wandten sich dem Vergangenen zu. Jetzt erst verstand sie hundert Dinge. Sie erkannte, daß ihr plötzlicher Zorn beim Frühstück eine persönliche Enttäuschung bedeutet hatte — und keineswegs jene von ihr beanspruchte erhabene Uneigennützigkeit Lauries Mutter gegenüber, die sie sich vorgespiegelt. Sie begriff jetzt auch die Bedeutung jener langen, ihr so angenehmen Betrachtungen, während sie auf den Gartenwegen hin und her ging, munter nach Wegerich ausschauend, und begriff die Bedeutung des Ei-fers, den sie erst kürzlich vor acht Tagen zugunsten eines Haselbäumchens gezeigt, das der Gärtner hatte fällen wollen. „Ihr würdet besser tun, zu war-

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ten, bis Herr Laurence nach Hause kommt“, hatte sie gesagt; „ich glaube, er sagte einmal, er liebe das Bäumchen gerade an dieser Stelle.“

Sie begriff jetzt, warum sie so hellsehend, so rasch verurteilend, so kritisch dem jungen Mann gegenüber gewesen — es kam daher, daß sie sich leiden-schaftlich für ihn interessierte, so daß es sogar ein Vergnügen für sie war, ihn bei sich selbst zu schmähen, ihn selbstsüchtig und nur mit sich beschäftigt zu nennen, und daß alle diese stolze Mißbilligung nur das Besänftigungsmittel war, das ihr Unterbewußtsein angewandt hatte, um ihr Unbehagen zu lindern.

Kleine Szenen stiegen blitzschnell vor ihr auf — während sie mit der Hand auf der mittelalterlichen Torklinke dastand, und sie gewahrte sich selbst als eine stolze, unweibliche, pharisäische Pedantin, die einen Mann liebte, der sie nicht wiederliebte.

Sie machte eine Anstrengung, öffnete das Tor und ging fort, äußerlich ei-ne schöne, ruhige Erscheinung mit großen klaren Augen, gutgeschnittenem Profil, ein Muster von Würde und Anmut — innerlich eine wütende, sich selbst verachtende, erniedrigte Elende.

Es muß daran erinnert werden, daß sie im Kloster erzogen war.

II.

Zur Zeit, als Lauries Antwort kam, hatte die arme Maggie ihre Empfin-dungen hübsch in Ordnung gebracht. Sie war nach vielen Herzensprüfungen zu dem Schluß gekommen, daß sie allem nach noch nicht tatsächlich in Lau-rie verliebt sei; aber daß Gefahr dazu vorhanden, und daß sie darum jetzt, da sie die Gefahr kannte und sich dagegen zu wehren vermochte, nicht nötig ha-be, ihr Heim zu verlassen und sich in ein Kloster zu vergraben oder sich auf ein Missionsgebiet ins Ausland zu begeben.

Sie gelangte zu diesem erstaunlichen Schluß durch folgenden Gedanken-gang. Er mag in der Form eines Syllogismus dargelegt werden:

Alle Mädchen, die verliebt sind, halten den Geliebten für einen fleckenlo-sen, untadelhaften Helden.

Maggie Deronnais hielt Laurie Baxter nicht für einen fleckenlosen, un-tadelhaften Helden.

Ergo war Maggie Deronnais nicht in Laurie Baxter verliebt.

So seltsam dies nichtkatholischen Lesern erscheinen wird: Maggie ver-

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„V ersuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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traute ihre inneren Kämpfe keineswegs den Ohren des Father Mahon an. Sie erwähnte ohne Zweifel am nächsten Samstag, daß sie manchen Gedanken voll Stolz und Eifersucht Raum gegeben, daß sie sich selbst in bezug auf eine gewisse Handlung, die in Wirklichkeit selbstsüchtigen Motiven entsprungen war, mit der Vorstellung getäuscht, sie habe aus altruistischen Motiven ge-handelt — dabei aber ließ sie es bewenden. Und auch Father Mahon ließ es dabei bewenden und gab ihr, ohne zu zögern, die Absolution.

Dann kam Lauries Antwort, und man mußte sich damit befassen, das heißt, dies mußte mit angemessener Zurückhaltung aller Gemütsbewegungen geschehen.

„Meine liebe Maggie“, schrieb er. „Warum all diese Wut? Was habe ich getan? Ich sagte der Mutter, ich

wisse nicht, ob ich kommen könne oder nicht, da ich eine Menge Dinge zu tun habe. Ich glaube nicht, daß sie dir den Brief zu lesen gegeben hat, sonst würdest du dich nicht insolcher Weise über meine Abwesenheit während die-ser Jahreszeit ausgesprochen haben. Natürlich komme ich, wenn Du oder ir-gend jemand anders dies wünscht. Ist die Mutter auch aufgebracht? Bitte, sage mir, ob dies der Fall ist, oder ob sie sich im geringsten unwohl fühlt oder sonst etwas. Ich werde sofort kommen. Wie dem auch sei, wir wollen sagen, am 20. Dezember, und ich werde mindestens eine Woche bleiben. Wird dies genügen?

Der Deine L. B.“

Dies hatte etwas Überwältigendes, und Maggie schrieb einen reuigen Brief, der zwar sorgfältig jeden Ausdruck von wärmerer Empfindung ver-mied, aber doch sagte, daß sie über sein Kommen sehr froh sei, und daß die Jagd sich sehen lassen könne.

Sie adressierte den Brief und betrachtete dann einen Augenblick den Lau-ries — die saubere, an Oxford erinnernde Handschrift, das künstlerische Aus-sehen der Sätze und alles übrige.

Sie hätte ihn gern aufbewahrt — um ihn zu einem halben Dutzend anderer zu legen, die sie von ihm hatte; aber es schien ihr besser, es zu unterlassen.

Als sie den Brief sorgfältig in Stücke zerriß, schlug ihr Gewissen sie wie-der in quälender Weise, und sie zog die obere Schublade links an dem Schreibtisch heraus, an dem sie saß.

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Da lagen sie, ein kleiner Stoß, zierlich und regelrecht. Sie schaute einen

Augenblick darauf; dann nahm sie sie heraus, wandte sie rasch um, um zu sehen, ob es alle seien, und die Stücke des einen, den sie am Morgen bekom-men hatte, zusammenfassend, ging sie an das Feuer und warf alles hinein. Es war besser so, sagte sie sich selbst.

Die Tage verliefen nun sehr angenehm. Nicht einen Augenblick aber wollte sie sich eingestehen, dies Gefühl von Behagen in ihr hänge mit dem Umstand zusammen, daß der junge Mann in wenigen Wochen wieder hier sein würde. Im Gegenteil, sie sagte sich, sie fühle darum einen so heiteren Frieden, weil sie sich auf einer Schwäche ihm gegenüber betroffen und diese entschlossen unterdrückt habe. Sie ordnete alles für die Jagd in völlig ge-lassener Weise an — das heißt, sie benachrichtigte den Heger, daß Herr Lau-rie wie gewöhnlich die Weihnachtszeit zu Hause verbringen werde, — und sie kam ihren verschiedenen Beschäftigungen mühelos nach.

Dann und wann fand sie, daß Frau Baxter etwas ermüdend sei. Diese Da-me war zu dem Schluß gekommen, Laurie fühle sich nicht glücklich in bezug auf seine Religion — gewisse Anspielungen darauf zeigten sich in seinen Briefen — und Herr Rymer müsse das wieder in Ordnung bringen.

„Der Vikar muß wenigstens zweimal mit uns speisen, während Laurie hier ist“, bemerkte sie eines Morgens beim Frühstück. „Er hat großen Einfluß auf junge Leute.“

Maggie dachte an einige sehr ungerechte Bemerkungen, die Laurie in be-zug auf den Geistlichen gemacht hatte.

„Glaubst du — glaubst du, daß er Laurie versteht?“ sagte sie. „Er kennt ihn seit fünfzehn Iahren“, bemerkte Frau Baxter. „Vielleicht versteht ihn Laurie aber nicht“, sagte Maggie ruhig. „Ich glaube doch.“ „Und — und was glaubst du, wird Herr Rymer tun können?“ frug das

junge Mädchen. „Dem Jungen den Kopf zurechtsetzen… ich glaube nicht, daß sich

Laurie sehr glücklich fühlt. Nicht als ob ich ohne Not sein Gemüt beunru-higen möchte, das meine ich nicht, meine Liebe. Ich begreife ganz gut, daß eure Religion gerade die richtige für gewisse Temperamente ist, und das Lauries gehört dazu; aber einige wenige hilfreiche Worte zuweilen ——“ Frau Baxter ließ es bei einer Aposiopese bewenden, einer Redeform, die sie sehr liebte.

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Es war ein Körnchen Wahrheit in der Bemerkung der alten Dame, dachte Maggie. Schweigend nahm sie sich noch etwas Marmelade. Lauries Briefe, welche sie gewöhnlich auch las, sprachen nur selten von Religion oder von dem Oratorium zu Brompton, während früher doch das Gegenteil der Fall ge-wesen war. Sie versuchte sich einzureden, daß dies ein heilsames Zeichen sei, daß es zeige, wie Laurie in dem fiebrischen Eifer, der allen Konvertiten eigen zu sein schien, etwas nachließ. Maggie fand Konvertiten dann und wann lästig; sie wollten soviel über Tatsachen sprechen, die doch unbe-stritten waren und über die man darum nicht zu sprechen brauchte. Laurie war ein merkwürdiger Fall gewesen, wie sie sich erinnerte. Er würde nichts auf sich beruhen lassen, und seine Verachtung der anglikanischen Geistlich-keit, die Maggie selbst mit Respekt betrachtete, war schwer zu begreifen. Sie hatte darum in bezug auf den Vikar Einwendungen gemacht…

Maggie bemerkte, daß sie ihren Gedanken wieder freien Lauf auf einer allzu gefährlichen Bahn ließ, und sie machte eine so plötzliche Bemerkung über die Balkankrisis, daß Frau Baxter sie ganz überrascht anblickte.

„Du machst solche Sprünge, meine Liebe. Wir sprachen von Laurie, nicht?“ „Ja“, sagte Maggie. „Er will am Zwanzigsten kommen, nicht?“ „Ja“, sagte Maggie. „Mit welchem Zug er wohl kommen wird?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Maggie. Wenige Tage vor Lauries Ankunft ging sie in das Gewächshaus, um die

Chrysanthemen zu sehen. Es war dort eine sehr schöne Auswahl ausgestellt. „Frau Baxter mag die haarigen nicht“, sagte der Gärtner. „O, ich vergaß das. Nun, Ferris, am Neunzehnten möchte ich einen gro-

ßen Strauß davon haben. Am besten nehmt Ihr von diesen — diesen haari-gen. Und etwas Frauenhaar dazu. Ist genug vorhanden?“

„Ja, Fräulein.“ „Könnt Ihr einen Kranz binden?“ „Ja, Fräulein.“ „Wollt Ihr einen hübschen Kranz davon binden, bitte, für ein Grab? Der

Morgen des Zwanzigsten würde dazu geeignet sein. Wird es dann für die Kirche und das Haus noch reichen?“

„O ja, Fräulein.“

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„Und für Father Mahon?“ „O ja, Fräulein.“ „Gut also. Wollt Ihr daran denken? Ein hübscher Kranz mit Farnkräutern

am Morgen des Zwanzigsten. Wenn Ihr ihn hier lassen wollt, werde ich ihn gegen zwölf Uhr abholen. Ihr braucht ihn nicht ins Haus zu schicken.“

„Ganz gut, Fräulein.“

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Sechstes Kapitel

I.

Laurie saß nach dem Frühstück in seinem Zimmer, stopfte gedankenvoll seine Pfeife und dachte über seine Reise nach Stantons nach.

Es waren jetzt mehr als sechs Wochen seit jenem Versuch in Queen̓s Gate verflossen, und er hatte eine Reihe der verschiedenartigsten Gemütsbe-wegungen seitdem durchgemacht. Schrecken und Bestürzung hatten ihn zu-erst erfaßt, dann ein nervöses Interesse, dann ein trotziger Skeptizismus und zuletzt zu seinem Erstaunen wieder jenes nervöse Interesse.

Zuerst war er von einer unvernünftigen Furcht erfüllt gewesen. Er war bis an das Tor des Parks zurückgegangen, kaum wissend, wohin er ging, nur mit dem Bewußtsein, daß er in Gesellschaft seiner Kameraden sein müsse; als er wahrnahm, daß er sich an der Südseite von Hyde Park Corner befand, wo wenig Leute vorüberkamen, ging er in nervöser Hast quer hindurch, um da zu sein, wo er menschliche Wesen treffen konnte. Dann hatte er in einem Re-staurant zu Abend gespeist — er wußte, daß eine Musikband hier spielen würde — und hatte eine Flasche Champagner getrunken. Aufgeheitert und erregt, war er dann in seine Wohnung gegangen und hatte sich sofort zu Bett gelegt, aus Furcht, sein Mut könne sich wieder verflüchtigen. Denn er war sich vollständig klar darüber, daß Furcht und eine krankhafte Art von Wider-willen einem großen Teil seiner Gemütsbewegungen zugrunde lagen. Wäh-rend beinahe zwei Stunden war — wenn nicht drei Personen vollständig ge-logen hatten — sein eigentlichstes Wesen, jenes schlaflose Selbst, das allem zugrunde liegt — in seltsamer Gesellschaft gewesen, war in einer furchtbaren Art eins geworden mit der Seele einer Verstorbenen. Es war, als ob man ihm eines Morgens gesagt hätte, daß er die ganze Nacht mit einem Leichnam un-ter seinem Bett geschlafen habe. Er war in jener Nacht ein halbes dutzendmal in dem hübschen, mit Vorhängen versehenen Schlafzimmer aufgewacht, und jedesmal mit dem gleichen Schreckensgefühl. Wenn diese Geschichten wahr wären und dieses Wesen noch die Luft unsicher machte? Es war merkwürdig,

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wie er sich nachher sagte, daß das Zeichen, welches er verlangt, nicht die Wirkung gehabt hatte, auf die er gehofft. Er war nicht im geringsten dadurch beruhigt.

Als die Zeit verfloß, ohne daß man ihn weiter behelligte, begann sein Ent-setzen zu schwinden. In Gedanken beschäftigte er sich tagtäglich mit dem Er-lebten und war ganz davon in Anspruch genommen. Aber er begann einzu-sehen, daß er nicht mehr erfahren hatte, als er zuvor schon gewußt. Ein hyp-notischer Schlaf konnte zur Erklärung für die ganze Sache dienen. Die kleine Enthüllung, die er in seiner Bewußtlosigkeit gemacht, er habe unter den Ei-benbäumen gesessen, mochte leicht durch den Umstand erklärt werden, daß er ja selbst davon wußte, daß er einen tieferen Eindruck davon gehabt, als ihm zum Bewußtsein gekommen war, und daß er laut davon gesprochen hat-te. Der Beweis von etwas Weiterem lag nicht darin. Noch blieb das Klopfen, und was das Medium als ,Erscheinungʻ während seines Schlafes bezeichnet hatte, zu erklären, aber von derartigem hatte er schon in Büchern gelesen. Warum sollte er nun überzeugter sein als früher? Überdies war es zweifel-haft, ob nicht das Klopfen, wenn es tatsächlich stattgefunden, mit dem ge-wöhnlichen Krachen und Tönen des Getäfels zusammenhing, das durch die Spannung der Zuhörer in seiner Wirkung verstärkt wurde. Oder wenn es wirklich etwas mehr war, gab es irgendeinen Beweis dafür, daß es nicht durch die starke Willensmacht irgendeiner der anwesenden Personen hervorge-rufen worden war? Das wäre etwas ganz Begreifliches, begreiflicher als jede andere Hypothese… Außerdem, was hatte dies alles mit Amy zu schaffen?

Im Lauf der nächsten Woche nach jener ersten Erfahrung waren skepti-sche Ansichten in ihm vorherrschend, und die fortwährende Wiederkehr der-artiger Gedanken tat ihre Wirkung. Das normale Leben, das er führte, das breite, geschäftsmäßige Gesicht des Rechtsanwaltes, das er Tag für Tag sah, einige Theateraufführungen, ein paar Mahlzeiten, selbst der Lärm der Lon-doner Straßen und der Anblick von Werkeltagsmenschen — all dies beruhig-te ihn allmählich.

Als er jetzt einige nervöse Zeilen von Lady Laura erhielt, worin sie ihn an die Séance erinnerte, die in der Baker Street abgehalten werden solle, und seine Gegenwart erbat, schrieb er eine passende, für ihre Güte dankende Ant-wort und sagte, er sei zu dem Schluß gekommen, daß diese Dinge weder für ihn noch für seine Arbeit gut seien, und bat sie zugleich, ihn bei Herrn Vin-cent zu entschuldigen.

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Acht oder vierzehn Tage vergingen so, ohne daß sich irgend etwas er-

eignet hätte. Dann kam wieder eine Botschaft von Lady Laura, und wieder antwortete er mit einer höflichen Ablehnung, indem er etwas mehr über sei-nen eigenen Gemütszustand sagte; und wieder blieb alles still.

Dann kam Herr Vincent selbst eines Abends nach dem Essen zu ihm. Lauries Zimmer befanden sich in Mitre Court und waren sehr bequem für

den Temple gelegen — zwei Zimmer, die ineinandergingen und nahe an der Treppe lagen.

Er hatte ein wenig auf seinem Flügel gespielt, der den dritten Teil des Wohn-zimmers einnahm, und war dann an dem Kaminfeuer eingeschlafen. Er erwachte plötzlich, sah die große Gestalt vor sich stehen und richtete sich verwirrt auf.

„Ich bitte um Verzeihung, Herr Baxter; der Junge des Portiers wies mich an, geradeherauf zu gehen. Ich fand die äußere Türe offen.“

Laurie beeilte sich, ihn willkommen zu heißen, bat ihn, sich in einen Lehnstuhl zu setzen, bot ihm Whisky an und versah ihn mit Tabak. Es war etwas an diesem Mann, das Ehrerbietung forderte.

„Sie wissen, wie mich dünkt, warum ich gekommen bin“, sagte das Me-dium lächelnd.

Laurie erwiderte dies Lächeln, aber in etwas nervöser Weise. „Ich bin gekommen, um zu sehen, ob Sie Ihren Entschluß nicht nochmals

überlegen wollen.“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Ich glaube, nicht“, sagte er. „Sie haben, wie ich hoffe, keine schlimmen Nachwirkungen durch das

gehabt, was sich bei Lady Laura zutrug?“ „Nicht im geringsten, nachdem die erste Erschütterung vorüber war.“ „Gibt Ihnen dies nicht neuen Mut, Herr Baxter?“ Laurie zögerte. „Es verhält sich damit so“, sagte er, „ich bin noch nicht wirklich über-

zeugt. Ich sehe in dem, was geschah, nichts Entscheidendes.“ „Wollen Sie sich, bitte, näher erklären?“ Laurie setzte die Ergebnisse seines Nachdenkens auseinander. Es sei

nichts geschehen, sagte er, was nicht einem sehr abnormen subjektiven Zu-stand zugeschrieben werden könne. Der Umstand, daß dieser — dieser jun-gen Person Namen ihm im Gedächtnis haftete… und so weiter…

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„…Und ich finde, daß mich das in meinen Arbeiten stört“, schloß er.

„Bitte, halten Sie mich nicht für rücksichtslos oder undankbar, Herr Vincent.“ (Er dachte, er sei jetzt sehr stark und vernünftig.) Das Medium schwieg einen Augenblick. „Ist es Ihnen nicht seltsam aufgefallen, daß ich selbst in jener Nacht zu

keinen Ergebnissen gelangen konnte?“ sagte er dann. „Wieso? Ich begreife nicht.“ „Nun, weil ich in der Regel keinerlei Schwierigkeiten habe, irgendeine

Antwort durch das automatische Schreiben zu erlangen. Haben Sie bemerkt, daß ich an jenem Abend gar nichts zu tun vermochte?“

Laurie überlegte. „Nun“, sagte er endlich, „mag Ihnen dies töricht erscheinen, aber

zugestanden, daß ich nach dieser Seite hin ungewöhnliche Gaben hätte — es sind dies Ihre eigenen Worte, Herr Vincent —, wenn dem so wäre, so sehe ich nicht ein, warum meine Gedankenkonzentration oder mein hypnotischer Schlaf oder meine Trance — oder was es immer war — nicht so intensiv gewesen sein sollte, um zu —“

„Ich merke schon“, unterbrach ihn der andere. „Es ist das begreiflich von Ihrem Standpunkt aus. Ich dachte mir, daß Sie vielleicht so denken würden. Vermutlich gehen Sie von der Ansicht aus, daß das Unterbewußtsein genügt, um alles zu erklären, daß in jenem hypnotischen Schlaf — falls Sie Wert darauf legen, ihn so zu nennen — Sie einfach äußerten, was Ihnen auf dem Herzen lag, und daß Sie sich selbst mit… mit dem jungen Mädchen in der Erinnerung eins fühlten.“

„Ich vermute das“, sagte Laurie kurz. „Und das unaufhörliche laute, nicht mißzuverstehende Klopfen?“ „Das scheint mir nicht von Belang zu sein. Ich hörte es auch nicht, wie

Sie wissen.“ „Dann wollen Sie also ein nicht mißzuverstehendes Zeichen?“ „Ja…, aber ich sehe vollkommen ein, daß dies unmöglich ist. Was ich

auch in meinem Schlaf gesagt habe, entweder kann ich nicht festhalten, daß es wahr ist, in welchem Fall es als Beweis keinen Wert hat, oder ich kann dies feststellen, weil ich es bereits weiß, und in diesem Fall ist es ebenfalls wertlos.“

Das Medium lächelte mit halbgeschlossenen Augen. „Sie müssen uns für sehr kindisch halten, Herr Baxter“, sagte er.

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Er richtete sich ein wenig in seinem Stuhl auf; dann steckte er die Hand in

seine Brusttasche und zog ein Notizbuch heraus, das er geschlossen auf den Knien hielt.

„Darf ich eine Sie vielleicht schmerzende Frage an Sie richten?“ sagte er sanft.

Laurie nickte. Er fühlte sich sehr sicher. „Würden Sie so gütig sein, mir zu sagen — erstens, ob Sie das Grab die-

ses jungen Mädchens gesehen haben, seit Sie vom Land hierhergekommen sind; zweitens, ob vielleicht irgend jemand Ihnen davon gesprochen hat?“

„Niemand hat mir davon gesprochen. Und ich habe es nicht mehr gese-hen, seitdem ich vom Land hereingekommen bin.“

„Wie lange ist das her?“ „Das war… etwa am siebenundzwanzigsten September.“ „Danke!…“ (Herr Vincent öffnete das Notizbuch und wandte die Seiten

während einiger Augenblicke um.) „Und wollen Sie dies anhören, Herr Bax-ter? — „Sage Laurie, daß die Erde auf meinem Grab etwas eingesunken ist, und daß sich an der Seite Risse zeigen.“

„Was ist das für ein Buch?“ sagte der junge Mann heiser. Das Medium schloß es und steckte es wieder in seine Tasche. „Dieses Buch, Herr Baxter, enthält einige Auszüge von den Dingen, die

Sie während Ihrer Trance gesagt. Der Satz, den ich gelesen habe, gehört da-zu, ist eine Antwort auf eine von mir gestellte Aufforderung, daß jene Macht einen nicht mißzuverstehenden Beweis ihrer Identität geben solle. Sie… sie zögerte einige Zeit, ehe sie jene Antwort gab.“

„Wer machte die Aufzeichnungen?“ „Frau Stapleton. Sie können, wenn Sie wollen, die Originale sehen. Ich

dachte, es würde Ihnen unangenehm sein, daß man solche Aufzeichnungen ma-che; aber ich mußte es wagen. Wir dürfen Sie nicht verlieren, Herr Baxter.“

Laurie saß stumm und verwirrt da. „Alles, was Sie nun zu tun haben“, fuhr das Medium gelassen fort, „be-

steht darin, herauszubringen, ob das, was gesagt wurde, richtig ist oder nicht. Wenn es nicht richtig ist, so ist die Sache zu Ende, wenn Sie wollen. Aber wenn es richtig ist —“

„Hören Sie auf; lassen Sie mich nachdenken!“ rief Laurie. Er war wieder in der gleichen Verwirrung, der er entronnen zu sein glaub-

te. Hier war ein entscheidendes Zeugnis, das wenigstens in gutem Glauben

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dargeboten wurde, — ein Zeugnis, wie es früher gefehlt hatte, und er zwei-felte nicht daran, daß die Tatsachen es unterstützen würden. Und wenn es sich damit so verhielt — gab es irgendeine faßbare Hypothese, die das erklä-ren konnte, außer der einen, die dieser ernste, würdige Mann — der hier saß und ihn mit einer Art von anteilvollem Mitleid in seinen schwermütigen Au-gen ansah — so vertrauensvoll darbot? Ein zufälliges Zusammentreffen? Eswar vernunftwidrig. Gewisse Gräber sinken manchmal ein — aber… Gedan-kenübertragung durch jemand, der das Grab gesehen hatte?… Aber warum dann dieser besondere, so lebhaft klar und bündig ausgesprochene Satz?…

Wenn es wahr wäre?… Laurie schaute mit hoffnungsloser Miene auf den Mann, der ruhig rau-

chend dasaß und wartete. Und dann durchbohrte ein anderer Gedanke, den er früher unbeachtet ge-

lassen, sein Herz gleich einem Schwert. Wenn es wahr wäre; wenn Amy selbst, die arme hübsche Amy, in der Tat dagewesen war, wenn sie ihm jetzt nahe wäre, laut weinend wie ein Kind, das man des Nachts ausgeschlossen, an sein eigenes skeptisches Herz anpochend… Wenn es in der Tat wahr wä-re, daß während jener zwei Stunden sich ihres Herzens Wunsch erfüllt hätte und sie eins gewesen wäre mit seiner eigenen Seele in einer Art, welche kei-ner irdischen Vereinigung erreichbar ist,… wie hatte er sie behandelt? Bei diesem Gedanken durchströmte ihn ein widerwilliger Schauder… Es war un-natürlich, verabscheungswürdig… und doch, wie süß!… Was sagte die Kir-che von solchen Dingen?… Aber wie, wenn die Religion unrecht hätte und dies in der Tat eine Vereinigung höherer Natur wäre, von der eine Heirat nur der materielle Ausdruck ist?…

Rascher als Wolken flogen seine Gedanken, während er hier saß, ihn ver-wirrend, quälend, ihn lockend. Er machte eine heftige Anstrengung. Er mußte bei Verstand bleiben und die Dinge klar ins Auge fassen.

„Herr Vincent“, rief er. Das gütige Gesicht wandte sich ihm wieder zu. „Herr Vincent…“ „Still, ich verstehe Sie vollkommen“, sagte die väterliche Stimme. „Sie

sind erschüttert, das weiß ich, aber die Wahrheit ist eben manchmal erschüt-ternd. Warten Sie. Ich begreife vollkommen, daß Sie Zeit haben müssen. Sie müssen alles überlegen und sehen, ob es wahr ist. Sie müssen sich nicht Ge-walt antun. Aber ich glaube, es wird gut sein, wenn Sie meine Adresse ha-

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ben. Die Damen sind etwas zu aufgeregt, nicht? Ich hatte erwartet, daß Sie früher kommen würden, um mich ohne jene zu sprechen.“

Er legte seine Karte auf den kleinen Teetisch und stand auf. „Gute Nacht, Herr Baxter.“ Laurie nahm seine Hand und schaute einen Augenblick in diese gütigen

Augen. Dann war er allein.

II. Das war nun eine Weile her, und Laurie, der jetzt bei seinem Frühstück

saß, hatte Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Er hatte den festen Willen, jedes Urteil aufzuschieben. Er war wieder in dem früher beschriebenen Zu-stand nervöser Erregung. Sein Schreckensgefühl schien vorüber zu sein, aber auch sein Skeptizismus. Jetzt sollte er Maggie und seiner Mutter gegenüber-treten und das Grab sehen.

In gewissem Sinn hatte er sich jetzt an den Gedanken mehr gewöhnt, daß wirkliche und wahrhaftige Wahrheit dem allem zugrunde liegen könne, und die Vertrautheit damit brachte ihm Erleichterung. Aber dennoch war für ihn mit dem Gedanken, nach Hause zu gehen, eine nervöse Aufregung verbunden. Er hatte Stimmungen, in welchen er, während er allein saß oder allein ausging, leidenschaftlich wünschte, alles möchte wahr sein, andere Stimmungen, in welchen er sich geduldig in die Sachlage ergab. Mit beiden Stimmungen aber war ein leichtes Mißbehagen verbunden bei dem Gedan-ken, Maggie zu treffen, und die Empfindung, ihr gegenüber im Nachteil zu sein. Maggie stand vor ihm wie die Verkörperung einer Lebensansicht, die gesund und heilsam war und eine eigentümliche Anziehungskraft für ihn hatte. Es war etwas Freies um sie her, eine Kraft, ein Gefühl von frischer Luft, das entzückte. Dies war es, was ihn seiner Meinung nach während des vergangenen Sommers angezogen hatte. Das Bild Amys dagegen hatte, be-sonders seit jenen neuen Beziehungen, eine ganz entgegengesetzte Bedeu-tung für ihn, eine Anziehungskraft von lebenglühender, fiebrischer Art. In einem zeitlichen Gleichnis ausgedrückt, verhielt es sich so: Er dachte an Maggie des Morgens und an Amy des Abends, besonders nach dem Essen. Maggie war kühl und sonnig, Amy paßte besser zu abendlicher Erregung und zu künstlichem Licht.

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Zuerst dachte er daran, daß er weder ihr noch seiner Mutter auch nur den

leisesten Wink von dem gegeben, was sich ereignet hatte. Beide glaubten, daß er mit alledem fertig sei. Es würde also keine Auseinandersetzungen geben; das wenigstens war ein Trost. Aber er hatte dem jungen Mädchen gegenüber ein eigentümliches Gefühl von Isolierung und Meinungsverschiedenheit.

Was aber ging sie die ganze Sache eigentlich an?, so fragte er sich entrü-stet. Sie war nicht sein Beichtvater; sie war nur ein im Kloster erzogenes Mädchen, das nichts verstand. Er wollte sich fern von ihr halten und höflich sein. Dies war seine richtige Stellung. Und er wollte für seine Angelegenhei-ten selbst sorgen.

Er tat einige wenige starke Züge an seiner Pfeife und stand auf. — Das war abgemacht.

In dieser entschlossenen Stimmung war er, als er am Bahnhof am Abend

dieses Wintertages ausstieg und Maggie, die auf ihn wartete, in ihrem Pelz er-blickte, strahlend, dem orangegelben Sonnenuntergang den Rücken zukehrend.

Die beiden küßten sich nicht. Es schien angemessener, es zu unterlassen. Aber er nahm ihre Hand mit einem angenehmen Gefühl von Bewillkomm-nung und Heimkehr.

„Tante ist in dem Brougham“, sagte sie. „Es ist aber Platz genug für das Gepäck. … O Laurie, wie nett das ist!“

Es war eine angenehme, zwei Meilen lange Fahrt. Laurie saß mit dem Rücken gegen die Pferde. Seine Mutter tätschelte ihm die Knie einige Male unter der Pelzdecke und schaute ihn mit herzlichem Vergnügen an. Es schien zunächst eine entzückende Heimkehr zu sein. Frau Baxter erkundigte sich nach Herrn Morton, Lauries Kutscher, mit schicklicher Ehrerbietung. Aber Örtlichkeiten haben eine ebenso starke Macht, Beziehungen festzu-halten, wie Personen, und Laurie merkte, als sie in das Dörfchen einbogen, wie besonders wahr dies gerade jetzt war. Er vermied es sorgfältig, nach Herrn Nugents Laden zu blicken, aber es war nutzlos. Der ganze Ort war für ihn so voll von Erinnerungen an Amy — als ob sie noch am Leben sei —und noch mehr als nur Erinnerungen. Sie fuhren an dem Tor an, an dem er ihren Namen geflüstert hatte; es zeigte sich das Ende des Eibenpfades, wo er in einer gewissen Nacht gesessen hatte, jenseits des Hauses, und eine halbe Meile weiter hinten lagen die Wiesen, jetzt im Dunkeln, wo er sie zuerst bei Sonnenuntergang getroffen, und die Schleuse des Flusses, wo sie miteinander

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

6

„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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schweigend gestanden. Und alles glich einer Landschaft, die ein Kind durch farbiges Papier betrachtet, es trug die eintönige Farbe von Tod und Gram.

Laurie war während des Abends ziemlich schweigsam. Seine Mutter be-merkte das und wurde dadurch zu einer Äußerung veranlaßt, die ihm für ei-nen Augenblick das Herz auf die Lippen führte.

„Du siehst etwas leidend aus. Lieber“, sagte sie, als sie ihre Schlafzim-merkerze ihm abnahm. „Du hast doch nicht über diesen Spiritismus nachge-dacht?“

Er händigte Maggie eine Kerze ein, ihren Blick vermeidend. „O, ein wenig“, sagte er leichthin, „aber seit mehr als zwei Monaten bin

ich in keine Berührung mehr damit gekommen.“ Er sagte das so natürlich, daß selbst Maggie beruhigt war. Sie hatte gera-

de noch während des Bruchteils einer Sekunde gezögert, um seine Antwort zu hören, und sie ging nun befriedigt zu Bett.

Ihre Befriedigung wuchs noch am nächsten Morgen, als Laurie sie auf ih-rem Weg zur Kirche an der Wegbiegung, die zum Dorfe führte, in der hei-teren kalten Luft anrief und zum Stehenbleiben veranlaßte.

„Ich komme mit“, sagte er tugendhaft; „ich bin an einem Wochentag seit undenklichen Zeiten nicht mehr drin gewesen.“

Sie sprachen während der halben Wegmeile von dem und jenem. An der Kirchtüre zögerte sie wieder.

„Laurie, ich möchte, du gingest nachher einen Augenblick mit mir auf den protestantischen Friedhof; willst du?“

Er wurde plötzlich so bleich, daß sie erschrak. „Warum?“ sagte er kurz. „Ich möchte, daß du etwas dort siehst.“ Er schaute sie einen Augenblick mit einem unbegreiflichen Gesichtsaus-

druck an. Dann nickte er mit zusammengepreßten Lippen. Als sie aus der Kirche kam, wartete er auf sie. Sie wollte ihrem Bedauern

Ausdruck geben. „Laurie, es ist mir schrecklich leid, ich hätte das vielleicht nicht sagen

sollen… Ich war dumm… Aber vielleicht — —“ „Was soll ich nach deinem Wunsch sehen?“ sagte er mit völlig tonloser

Stimme. „Nur einige Blumen“, erwiderte sie. „Du machst dir nichts daraus, nicht?“Sie sah, daß er leicht zitterte.

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„Ist das alles?“ „Nun ja… was könnte es sonst noch sein?“ Sie gingen einige Schritte schweigend weiter. An dem Tor sprach er wieder. „Es ist dies furchtbar gut von dir, Maggie… ich… ich bin noch ziemlich

erregt, weißt du. Das ist alles.“ Er eilte ihr ein wenig über das gefrorene Gras hinter der Kirche voraus,

und sie sah, wie er sehr ernsthaft auf das Grab blickte, als sie herankam. Er sprach während einiger Augenblicke kein Wort.

„Ich fürchte, das Denkmal ist… ist beinahe schrecklich… Magst du diese Blumen, Laurie?“

Sie bemerkte, daß die Chrysanthemen durch den Frost etwas geschwärzt waren, und gab kaum darauf acht, daß er nicht antwortete.

„Magst du diese Blumen?“ wiederholte sie. „O ja, ja“, sagte er, „sie sind… sie sind reizend… Maggie, das Grab ist

ganz in Ordnung, nicht? Den Hügel meine ich.“ Zuerst verstand sie ihn kaum. „O ja… was meinst du eigentlich?“ Er seufzte, sie wußte nicht, ob erleichtert oder nicht. „Nun… nun, ich habe gehört, daß Grabhügel zuweilen einsinken oder an

den Seiten Risse bekommen. Aber dies hier…?“ „O ja“, unterbrach ihn das junge Mädchen. „Es war gestern in sehr

schlimmem Zustand… Was ist dir, Laurie?“ Er hatte sein Gesicht plötzlich abgewandt, und ein solcher Schrecken hat-

te darauf gelegen, daß sie selbst erschrak. „Was hast du gesagt, Maggie?“ „Es war nichts von Bedeutung“, sagte das junge Mädchen rasch, „es war

nicht im geringsten zerstört, wenn dies —“ „Maggie, bitte, willst du mir genau sagen, in welchem Zustand dies Grab

gestern war? Wann wurde es in Ordnung gebracht?“ „Ich… ich bemerkte es, als ich gestern morgen die Chrysanthemen brachte.

Der Boden war etwas eingesunken, und es zeigten sich Risse an den Seiten. Ich sagte dem Totengräber, er möge es baldmöglich in Ordnung bringen. Er scheint es dann getan zu haben... Laurie, warum schaust du mich in solcher Weise an?“

Er starrte sie mit einem Ausdruck an, der irgend etwas bedeuten mußte. Sie würde nicht erstaunt gewesen sein, wenn er in ein Gelächter ausgebro-chen wäre. Es war furchtbar und unnatürlich zugleich.

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„Laurie, Laurie! — blick mich nicht in solcher Weise an!“ Er wandte sich plötzlich ab und ging fort. Sie eilte ihm nach. Auf dem Heimweg erzählte er ihr die ganze Geschichte von Anfang bis

zu Ende.

III. Die beiden saßen am letzten Abend von Lauries Ferien in dem kleinen

Rauchzimmer im hintern Teil des Hauses. Er sollte am nächsten Morgen in die Stadt zurückkehren.

Maggie hatte eine ganz jammervolle Woche verlebt. Sie mußte ihr Ver-sprechen halten, Frau Baxter nichts zu sagen — nicht als ob diese Dame irgend etwas hätte tun können, aber das Erzählen allein wäre schon eine Er-leichterung gewesen —, und diese Dinge waren tatsächlich nicht ernst genug, um eine Mitteilung an Father Mahon zu rechtfertigen.

Für Maggie lag das Schlimme nicht darin, daß sie irgendwie glaubte, die Behauptung der Spiritisten sei wahr, sondern daß der junge Mann dadurch so furchtbar aufgeregt war. Sie hatte alle Gründe und Gegengründe wieder und wieder mit ihm durchgegangen, herzlich seiner Annahme in bezug auf den ersten Teil der Geschichte zugestimmt und für sich selbst das angenommen, was ihr die vernünftigste Erklärung für die Einzelheiten des Schlusses der Geschichte zu sein schien. Gräber, sagte sie, sänken in zwei Fällen von drei-en immer ein, und Laurie wisse das so gut wie sie. Warum in aller Welt soll-ten jene Worte nicht dem gleichen Unterbewußtsein zugeschrieben werden wie das, was während des hypnotischen Schlafes — oder was es sonst war —dem übrigen Teil seiner Einbildungen Ausdruck in Worten gegeben hatte? Laurie hatte den Kopf geschüttelt. Jetzt waren sie wieder bei der Sache. Frau Baxter war vor einer halben Stunde zu Bett gegangen.

„Es ist gar zu grotesk und gottlos“, sagte Maggie entrüstet. „Du kannst doch nicht ernstlich glauben, daß der armen Amy Seele während der andert-halb Stunden in Lady Lauras Empfangszimmer in deinen Geist überging. Was wäre dann das Fegfeuer oder der Himmel? Es ist so äußerst lächerlich und unmöglich, daß ich nicht mit Geduld davon sprechen kann.“

Laurie lächelte müde und geringschätzig. „Der Punkt, auf den es ankommt“, sagte er, „ist der: Welches ist die ein-

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fachste Hypothese? Du und ich, wir glauben, daß die Seele irgendwo ist; und es ist natürlich, nicht?, daß sie wünscht — o! verdammt! Maggie, du sollst dar-an denken, daß sie mich liebte — ebenso, wie ich sie liebte“, fügte er hinzu.

Maggie merkte sich das. „Ich leugne nicht einen Augenblick, daß es eine seltsame Geschichte ist“,

sagte sie. „Aber diese Art der Erklärung ist gerade — o ich kann nicht davon sprechen. Du hast, bis zu dieser letzten Geschichte, nicht ernstlich daran glauben wollen; und nun hat dieses Zusammentreffen von Umständen alles auf den Kopf gestellt. Laurie, ich wollte, du wärest vernünftig.“

Laurie warf ihr einen Blick zu. Sie saß mit dem Rücken gegen das mit Vorhängen versehene, verschlos-

sene Fenster, hinter dem der Eibenpfad lag; das Lampenlicht fiel von dem hohen Gestell voll auf sie herab. Sie war in einen etwas dunkeln, reichen Stoff gekleidet, die Brust mit einem dünnen weißen Flor verhüllt, und ihre runden kräftigen Arme lagen, bis zum Ellbogen entblößt, auf den Stuhlleh-nen. Es war ein hübscher Anblick, und er hatte etwas Gesundes. Aber ihr Ge-sicht hatte einen beunruhigten Ausdruck, und ihre großen klaren Augen wa-ren nicht so heiter wie sonst. Er war erstaunt über die Hartnäckigkeit, mit der sie ihn angriff. Ihre ganze Persönlichkeit schien in ihren Augen und Gebär-den und in ihren raschen Worten zu liegen.

„Maggie“, sagte er, „bitte, hör mich an. Ich habe dir wieder und wieder gesagt, daß ich noch nicht überzeugt bin. Was du sagst, läßt sich sehr wohl als möglich begreifen. Aber es scheint mir nicht die natürlichste Erklärung zu sein. Am natürlichsten scheint mir das, was ich gesagt habe, und du hast ganz recht zu meinen, daß hierin der Unterscheid liegt. Es ist genau damit wie mit dem Körn-chen, das die ganze Flasche in festes Salz verwandelt. Es war nötig dazu… Aber wie gesagt, ich kann nicht tatsächlich und endgültig überzeugt werden, bis ich mehr erfahren habe. Diesen Morgen habe ich an Herrn Vincent geschrieben.“

„Das tatest du?“ rief das junge Mädchen. „Sei nicht töricht, bitte… Ja, ich tat es. Ich sagte ihm, ich sei zu seinen

Diensten, wenn ich nach London zurückkomme. Es nicht zu tun, würde feig und abgeschmackt sein. Ich bin ihm das schuldig.“

„Laurie, ich möchte, du tätest es nicht“, sagte das junge Mädchen in be-schwörendem Tone.

Er richtete sich ein wenig auf, verwirrt durch dieses bei ihr ganz unge-wöhnliche Wesen.

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„Wenn alles solcher Unsinn ist“, sagte er, „was ist dann dabei zu fürchten?“ „Es ist — es ist krankhaft“, sagte Maggie, „krankhaft und abscheulich.

Natürlich ist es Unsinn; aber es ist — es ist gottloser Unsinn.“ Laurie wurde ein wenig rot. „Du bist höflich“, sagte er. „Ich bin bekümmert“, sagte sie in reuigem Ton. „Aber weißt du, in Wirk-

lichkeit —“ Der junge Mann fuhr auf. „Du scheinst zu glauben, ich habe kein Herz“, rief er. „Nimm an, es sei

wahr — nimm an, daß Amy wirklich und wahrhaftig dagewesen, und —“ Ein heller, scharfer Klang wie das Knallen einer Peitsche erscholl plötz-

lich von der Ecke des Zimmers her. Selbst Maggie fuhr zurück und blickte Laurie an. Er war im selben Augenblick totenblaß geworden; seine Lippen zitterten.

„Was war das?“ flüsterte er in scharfem Ton. „Nur das Holzgetäfel“, sagte sie ruhig. „Tauwetter ist heute abend einge-

treten.“ Laurie schaute sie an; seine Lippen zuckten noch in nervöser Weise. „Aber — aber —“ begann er. „Lieber Junge, merkst du denn nicht, daß dein Nervenzustand —“ Wieder ertönte der kurze scharfe Knall, und sie verstummte. Während ei-

nes Augenblicks war sie verwirrt; gewisse Möglichkeiten taten sich vor ihr auf, und sie faßte sie ins Auge. Dann suchte sie diese Gedanken in ungedul-diger, etwas ängstlicher Weise zu unterdrücken. Sie stand plötzlich auf.

„Ich gehe zu Bett“, sagte sie. „Das ist zu lächerlich — —“ „Nein, nein; verlaß mich nicht… Maggie… ich möchte es nicht…“ Sie setzte sich wieder, sich über sein kindisches Wesen wundernd; dabei

war sie sich doch bewußt, daß auch ihre eigenen Nerven, wenn auch nur leicht, doch erschüttert waren. Sie mochte ihn nicht ansehen, aus Furcht, eine Begegnung ihrer Augen würde mehr andeuten, als sie beabsichtigte. Sie warf, auf ihrem Stuhl sitzend, das Haupt zurück und schaute nach der Stu-bendecke. Zu denken, daß die Seelen der Toten — ach, wie entsetzlich!

Die Nacht draußen war sehr still. Die starke Kälte hatte die Welt während der letzten zwei oder drei Tage durch Schneefall wie mit einem eisernen Reif umspannt, aber am Nachmittag hatte es zu tauen begonnen. Zweimal wäh-rend der Mahlzeiten hatte man den dumpfen Laut der vom Dache auf den Ra-

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sen fallenden Schneemassen vernommen, und das helle Licht der Kerzen war etwas trübe und dunstig geworden. Es würde eine Erquickung sein, wieder in den Garten zu gehen, hatte sie gedacht.

Und nun, als die beiden hier in dieser atemlosen Stille saßen, machte sich das Tauwetter mit jedem Augenblick mehr bemerkbar. Die Stille war tief, und die leisen Geräusche der Nacht draußen, das langsame, bedächtige Tröp-feln der Dachtraufen, das Rauschen aufgetauter Blätter und selbst der sanfte dumpfe Ton der auf den Rasen fallenden Eibenzweige — all dies trug dazu bei, der Stille noch mehr Nachdruck zu verleihen. Es war nicht eine Stille wie das Murmeln des Tages; es glich mehr dem Nagen einer Maus im Täfel-werk eines Totenzimmers.

Es gehören fast übermenschlich starke Nerven dazu, des Nachts, nach ei-nem derartigen Gespräch einer anscheinend vernünftigen Person, die blaß ist und vor Schrecken zittert, gegenüber zu sitzen, ohne angegriffen zu sein, auch wenn man es unterläßt, sie anzusehen. Man mag für sich selbst noch so vernünftige Gründe anführen, mit dem Fuß fröhlich auf den Boden tippen, den Geist unverdrossen mit normalen Gedanken beschäftigen, es ist doch ei-ne Art von Zwiespalt da, wenn man auch noch so siegesgewiß scheint.

Selbst Maggie kam dies zum Bewußtsein. Nicht daß sie auch nur für einen Augenblick zugestanden hätte, daß die

beiden plötzlichen kurzen Geräusche im Zimmer möglicherweise von noch irgendeiner andern Ursache herrühren konnten als von der, die sie angegeben hatte — dem Nachgeben von erstarrtem Holz unter dem Einfluß des Tauwet-ters. Noch daß alle Auseinandersetzungen Lauries im geringsten vermocht hätten, die feste Überzeugung in ihr zu erschüttern, daß entschieden nichts Übernatürliches in dieser sicherlich seltsamen Geschichte sei. Als sie nun aber hier im Lichte der Lampe saß und Laurie ihr sprachlos gegenüber und hinter ihr das große mit Vorhängen versehene Fenster, fühlte sie ein Unbeha-gen, über das sie nicht völlig Herr zu werden vermochte. Es war nur physi-scher Art, sagte sie sich; es war die Folge des Witterungswechsels, oder es war höchstens die Stille, die nun eingetreten, und die Nähe des von Schrek-ken erfaßten jungen Mannes.

Sie schaute wieder zu ihm hinüber. Er lag zurückgelehnt in dem alten grünen Armsessel, ganz still und ruhig;

seine Augen waren durch die Lampenbeleuchtung von oben etwas beschattet, seine Hände umklammerten noch die Löwenknäufe der Armlehnen. Neben

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ihm auf dem kleinen Tische lag das Ende seiner noch glimmenden Zigarette in der silbernen Schale…

Maggie sprang plötzlich auf, glitt um den Tisch herum und faßte ihn am Arm.

„Laurie, Laurie, wach auf… Was ist mit dir?“ Ein tiefer Schauder durchbebte seinen Körper. Er richtete sich mit einem

verwirrten Blick auf. „Nun? Was ist?“ sagte er. „Habe ich geschlafen?“ Er rieb die Augen mit den Händen und schaute umher. „Was ist, Maggie? Habe ich geschlafen?“ Schauspielerte der junge Mann? Dann sicherlich spielte er gut. Maggie warf sich neben dem Stuhl auf die Knie. „Laurie! Laurie! Ich bitte dich, geh nicht zu Herrn Vincent. Es ist schäd-

lich für dich… Ich möchte, daß du nicht gehst.“ Er schaute blinzelnd einen Augenblick auf sie. „Ich verstehe dich nicht. Was meinst du, Maggie?“ Sie stand auf, sich ih-

res Ungestüms schämend. „Ich möchte nur, daß du jenen Mann nicht aufsuchst. Laurie, bitte, tu

es nicht.“ Er stand ebenfalls auf, sich reckend. Jedes Zeichen von Nervosität schien

verschwunden zu sein. „Herrn Vincent nicht aufsuchen? Unsinn; natürlich werde ich es tun. Das

verstehst du nicht, Maggie.“

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Siebentes Kapitel

I.

„Wie mich das erleichtert“, seufzte Frau Stapleton. „Ich dachte, wir hät-ten ihn verloren.“

Die drei saßen wieder einmal in Lady Lauras Empfangszimmer, bald nach dem zweiten Frühstück. Herr Vincent war gerade mit Lauries Brief her-eingekommen, um die Nachricht zu überbringen. Draußen lag dichter Nebel wie ein wolliges Gewebe von orangegelber Farbe, und die hohen Fenster wa-ren wie undurchsichtig im Lampenlicht. Das Zimmer erschien als ein siche-rer und angenehmer Zufluchtsort, im Gegensatz zu dem Dampf und dem bei-ßenden Dunst der Straße.

Frau Stapleton hatte mit ihrer Freundin gefrühstückt. Der Oberst war auf Weihnachten heimgekehrt, und die häuslichen Pflichten hatten sie bis jetzt von jenen spiritistischen Gesprächen abgehalten, deren sie sich im Herbst erfreut. Es war solch eine Erquickung, hatte sie mit einem geduldigen Lä-cheln gesagt, manchmal in diese reinere Atmosphäre zu schlüpfen.

Herr Vincent faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in seine Tasche.

„Wir müssen vorsichtig mit ihm sein“, sagte er. „Er ist außerordentlich sensitiv. Ich wünschte fast, er wäre minder entwickelt. Temperamente wie das seine sind geneigt, das Gleichgewicht zu verlieren.“

Lady Laura schwieg. Sie fühlte sich nicht besonders glücklich. Sie hatte vor kurzem einige be-

klagenwerte Fälle erlebt. Bei einem sehr vielversprechenden jungen Mäd-chen, der Tochter eines Gastwirts aus einer der Vorstädte, hatte sich die glei-che Fähigkeit ausgebildet, und das Ende von allem war eine fürchterliche Szene in Baker Street gewesen. Dies Mädchen war nun in einer Heilanstalt. Und einer der persönlichen Freunde der Lady Laura hatte sich vor kurzem darauf verlegt, Vorlesungen gegen das Christentum in den peinlichsten Aus-

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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drücken zu halten. Sie wunderte sich darüber, daß die Leute nicht, wie sie selbst, im Gleichgewicht blieben.

„Ich glaube, es wird besser sein, wenn er zu den öffentlichen Séances jetzt nicht kommt“, fuhr das Medium fort. „Das wird ohne Zweifel später der Fall sein können. Ich möchte Sie, Lady Laura, um eine große Gunst bitten.“

Sie schaute auf. „Diese Plage wegen der Räume ist noch nicht beseitigt, und die Sonntags-

Séances müssen für jetzt aufhören. Ich möchte wissen, ob Sie uns hierher-kommen lassen würden, nur einige wenige von uns, an den nächsten drei oder vier Sonntagen wenigstens.

Ihr Gesicht erhellte sich. „Ei, es würde für mich das größte Vergnügen sein“, sagte sie. „Aber wie

ist̓ s mit dem Kabinett?“ „Wenn nötig, würde ich jemand herüberschicken. Erlauben Sie mir, mei-

ne Anordnungen zu treffen?“ Frau Stapleton strahlte. „Was für ein Privilegium!“ sagte sie. „Teuerste, ich beneide dich ordent-

lich. Ich fürchte, der liebe Tom würde nie einwilligen.“ „Noch einige Dinge habe ich auf dem Herzen“, fuhr Herr Vincent in so

liebenswürdigem Tone fort, als ob diese Unterbrechung eine Höflichkeit gewesen wäre. „Erstens: daß Herr Baxter sich selbst überzeugen soll. Natür-lich ist sein Trancezustand für uns die Hauptsache, aber schwerlich für ihn. Er hat einen furchtbaren Eindruck gehabt; ich merkte das, obwohl er das Ge-genteil behauptete. Aber ich möchte, daß er so bald als möglich etwas nicht Mißzuverstehendes sieht. Wir müssen ihn davon abhalten, in den Trancezu-stand zu geraten, wenn es möglich ist… Zweitens: seine Religion.“

„Man nimmt gewöhnlich an, daß Katholiken nicht kommen“, bemerkte Frau Stapleton.

„Ganz richtig… Herr Baxter ist ein Konvertit, nicht?... Ich dachte es mir.“ Vincent überlegte während einiger Augenblicke. Die Damen hatten ihn noch nie so voll Interesse für einen Amateur gese-

hen. Gewöhnlich hatte er ein sehr befehlshaberisches Wesen und zeigte eine starke Zuversicht; aber es schien, daß dieser Fall selbst ihn erregte. Lady Laura war plötzlich wieder von Gewissensangst ergriffen.

„Herr Vincent“, sagte sie, „denken Sie in der Tat, daß keine Gefahr für diesen jungen Mann vorhanden ist?“

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„Es ist immer Gefahr vorhanden“, sagte er. „Wir wissen das nur zu wohl.

Wir können nur Vorsichtsmaßregeln ergreifen. Aber Pioniere müssen immer etwas wagen.“

Sie war nicht beruhigt. „Aber ich meine eine bestimmte Gefahr. Er ist außerordentlich sensitiv,

wie Sie wissen. Da war dies Mädchen von Surbiton…“ „Oh! Sie war ungewöhnlich hysterisch. Herr Baxter ist nicht so. Ich glau-

be nicht, daß er größere Gefahr läuft als wir selbst.“ „Sind Sie dessen gewiß?“ Er lächelte geringschätzig. „Für mich ist nichts gewiß“, sagte er. „Aber wenn Sie denken, Sie möch-

ten lieber nicht —“ Frau Stapleton bewegte sich in einer aufgeregten Weise, und Lady Laura

schaute nach einer Rückzugsgelegenheit aus. „Nein, nein“, rief sie. „Daran habe ich auch nicht einen Augenblick ge-

dacht. Bitte, bitte, kommen Sie hierher. Ich dachte nur, ob nicht irgendwelche besondere Vorsichtsmaßregel — —“

„Ich will darüber nachdenken“, sagte das Medium. „Aber ich bin gewiß, daß wir darauf achten müssen, ihm keinen Anstoß zu geben. Natürlich neh-men wir nicht alle den gleichen Standpunkt in bezug auf Religion ein, aber zunächst können wir davon absehen. Die Hauptsache ist, daß Herr Baxter, wenn möglich, etwas nicht Mißzuverstehendes sieht. Das übrige wird sich von selbst ergeben… Also wenn Sie einwilligen, Lady Laura, können wir nächsten Sonntagabend hier eine kleine Sitzung abhalten. Würde neun Uhr Ihnen passen?“

Er blickte auf die beiden Damen. „Das würde sehr gut gehen“, sagte die Herrin des Hauses. „Und wegen der Vorbereitungen — —“ „Ich werde Samstag nachmittag hier vorsprechen. Ist irgend jemand da,

den Sie besonders gern auffordern möchten?“ „Herr Jamieson suchte mich wieder vor wenigen Tagen auf“, sagte Lady

Laura wie versuchsweise. „Ganz gut. Dann also wir drei und jene beiden. Das wird für jetzt genug

sein.“ Er stand auf — eine stolze, dominierende Gestalt — ein durch seinen An-

blick Mut erweckender Mann, mit seinem gütigen Gesicht, seinem dich-

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ten, geradlinigen Bart und seiner von physischer Kraft zeugenden Erschei-nung. Lady Laura fühlte sich etwas behaglicher.

„Und wie ist̓ s mit meinen Aufzeichnungen?“ fragte Maud Stapleton. „Ich glaube, sie werden nicht nötig sein… Guten Tag… Auf Samstag-

nachmittag.“ Die beiden blieben noch einige Minuten, nachdem er gegangen war, still-

schweigend sitzen. „Was gibt̓ s, meine Teuerste?“ Lady Lauras kleines, ängstliches Gesicht blieb unbeweglich. Sie starrte

gedankenvoll ins Feuer. Frau Stapleton legte die Hand teilnahmvoll auf die Knie der Freundin.

„Teuerste — —“ begann sie. „Nein, es ist nichts. Liebste“, sagte Lady Laura. Mittlerweile suchte das Medium seinen Weg in den nebligen Straßen. Ge-

stalten tauchten auf, plötzlich und ungeheuer, und verschwanden wieder. Lichtschimmer leuchtete von den Fenstern oben durch den Nebel, gleich Flecken gemalten Feuers, hell und undurchdringlich, und gedämpfte, wohl-kleingende Laute drangen aus dem wolligen Dunstkreis zu ihm. All dies wür-de sozusagen ein passender Schauplatz für seine Gedanken gewesen sein, wenn er, unbestimmten Eingebungen folgend, seinem Charakter gemäß an Erscheinungen und Winke und Ausblicke ins Unbekannte gedacht hätte.

Aber er war ein sehr praktischer Mann. Sein spiritistischer Glaube war et-was Reales für ihn, das ihn ebensowenig aufregte wie das Christentum den normalen Christen; er hegte keinerlei Zweifel an der Wahrheit seiner Ansich-ten. Jenseits alles Betrugs, aller Selbsttäuschung, aller erstaunlichen Wirkun-gen des Unterbewußtseins blieben noch gewisse Tatsachen bestehen, die au-ßer allem Zweifel waren, — Tatsachen, welche, wie er glaubte, einer objekti-ven Erklärung bedurften, die durch keine andere als die spiritistische These dargeboten wurde. Er hatte, wie er ernstlich dachte, weit mehr Beweise für seinen Spiritismus als die meisten Christen für ihr Christentum.

Er hatte keine sehr bestimmte Theorie über die spiritistische Welt, abge-sehen von dem Gedanken, daß sie beinahe wie diese Welt sei. Für ihn war sie mit Individuen von verschiedenem Charakter und Temperament auf verschie-denen Stufen der Vollendung bevölkert; und von diesen hatte eine gewisse Anzahl die Macht, unter großen Schwierigkeiten mit Personen dieser Welt,

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die zu solchem Verkehr fähig waren, in Verbindung zu treten. Daß Gefahren mit diesem Vorgang verknüpft seien, dessen war er sich wohl bewußt; er hat-te oft genug in solchen Fällen den moralischen Sinn schwinden und die gei-stigen Fähigkeiten abnehmen sehen. Aber das waren für ihn nur die ehren-haften Wunden, welchen alle Kämpfer ausgesetzt sind. Die Hauptsache für ihn lag darin, daß hier die einzigen sicheren Mittel zu finden seien, um mit dem Realen in Berührung zu kommen. Gewiß, dieses Reale war zuweilen von einer entmutigenden Art und brachte selten eine Aufklärung.

Herr Vincent haßte so sehr als irgendeiner das Geschäft, die Lärmtrom-mel zu schlagen, ausgenommen, insoweit es notwendig war, und er beklagte die Tatsache, daß es, wie er glaubte, oft die unwürdigsten und am wenigsten zufriedenstellenden Bewohner jener Welt waren, die am leichtesten mit den Bewohnern dieser Welt in Berührung gelangten. Ihm aber galten die Haupt-grundsätze des Spiritismus für das Knochengerüste des Weltalls; er war für ihn die einzige Religion, die ihm ernster Aufmerksamkeit wert schien.

Er hatte noch nicht länger als zehn bis zwölf Jahre als Medium prakti-ziert. Er hatte durch Zufall, wie er dachte, entdeckt, daß er in ungewöhnli-chem Grade die Kräfte eines Mediums besitze, und hatte dann das Leben ei-nes solchen als Beruf ausgeübt. Dies Leben hatte bisher keine schlimmen Folgen für ihn selbst gehabt, wenngleich manche schlimmen Folgen für an-dere, und als sein Ruhm wuchs, wuchs auch sein Einkommen.

Man muß sich klarmachen, daß er kein bewußter Scharlatan war; er ver-abscheute mechanische Kunstgriffe, wie sie gelegentlich vorkamen. Er war völlig und aufrichtig überzeugt, daß die Kräfte, die er besaß, echt seien, und daß die Persönlichkeiten, die ihm bei seinen Bemühungen als Medium vorka-men, das waren, was sie zu sein versicherten; daß sie keine Halluzinationen seien, nicht das Erzeugnis eines Betrugs, daß sie nicht notwendigerweise bö-ser Art seien. Er betrachtete diese Religion, wie er die Wissenschaft betrach-tete; beide waren im Fortschreiten begriffen, beide dem Irrtum zugänglich, beide dem Mißbrauch unterworfen. Aber ebensowenig wie der Mann der Wissenschaft vor dem Experiment aus Furcht vor Gefahr zurückschreckt, ebensowenig durfte das der Spiritist.

Während er den Weg zu seiner im Norden des Parks gelegenen Wohnung verfolgte, dachte er über Laurie Baxter nach. Daß dieser junge Mensch in un-gewöhnlichem Grad das besaß, was er „okkulte Kräfte“ genannt haben wür-de, war ihm ganz klar. Daß diese Kräfte eine gewisse Gefahr in sich bargen,

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war ebenso klar. Er nahm sich darum vor, hier alle vernünftigen Vorsichts-maßregeln anzuwenden. Alle Katastrophen, von welchen er früher Zeuge ge-wesen, rührten, wie er dachte, von einer zu raschen Entwicklung jener Kräfte her, oder von Unerfahrenheit. Er beschloß darum, langsam vorzugehen.

Erstens, der junge Mann mußte überzeugt werden; zweitens, er mußte an die Sache gefesselt werden; drittens, seine Religion mußte ihm ausgetrieben werden; viertens, er mußte trainiert und zu weiterer Entwicklung gebracht werden. Aber für jetzt durfte man ihm nicht gestatten, in den Trancezustand zu kommen, wenn er davor bewahrt werden konnte. Es war klar, er dachte, Laurie habe eine starke „Affinität“, wie er das ausgedrückt haben würde, zu dem körperlichen Geist einer gewissen „Amy Nugent“. Seine Verbindung mit ihr war von erstaunlicher Art gewesen, in ihrer Raschheit und Vollkommenheit. Auf diesem Verbindungsweg konnte man zu realen Fortschritten gelangen.

(Ja; ich weiß, daß dies wie wunderlicher Unsinn klingt.)

II. Laurie kehrte in einem Zustand innerer Ruhe, die ihn selbst in Erstaunen

setzte, in die Stadt zurück. Er hatte Maggie gesagt, daß er nicht überzeugt worden sei, und das war insofern wahr, als er es selbst glaubte. Die spiritisti-sche Theorie schien ihm gegenwärtig nur eine sehr vernünftige Hypothese zu sein, moralisch aber war er so fest von ihrer Wahrheit überzeugt wie von irgend etwas in der Welt. Und dies zeigte sich in der Ruhe, die seine Seele gefunden hatte.

Die moralische Überzeugung — jene Überzeugung, welche die Hand-lungsweise eines Menschen bestimmt — ist nicht immer im Einklang mit dem geistigen Fortschritt. Zuweilen geht sie ihm voran, zuweilen bleibt sie zurück, und das Aufhören jeder Anspannung ist das erste Anzeichen ihrer Gegenwart. Der Intellekt kann noch tätig sein, anordnen, auswählen und klassifizieren, aber die Sache selbst ist entschieden, und die Seele gibt sich der Ruhe hin…

Laurie war etwas erregt, als er bei seiner Ankunft einen Brief des Herrn Vincent vorfand, worin dieser ihm Glück zu seiner Entscheidung wünschte und ihn bat, am folgenden Sonntag nicht später als um halb neun Uhr in

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Queen̓s Gate zu sein, aber diese Erregung war nur von kurzer Dauer. Er wußte nun, daß die Sache unzweifelhaft wahr war; Zeit und Ort ihrer Er-scheinung waren nicht in erster Reihe wichtig. Seine Antwort lautete, er würde sicherlich zu der verabredeten Zusammenkunft kommen.

Er speiste auswärts in einem Restaurant, kehrte dann in seine Wohnung zurück und setzte sich nieder, um seine Gedanken zu ordnen.

Es waren, um die Wahrheit zu sagen, weder sehr viele noch sehr tiefe Ge-danken.

Schon seit jenen Tagen nach der heftigen Erschütterung, die nicht weni-ger schwer war, weil erwartet, als er von Maggie erfuhr, daß die Zeichen zu-trafen, und daß eine Tatsache, die keiner der in Queen̓s Gate anwesenden Personen, nicht einmal ihm selbst bekannt gewesen, durch seinen Mund kundgegeben worden war, — schon seit jenen Tagen war ihm der Gedanke vertraut geworden, daß der Schleier zwischen dieser Welt und der künftigen ein sehr durchsichtiger sei. Im Grunde glauben dies viele, und sie sind darum doch nicht fortwährend in einem Zustand der Exaltation. Laurie glaubte, es jetzt durch Erfahrung gelernt zu haben. Nun denn, dies war nun einmal so, und es ließ sich nichts weiter darüber sagen.

Seine Erregung bei dem Gedanken, mit Amy in Verbindung zu stehen, war nicht mehr so stark wie früher. Seit ihrem Tode waren nun beinahe vier Monate vergangen, und in seinem tiefsten Innern empfand er allmählich, daß sie nicht so vollständig sein anderes Ich gewesen, obwohl er das noch behauptet haben würde. Er hatte inzwischen ein wenig über den Laden des Gewürzkrämers, die Teegesellschaften der Dissenter und über den Käsegeruch nachgedacht. Gewiß, diese Dinge vermochten nicht, eine Wahlverwandtschaft zu zerstören, wenn diese Wahlverwandtschaft stark genug war, aber stark mußte sie sein…

In seinen Gedanken war er immer noch sehr zärtlich gegen Amy; sie hatte durch den Tod eine Würde erlangt, die ihr im Leben gefehlt hatte, und es konnte wohl sein, daß ein Verkehr wie der vorgeschlagene mit ihr sich als ei-ne außerordentlich süße Erfahrung erweisen würde. Aber seine Erregung war keine leidenschaftliche und überwältigende mehr bei dieser Aussicht. Es würde entzückend sein! Ja! Aber…

Dann dachte Laurie an seine Religion, und hier hielt er inne. Er hatte dar-über gar keine Ansicht, er hatte nicht einmal eine Vorstellung von demStandpunkt, auf dem er sich befand. Er wußte nur, daß er kein Interesse mehr

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dafür hatte. Wirklich? O ja, ihm kam es so vor. Er behielt den Glauben noch bei, wie viele den Glauben an das Übernatürliche beibehalten — als eine Zu-flucht für die äußerste Not.

Er hatte bis jetzt noch nicht versäumt, des Sonntags die Messe zu hören, und er nahm sich vor, sie auch am nächsten Sonntag zu besuchen. Der Mensch muß Religion haben, sagte er sich, und für seinen geistigen Zustand war jetzt keine andere Religion möglich als der Katholizismus. Gleichwohl überkamen ihn wieder Zweifel, wenn er an Zukünftiges dachte.

Er richtete sich in seinem Stuhle auf und füllte seine Pfeife… In drei Tagen würde er vermutlich mit drei oder vier Personen in einem

Zimmer zusammen sein. Von diesen hatten zwei — und sicherlich die beiden stärksten Charaktere — keine Religion als die, welche der Spiritismus gibt, und er hatte genug gelesen, um zu wissen, daß diese keineswegs die christli-che war. Und jene drei oder vier Personen glaubten überdies von ganzem Herzen an ihre Beziehungen zu der unsichtbaren Welt, an Beziehungen, die weit überzeugender und verständlicher waren als irgendwelche, die von den andern Gläubigen auf dieser Erde beansprucht wurden. Und Laurie dachte, allem nach sei jener Anspruch ein berechtigter. Er würde in jenem Zimmer sitzen, sagte er sich abermals, und es konnte sein, daß er vor seinem Weg-gehen mit seinen eigenen Augen Personen lebendig gesehen und vielleicht auch berührt hatte, welche nach der landläufigen Redensart „tot“ und begra-ben waren. Zum mindesten würde er von solchen geistigen Wesen sichere Botschaften erhalten haben…

Er war selbst erstaunt, daß er nicht erregter war. Wieder fragte er sich, ob er wirklich daran glaube; er verglich seinen Glauben daran mit seinem Glau-ben an die Existenz von Neuseeland. Ja, wenn dies Glauben war, dann hatte er ihn… Die Erregung durch den Zweifel war vorüber, wie sie gewiß vorüber war, als Neuseeland ein geographischer Begriff geworden.

Er war erstaunt über die Natürlichkeit der Sache — über die merkwürdige Art, wie sich eins zum andern fügte, wenn einmal der Beweis erbracht und der richtige Standpunkt gewonnen war. Es kam ihm vor, als ob er dies alles sein ganzes Leben lang gewußt habe. Dennoch sagte er sich, daß er vor sechs Monaten kaum mehr gewußt, als daß es auf Erden Personen gab, Spiritisten genannt, welche glaubten oder zu glauben vorgaben, was damals seiner Überzeugung nach phantastischer Unsinn war. Und nun gehörte er in jeder Hinsicht zu ihnen.

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Durch einen Prozeß, ebenso unvermeidlich wie das Eintreffen des Früh-

lings oder des Herbstes, schien er mitgerissen worden zu sein, und nun, da er einmal nachgegeben hatte, war der Konflikt und war die Erregung auch zu En-de. Unzweifelhaft machte diese Lehre sehr wenige Anforderungen. Das Chri-stentum sagt: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben; der Spiritismus sagt: Der einzige vernünftige Glaube ist der, welcher aus dem Sehen folgt.

Solchen Betrachtungen gab sich Laurie hin, während er dasaß. Ein- oder zweimal an diesem Abend blickte er ruhig umher, ohne einen

Anflug jener Schreckensempfindung zu haben, die ihn in dem Rauchzimmer zu Hause ergriffen hatte.

Wenn all diese Dinge wahr waren — und er wiederholte sich selbst, er wisse, sie seien wahr —, wenn jene Wesen ihn jetzt umgaben, woher kam es, daß er keine Angst mehr fühlte?

Er schaute vorsichtig in den dunkeln Winkel hinter sich, über das niedri-ge, hervorstehende Büchergestell in der Ecke zwischen den Fenstervorhän-gen, auf sein Klavier, das in dem Dunkel geheimnisvoll glänzte, auf die halb-offene Türe, die in sein Schlafzimmer führte. Alles war still, ganz abge-schlossen von dem Lärm der Fleet Street, die Umstände waren günstig. Wes-halb fühlte er also keine Angst?… Was hätte ihm auch Angst einflößen sol-len? Jene Wesen waren natürlich und normal, sogar als Katholik glaubte er an sie. Und wenn sie sich kundgaben, was war dabei zu befürchten?

Er blickte fest und heiter umher, und während er dies tat, entzündete sich in seinem Innern, gleich einem auflodernden Feuer, eine seltsame Exaltation.

„Amy“, flüsterte er. Aber keine Bewegung, kein Zeichen ließ sich vernehmen. Laurie lächelte müde. Er fühlte sich ermattet, er wollte ein wenig schla-

fen. Er klopfte seine Pfeife aus, kreuzte die Beine vor dem Kaminfeuer und schloß die Augen.

III. Nun kam jenes so liebliche Versinken in tiefen Schlummer, das dem

Menschen vielleicht die beste physische Empfindung gewährt, wenn die Schleier ihn jeden Augenblick dichter und weicher einhüllen und das Be-wußtsein sich aus allen äußeren Gliedern nach innen drängt, wie ein Hund,

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der sich zur Ruhe zusammenkauert, aber dennoch in sich ein Gefühl ununter-brochenen Seins und seines eigenen Behagens bewahrt. Laurie entsann sich all dessen eine halbe Stunde später, aber dann zeigte sich in seinem Gedächt-nis eine unvermeidliche Lücke, weil das Ich nichts mehr von sich weiß, wenn es sich in das Land der Träume verliert, oder ehe es in die Wirklichkeit zu-rückkehrt.

Aber wie er sich später erinnerte, war jenes Traumland, in das er sich ver-lor, ganz verschieden von dem gewöhnlichen — von jenem Land mit seinen wunderlichen Phantasiegebilden und verschwommenen Gedanken, mit sei-nen schwachen Schattenbildern der Wahrheit und mit seinem Echo der All-tagswelt, von jenem Land, in das der Schlaf die meisten von uns führt.

Er hatte folgenden Traum: Er war noch in seinem Zimmer, wie er dachte, saß aber nicht mehr auf

seinem Stuhl. Er war ganz in der Mitte des Zimmers oder schwebte wenig-stens darüber, denn er konnte, ohne sich umzuwenden, mit einem Blick alles übersehen. Er richtete seine Aufmerksamkeit — denn sie war es, mehr als das Schauen, wodurch er alles wahrnahm, — auf das Klavier, den Schrank, die Stühle, die beiden Türen, die Fenster mit den Vorhängen und zuletzt, so-gar ohne einen Anflug von Erstaunen, auf sich selbst, der in dem Stuhl vor dem Kaminfeuer zurückgesunken war. Er betrachtete sich selbst mit befrie-digtem Interesse, indem er in diesem Augenblick daran dachte, daß er sich niemals zuvor mit geschlossenen Augen gesehen habe…

Alles im Zimmer trat ungewöhnlich lebhaft und deutlich hervor. Zwar warf das Kaminfeuer schwankende Lichter von weicher Farbe auf die dunk-len Wände und schwand wieder, aber die wechselnde Beleuchtung war eben-sowenig eine Störung der Funktionen jenes zuverlässigen Mediums, durch welches ihm die Wahrnehmungen vermittelt wurden, als der Zug von Som-merwolken bei vollem Sonnenschein. In diesem Moment begriff er, daß es nicht mehr seine Augen waren, mit denen er sah, sondern jene Fähigkeit der Wahrnehmung, der das Sehen nur analog ist, — jene Fähigkeit, welche allen Sinnen zugrunde liegt und ihnen gemeinsam ist.

Auch seine Denkkraft schien in diesem Augenblick aus ihm entwichen zu sein wie aus einer leeren Schale. Er zog keine Folgerungen oder Schlüsse, und dennoch begriff er alles. Und blitzartig, zugleich mit der ganzen Vision, nahm er wahr, daß er sich hinter jenen allmählichen Entwicklungsprozessen der Welt befand, die eines zum andern fügen, woraus sich ein Schlußfazit

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ergibt: jene Entwicklungsprozesse, durch welche das Licht seine Bahn läuft, Töne sich auslösen und Erregungen ihren Lauf nehmen. Er war, wie er dach-te, bei dem letzten Geheimnis angelangt… Es war das Etwas, das hinter al-lem liegt.

Es ist nur möglich, die ganze Summe von Erfahrungen zu schildern, die ein einziger unendlicher Augenblick für ihn in sich faßte, wenn man sie nacheinander darstellt. Auch erinnerte er sich später nicht der Reihenfolge, in welcher sie sich ihm darstellten; denn ihm kam es vor, als ob es gar keine Reihenfolge gebe, als ob alles gleichzeitig geschehe.

Aber er sah ganz klar durch Intuition, daß ihm alles offenstehe. Der Raum existierte nicht mehr für ihn, in seiner Vorstellung war eines vom andern nicht mehr getrennt. Er bemerkte daß er, ohne seine Stellung zu verändern, imstande sei, in einem Nu jeden Ort oder jede Person zu sehen, auf die er seine Aufmerksamkeit richten wollte. Es kam ihm wie eine wunderbar einfa-che Sache vor, daß Raum wenig mehr als eine Illusion sei, daß es im Grunde nichts anderes sei als in gröberer Ausdrucksweise eine Wiedergabe dessen, was man „Differenzierung“ nennt. Das „Hier“ und das „Dort“ waren nur re-lative Ausdrücke; gewiß, sie entsprachen der Realität, aber sie waren nicht diese Realität selbst…

Und seitdem er sich nun hinter ihnen befand, sah er sie von ihrer inneren Seite, so wie man wohl von einem im Innern eines Globus stehenden Men-schen sagen kann, er sei jedem Punkt auf dessen Oberfläche gleich nahe.

Dieser Gedanke war ungeheuer anziehend für ihn. Wie ein Kind, das an-fängt, auf die Dinge zu achten und die Gesetze der Ausdehnung und Entfer-nung kennenzulernen, so begann er ihre Kehrseite kennenzulernen. Er sah (wie schon früher, aber diesmal, ohne sich einer Bewegung bewußt zu sein) das Innere des erleuchteten Empfangszimmers zu Hause und seine Mutter, die in ihrem Stuhl eingenickt war; er richtete seine Aufmerksamkeit auf Maggie und nahm wahr, wie sie mit einem Licht in der Hand über den Trep-penabsatz die Stiege hinaufging. Durch diesen Anblick machte er eine weite-re Entdeckung: nämlich die, daß auch die Zeit kaum von Wichtigkeit sei; denn er bemerkte, daß er Maggie in gewissem Sinn in ihrer Bewegung hem-men konnte, wenn er seine Aufmerksamkeit fest auf sie richtete. Dort stand sie, den einen Fuß vorgestreckt, das nach hinten gewehte Kerzenlicht re-gungslos; und Laurie wußte, daß sie es nicht war, welche auf diese Weise zu-rückgehalten wurde, sondern daß es die Intensität und die Richtung seiner

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Vorstellung war, die sozusagen diesen zeitlichen Augenblick unter die Be-dingungen des Ewigen rückte.

So ging es weiter, oder vielmehr so stand es mit ihm. Er fand Gefallen daran, die Londoner Straßen draußen zu betrachten, den dunkeln Garten in ir-gendeinem Square, das Innere des Oratoriums, wo einige Gestalten knieten — und all dies jenseits der Bewegung von Licht und Schatten, in dem klaren, unsichtbaren Strahlenglanz, der für seine Wahrnehmung das war, was das gewöhnliche Licht für gewöhnliche Augen ist. Die Welt seiner Erfahrungen — denn er fühlte sich außerstande, das zu sehen, was er niemals erfahren hat-te — lag vor seinem Willen wie eine bewegliche Landkarte da, er brauchte nur eine Person oder einen Ort herbeizuwünschen, und sie waren da.

Und dann kam er wieder zu sich selbst; und es kam das Grauen… Es fing so an:

Er bemerkte, daß er zu erwachen oder vielmehr mit dem Körper wieder-vereinigt zu werden wünschte, welcher dort in tiefem Schlaf vor dem Kamin-feuer lag. Er beobachtete diesen Körper einige Augenblicke voll Interesse und Wohlgefallen, das ein wenig auf die Hand herabgesunkene Gesicht, die auf der Kaminschutzplatte kreuzweise übereinandergelegten Füße. Er betrachtete sein eigenes Profil, die gerade Nase, die geöffneten Lippen, durch welche die Atem-züge gleichmäßig kamen. Er versuchte sogar, das Gesicht zu berühren, indem er sich mit stillem Vergnügen fragte, was das Resultat sein würde…

Dann plötzlich kam ihm der Impuls, in den Körper hineinzugleiten, und damit begann, wie es schien, auch die Verwirklichung seiner Absicht.

Der Vorgang war dem Einschlafen ziemlich ähnlich. In einem Nu war es mit seinen Vorstellungen zu Ende, das erleuchtete Zimmer war verschwun-den, und jene gehorsame Welt, welche er soeben betrachtet hatte. Dennoch war das Selbstbewußtsein in ihm noch für einige Zeit lebendig; er hatte noch die Fähigkeit, seine eigene Person wahrzunehmen, obwohl diese jeden Au-genblick mehr in denselben Abgrund des Nichtseins dahinschwand, durch den er seinen Weg gefunden hatte.

Aber in demselben Augenblick, als ihm das Bewußtsein vergehen wollte, überkam ihn eine so heftige und überwältigende Erregung, daß er nochmals voll Entsetzen vor dem Körper und vor den irdischen Wahrnehmungen zu-rückschrak; eine Panik ergriff ihn.

Es war eine Panik, wie sie wohl ein Kind ergreift, das sich halb ängstlich und halb mutig in der Nacht aus seinem Zimmer gestohlen hat und, sich um-

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wendend, in halb simuliertem Schrecken, die Türe verschlossen findet oder eine feindselige Erscheinung gewahr wird, die plötzlich zwischen ihm und seinem sicheren Bett steht.

Einerseits trieb ihn die Furcht vorwärts, andererseits starrte ihm etwas Grauenhaftes entgegen. Er wagte nicht zurückzuweichen, denn er wußte, wo für ihn Sicherheit war; er sehnte sich darnach, wie das im Dunkel schreiende und die Hände zusammenschlagende Kind, in sein warmes sicheres Bett zu gelangen, aber vor ihm stand eine Erscheinung — oder wenigstens war ihm so zumute — so feindlich, so schrecklich, daß er nicht vorzudringen wagte. Nicht als ob er tatsächlich unter einem Zwang gestanden hätte, er wußte, daß die Türe offen war, dennoch bedurfte es einer Willensanstrengung, zu der ihn das lähmende Entsetzen unfähig machte…

Die Spannung wurde unerträglich. „O Gott… Gott… Gott…!“ rief er. Und im nächsten Augenblick war die Schwelle frei, ein rascher Anlauf,

und der Raum war durchschritten. Laurie richtete sich plötzlich in seinem Stuhle auf.

IV. Herr Vincent dachte eben daran, zu Bett zu gehen. Er war vor einer Stun-

de nach Hause gekommen, hatte ein halbes Dutzend Briefe geschrieben und saß nun friedlich rauchend am Kaminfeuer.

Seine Zimmer hatten nichts Bemerkenswertes, abgesehen von einigen Gegenständen, die auf dem zweiten Fach seines Bücherschrankes standen, und von einigen Büchern, die darunter aufgestellt waren. Alles übrige war ganz alltäglich: ein Mahagonischreibtisch, ein paar sehr abgenützte Lehnstühle, ein langes, außerordentlich bequemes, an der Wand stehendes Sofa mit zerknitter-ten Kissen und abgeschabtem Überzug, sichtbare Zeichen eines beständigen und häufigen Gebrauches. Eine zweite Türe führte zu seinem Schlafzimmer.

Er klopfte langsam seine Pfeife aus, gähnte und erhob sich. In diesem Augenblick vernahm er plötzlich den Klang der elektrischen

Glocke draußen im Vorplatz, und erstaunt über die Störung zu dieser Stunde, ging er rasch hinaus und öffnete die auf die Treppe führende Türe.

„Herr Baxter! Treten Sie ein, treten Sie ein; ich freue mich, Sie zu sehen.“

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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Laurie trat ein, ohne ein Wort zu sagen, ging auf den Kamin zu und

wandte sich dann um. „Ich will mich nicht entschuldigen, daß ich um diese Zeit komme“, be-

gann er. „Sie sagten mir, ich könne zu jeder Zeit kommen und Sie besuchen, und ich habe Sie beim Wort genommen.“

Der junge Mann erschien Herrn Vincent ungewöhnlich verlegen, als ob es ihn Überwindung gekostet hätte zu kommen; er sah beinahe schüchtern aus.

Herr Vincent drängte ihn sanft zu einem Stuhle. „Zuerst eine Zigarette“, sagte er, „dann ein wenig Whisky, und dann

werde ich Sie mit großem Vergnügen anhören… Nein, bitte, tun Sie, wie ich sage.“

Laurie ließ alles mit sich geschehen; in dem Wesen des andern lag etwas Entschiedenes, fast Väterliches, dem schwer zu widerstehen war. Er zündete seine Zigarette an, schlürfte seinen Whisky, aber seine Bewegungen waren nervös und hastig.

„Nun also…“ Er unterbrach sich selbst. „Was bedeuten diese Dinge, Herr Vincent?“ Er wies nach dem zweiten Fach im Bücherschrank.

Herr Vincent wandte sich auf dem Kaminteppich um. „Diese? O, es sind einige einfache Instrumente für meinen Beruf. Er nahm eine Kristallkugel von einem kleinen, schwarz polierten Brett

herunter und reichte sie ihm. „Sie haben doch von dem Kristallsehen gehört? Nun, das ist das Haupt-

stück dazu.“ „Ist das Kristall?“ „O nein, gewöhnliches Glas, Preis drei Schilling und sechs Pence.“ Laurie drehte die glänzende Kugel um, indem er sie über seine Hand lau-

fen ließ. „Und dies ist —“ begann er. „Und dies“, sagte Herr Vincent, indem er ein seltsames, windmühlartiges

Ding, dessen Flügel mit Spiegelglas besetzt waren, auf den kleinen Tisch am Kaminfeuer stellte, „dies ist ein französisches Spielzeug. Sehr einfach.“

„Was ist̓ s damit?“ „Sehen Sie her.“ Herr Vincent streckte einen kleinen Griff in das Uhrwerk an der Rücksei-

te der Windmühle, stellte sie nieder und ließ sie gehen. Sofort begannen die Flügel sich geräuschlos und hurtig zu drehen und machten den Eindruck ei-

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nes schnell aufflammenden Lichtkreises, worüber sich Linien zogen, die mit ungewöhnlicher Schnelligkeit erschienen und verschwanden.

„Was zum —“ „Es ist eine kleine Maschine, um den Schlaf herbeizuführen. O, ich habe sie

monatelang nicht benützt. Aber zuweilen ist sie nützlich. Das zu hypnoti-sierende Subjekt braucht nur unverwandt darauf hinzustarren. … Ei, Sie sehen schon selbst ganz benommen aus, Herr Baxter“, sagte Herr Vincent lächelnd.

Er hielt den Mechanismus an und schob das Ding auf die Seite. „Und was ist das andere?“ fragte Laurie, wieder auf das Fach blickend. „Ah!“ Mit ganz veränderter Miene nahm das Medium einen Gegenstand

herab, der einem winzigen, herzförmigen, vier oder fünf Zoll breiten Tisch aus drei mit Rädern versehenen Beinen glich, und stellte ihn vor Laurie hin. In der Mitte steckte senkrecht ein Bleistift, dessen Spitze die Tischdecke be-rührte, worauf das Ding stand. Laurie betrachtete es und blickte dann auf.

„Ja, das ist eine Planchette“, sagte das Medium. „Zum… zum automatischen Schreiben?“ Der andere nickte. „Ja“, sagte er, der Experimentierende legt seine Finger leicht darauf, und

ein Blatt Papier liegt darunter. Das ist alles.“ Laurie sah ihn halb neugierig an. Dann erhob er sich mit einer plötzlichen

Bewegung. „Gut“, sagte er. „Ich danke Ihnen. Aber —“ „Bitte, setzen Sie sich, Herr Baxter… Ich weiß, um dieser Dinge willen sind

Sie nicht gekommen. Bitte, wollen Sie mir sagen, weshalb Sie gekommen sind?“ Auch er setzte sich nieder und begann, ohne den andern anzuschauen, mit

seinen kräftigen, geschickten Fingern wieder langsam die Pfeife zu stopfen. Laurie starrte darauf hin, ohne etwas zu sehen.

„Sprechen Sie offen“, begann das Medium wieder, immer noch, ohne ihn anzusehen.

Laurie warf sich in seinen Stuhl zurück. „Nun ja“, sagte er. „Ich weiß, es ist furchtbar kindisch, aber ich bin ein

wenig beunruhigt. Es ist wegen eines Traumes.“ „Das braucht nicht gerade kindisch zu sein.“ „Es ist ein Traum, den ich heute abend hatte — auf meinem Stuhl sitzend,

nach dem Essen.“ „Nun?“

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Laurie begann. Ungefähr zehn Minuten lang redete er, ohne aufzuhören. Herr Vincent

rauchte ruhig weiter, dann und wann ganz unwichtige Fragen stellend, wie es Laurie schien, und von Zeit zu Zeit freundlich nickend.

„Und ich bin beunruhigt“, fügte Laurie hinzu, „und ich möchte, daß Sie mir sagen, was all das bedeutet.“

Der andere sog den Rauch seiner Pfeife ein, stieß ihn wieder aus und lehnte sich zurück.

„O, dergleichen kommt verhältnismäßig oft vor“, sagte er. „Das heißt, Herr Baxter, bei Leuten von Ihrem und meinem Temperament… Sie sagen mir, daß zuletzt Gebet Sie instand setzte, darüber hinwegzukommen. Das ist interessant.“

„Aber — aber — war es mehr als ein Hirngespinst — etwas mehr, meine ich, als ein gewöhnlicher Traum?“

„O ja, es war eine objektive, eine wirkliche Erfahrung.“ „Sie meinen —“ „Herr Baxter, hören Sie mir nur einige Minuten zu. Sie können dann je-

de beliebige Frage stellen. Vor allem, Sie sind Katholik, wie Sie mir mit-teilten, Sie glauben — könnte man sagen — unter anderm, daß die geistige Welt etwas Reales, immer mehr oder weniger Gegenwärtiges ist. Nun, ich stimme natürlich mit Ihnen überein, obwohl ich hinsichtlich der Geogra-phie und — und anderer Einzelheiten jener Welt nicht völlig mit Ihnen übereinstimme. Aber Sie glauben, so nehme ich an, daß wir beständig in Zusammenhang mit dieser Welt sind —, daß dies Zimmer, zum Beispiel, viel mehr ist als das, was unsere Sinne uns wahrnehmen lassen; daß jetzt und immer eine Menge von Einflüssen, gute, böse und gleichgültige, auf unsern Geist einwirken?“

„So ist es“, sagte Laurie. „Nun weiter. Es gibt zwei Arten von Träumen. Ich sage nur, was ich

selbst glaube, Herr Baxter. Sie können dann nach Belieben Ihre Bemerkun-gen machen. Die eine Art von Träumen ist ganz unwichtig, sie sind nur ein Ragout, ein Réchauffé unserer eigenen Gedanken, in denen geringfügige Dinge, welche wir erlebt haben, in hoffnungsloser Verworrenheit wieder er-scheinen. Das ist jene Art von Träumen, welche wir gewöhnlich fünf Minu-ten nach dem Erwachen, wenn nicht schon früher, vollständig vergessen. Aber es gibt eine andere Art von Träumen, die wir nicht vergessen. Die hin-

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terlassen einen ebenso lebhaften Eindruck in uns, wie wenn wir wachend ei-ne Erfahrung machen — wirklich etwas erleben. Es ist genau so.“

„Das verstehe ich nicht.“ „Haben Sie jemals von dem Subliminalbewußtsein gehört, Herr Baxter?“ „Nein.“ Herr Vincent lächelte. „Das ist gut“, sagte er. „Es wird gerade jetzt zu Tode gehetzt… Nun, ich

will es anders als in technischen Ausdrücken erklären. Es ist ein Etwas in uns, das tiefer liegt als unsere wachen Gedanken, nicht wahr? — Das Etwas, wo un-sere Träume ihren Sitz haben, wo unsere Gewohnheiten Gestalt annehmen, wo unsere Instinkte, Intuitionen und ähnliche Dinge erzeugt werden. Nun, in ge-wöhnlichen Träumen, wenn wir schlafen, ist es dieses Etwas, welches tätig ist. Es kocht im Topf, sozusagen, ganz von selbst, und die Vernunft hat keine Kon-trolle darüber. Ein Wahnsinniger ist ein Mensch, bei dem dieses Etwas auch im Wachen vorherrscht. Nun, durch dieses Etwas verkehren wir mit der Geister-welt. Es führen, sagen wir, zwei Türen hinein — die, welche zu unsern Sinnes-empfindungen führt und durch welche unsere im Wachen gemachten Erfahrun-gen eindringen und aufbewahrt werden, und — und die andere Türe…“

„Nun?“ Herr Vincent zögerte. „Wohlan“, sagte er, „bei einigen Naturen — bei Ihrer zum Beispiel, Herr

Baxter — öffnet sich diese Türe ziemlich leicht. Es war diese Türe, durch welche Sie in das eingingen, glaube ich, was Sie Ihren Traum nennen. Sie sagten selbst, daß er ganz anders als gewöhnliche Träume war.“

„Ja.“ „Und ich bin um so mehr überzeugt, daß dem so ist, weil Sie genau diesel-

be Erfahrung wie so viele andere unter denselben Umständen gemacht haben.“ Laurie rückte unbehaglich auf seinem Stuhle hin und her. „Ich verstehe Sie nicht ganz“, sagte er in scharfem Tone. „Sie meinen, es

sei kein Traum gewesen?“ „Sicherlich nicht. Wenigstens kein Traum im gewöhnlichen Sinn. Es war

eine wirkliche Erfahrung.“ „Aber — aber ich schlief ja.“ „Gewiß. Das ist eine der gewöhnlichen Bedingungen — in der Tat eine

fast unerläßliche Bedingung. Das objektive Selbst — ich meine die gewöhn-lichen, alltäglichen Fähigkeiten — war eingelullt, und Ihr subjektives Selbst

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— nennen Sie es, wie Sie wollen — aber es ist Ihr eigentliches Selbst, das wesentliche Selbst, das den Tod überdauert — dieses Selbst ging einfach durch die innere Türe und — und sah, was zu sehen war.“

Laurie blickte Herrn Vincent aufmerksam an; aber mit einem Anflug von Furcht im Gesicht.

„Sie meinen“, sagte er langsam, „daß — daß alles, was ich sah — das Aufhören der Raumvorstellung und so weiter —, daß es Tatsachen und keine Phantasiegebilde waren?“

„Gewiß. Weist Ihre Religion nicht auch auf derartiges hin?“ Laurie schwieg. Er hatte keine Idee davon, was seine Religion über diesen Punkt sagte.

„Aber warum sollte ich — gerade ich vor allen andern — solch eine Er-fahrung haben?“ fragte er plötzlich.

Herr Vincent lächelte. „Wer kann dies wissen?“ erwiderte er. „Weshalb ist der eine ein Künstler

und der andere nicht? Es ist Sache der Anlage. Sie sehen, auch bei Ihnen hat sie sich endlich zu entwickeln begonnen, und sie ist eine sehr ausgesprochene für den Anfang. In bezug auf —“

Laurie unterbrach ihn. „Ja, ja“, sagte er. „Aber es kommt noch etwas anderes in Betracht. Wie

erklärt sich das Angstgefühl, das ich empfand, als ich mich bemühte, zu —zu erwachen?“

Über Herrn Vincents Gesicht glitt ein Anflug von Feierlichkeit. Es war nichts mehr als ein Anflug, aber er war da. Er griff etwas rasch nach seiner Pfeife, die er beiseitegelegt hatte, und tat behutsam einige Züge, ehe er antwortete.

„Das?“ sagte er mit einer Sorglosigkeit, welche dem jungen Mann er-zwungen vorkam. „Das? O das ist eine gewöhnliche Erfahrung. Denken Sie nicht allzuviel darüber nach, Herr Baxter. Es ist niemals heilsam —“

„Es tut mir leid“, sagte Laurie nachdenklich, „aber ich muß Sie bitten, mir zu sagen, was Sie darüber denken. Ich muß wissen, was mit mir vorgeht.“

Herr Vincent stopfte seine Pfeife wieder. Zweimal wollte er sprechen, hielt jedoch wieder inne, und in der langen Stille fühlte Laurie, wie seine Furcht sich zehnfach verstärkte.

„Bitte, sagen Sie es mir sogleich, Herr Vincent“, setzte er hinzu. „Wenn ich nicht alles weiß, was man wissen muß, werde ich keinen Schritt weiter auf diesem Wege machen. Das ist meine ernste Absicht.“

Herr Vincent hielt in seiner Beschäftigung inne.

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„Und wenn ich es Ihnen auch sage?“ antwortete er langsam mit seiner tie-

fen, männlichen Stimme. „Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht abtrünnig ma-chen lassen?“

„Wenn es eine offenkundige Gefahr ist und durch Klugheit vermieden werden kann, werde ich sicher nicht abtrünnig werden.“

„Sehr gut, Herr Baxter, ich werde Sie beim Wort nehmen… Haben Sie je-mals den Ausdruck ,der Wächter auf der Schwelleʻ gehört?“

Laurie schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Ich glaube, nicht.“ „Nun“, sagte das Medium ruhig, „so nennen wir die Angst, von der Sie

sprachen... Nein, unterbrechen Sie mich nicht. Ich will Ihnen alles sagen, was wir wissen. Es ist nicht sehr viel.“

Er hielt abermals inne, streckte die Hand nach den Zündhölzchen aus und nahm eins. Laurie beobachtete ihn, wie fasziniert von dieser Bewegung. Von draußen drang der Lärm der Oxfordstraße herein gleich dem ununterbroche-nen Brausen der See, aber hierinnen herrschte die ruhige, abgeschiedene Stil-le, welche dem jungen Manne schon früher in Herrn Vincents Gesellschaft aufgefallen war. War auch dies eine Einbildung? fragte er sich.

Herr Vincent zündete seine Pfeife an und lehnte sich zurück. „Ich will Ihnen alles sagen, was wir wissen“, wiederholte er ruhig. „Es ist

nicht sehr viel. Die Worte, die ich soeben gebrauchte, drücken es in der Tat annähernd aus. Wir, die wir uns bemüht haben, die Grenzen dieser Sinnen-welt zu überschreiten, sind uns gewisser Tatsachen bewußt geworden, von denen die Welt im allgemeinen gar nichts weiß. Eine dieser Tatsachen ist, daß die Pforte zwischen diesem und jenem Leben von einem gewissen We-sen bewacht wird, von dem wir wirklich gar nichts wissen, ausgenommen,daß seine Gegenwart die entsetzlichste Furcht in denen erregt, die solches er-leben. Der Wächter ist dort hingestellt — Gott allein weiß, warum — und sein Hauptgeschäft scheint zu sein, wenn möglich, diejenigen, welche den Körper verlassen, an der Rückkehr zu verhindern. Nur gelegentlich wird sei-ne Gegenwart diesseits wahrgenommen, aber nicht oft. Ich bin an Sterbebet-ten gestanden, wo er gesehen worden ist —“

„Gesehen?“ „O ja! Von dem Sterbenden. Gewöhnlich ist es nur ein flüchtiger Blick;

man könnte sagen, es sei ein Irrtum. Was mich anbelangt, so glaube ich, daß jener entsetzliche Schrecken, der einen dann und wann überkommt, sogar

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solche Leute, welche den Tod selbst nicht fürchten, welche vollständig resigniert sind, welche nichts auf dem Gewissen haben — nun, ich per-sönlich glaube, diese Furcht kommt von dem Anblick dieser — dieser Persönlichkeit.“

Laurie befeuchtete seine trockenen Lippen. Er sagte sich, er glaube kein Wort davon.

„Und… und ist es ein böses Wesen?“ sagte er. Der andere zuckte die Achseln. „Ist das nicht eine relative Bezeichnung?“ erwiderte er. „Von einem Standpunkt aus gewiß, aber nicht notwendigerweise von

jedem.“ „Und… und wozu das alles?“ Das Medium lächelte ein wenig. „Diese Frage zu stellen, hören wir bald auf. Sie dürfen nicht vergessen,

daß wir bis jetzt kaum irgend etwas wissen. Aber eines erscheint immer si-cherer, je mehr wir forschen, und das ist, daß unser Standpunkt weder der einzige noch der wichtigste ist. Das Christentum, bilde ich mir ein, sagt das nämliche, nicht? Die Herrlichkeit Gottes, was sie immer bedeuten mag, kommt in erster Reihe sogar von der Erlösung der Seelen.“

Laurie richtete seine Aufmerksamkeit gewaltsam auf einen bestimmten Punkt.

„So befand ich mich also in Gefahr?“ fragte er. „Gewiß. Wir sind immer in Gefahr —“ „Sie meinen, wenn ich nicht gebetet hätte —“ „Ah! Das ist eine andere Frage… Aber, kurzum, wenn es Ihnen nicht ge-

lungen wäre, darüber hinwegzukommen — nun, dann wäre es Ihnen übel er-gangen.“

Wieder trat tiefes Schweigen ein. Es kam Laurie vor, als ob seine Welt über ihm zusammenstürze. Gleich-

wohl war er durchaus nicht überzeugt, ob nicht alles eine Illusion sei. Aber die außerordentliche Ruhe und die Zuversicht dieses Mannes, während er diese überraschenden Theorien aufstellte, taten ihre Wirkung. Es war dem jungen Mann, dessen Nerven von der früheren Erfahrung her noch vibrierten, ganz unmöglich, ohne innere Erregung diesen offenbar vernünftigen und zu-sammenhängenden Bericht von Dingen anzuhören, die sicherlich nach jeder andern Hypothese unbegreiflich waren. Die Erinnerungen an das sehr beun-

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ruhigende Einzigartige seines Traumes war noch lebendig in ihm… Gewiß fügte sich alles ineinander… Dennoch…

„Aber etwas ist noch zu bemerken“, unterbrach des Mediums ruhige Stimme die Stille. „Sollten Sie jemals wieder eine Erfahrung dieser Art machen, so würde ich Ihnen empfehlen, nicht zu beten. Lassen Sie Ihre eigene Individualität walten, behaupten Sie sich, stützen Sie sich auf niemand. Sie sind stark genug.“

„Sie meinen —“ „Ich meine genau, was ich sage. Was Gebet genannt wird, ist tatsächlich

ein auf Einbildung beruhendes Zugeständnis an die Schwachheit. Nehmen Sie lieber den kürzesten Weg. Behaupten Sie Ihre — Ihre eigene Individualität.“

Laurie änderte seine Haltung. Er stellte seine Beine gerade und richtete sich ein wenig auf.

„Oh! Beten Sie, wenn Sie Verlangen darnach haben“, sagte das Medium. „Aber Sie dürfen nicht vergessen, Herr Baxter, daß Sie eine Ausnahmenatur sind. Ich versichere Ihnen, daß Sie keine Vorstellung von Ihren eigenen Gei-steskräften haben. Ich hoffe, Sie werden energisch vorgehen.“ Herr Vincent hielt inne. „Diese Séances zum Beispiel. Werden Sie nun, da Sie etwas mehr von den Gefahren wissen, sich zurückziehen?“

Seine beschatteten freundlichen Augen blickten einen Augenblick scharf in des jungen Mannes erregtes Gesicht.

„Ich weiß nicht“, sagte Laurie, „ich muß darüber nachdenken...“ Er stand auf. „Sehen Sie, Herr Vincent, was Sie sagen, scheint mir außerordentlich —

eh — außerordentlich einleuchtend. Aber ich bin sogar jetzt nicht ganz si-cher, ob ich nicht auf dem Weg bin, verrückt zu werden. Es ist wie ein toller Traum — wie sich alle diese Dinge aneinanderreihen.“

Er hielt inne, indem er den ältern Mann scharf ansah und dann wieder wegblickte.

„Nun?“ Laurie begann mit einem Bleistift zu spielen, der auf dem Kaminsims lag. „Sie wissen doch, was ich meine?“ fragte er. „Ich greife weder — eh —

Ihren Standpunkt an, noch bezweifle ich Ihre Aufrichtigkeit. Aber ich möchte noch den einen und andern Beweis von Ihnen haben.“

„Haben Sie deren nicht genug gehabt?“ „O ja — wenn ich vernünftig wäre. Aber, wissen Sie, es kommt mir vor,

als ob Sie mir plötzlich bewiesen hätten, daß zwei mal zwei fünf macht.“

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Page 57: Benson, Robert Hugh - Die Geisterbeschwörer (German, Deutsch, Fantasy, Esoterik, Spiritismus)

„Aber dann wird sicher kein Beweis —“ „Ja, ich weiß. Ich sehe dies vollständig ein. Dennoch verlange ich einen

— noch etwas ganz Einfaches. Wenn Sie all dies tun können — Geister rufen und dergleichen —, können Sie dann auch etwas ganz Einfaches tun, das über jeden Zweifel erhaben ist?“

„O, ich glaube wohl. Aber würden Sie dann nicht noch einen weiteren Beweis verlangen?“

„Ich weiß es nicht.“ „Oder würden Sie nicht denken, Sie seien hypnotisiert worden?“ Laurie schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Tor“, sagte er. „Dann geben Sie mir jenen Bleistift“, sagte Herr Vincent, plötzlich die

Hand ausstreckend. Laurie starrte ihn einen Augenblick an. Dann reichte er ihm den Bleistift hin. Auf dem kleinen Tisch neben dem Lehnstuhl, ein paar Schritte von Lau-

rie entfernt, standen der Whisky und eine Schachtel Zigaretten. Ohne sich von seinem Stuhle zu erheben, nahm Herr Vincent diese Sachen weg und stellte sie auf den Boden neben sich, so daß nichts auf dem Tisch zurückblieb als die Nesseltuchdecke. Dann legte er den Bleistift leicht in die Mitte — all dies, ohne ein Wort zu sprechen. Laurie beobachtete ihn aufmerksam.

„Nun seien Sie so freundlich, weder ein Wort zu sprechen, noch eine Be-wegung zu machen“, sagte das Medium in entschiedenem Tone. „Warten Sie! Sie sind doch vollkommen überzeugt, daß Sie nicht hypnotisiert sind, und daß kein anderer Unsinn hier im Spiele ist?“

„Gewiß.“ „Gehen Sie im Zimmer umher, sehen Sie zum Fenster hinaus, schüren Sie

das Feuer — tun Sie, was Sie wollen.“ „Ich bin vollständig überzeugt, daß alles in Ordnung ist“, sagte der jun-

ge Mann. „Sehr gut. Dann, bitte, beobachten Sie diesen Bleistift.“ Das Medium beugte sich ein wenig in seinem Stuhle vor, seine Augen

unverwandt auf das kleine, hölzerne, zylinderförmige Ding richtend, das wie jeder andere Bleistift auf dem Tische lag. Laurie blickte einmal darauf hin, dann wieder weg. Dort lag er, ein ganz gewöhnlicher Bleistift.

Während einer Minute wenigstens ging nichts vor, nur daß von der ge-spannten Aufmerksamkeit des älteren Mannes wieder jene seltsame Stille aus-

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ging, die Laurie nach und nach so gut kennengelernt hatte — jene Stille, wel-che für die gewöhnlichen Klänge des Lebens unzulänglich und völlig unab-hängig von ihnen zu sein schien. Zuweilen schaute er in dem so gewöhnlich aussehenden Zimmer umher, auf die mit Vorhängen versehenen Fenster, auf die dunkeln Möbel, und als er zum zweiten Male wieder auf den Bleistift blickte, war er beinahe überzeugt, daß dieser sich bewegt habe. Entschlossen heftete er seine Augen darauf, alle seine Fähigkeiten anspannend und auf den einen Punkt richtend, und einen Augenblick später machte er wider seinen Willen eine plötzliche Bewegung und hielt rasch den Atem an, denn hier, ge-rade vor seinen Augen, schwankte der Bleistift, zögernd und in einer Weise zuckend, wie von einem Fädchen gezogen. Auch hörte Laurie ein leichtes Aufschlagen, als der Bleistift hinfiel.

Laurie blickte auf das Medium, welches seinen Kopf ungeduldig schüttel-te, wie um Schweigen zu gebieten. Dann trat wieder Stille ein.

Eine Minute später gab es keine Möglichkeit mehr, noch länger zu zweifeln. Hier vor den Augen des jungen Mannes, der mit bleichem Gesicht und

geöffneten Lippen hinstarrte, erhob sich der Bleistift zögernd, zitternd; aber anstatt wieder zurückzufallen, schwebte er einen Augenblick in der Luft, mit der Tischplatte in einer fast unmöglichen Stellung einen spitzen Winkel bil-dend. Dann hob er sich noch höher, umschrieb mit seiner Spitze den vierten Teil eines Zirkels, und nach einer weiteren Pause und nach einem weiteren Beben erhob er sich zu seiner vollen Höhe, erhielt sich einen Augenblick im Gleichgewicht, fiel dann mit einer plötzlichen Bewegung um und rollte über den Tisch auf den Teppich hinab.

Herr Vincent lehnte sich zurück und holte tief Atem. „So!“ sagte er und lächelte dem bestürzten jungen Mann zu. „Aber — aber —“, begann dieser. „Ja, ich weiß“, sagte das Medium. „Es ist zum Erschrecken, nicht? Und in

der Tat ist es nicht so leicht, wie es aussieht. Ich war durchaus nicht sicher —“ „Aber, guter Gott, ich sah —“ „Natürlich, aber woher wissen Sie, daß Sie nicht hypnotisiert waren?“ Laurie setzte sich plötzlich nieder, ohne sich dessen bewußt zu werden. Herr Vincent streckte die Hand wieder nach seiner Pfeife aus. „Nun, ich will ganz aufrichtig sein“, sagte er. „Ich kann eine ganze Men-

ge Erläuterungen dazu geben. Erstens ist damit gar nichts bewiesen, selbst wenn es tatsächlich stattgefunden hat —“

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„Selbst wenn es —“ „Gewiß… Ja, ja, ich sah es auch; und dort liegt der Bleistift auf dem Bo-

den.“ (Er bückte sich und hob ihn auf.) „Aber wie, wenn wir beide hypnoti-siert wären — wenn Selbstsuggestion auf uns beide eingewirkt hätte? Wir können nicht beweisen, daß es nicht der Fall war.“

Laurie war sprachlos. „Zweitens beweist es nicht das geringste in bezug auf die andern Angele-

genheiten, die wir besprochen haben. Es zeigt nur — wenn es, wie gesagt, wirklich geschehen ist —, daß der Geist außergewöhnliche Gewalt über die Materie hat. Mit der Unsterblichkeit oder — oder mit dem Spiritismus hat dies nichts zu tun.“

„Warum versuchten Sie es dann?“ stieß der junge Mann hervor. „Bloßes Feuerwerk... Nur zur Schau! Durch solch wunderliche Dinge

werden die Leute überzeugt.“ Laurie saß in Betrachtungen versunken, immer noch ungewöhnlich bleich

und mit glühenden Augen da. Er war außerstande, in Worte zu fassen, wes-halb der geringfügige Umstand mit dem Bleistift so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Unbestimmt nur schwebte ihm vor, daß all dies irgendwie in Zusammenhang mit einer herkömmlichen Reihenfolge stand und daher mehr Eindruck machen mußte als all das überflüssige Zubehör, als die Planchette, die herumwirbelnden Spiegel oder gar als seine eigenen Träume.

Er stand plötzlich wieder auf. „Wozu das alles, Herr Vincent?“ sagte er, seine Hand ausstreckend, „ich

bin ganz abgemattet. Ich kann mir nicht denken, warum. Alles Reden ist jetzt unnötig. Ich muß nachdenken. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Herr Baxter“, sagte das Medium heiter.

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Achtes Kapitel

I.

„Die gnädige Frau befahl mir, Sie hier hereinzuführen, mein Herr“, sagte der Diener um halb neun Uhr am Sonntagabend.

Laurie legte seinen Hut weg, schlüpfte aus seinem Überrock und trat ins Speisezimmer.

Der Tisch war noch mit Desserttellern und Servietten gedeckt. Laurie sah, daß zwei Personen hier zu Mittag gespeist hatten. Er trat ans Kaminfeuer, sich im stillen fragend, weshalb man ihn nicht in den oberen Stock geführt habe, und blieb dort stehen, sich die Hände wärmend und die hübschen dun-keln, bis hoch hinauf mit Bildern behängten Wände betrachtend.

Wider seinen Willen fühlte er sich etwas mehr erregt, als er im voraus vermutet hatte; es war etwas anderes, philosophisch zu sein, wenn etwas erst in drei Tagen zu erwarten stand, und wieder etwas anderes, philosophisch zu sein, wenn die Pforten des Todes sich unmittelbar vor den Augen auftun. Er fragte sich, in welcher Stimmung er wohl seine eigenen Zimmer wiedersehen würde. Dann gähnte er — und freute sich ein wenig darüber, daß das Gähnen etwas Natürliches war.

Draußen ließ sich ein Rascheln vernehmen, die Türe ging auf, und Lady Laura schlüpfte herein.

„Verzeihen Sie, Herr Baxter“, sagte sie. „Ich möchte vor allem nur ein Wort mit Ihnen sprechen. Bitte, setzen Sie sich einen Augenblick.“

Sie kam Laurie ein wenig ängstlich und aufgeregt vor, als er sich nieder-setzte und sie anschaute. Sie trug ein Gesellschaftskleid und die Kette mit den Emblemen, die mehr in die Augen fiel als je. Ihr gekräuseltes Haar war wie gewöhnlich hoch ausgesteckt, und ihr Pincenez schimmerte zu ihm her-über wie die Augen einer Katze.

„Es handelt sich um folgendes“, sagte sie hastig. „Ich hatte die Empfin-dung, daß ich mit Ihnen sprechen müsse. Ich war nicht sicher, ob Sie sich die — die Gefahren von alledem vollständig klargemacht haben. Ich möchte

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nicht, daß Sie — daß Sie sich irgendeiner Gefahr in meinem Hause ausset-zen. Ich würde mich dafür verantwortlich fühlen.“

Sie lachte nervös. „Einer Gefahr? Würden Sie wohl geneigt sein, mir dies zu erklären?“ sag-

te Laurie. „Gefahren sind — sind immer vorhanden, wissen Sie.“ „Gefahren welcher Art?“ „Oh… wissen Sie… für die Nerven und manches andere. Ich… ich habe

bei den Séances mehr als einmal Leute sehr erregt gesehen.“ Laurie lächelte. „Ich glaube, Ihre Besorgnis ist unnötig, Lady Laura. Es ist ungeheuer

freundlich von Ihnen, aber wissen Sie, ich schäme mich, es zu sagen, ich bin eher gelangweilt.“

Das Pincenez funkelte. „Aber — aber glauben Sie nicht daran? Herr Vincent sagte ja —“ „O ja, ich glaube daran; aber wissen Sie, es kommt mir nun so natürlich

vor. Sogar wenn heute abend nichts vorgehen sollte, halte ich es nicht für wahrscheinlich, daß ich weniger daran glauben werde.“

Sie schwieg einen Augenblick. „Wissen Sie, es gibt noch andere Gefahren“, sagte sie plötzlich. „Welche? Werden Sachen umhergeworfen?“ „Bitte, lachen Sie nicht, Herr Baxter, es ist mein völliger Ernst.“ „Nun — welche Art von Gefahren meinen Sie?“ Wieder hielt sie inne. „Es ist ganz furchtbar“, sagte sie dann, „aber wissen Sie, die Nerven man-

cher Leute werden zuweilen ganz zerrüttet, sogar wenn sie sich nicht im ge-ringsten fürchten. Ich erlebte einmal einen Fall —“

Sie brach ab. „Nun?“ „Es war ein ganz furchtbarer Fall. Ein Mädchen — eine sensitive Natur

— brach unter der Anspannung vollständig zusammen. Sie befindet sich jetzt in einer Anstalt.“

„Ich glaube nicht, daß es mir so ergehen wird“, sagte Laurie mit einem Anflug von Humor im Ton. „Und im Grunde setzen Sie sich ja auch selbst dieser Gefahr aus — Sie und Frau Stapleton.“

„Ja, aber sehen Sie, wir sind nicht sensitiv. Und ich sogar —“

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„Nun?“ „Nun, mich sogar überwältigt es zuweilen… Herr Baxter, vergegenwärti-

gen Sie sich auch vollständig, was all das bedeutet?“ „Ich glaube, ja, die Wahrheit zu sagen —“ Er hielt inne. „Ja, aber die Sache selbst ist wirklich überwältigend. Es zeigen sich — es

zeigen sich zuweilen außergewöhnliche Kräfte. Sie wissen doch, ich war bei Maud Stapleton, als sie ihren Vater sah —“

Wieder hielt sie inne. „Nun?“ „Auch ich sah ihn, wissen Sie… O, es war kein Betrug möglich, Herr

Vincent war dabei. Es — es war geradezu furchtbar.“ „Wirklich?“ „Maud fiel in Ohnmacht… Aber, bitte, sagen Sie ihr nicht, daß ich es Ih-

nen erzählte, Herr Baxter; sie möchte nicht, daß Sie dies wissen. Und dann geschehen zuweilen noch andere Dinge, welche nicht angenehm sind. Halten Sie mich für sehr feige? Ich — ich glaube, ich habe heute abend einen Ner-venanfall gehabt.“

Laurie sah, daß sie zitterte. „Sie sind sehr freundlich“, erwiderte er, „daß Sie sich die Mühe machen,

mir all dies zu sagen. Aber ich war in der Tat ganz gefaßt, allerlei Schreckli-ches zu erleben. Ich verstehe vollständig, was Sie meinen — aber —“

„Herr Baxter, Sie können das nicht verstehen, bis Sie es selbst erfahren haben. Und Sie wissen doch, daß Sie noch gar nichts gewußt haben, als Sie kürzlich hier waren. Sie waren nicht bei Bewußtsein. Heute abend müssen Sie nun wach erhalten werden. Herr Vincent wird tun, was in dieser Hinsicht möglich ist. Und — und ich habe das nicht gern.“

„Aber um̓ s Himmels willen, was kann geschehen?“ fragte Laurie be-stürzt.

„Herr Baxter, ich nehme an, Sie vergegenwärtigen sich, daß Sie es sind, mit denen jene — wer sie auch sein mögen — in Verbindung stehen. Es herrscht kein Zweifel darüber, daß Sie heute abend der Mittelpunkt sein werden. Und ich wollte Ihnen nur zu verstehen geben, daß Gefahren damit verbunden sind. Es wäre mir unangenehm, zu denken —“

Laurie erhob sich. „Ich verstehe Sie vollkommen“, sagte er. „Gewiß, ich wußte stets, daß

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Page 60: Benson, Robert Hugh - Die Geisterbeschwörer (German, Deutsch, Fantasy, Esoterik, Spiritismus)

Gefahren damit verbunden sind. Ich halte mich für verantwortlich und sonst niemand. Ist das ganz klar?“

Der Draht an der Glocke der Vordertüre in der Halle zuckte plötzlich und der Schall der Glocke drang die Treppe hinauf.

„Er ist da“, sagte Lady Laura. „Kommen Sie herauf, Herr Baxter. Bitte, erwähnen Sie kein Wort von dem, was ich gesagt habe.“

Sie eilte hinaus, und er folgte ihr, als der Diener von den unteren Regio-nen heraufkam.

Das Empfangszimmer machte einen ungewöhnlichen Eindruck, als Lau-rie eintrat. Alle kleineren Möbel waren auf die Seite an das auf die Straße ge-hende Fenster gerückt worden und sahen dort aus wie eine von Dilettanten errichtete Barrikade. In der Mitte des Zimmers, unmittelbar unter dem elek-trischen Licht stand ein massiver kleiner Tisch mit vier wie für das Bridge-spiel hergerichteten Stühlen. An der nicht an der Straße liegenden Seite war eine Art von Vorzimmer, das mit dem Hauptzimmer durch einen weiten, ho-hen gewölbten Gang in Verbindung stand, der beinahe ebenso breit war wie das Zimmer, in das er führte. Darin stand, vollständig sichtbar, ein seltsamer Bau, einem Beichtstuhl nicht unähnlich, mit einem Sitz für eine Person, ei-nem Dach, Wänden und einem Boden aus dünnem Holz. Die Vorderseite war offen, aber zum Teil durch zwei Vorhänge verhüllt, die von einer Stange in-nen herabzuhängen schienen. Der übrige Teil des kleinen besonderen Zim-mers war ganz leer bis auf ein Pianino in der Ecke.

Auf dem sonst leeren Kaminteppich standen zwei Personen mit etwas be-trübter Miene — Frau Stapleton und der Geistliche, den Laurie bei seinem letzten Besuche hier getroffen hatte. Herrn Jamiesons Gesicht hatte einen Ausdruck, wie er bei Leichenbegängnissen üblich ist, und in Frau Stapletons Zügen malte sich unterdrückte Erregung.

„Meine Teuerste, wie lange bist du weggeblieben! Ist Herr Vincent ge-kommen?“

„Ich glaube“, antwortete Lady Laura. Die beiden Männer nickten einander zu, und einen Augenblick später trat

Herr Vincent ein. Er war im Gesellschaftsanzug, und Laurie fiel es mehr als je auf, daß er

wie ein Durchschnittsmensch aussah. Seine Manieren waren nicht im gering-sten feierlich, er schüttelte allen auf herzliche und natürliche Weise die Hand, auf Laurie aber warf er einen raschen, beifälligen Blick.

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„Ich finde es außergewöhnlich kalt“, sagte er. „Ich sehe, Sie haben ein

herrliches Feuer.“ Und er bückte sich und rieb seine Hände, um sie zu er-wärmen.

„Wir müssen es sofort den Blicken entziehen“, sagte er. Dann stand er auf. „Es ist unnötig, Zeit zu verlieren. Darf ich zuerst ein paar Worte sagen,

Lady Laura?“ Sie nickte, ihn beinahe besorgt anblickend. „Zuerst muß ich Sie, meine Herren, bitten, mir hinsichtlich eines

gewissen Punktes Ihr Wort zu geben. Ich habe noch keine Idee davon, wie die Dinge sich gestalten, und ob wir Resultate haben werden, aber wir wollen eine Materialisation versuchen. Wahrscheinlich wird sie nicht sehr weit ge-hen; wir sind vielleicht nicht imstande, mehr zu sehen als irgendeine Gestalt oder ein Gesicht. Aber in jedem Falle bitte ich Sie, meine Herren, mir Ihr Wort zu geben, nichts Gewaltsames zu tun. Irgendein Versuch, nach der Gestalt zu greifen, kann in der Tat sehr traurige Folgen für mich selbst haben. Sie begreifen, daß das, was Sie sehen werden, wenn Sie überhaupt etwas sehen, nicht von wirklichem Fleisch und Blut ist; es wird aus einer gewissen Materie gebildet sein, von der wir bis jetzt sehr wenig wissen, die aber in jedem Fall mit mir selbst oder mit einer der anwesenden Personen eng verknüpft ist. In der Tat, wir wissen nicht mehr darüber. Wir sind alle nur Forscher. Wollen Sie, meine Herren, mir nun Ihr Ehrenwort geben, daß Sie mir darin gehorchen, und daß Sie in allen andern Dingen die Anweisungen von… (er blickte auf die beiden Damen) — von Frau Stapleton befolgen und nichts ohne deren Einwilligung tun?“

Er sprach in kurzem, geschäftsmäßigem Tone und sah mit durchdringen-dem Blick bald in das Gesicht des einen, bald in das des andern, als er geendigt hatte.

„Ich gebe Ihnen mein Wort“, sagte Laurie. „Ich auch“, erklärte Herr Jamieson. „Nun ist noch etwas in Betracht zu ziehen“, fuhr das Medium fort. „Herr

Baxter, Sie wissen, daß Sie in hohem Grade sensitiv sind. Nun, ich wünsche nicht, daß Sie heute abend in den Trancezustand kommen. Haben Sie die Gü-te, Ihre Aufmerksamkeit direkt auf mich zu richten. Beobachten Sie mich ge-nau, Sie werden imstande sein, mich ganz gut zu sehen, wie ich sofort zeigen werde. Frau Stapleton wird mit dem Rücken dem Feuer zugekehrt sitzen,

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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Lady Laura ihr gegenüber, Herr Jamieson mit dem Rücken gegen das Kabi-nett, und Sie, Herr Baxter, ihm gegenüber. (Ja, Herr Jamieson, Sie können sich ruhig umwenden, solange Sie Ihre Hände auf dem Tisch lassen.) Wenn Sie nun fühlen, daß irgend etwas wie Schlaf oder Bewußtlosigkeit unwider-stehlich über Sie kommt, Herr Baxter, dann bitte ich Sie, Frau Stapletons Hand leicht zu berühren. Sie wird dann, wenn nötig, den Kreis auflösen. Ge-ben Sie sofort das Zeichen, wenn Sie bemerken, daß eine solche Empfindung Sie überkommt, oder wenn Sie es sehr schwierig finden, Ihre Aufmerksam-keit fest auf etwas zu richten. Wollen Sie dies tun?“

„Ich will es tun“, antwortete Laurie. „Das ist alles.“ Er tat einen Schritt vom Kaminfeuer weg und schwieg einen Augenblick. „Bei dieser Gelegenheit kann ich Ihnen ebensogut unsere Methode aus-

einandersetzen. Ich werde meinen Platz im Kabinett einnehmen und die Vor-hänge oben so übereinanderziehen, daß sie mein Gesicht beschatten. Aber Sie werden imstande sein, meine ganze Gestalt zu sehen und vielleicht sogar mein Gesicht. Sie vier bitte ich, sich in der von mir angegebenen Reihenfolge an den Tisch zu setzen und Ihre Hände darauf zu legen. Sprechen Sie nicht, wenn man Sie nicht anredet, und nicht, ehe Frau Stapleton das Zeichen gibt. Das ist alles. Dann warten Sie. Es kann zehn Minuten, eine halbe Stunde, ei-ne Stunde, ja sogar zwei Stunden dauern, ehe sich etwas ereignet. Wenn es zu keinem Resultat kommt, wird Frau Stapleton den Kreis um elf Uhr auflö-sen und mich, wenn nötig, wecken.“

Er brach ab. „Haben Sie die Güte, das Kabinett und das ganze Zimmer zuerst genau zu

untersuchen, meine Herren. Wir Medien müssen uns zu schützen wissen.“ Er lächelte heiter und nickte den beiden zu. Laurie ging geradeswegs über den unbedeckten Fußboden auf das Kabi-

nett zu. Es stand ungefähr zwölf Zoll hoch vom Boden auf vier Pfosten. Schwere grüne Vorhänge hingen innen von einer Stange herab. Laurie faßte sie an und schüttelte sie hin und her, dann betrat er das Kabinett. Es war ganz leer bis auf einen hölzernen Sitz. Als er es verließ, erblickte er das eine ge-wisse Scheu verratende Gesicht des Geistlichen, welcher ihm in tiefem Schweigen gefolgt war und nun nach ihm das Kabinett betrat. Laurie ging um das Kabinett herum. Das kleine Zimmer war leer, abgesehen von dem Klavier an der Hinterwand und zwei niederen Bücherregalen auf jeder Seite

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des Kamines, in dem kein Feuer brannte. Das, wie es schien, auf den Garten gehende Fenster war von oben bis unten mit Laden verschlossen und verrie-gelt, und die Vorhänge waren zurückgezogen, so daß man dies sehen konnte. Nicht einmal eine Katze hätte sich irgendwo verbergen können. Alles warvöllig zufriedenstellend.

Laurie kam zu den andern zurück, die schweigend beisammenstanden, und der Geistliche folgte ihm.

„Sie sind zufriedengestellt, meine Herren?“ fragte das Medium lächelnd. „Vollkommen“, erwiderte Laurie, und der Geistliche verneigte sich. „Gut denn“, sagte der andere, „es ist bald neun Uhr.“ Er wies die Plätze an und ging selbst auf das Kabinett zu, wobei das Zim-

mer unter seinem schweren Schritt erzitterte. Als er in die Nähe der Türe kam, griff er nach dem Knopf, und alle Lichter bis aus eines gingen aus.

Die vier Personen setzten sich nieder. Laurie beobachtete Herrn Vincent, wie er in das Kabinett hinaufstieg, die Vorhänge zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite schob und sich gemächlich so hinsetzte, daß sich sein Ge-sicht in einer Art von Zwielicht zeigte, und der übrige Teil seiner Gestalt vollständig sichtbar war.

Dann trat Schweigen ein.

II.

Der Kater aus dem nächsten Hause beschloß, nach einem vortrefflichen Abendessen von Heringsköpfen einen Spaziergang zu machen. Er hatte ein Stelldichein mit einer Freundin. So säuberte er sich denn sorgfältig auf dem Treppenabsatz vor der Vorratskammer, wich den Liebkosungen des jungen Bedienten aus, der erst kürzlich vom Lande gekommen war, sprang zuletzt auf die Fensterbank und saß dort, indem er den Hintergarten betrachtete, die geschwärzte Mauer drüben, auf die das Licht aus dem Fenster der Vorrats-kammer fiel, und die Schornsteine, die sich hoch und drohend vom klaren Nachthimmel abhoben. Sein Schwanz bewegte sich in sanften bedeutungs-vollen Windungen, während er hinschaute.

Nun kletterte er vorsichtig unter dem Schiebfenster hinaus, bereitete sich auf einen Sprung vor und saß im nächsten Augenblick auf der Grenzmauer zwischen seinem eigenen Haus und dem Lady Lauras.

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Hier verweilte er wieder. Das, was ihm als Verstand diente, jene geheim-nisvolle Verbindung von Intuitionen und Instinkten, wodurch er die Zeit be-rechnete, vertrauliche Mitteilungen austauschte und Erfahrungen machte, be-lehrte ihn darüber, daß es noch frühe in der Nacht sei, und daß seine Freundin noch nicht angelangt sein könne. Er saß so still und so lang hier, daß, wäre nicht sein plumper Kopf mit den stumpf zugespitzten Ohren gewesen, ein un-tenstehender Beobachter ihn für nichts anderes hätte halten können als für den Buckel eines gotischen Kreuzblumenknaufes an einer sonst regelrecht gebauten Mauer. Dann und wann zuckte das Ende seines Schwanzes ein we-nig, wie ein unabhängiges Glied, während er seinen Gedanken nachhing.

Über ihm war der letzte Schimmer des Tages vollständig verschwunden, und jetzt erstrahlte, hoch und leuchtend, der nächtliche, geheimnisvolle Glanz der Stadt. Er, ein in der Stadt geborener Kater, der von Generationen von Katzen abstammte, die in der Stadt geboren waren, lauschte untätig dem ge-dämpften Lärm des Verkehrs, für ihn soviel wie das Murmeln der Bäche und das Rauschen der Bäume im Wald. Es war für sein Ohr der Hintergrund von Abenteuern, Romantik und erbittertem Krieg.

Das Leben pulsierte kräftig in seinen Adern und Sehnen. Dann und wann, wenn seiner Einbildungskraft ahnungsvolle Bilder vorschwebten, streckte er mit einer unwillkürlichen Bewegung seine scharfen Krallen aus den weichen Scheiden, in denen sie ruhten, und bohrte sie in den zerbröckelnden Mörtel. Einmal erscholl aus einem erleuchteten Fenster weit unten ein heftiges Bel-len, aber er ließ sich nicht herab mehr zu tun, als den Kopf langsam nach die-ser Richtung zu wenden. Dann lag er wieder auf der Wacht.

Endlich kam der Moment, der ihm, wie durch die Schläge einer genau ge-henden Uhr, angezeigt wurde, und er stellte sich geräuschlos auf seine Füße. Dann stand er wieder still und streckte soweit als möglich zuerst das eine, dann das andere kräftige Vorderbein aus und zeigte wieder seine Klauen, wo-bei er sich einer leisen Empfindung von Wohlbehagen über das Spiel seiner straff angespannten Muskeln unter dem losen gestreiften Fell bewußt war. Sie sollten bald in Tätigkeit gesetzt werden. Und während er sich dazu an-schickte, schaute von der sechs Fuß hohen Brüstung über ihm, von der Spitze des Gitters, auf das er gerade steigen wollte, ein zweiter unternehmender kleiner Kopf mit stumpf zugespitzten Ohren herab, und eine sanfte, unbe-schreibliche Stimme stieß leise eine Beleidigung aus. Es war sein Freund… und er wußte ganz gut, daß auf irgendeinem hohen Dachfirst im Hintergrund

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eine junge weibliche Schönheit mit zurückgelegten Ohren und hin und her gehendem Schwanze auf die Liebkosungen des Siegers wartete.

Als er den Kopf über sich sah, der für Menschenaugen eine formlose Sil-houette, für sein Auge ein mit Bleistift gezeichnetes, in allen Einzelheiten vollkommenes Bild war, hörte er auf sich zu strecken. Dann setzte er sich auf die Hinterbeine, legte seinen Schwanz zurecht und erhob den Kopf, um zu antworten. Der Schrei, welchen er, noch nicht fortissimo, ausstieß, lautete unten für menschliche Ohren nur wie eine leise, herzbrechende Klage, aber ihm, der oben saß, übertraf er an Frechheit sogar seine eigene, sorgfältig mo-dulierte Herausforderung.

Wieder antwortete der andere, sich diesmal zu seiner vollen Höhe auf-richtend. Ein elektrischer Strom fuhr durch die Nerven seines Rückens, so daß sein Fell prickelte, und pflanzte sich in wellenförmiger Bewegung bis an das Ende des Schwanzes fort. Und wieder kam von unten die Antwort.

So ging es mit den Präliminarien der Herausforderung weiter. Allmählich machte sich schon in der Stimme von beiden jenes leise Zeichen einer krampf-haften Erregung bemerkbar, das in einem Wutschrei und heftigem Fauchen den Gipfelpunkt erreicht, dann wieder in ein ominöses Schweigen und in den ersten heftigen Angriff mit den Krallen auf Augen und Ohren übergeht. Im nächsten Augenblick würde der Lauscher oben bei dem raschen, ungestümen Anlauf gegen das Gitter einen Moment zurückweichen, und dann würde die Schlacht beginnen; aber jener Augenblick kam nie. Eine plötzliche Stille trat ein; und als der Kater, mit dem Kinn auf den Pfoten und lang ausgestreck-tem, zuckendem Schwanz in die graue Dunkelheit hinunterschaute, sah er ei-nen erstaunlichen Anblick. Sein Widersacher hatte sich mitten in einem lan-gen kreszendierenden Schrei unterbrochen, sich platt auf die schmale Mauer zusammengekauert und starrte nun nicht mehr hinauf, sondern hinab, in schräger Richtung, auf ein gewisses, mit Vorhängen versehenes Fenster acht Fuß weiter unten.

Dies war sehr ungewöhnlich und allen Präzedenzfällen widersprechend. Ein Hund, eine mit einem Wurfgeschoß bewaffnete menschliche Hand, ein wütendes, drohendes Gesicht — derartiges lag nicht vor, um den Bruch der Etikette zu erklären. Der Kater hatte eine unbestimmte Empfindung davon und war sich nur bewußt, daß Unerklärliches geschah, aber er war nun auch ruhig und wartete auf die weitere Entwicklung der Dinge.

Es war eine sehr langsame. Der zusammengekauerte Körper unten war

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nun regungslos, sogar der Schwanz hatte aufgehört zu zucken und hing hinten schlaff über den Rand der schmalen Mauer in die unermeßliche Tiefe des Gartens hinab, und als der Lauscher hinschaute, empfand er, wie sich ihm das Grauen mitteilte, das so deutlich in des andern Haltung lag. Längs seines Rückgrates, vom Hals bis zu den Weichen, zog sich die lähmende, nervöse Bewegung hin, sein eigener Schwanz hörte auf, sich zu bewegen, seine eigenen Ohren legten sich instinktiv zurück, sich an beiden Seiten des viereckigen starken Kopfes fest anschmiegend. In seiner Nähe regte sich etwas, er wendete sich rasch um und sah die geschmeidige junge Geliebte seines Herzens leise an seine Seite treten.

Als er sich wieder umkehrte, war sein Widersacher verschwunden. Dennoch gab er seine beobachtende Stellung nicht auf. Immer noch drang kein Laut von dem Fenster her, auf welches der andere Kater hingestarrt hat-te: kein erleuchtetes längliches Rechteck warf seinen Schein in die Dunkel-heit und erklärte das plötzliche Abstehen vom Kampf.

Alles blieb still und ruhig wie bisher; die Fenster waren überall geschlos-sen, ab und zu hörte man aus der Tiefe eine menschliche Stimme, nur wenige Worte, Frage und Antwort, und über die Dächer klang aus der Ferne das stete Geräusch des Treibens der Großstadt; aber hier in unmittelbarer Nähe herrsch-te Ruhe und Stille. Dem Kater war das in Betracht kommende Fenster wohl-bekannt, mehr als einmal war er auf das Sims gesprungen und hatte die keine Nahrung bietende Wüste des Fußbodens, den Teppich und das Mobiliar in Augenschein genommen.

Während er jetzt beobachtete und wartete, nahm sein Grauen noch zu. Das, wofür wir beim Menschen noch keinen Ausdruck haben, war stark in ihm wie in jedem Tier, bei dem das Empfindungsvermögen die Vernunft überwiegt, und vermittelst dieser seltsamen Fähigkeit fühlte auch er, daß et-was vorging, etwas, was von jenem stillen, verhängten, unsichtbaren Fenster ausstrahlte — etwas von ganz anderer Natur als die Furcht vor einem Hunde oder einem nach ihm geschleuderten Schuh oder vor wütenden Scheltworten — etwas, das gewisse Nerven seines Körpers auf eine neue und schreckliche Art in Erregung versetzte. Er hatte dies schon ein- oder zweimal in seinem Leben erfahren, einmal in einem leeren Zimmer, das andere Mal in einem Raum, der nur einen Umriß unter einem Laken barg und dessen Türe ver-schlossen war.

Auch ihn schien sein Mut zu verlassen, sein Schwanz hing schlaff über

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die Stuckbrüstung hinab, und er ließ das leise Miauen unbeantwortet, das sich einmal neben ihm vernehmen ließ.

Und das Grauen nahm immer noch zu… Nach kurzer Zeit zog er, sachte den Kopf hebend, erst eine Pfote von dem

zerbröckelnden Sande zurück und dann die andere. Noch einen Augenblick wartete er und fühlte, wie sich sein Rücken unwillkürlich wölbte und krümm-te. Dann ließ er sich geräuschlos auf das Bleidach fallen, ergriff im Schutze der Brustwehr die Flucht, ein lautloser Schatten im Dunkel, und seine Ge-fährtin floh mit ihm.

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Neuntes Kapitel

I.

Laurie drehte sich langsam im Bett um, holte tief Atem und richtete sich auf, seine Arme aus den Decken befreiend. Er drehte das Licht an seinem Bett an, warf einen Blick auf seine Uhr, drehte es wieder aus und sank in die Kissen zurück. Er brauchte noch nicht gleich aufzustehen.

Dann fing er an sich zu besinnen. Wenn ein Ereignis ganz neuer Art in den Kreis unserer Erfahrungen tritt,

bedarf es einer kleinen Weile, bis wir es uns assimiliert haben. Es ist, wie wenn ein großes Stück Möbel in ein Zimmer gebracht wird und alle andern Möbel dann andere Werte annehmen. Ein Bild, das sich bisher über dem Ka-min ganz gut ausnahm, muß vielleicht weggehängt werden. Die Werte, die Beziehungen, die Symmetrie verlangen eine neue Anordnung.

Nun war Laurie bis gestern abend in einem gewissen Sinn von der Exi-stenz spiritistischer Phänomene überzeugt gewesen; sie hatten aber für ihn noch nicht eine solche Bedeutung erlangt, daß alles übrige davon beeinflußt wurde. Das neue Büfett war ins Zimmer gebracht, aber einstweilen zur Be-sichtigung in einen leeren Raum an die Wand gestellt worden. Der Besitzer des Zimmers hatte sich die Notwendigkeit, das Ganze umzuräumen, noch nicht klargemacht. Aber gestern abend hatte sich etwas zugetragen, das eine vollständige Veränderung bedingte. Laurie fing jetzt an einzusehen, daß alles von einem neuen Gesichtspunkt aus betrachtet werden müsse.

Während er nun so dalag, zwar äußerlich ruhig, aber ganz besonders lebhaft erregt, faßte er zuerst einen Hauptpunkt ins Auge.

Ungefähr eine Stunde war verstrichen, ohne daß sich etwas Besonderes

ereignet hatte. In vollständiger Stille waren die vier beisammengesessen, die Hände auf dem Tisch; gelegentlich machte jemand eine kleine Bewegung, man hörte die Atemzüge jedes einzelnen oder man vernahm das leise Kni-stern des Kleides einer der Damen. Das Feuer mit dem Schirme davor und

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die einzige, dichtverhängte elektrische Lampe gewährten genügendes Licht, um die Gesichter erkennen zu lassen, und nach einigen Minuten konnte man auch kleinere Gegenstände unterscheiden und Großgedrucktes lesen.

Meistens hatte Laurie den Blick auf das Medium im Kabinett geheftet. Dort saß der Mann zurückgelehnt, man konnte ihn fast ganz sehen; sogar die Blässe seines Gesichtes und der dunkle Bart waren in dem Dämmerlicht deutlich zu unterscheiden. Ab und zu streifte der Blick des jungen Mannes die andern Gesichter, das des regungslos, mit gesenkten Augen dasitzenden Geistlichen, das Besorgnis, aber auch den Vorsatz ausdrückte, standhaft zu bleiben — dann das Dreiviertelprofil der beiden Damen und das glänzende Pincenez unter Lady Lauras gekräuseltem Haar.

Lauries Gedanken hatten sich, während er so dasaß, zuerst mit einer rasenden Schnelligkeit gejagt, mit der Zeit aber waren sie ruhiger geworden, und sein Gehirn war mehr und mehr in einen passiven Zustand geraten, so daß es ihn zuletzt eine kleine Anstrengung kostete, die ihn überkommende Schläfrigkeit zu überwinden. Schon drei- oder viermal hatte er dagegen ange-kämpft, und er hatte sogar schon angefangen, darüber nachzudenken, ob er imstande sein würde, noch länger Widerstand zu leisten, als ein plötzliches Erbeben des Tisches ihn aufschreckte. Sofort munter und vollständig seiner Sinne mächtig, konzentrierte er seine ganze Aufmerksamkeit auf das nun Kommende.

Dies Erbeben unter seinen Händen war eine seltsame Empfindung. Zuerst war es nicht stärker gewesen, als es ein in der Straße vorüberfahrender schwerer Lastwagen verursachen würde, nur daß kein Wagen vorüberfuhr. Es hatte sich unter ruckweisen Stößen und Zuckungen gesteigert und glich zuletzt dem fortgesetzten Erzittern eines lebenden starren Körpers, der kaum merkbar bald nach der einen, bald nach der andern Seite zuschwankt.

Nun hatte all dies, wie Laurie wohl wußte, keine Bedeutung — oder viel-mehr brauchte keine zu haben. Und als auf das Erbeben, nachdem es noch einmal alle vor- und rückwärts gehenden Bewegungen durchgemacht hatte, plötzlich vollständige Ruhe eintrat, fühlte Laurie eine gewisse Enttäuschung. Gleich darauf jedoch, als er wieder nach dem Medium im Kabinett hinblick-te, atmete er tief auf, und Herr Jamieson drehte bei dem Laut rasch den Kopf nach ihm um.

Dort im Kabinett hinter dem Vorhang wurde oben ein schwacher, aber vollständig deutlicher Lichtschein sichtbar. Es war kaum mehr als eine ver-

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schwommene, aber nicht zu verkennende Helle, die schwach, aber klar über dem Gesicht des Mediums lag. Bei ihrem Schein konnte Laurie jede Linie, jeden Zug unterscheiden, den herabhängenden, gestutzten Bart, die starke, hervorspringende Nase, die vom Nasenflügel nach dem Mundwinkel ziehen-den Linien und die geschlossenen Augen. Während er noch hinblickte, wurde das Licht intensiver und schien oben in dem den Blicken verborgenen Win-kel seinen Mittelpunkt zu haben. Dann trat es mit einer ruhigen, gleitenden Bewegung vollständig in den Gesichtskreis. Es hatte das Aussehen einer schwach leuchtenden Kugel von blaßbläulicher Farbe mit unbestimmten Um-rissen und schwebte mit den steten Bewegungen eines Luftballons vor, nach dem Zimmer zu. Als es außerhalb des Kabinetts war, schien es zu zögern und hielt sich schwebend ungefähr in Manneshöhe — dann nach einem Augen-blick zog es sich wieder ins Kabinett zurück, verschwand in der Richtung, aus der es gekommen, und erlosch.

Es war dagewesen, daran war nicht zu zweifeln… Und Laurie war kein Mechanismus bekannt, vermittelst dessen es so hätte hervorgebracht werden können.

Auch der Geistliche schien erregt zu sein. Mit zurückgeworfenem Haupt hatte er die Erscheinung von Anfang bis zu Ende beobachtet und am Schluß, mit lange angehaltenem Atem, Laurie einmal angeblickt; mit einer in der tie-fen Stille hörbaren Bewegung hatte er seine trockenen Lippen befeuchtet und dann den Blick wieder zu Boden gesenkt. Die Damen verhielten sich wäh-rend der ganzen Zeit still und beinahe regungslos.

Und nun hatte sich das jetzt Folgende verhältnismäßig rasch abgespielt. Nach Verfluß einiger Minuten begann sich die Helle von neuem zu zei-

gen; aber diesmal trat sie verschwommen wie im Nebeldunst fast sofort her-aus, hielt sich wieder schwebend vor dem Kabinett und schien sich mit einer seltsamen, wirbelnden Bewegung in Linien und Kurven zu gestalten.

Während Laurie noch starr darauf hinblickte, hatte sie allmählich die Ge-stalt und das Aussehen eines in Draperien gehüllten Kopfes angenommen. Die Falten der Draperien schienen bis auf den Boden zu hängen und sich dort ins Unbestimmte zu verlieren. Während er, alles andere über dem staunener-regenden Vorgang vergessend, noch immer hinstarrte, schienen sich Ge-sichtszüge zu bilden, zuerst nur Linien und Schatten, dann die Augen, die Nase, der Mund, das Kinn eines jungen Mädchens…

Im nächsten Moment war kein Zweifel mehr. Es war Amy Nugents Ant-

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litz, das ihn anschaute, ernst und unverwandt — so wie er es im Mondschein an der Schleuse gesehen hatte, und ein paar Schritt dahinter, neben der Draperie und halb davon verhüllt, zeigte sich das Gesicht des schlafenden Mediums.

Laurie hatte bei diesem Anblick weder eine Bewegung gemacht, noch ei-nen Laut von sich gegeben. Ihm genügte die Tatsache. Alle ihm innewohnen-den Geisteskräfte konzentrierten sich einzig auf angestrengtes Beobachten…

Irgendwo ließ sich ein halberstickter Seufzer vernehmen, und Laurie sah zwischen sich und dem Gesicht die Gestalt des Geistlichen auftauchen, der mit rückwärts gewandtem Kopf die Erscheinung anstarrte. Nur eine seiner Hände war auf den Tisch aufgestützt, aber so schwer, daß sich ihr Beben dem ganzen Tisch mitteilte.

Links von ihm entstand nun eine Bewegung, und er hörte eine weibliche Stimme in strengem Ton flüstern:

„Setzen Sie sich, Herr, augenblicklich setzen Sie sich…“ Während der Geistliche, immer noch stark zitternd, in seinen Sessel zu-

rücksank, wurde das leuchtende Antlitz schon undeutlich, die Gesichtszüge lösten sich in Linien und Schatten auf, die Draperien zogen sich in die Höhe nach dem Mittelpunkt zu, von wo sie heruntergekommen waren. Noch ein-mal sah man den Nebeldunst zittern, sich nach rückwärts bewegen und ver-schwinden. Im nächsten Moment hörte das Leuchten ganz auf, wie ausge-löscht. Das Medium stöhnte leise und erwachte.

Das war der Schluß gewesen. Laurie erinnerte sich nur schwach an das darauffolgende Gespräch, an die Erklärungen, die Entschuldigungen und das kaum verhehlte Entsetzen des jungen Geistlichen. Gleich darnach war das Medium herausgetreten, geblendet und verwirrt. Man hatte gespro-chen… und so weiter. Dann war Laurie heimgegangen, immer noch be-müht, sich mit der erstaunlichen Tatsache vertraut zu machen, daß er mit eigenen Augen Amy Nugents Antlitz vier Monate nach ihrem Tode erblickt hatte, eine Tatsache, von der er sich vorzuspiegeln suchte, sie habe keine Bedeutung für ihn.

Und am darauffolgenden Morgen lag er nun hier im Bett und bemühte sich wieder, sich mit dem Vorgegangenen vertraut zu machen.

Der Schlaf hatte seine Wirkung ausgeübt — das Unterbewußtsein hatte

sich die Tatsache zu eigen gemacht — und künftighin würde sie eine in sei-ner Erfahrungswelt eingereihte Tatsache sein. Sie regte ihn jetzt nicht mehr

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auf, interessierte ihn aber über alle Maßen. Die Sache selbst stand fest.Welche Bedeutung hatte sie nun für ihn?

Zuerst machte er sich klar, daß sie auf die Bewertung der gewöhnlichsten Dinge einen enormen Einfluß habe. Es war eine Wirklichkeit — so wirklich wie Tische und Stühle —, daß es ein Leben nach diesem gab, und daß das persönliche Leben fortdauerte. Daran konnte er auch in der trübsten Stim-mung nie mehr auch nur auf einen Augenblick zweifeln. Solange der Mensch im Glauben wandelt, solange er eine Autorität menschlicher oder göttlicher Natur anerkennt, so besteht doch immer die psychologische Möglichkeit, daß sich das Selbst aus dem instinktiven Gefühl heraus, daß das, was man nicht persönlich erfahren hat, möglicherweise auch nicht wahr sei, zur Geltung bringt. Hat man aber persönlich eine Erfahrung gemacht, so ist — solange das Gedächtnis nicht versagt — der Standpunkt des Agnostikers eine Un-möglichkeit. Jeder einzelne Akt gewinnt nun eine neue Bedeutung. Es ist kein Wagnis mehr dabei, es gibt tatsächlich keine Gelegenheit mehr zum He-roismus. Nimmt man auf das Zeugnis der Sinne hin einmal als gewiß an, daß der Tod nur ein Zwischenspiel ist, so wird dieses Leben nur der Teil eines langen Entwicklungsprozesses…

Wie verhält es sich nun mit der Lebensführung — was wird aus der Re-ligion? Diese Frage verursachte Laurie ein paar Augenblicke ernstlicher Unruhe. Denn wenn er die katholische Religion ins Auge faßte, fand er, daß sich alles gewandelt hatte. Sie erschien ihm nicht mehr als erhabene Herrscherin. Wenn er daran dachte, daß er am vorhergehenden Morgen noch in der Messe gewesen, kam er sich einigermaßen albern vor. Wozu all die Unruhe, wozu der Kraftaufwand, die unzähligen Glaubensakte und all die Anstrengungen? Seine Religion mußte ja nicht notwendigerweise un-wahr sein —, gewiß war es möglich, den katholischen Glauben und den Spiritismus zu vereinigen; es war vergangenen Abend nicht das geringste gegen das Christentum gesagt worden, und dennoch erschien ihm der Ka-tholizismus recht schattenhaft, jenem Zeugnis der Sinne gegenüber. Er konnte ja wahr sein, wie jedes philosophische System wahr sein kann, aber — lag denn sehr viel daran? Sich darüber zu enthusiasmieren, war der Wahnsinn eines Künstlers, der das Porträt mehr liebt als das Original —und möglicherweise ein recht irreführendes, nicht entsprechendes Porträt. Laurie hatte am vergangenen Abend das Original mit eigenen Augen gese-hen, er hatte eine körperliche Seele erblickt, in einem Gewand, welches das

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Erkennen ermöglichte… Brauchte er denn nun „eine Religion“? War diese Erfahrung nicht völlig genügend?…

Damit trat plötzlich ein persönliches Element in den Vordergrund, und al-les Spekulieren hatte ein Ende.

Noch vor drei Tagen hatte ihn der Gedanken an Amy verhältnismäßig gleichgültig gelassen. Sie war für ihn neuerdings nichts anderes gewesen als ein Prüfstein für die spiritistische Weltanschauung, von sentimentalen Erin-nerungen umwoben. Und nun trat sie wieder deutlich als lebende Persönlich-keit vor ihn hin. Sie war ihm nicht verloren, seine Beziehungen zu ihr bedeu-teten mehr als ein der Vergangenheit angehörendes Erlebnis; es reichte in die Gegenwart hinein, geradeso wie das Liebeswerben eine Fortsetzung im ehe-lichen Leben hat. Amy existierte — Amy in Person — und ein Verkehr mit ihr war möglich…

Laurie drehte sich heftig um; der Gedanke war überwältigend, es lag eine wilde, verzehrende Anziehungskraft darin. Der Abgrund war überbrückt wor-den, konnte wieder überbrückt werden, sogar, wenn alles wahr, noch mit viel größerer Sicherheit. Es war möglich, daß das Phantom, das er gesehen, der Sinnenwelt noch näher gebracht werden konnte, daß er mit eigener Hand das Gefäß, das ihre Seele einschloß, würde berühren können. Bis dahin hatte ihn der Spiritismus nicht im Stich gelassen, warum sollte er annehmen,daß er künftighin versagen werde? Einmal war es geschehen, es konnte und mußte wieder geschehen. Dazu kam noch der Vorfall mit dem Bleistift…

Laurie warf die Decken zurück und sprang aus dem Bett. Es war Zeit, aufzustehen, Zeit, das fesselnde, verzehrend interessante irdische Leben, das jetzt so ungeheure Möglichkeiten bot, wieder zu beginnen.

II.

Die Zimmer des Herrn James Morton befanden sich in bequemer Lage vier Treppen hoch in einem jener für den Uneingeweihten so geheimnisvol-len Häuserkomplexe, die nicht sehr weit von Charing Cross liegen. Hier herrscht immer eine Stille wie in einem College, man trifft hier die nämli-chen seltsamen menschlichen Exemplare, denen man in den Höfen einer Uni-versität begegnet: Köche, alte ehrwürdig aussehende Männer, Boten und schäbige alte Weiber.

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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Auch das Innere der Zimmer war den Lehrsälen eines nicht erstklassigen

College nicht unähnlich, und Herr James Morton hatte nicht so viel Geschmack, den Räumen, die er innehatte, diesen Charakter zu nehmen. Das Gemach, in dem er sich gerade befand, war von oben bis unten mit Bücherschäften versehen, die mit unschönen Bänden und großen schwarzen Blechkapseln angefüllt waren. In der Mitte stand ein großer, mit Papieren bedeckter Tisch, an dessen beiden Enden ganze Wälle von Blechkapseln derselben Art aufgetürmt waren.

Herr Morton selbst war ein untersetzter Mann in den vierziger Jahren, glatt rasiert, etwas blaß und ziemlich beleibt, mit stark markierten Gesichts-zügen, einer wohltönenden lauten Stimme und den jovialen Manieren des Lehrers einer Universität oder einer öffentlichen Schule, dem es mit seiner Arbeit Ernst ist.

Laurie und er kamen vortrefflich miteinander aus. Der jüngere Mann zoll-te dem älteren eine Bewunderung, die durch dessen Ruf als ausgezeichneter Jurist gerechtfertigt wurde; seine Hochachtung für ihn war so groß, daß er gern seine Anleitungen in allen das Gesetz betreffenden Dingen genau be-folgte. Aber auf anderem Boden hatten sie wenig Berührungspunkte. Laurie hatte Morton einmal nach Stantons eingeladen und einige Male bei ihm zu Mittag gegessen. Und darauf beschränkte sich ihr Verkehr.

Diesen Morgen jedoch veranlaßte die Art des jungen Mannes, der mit et-was sehr beschäftigt zu sein schien und eine unterdrückte Erregung verriet, sowie eine auffällige Unaufmerksamkeit den Büchern und Papieren gegen-über den älteren Mann, eine Bemerkung zu machen. Er machte sie ganz in seiner eigenen Weise:

„Was ist mit Ihnen los, eh?“ fuhr er ihn plötzlich ohne irgend jede Vorbe-reitung an.

Im Nu war Laurie bei der Sache und errötete ein wenig. „O! — nichts — nichts Besonderes“, murmelte er. Und stillschweigend machte er sich wieder mit seinen Büchern zu schaf-

fen, mit dem Bewußtsein, daß ihn von der andern Seite des Tisches zwei Au-gen unablässig beobachteten.

Ungefähr um halb zwölf Uhr schlug Herr Morton selbst sein Buch zu, lehnte sich zurück und begann seine Pfeife zu stopfen. „Ihr ,Nichts̒ scheint von großer Wichtigkeit zu sein“, sagte er.

Da die letzte Äußerung schon vor einer Stunde getan worden war, ver-stand Laurie die Bemerkung nicht und sah etwas verwundert aus.

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„So geht es nicht, Baxter“, fuhr der andere fort. „Sie haben diesen Mor-

gen während einer Stunde nicht ein Blatt umgewendet.“ Laurie lächelte etwas verlegen und lehnte sich zurück. Dann folgte er

plötzlich dem Bedürfnis, sich vertrauensvoll auszusprechen. „Ja es ist wahr, ich bin diesen Morgen in einer großen Unruhe“ fing er an.

„Gestern abend nämlich…“ Herr Morton sah ihn erwartungsvoll an. „Nun?“ fragte er. „O, sagen Sie mir nichts, wenn Sie keine Lust haben.“ Laurie sah ihn an. „Ich möchte gerne wissen, was Sie dazu meinen“, fuhr er endlich fort. Der andere erhob sich mit einer plötzlichen Bewegung, schob seine Bü-

cher zusammen, nahm einen der Hüte und setzte ihn auf. „Ich gehe zum Frühstück“ sagte er. „Muß um zwei Uhr beim Gericht sein

und…“ „O, warten Sie eine Minute“, bat Laune. „Ich möchte es Ihnen doch gerne

sagen.“ „Nun denn, so eilen Sie sich.“ Er blieb, zum Fortgehen bereit, stehen. „Was denken Sie über den Spiritismus?“ „Verdammter Blödsinn!“ rief Herr Morton aus. „Kann ich sonst noch et-

was für Sie tun?“ „Verstehen Sie denn etwas davon?“ „Nein. Will auch nicht. Ist das alles?“ „Bitte, hören Sie zu“, sagte Laurie… „O, setzen . Sie sich doch noch zwei

Minuten.“ Nun fing er an. Er schilderte ausführlich die Erfahrungen des gestrigen

Abends, indem er soviel als nötig die vorausgegangenen Ereignisse auseinan-dersetzte. Währenddessen rückte der ältere Herr, indem er sich halb auf einen Tisch setzte und sich darauf stützte, seinen Hut auf den Hinterkopf, betrach-tete Laurie zuerst mit unverhohlener Verachtung und zuletzt mit dem Interes-se, das man einem Menschen mit einer neuen Krankheit entgegenbringt.

„Wie wollen Sie nun das erklären?“ schloß Laurie triumphierend, mit ge-rötetem Gesicht.

„Wollen Sie es wissen?“ kam es nach einer kurzen Pause. Laurie nickte. „Was ich im Anfang gesagt habe.“ „Was?“

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„Verdammter Blödsinn“, wiederholte Herr Morton. Laurie runzelte finster die Stirn und tat, als ob er seine Bücher zusam-

menräume. „Natürlich, wenn Sie es so auffassen“, sagte er. „Aber dann begreife ich

nicht, welchen Wert Sie überhaupt irgendeiner Zeugenaussage beilegen kön-nen, wenn…“

„Mein Lieber, das ist keine Zeugenaussage. Kein Zeugnis der ganzen Welt könnte mich glauben machen, daß die Welt auf dem Kopf steht. Etwas Derartiges kommt nicht vor.“

„Wie erklären Sie dann…?“ „Ich erkläre gar nichts“, versetzte Herr Morton. „Die Sache ist nicht der

Erwägung wert. Wenn Sie das wirklich gesehen haben, sind Sie entweder verrückt, oder es ist ein Betrug… Kommen Sie jetzt mit mir zum Frühstück.“

„Ich bin aber nicht der einzige“, rief Laurie heftig. „Nein, in der Tat nicht… Hören Sie, Baxter, solche Sachen spielen den

Nerven verteufelt mit. Geben Sie sie ganz und gar auf. Ich kannte einmal ei-nen jungen Menschen, er hatte sich vollständig auf die Sache verlegt. Nun, und das Ende war, was jeder erwartet hatte…“

„Wirklich?“ sagte Laurie. „Er wurde rappelköpfig“, sagte Herr Morton kurzhin. „Durchweg eine

garstige Geschichte. Kommen Sie jetzt zum Frühstück.“ „Warten Sie eine Sekunde. Man kann vom Einzelnen nicht aufs Ganze

schließen. War dieser der einzige, den Sie je gekannt haben?“ Der andere besann sich einen Augenblick. „Nein, zufällig nicht“, erwiderte er. „Ich kannte noch jemand — einen

Anwalt… O, nebenbei gesagt, es ist einer von den Ihrigen — ein Katholik, will ich sagen.“

„Nun, und was wissen Sie von diesem?“ „Oh, es geht ihm ganz gut“, gab Morton mit Widerstreben zu. „Aber er

hat es aufgegeben und sich statt dessen der Religion zugewandt.“ „Ja? Wie heißt er?“ „Cathcart.“ Herr Morton blickte nach der Uhr. „Guter Gott!“ rief er aus, „zehn Minuten bis eins.“ Und damit entfernte er sich. Laurie befand sich in einer allzu gehobenen Stimmung, um sich von den

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Ansichten des Rechtsanwalts niederdrücken zu lassen, und es bereitete ihm sogar einige Minuten großes Vergnügen, über das selbstgefällige Behagen ei-nes gescheiten Mannes nachzudenken, wenn dieser sich außerhalb seines Fahrwassers befindet. Wie beklagenswert, sagte er sich, daß sich die Men-schen in ihrer Beschränktheit so zufrieden fühlen. Aber so ist es immer, dachte er. In einem Fach ein Spezialist zu sein, bringt es mit sich, daß das Wachstum aller andern Triebe beschnitten werden muß. Morton, der fast der Erste in seinem besondern Fach und zudem durchaus kein Bücherwurm war, konnte höchstens ungeschickt zappeln, wenn er auch nur einen Zoll breit aus seinem gewohnten Gleis heraus war. Laurie fragte sich, was Morton wohl zu diesen Dingen sagen würde, wenn er sie selbst sähe.

Im Lauf des Nachmittags kam Herr Morton wieder zurück. Sein Fall war unerwartet früh erledigt worden. Laurie wartete, bis das Schließen der Laden ihm eine Gelegenheit bot, seine Arbeit zu unterbrechen, und kam noch ein-mal auf das Frühere zurück.

„Morton“, sagte er, „ich wollte, Sie gingen einmal mit mir.“ Morton sah auf. „Wie?“ „Um selbst mit anzusehen, was ich Ihnen sagte.“ Herr Morton ließ ein kurzes Schnauben vernehmen. „Herrgott“, sagte er, „ich glaubte, wir seien fertig damit. Nein, ich danke.

Die Ägyptische Halle genügt mir.“ Laurie stieß einen tiefen Seufzer aus. „O, natürlich, wenn Sie keine Tatsachen anerkennen wollen, kann man

nicht erwarten…“ „Hören Sie einmal, Baxter“, begann Morton in beinah gütigem Ton,

„ich rate Ihnen, geben Sie es auf. Es spielt den Nerven verteufelt mit, wie ich Ihnen schon sagte. Sie sind ja so schreckhaft wie eine Katze. Und das ist es nicht wert. Wenn noch etwas daran wäre, ei, dann wäre es ein ande-res; aber…“

„Ich… ich würde es um die Welt nicht aufgeben“, stammelte Laurie in seinem Eifer. „Sie wissen einfach nicht, was Sie sagen. Ich… ich bin doch kein Narr… das weiß ich. Und halten Sie mich für einen solchen Esel, daß ich mich durch einen Kniff hintergehen lasse? Und als ob eine solche Betrü-gerei in einem Salon vorkommen könnte! Ich versichere Ihnen, ich unter-suchte jeden Winkel…“

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„Hören Sie“, sagte Morton, indem er den jungen Mann voll Interesse ansah — denn es lag etwas in dessen Art, das Eindruck machen mußte — „hören Sie,Sie sollten den alten Cathcart aufsuchen. Kennen Sie ihn nicht?… Nun, ich bin jederzeit bereit, Sie bei ihm einzuführen. Von ihm werden Sie eine andere Geschichte zu hören bekommen. Ich glaube natürlich nicht all den Blödsinn, den er redet, aber jedenfalls ist er doch vernünftig genug gewesen, sich ganz davon zurückzuziehen. Sagt, er würde die Geschichte nicht mehr mit einer Zange anrühren. Und seinerzeit spielte er, soviel ich weiß, eine große Rolle dabei.“

Laurie lachte verächtlich. „Hat wahrscheinlich einen Schrecken gekriegt“, sagte er. „Ich weiß wohl,

daß es einen erschrecken kann — —“ „Mein lieber Freund, er war zehn Jahre lang mitten darin. Ich gebe zu, seine

Erzählungen sind haarsträubend, wenn man daran glaubt, aber sehen Sie —“ „Wie ist seine Adresse?“ Morton machte mit dem Kopf eine nach den Adreßbüchern auf dem

Schaft hinweisende Bewegung. „Schlagen Sie nach“, sagte er. „Ich werde Ihnen eine Empfehlung geben,

wenn Sie wollen. Aber das sage ich Ihnen, er redet so viel Blödsinn wie ir-gend jemand —“

„Was sagt er?“ „Himmel! — ich weiß es nicht. Er stellt irgendeine Theorie auf. Aber wie

dem auch sei, er hat es aufgegeben.“ Laurie verzog verächtlich den Mund. „Ich werde Sie seinerzeit vielleicht darum bitten“, sagte er. „Unterdes-

sen —“ „Unterdessen machen Sie doch umʼs Himmels willen, daß Sie mit Ihrer

Arbeit weiterkommen.“ Herr Morton hatte, wie Laurie bemerkte, außerordentlich wenig Interesse

für Dinge, die nicht in seinem Bereich lagen; und sein Gesichtskreis war kein sehr weiter. Er war ein ganz ausgezeichneter Advokat, sachverständig, schlag-fertig, mitleidslos und gütig zur rechten Zeit, und dachte an nichts anderes als an seine Arbeit, solange er dabei war. Und war er nicht dabei, so warf er sich mit dem gleichen Eifer auf zwei oder drei Nebenbeschäftigungen: — Golf-spiel, Diners und das Sammeln einer besonderen Art von Stühlen. Außer die-sen paar Dingen gab es wirklich nichts, was noch Wert für ihn gehabt hätte.

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Aber die Umstände brachten es mit sich, daß sich der Kreis seiner Interes-

sen erweiterte und Laurie Baxter mit einschloß, der ihm allmählich sehr lieb wurde. Es lag etwas Romantisches, etwas Wohltuendes, Enthusiastisches in dessen Wesen, er hatte ausgezeichnete Manieren und einen bewundernswer-ten Sinn für Heldenverehrung. Gleich vielen andern Leuten empfand Herr Morton, der selbst gar nichts hatte, was einer Religion auch nur entfernt ähn-lich sah, eine gewisse Zuneigung für diejenigen, die Religion hatten, wenn-gleich er Religiosität für das Zeichen eines etwas unselbständigen Charakters hielt, und gerade Lauries Katholizismus war ihm sympathisch. Es müsse ganz angenehm sein, dachte er (wenn er überhaupt darüber nachdachte), „an all das“, wie er sich ausdrückte, glauben zu können.

Daher interessierte ihn diese neue Phase Lauries viel mehr, als er sich ein-gestanden hätte, sobald er merkte, daß es nicht nur eine oberflächliche Wand-lung war, und sowohl Lauries beständiges Zurückkommen auf die Sache als auch seine begeisterte Überzeugung bewies ihm das.

Nach einer oder zwei Wochen wurde er gewahr, daß die Arbeiten des jun-gen Mannes darunter litten, und er hörte Ansichten aus seinem Munde, die ihm als dem älteren Mann durchaus ungesund schienen.

An einem Freitagabend zum Beispiel, als Laurie seine Bücher wegräum-te, fragte ihn Herr Morton, wo er den Rest der Woche zuzubringen gedenke.

„Bleibe in der Stadt“, antwortete Laurie kurz. „Ich gehe zu meinem Bruder aufs Land. Wollen Sie mitkommen? Fürchte

nur, es ist keine katholische Kirche in der Nähe.“ Laurie lächelte. „Das würde mich nicht abhalten“, meinte er. „Ich bin mir klargewor-

den —“ „Worüber?“ „Ach, es ist nichts“, antwortete Laurie. „Nein — tausend Dank, ich muß

aber in der Stadt bleiben.“ „Wieder zu Lady Laura?“ „Ja.“ „Immer noch das alte Lied ?“ Laurie setzte sich. „Sehen Sie“, sagte er, „ich weiß, es ist nicht schlimm gemeint von Ihnen,

aber ich möchte, daß Sie mich begreifen.“ „Nun?“

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„V ersuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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Eine plötzliche Begeisterung und Erregung rötete das Gesicht des jun-

gen Mannes. „Begreifen Sie, daß dies geradezu für mich alles bedeutet? Begreifen Sie,

daß es mir nach und nach als das einzige erscheint, an dem etwas gelegen ist? Ich bin mir wohlbewußt, Sie halten das alles für leeres Geschwätz, aber se-hen Sie, ich weiß, daß es keine Täuschung ist. Und mir ist, als öffne sich der Himmel. Hören Sie… Ich sagte Ihnen neulich kaum die Hälfte. Es ist eine Tatsache, daß ich in jenes Mädchen so verliebt war, wie — wie ein Mann sein kann. Sie starb, und nun —“

„Sagen Sie mir, was haben Sie letzten Sonntag getrieben?“ Laurie wurde ein wenig ruhiger. „Sie würden es nicht begreifen“, sagte er. „Haben Sie wieder solche Geschichten getrieben?“ „Was für Geschichten?“ „Na — zu glauben, Sie hätten sie gesehen — auch richtig, wirklich

gesehen, wenn Sie wollen.“ Laurie schüttelte den Kopf. „Nein. Vincent ist verreist nach Irland. Wir haben andere Dinge versucht.“ „Sagen Sie mir, was; ich schwöre, daß ich nicht lachen werde.“ „Schon recht; ich mache mir auch nichts daraus, wenn Sie lachen… Nun

denn, es war die automatische Schrift.“ „Was ist das?“ Laurie zögerte mit der Antwort. „Ei, ich gerate in Trance, wissen Sie, und —“ „Lieber Gott, was dann?“ „Und dann, während ich bewußtlos bin, schreibt das Mädchen durch mei-

ne Hand“, sagte Laurie mit langsamer Überlegung. Verstehen Sie?“ „Ich verstehe, daß Sie ein verdammter Narr sind“, sagte Morton ernsthaft. „Wenn aber alles nur Blödsinn wäre, wie Sie meinen —“ „Natürlich ist es Blödsinn! Meinen Sie, ich glaube auch nur einen Augen-

blick —“ Er brach ab. „Und ein plötzliches Versagen der Nerven ist auch nur Blödsinn, und das D. T.* ebenfalls. Es sind ja keine wirklichen Schlangen, wissen Sie.“

Laurie lächelte mit überlegener Miene. –––––––––––– * D. T.: hier scherzhaft: Delirium tremens.

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„Und davon lassen Sie sich ganz einziehen —“ Laurie sah ihn mit einem plötzlichen Ausdruck von Fanatismus an. „Ich sage Ihnen“, rief er aus, „für mich ist es die ganze Welt. Und würde

es auch für Sie sein, wenn —“ „O lieber Gott! Werden Sie doch nicht ein Heilsarmeemann… Cathcart

noch nicht gesehen?“ „Nein. Ich habe auch nicht den geringsten Wunsch, Cathcart zu sehen.“ Morton erhob sich, legte seine Federn in die Schublade, verschloß sie,

steckte einige Papiere in eine schwarze Blechkapsel und nahm Rock und Hut, alles, ohne ein Wort zu sagen.

Auf der Schwelle wandte er sich um. „Wann kommt der Mensch aus Irland zurück?“ fragte er. „Wer? Vincent? O, erst in einem Monat. Wir werden wiederum einen

Versuch machen, wenn er kommt.“ „Versuch? Was für einen Versuch?“ „Eine Materialisation“, antwortete Laune. „Das ist —“ „Ich will gar nicht wissen, was das dumme Zeug ist.“ Er blieb immer noch stehen und sah den jungen Mann fest an. Dann

brummte er vor sich hin. „Narr“, sagte er. „Ich wiederhole es… Schließen Sie ab, wenn Sie ge-

hen… Gute Nacht.“

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Zehntes Kapitel

I.

Frau Baxter besaß eines der beiden Geheimnisse, heiter zu sein. Das an-dere braucht nicht erörtert zu werden. Bei ihr entsprang die Heiterkeit aus ei-ner Engherzigkeit, die der menschlichen Natur am bequemsten und entspre-chendsten ist. Wie schon gesagt worden, wenn etwas nicht in ihr Schema paßte, existierte es entweder nicht, oder sie hielt es für die Einbildung von je-mand, der nicht in Betracht kam, oder sie ignorierte es entschlossen. Eines Tages, früh im Februar wurde ihre Gemütsruhe auf die Probe gestellt.

Wie gewöhnlich stand sie um die bestimmte Stunde — um acht Uhr — auf, und als sie fertig war, kniete sie auf ihrem Betstuhl nieder. Es war ein ganz kompliziertes Kunstwerk, viel komplizierter als die Gebete, die daran verrichtet wurden, mit schöner, eingelegter Florentiner Arbeit, darüber ein kleines Regal, auf dem eine Anzahl in Leder gebundener Bändchen aufgestellt waren, die ihr Entzücken ausmachten. Sie benützte diese Bücher nicht viel, aber es machte ihr Vergnügen, sie zu sehen. In das Heiligtum der Gebete Frau Baxters einzudrin-gen, wäre nicht schicklich; es genügt, zu sagen, daß es keine sehr langen Ge-bete waren. Dann erhob sie sich von ihren Knien, verließ ihr behagliches, nach Seife und heißem Wasser duftendes Schlafgemach und ging die sonnenbe-schienene Treppe hinab in das Speisezimmer, ein schönes schlankes Figürchen in schwarzem Spitzenschleier und reichen Gewändern.

Da angekommen, nahm sie ihre Briefe und Pakete zur Hand. Sie waren nicht aufregender Natur. Ein unwichtiges Billett von einer Freundin, zwei Rechnungen und ein Katalog des Bon Marché. Beim Feuer sitzend, prüfte sie alles durch ihre Brille. Als sie damit fertig war, bemerkte sie an Maggies Platz einen mit männlicher Handschrift adressierten Brief. Gleich darauf trat Maggie ein in Hut und Pelz, ein reizendes Bild mit ihren von der Winterson-ne und der Luft geröteten Wangen, und küßte sie.

Während Frau Baxter den Tee einschenkte, richtete sie einige Bemerkun-gen an das junge Mädchen, erhielt aber nur das unbestimmte, unaufmerksa-

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me Gemurmel zur Antwort, welches ein Zeichen der Zerstreutheit ist. Und als sie Maggie ein wenig gekränkt ansah, bemerkte sie, daß diese ihren Brief mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit las.

„Meine Liebe, ich spreche mit dir“, sagte Frau Baxter würdevoll mit ei-nem Anflug von Humor.

„Ich — es tut mir leid“, murmelte Maggie, indem sie zu lesen fortfuhr. Frau Baxter streckte ihre Hand nach dem Bon-Marché-Katalog aus, um

das Gefühl des Beleidigtseins zu betonen, und begegnete dabei Maggies auf sie gerichtetem Blick, der eine merkwürdige Erregung verriet.

„Liebling, was hast du?“ Maggie starrte sie noch einen Augenblick fragend und unschlüssig an und

reichte ihr schließlich mit einer plötzlichen Bewegung den Brief. „Lies“, sagte sie. Dies war keine so leichte Sache. Sie brauchte die Brille, ein Teller mußte

beiseitegeschoben werden, und sie mußte sich dem Licht zuwenden. Frau Baxter las den Brief, gab ihn wieder zurück und stieß mehrmals einen Laut aus, der ausdrücken sollte, daß sie der Sache keine Wichtigkeit beilege.

„Der langweilige Junge!“ sagte sie in verdrießlichem, aber nicht beunru-higtem Ton.

„Was sollen wir tun? Du siehst, Herr Morton meint, wir sollten etwas tun. Er erwähnt einen Herrn Cathcart.“

Frau Baxter griff nach dem gerösteten Brot. „Meine Liebe, da ist nichts zu tun. Du weißt, wie Laurie ist. Es würde die

Sache nur verschlimmern.“ Maggie sah sie beunruhigt an. „Ich wollte, wir könnten etwas tun“, sagte sie. „Meine Liebe, er würde an mich geschrieben haben — Herr Morton, mei-

ne ich —, wenn Laurie wirklich nicht wohl wäre. Du siehst, er sagt ja nur, Laurie sei nicht so recht bei der Arbeit, wie er solle.“

Maggie nahm den Brief, steckte ihn wieder sorgfältig in den Umschlag und frühstückte weiter. Für den Augenblick war nichts mehr zu sagen.

Aber sie war bekümmert und ging, den Brief in der Tasche, nach dem Frühstück mit einem kleinen Spaten in der Hand in den Garten, um über die Sache nachzudenken.

Gewiß, der Brief an sich war nicht beunruhigend, zog man aber in Be-tracht, wer ihn geschrieben, kam er ihr doch so vor. Sie hatte Herrn Morton

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nur einmal getroffen, und er hatte ihr während seines kurzen Aufenthaltes über einen Sonntag den Eindruck gemacht, den solche Männer auf junge Mädchen meistens machen, den Eindruck eines kurz angebundenen, gewöhnlichen Ad-vokaten, mit wenig Einbildungskraft, aber viel Verstand und großer Energie. Für einen solchen Mann war es sicherlich etwas Außergewöhnliches, daß er unter solchen Umständen an ein junges Mädchen geschrieben und sie gebe-ten hatte, ihren ganzen Einfluß aufzubieten, um Laurie aus seinem gegenwär-tigen Tun und Treiben herauszureißen. Offenbar war es dem Mann Ernst mit dem, was er sagte; er habe nicht an Frau Baxter geschrieben, erklärte er in dem Brief, um sie nicht unnötig zu beunruhigen, und zwar sagte er ausdrücklich, es liege kein Grund zur Unruhe vor. Dennoch hatte er geschrieben.

Maggie blieb am unteren Ende des Weges, der zum Obstgarten führte, stehen, zog den Brief heraus und las noch einmal die paar letzten Sätze:

„Verzeihen Sie mir gütigst, wenn Sie denken, mein Brief sei unnö-tig gewesen. Natürlich zweifle ich durchaus nicht daran, daß die ganze Geschichte nichts als Unsinn ist, aber auch Unsinn kann eine schlech-te Einwirkung ausüben, und Herr Baxter scheint mir viel zu tief in die Sache verwickelt zu sein. Ich lege die Adresse eines Freundes bei, falls Sie diesem darüber schreiben möchten. Er war einst selbst Spiritist und ist jetzt ein eifriger Katholik. Seine Ansichten sind zwar abweichend von den meinen, aber jedenfalls könnte sein Rat nichts schaden. Sie können sich darauf verlassen, daß er durchaus verschwiegen ist.

Hochachtungsvoll Ihr ergebener

James Morton.“

Dies war doch wirklich seltsam und gar nicht herkömmlich, und Herr Mor-ton hatte doch durchaus nicht den Eindruck eines seltsamen, vom Konventio-nellen abweichenden Mannes gemacht. Er hatte noch eines bestimmten Da-tums als des Tages erwähnt, an dem das Medium zurückkommen würde und irgendein neues Experiment gemacht werden solle, aber er versuchte nicht, dies näher zu erklären, auch verstand Maggie nicht, um was es sich handelte. Es kam ihr nur unheimlich und recht unangenehm vor.

Sie drehte das Blatt um, und da stand die erwähnte Adresse — ein Herr Cathcart. Er erwartete doch sicherlich nicht von ihr, daß sie an diesen fremden Herrn schreibe…

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Noch eine halbe Stunde lang schritt sie mit ihrem Handspaten auf und ab, oh-

ne zu einem Entschluß kommen zu können. Darin stimmte sie ja mit Herrn Mor-ton gewiß überein, daß die ganze Sache ein Unsinn sei, und auch darin, daß die-ser Unsinn einem erregbaren Menschen sehr schaden könne. Laurie hatte zudem offenbar ein schlechtes Gewissen, sonst hätte er die Sache erwähnt.

Jetzt erblickte Maggie durch das Dickicht Frau Baxter, die mit ihren zierli-chen Schritten würdevoll auf den Wegen des Gemüsegartens einherschritt, und bei ihrem Anblick bemächtigte sich Maggies eine gewisse Ungeduld. Die Mutter des jungen Mannes war von so unangenehmer Gemütsruhe. Es kam doch sicher-lich viel mehr ihr zu als Maggie, auf Laurie achtzugeben, und doch wußte das junge Mädchen ganz gut, daß nichts geschehen würde, wenn alles Lauries Mutter überlassen bliebe. Frau Baxter würde natürlich in Lauries Abwesenheit in sanfter, ruhiger Weise darüber klagen, wenn man sie recht drängte, auch in seiner Anwe-senheit schwachen Protest erheben, aber das war auch alles…

„Maggie! Maggie!“ erklang gleich darauf die sanfte Stimme der alten Da-me und dann die an eine nicht sichtbare Person gerichtete Frage:

„Haben Sie nicht Fräulein Deronnais irgendwo gesehen?“ Maggie steckte den Brief in ihre Tasche und eilte zum Obstgarten hinaus

ihr entgegen. „Nun?“ fragte sie, von einer leisen Hoffnung erfüllt. „Geh mit mir hinein, meine Liebe, und sage mir, was du von den neuen Teetas-

sen im Bon-Marché-Katalog denkst“, sagte die alte Dame. „Es scheinen einigeneue schöne Zeichnungen dabei zu sein, und wir brauchen noch ein Service.“

Maggie fügte sich dem Unvermeidlichen. Aber als sie miteinander durch den Garten dem Hause zugingen, faßte sie rasch einen Entschluß.

„Kannst du mich um zwölf Uhr entbehren?“ fragte sie. „Ich möchte gern Father Mahon in einer besonderen Angelegenheit sprechen.“

„Meine Liebe, ich werde dich keine drei Minuten aufhalten“, beteuerte Frau Baxter.

Sie gingen hinein, und die Unterredung dauerte eine und drei viertel Stunden.

II. Father Mahon war ein gewissenhafter Priester. Er las um acht Uhr seine

Messe, er frühstückte um neun, verrichtete seine Andachtsübungen bis halb

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elf, las die Zeitung bis elf und theologische Schriften bis zwölf Uhr. Dann hielt er sich für berechtigt, bis zu seinem Mittagessen um ein Uhr, zu tun, was er wollte. (Die übrige Zeit seines Tages geht uns gerade jetzt nichts an.)

Auch er sah sich heute morgen in seinem Garten um; — er war ein schöner, stattlicher Mann, in etwas bauschigen Beinkleidern, kurzem Rock und weiter Weste, an der kein Knopf zu entbehren gewesen wäre. Auch er, wie Herr Mor-ton, hatte sein engbegrenztes Gebiet, sogar ein noch enger begrenztes und noch häufiger begangenes als das des Advokaten, denn er verließ es nie außer im Sommer auf vier kurze Tage, wenn er nach Irland hinüberreiste, wo er spät auf-stand, wie die andern Geistlichen im Strohhut Ausflüge machte und abends sich an fröhlichen Liedern beteiligte. Er war ein Priester, der sich seiner Pflich-ten vollständig bewußt und von bewundernswürdiger Pünktlichkeit und Gewis-senhaftigkeit in deren Ausübung war. Gegen die Engländer hatte er eine ganz besondere Abneigung; aber sein Pflichtgefühl war so groß, daß sie es nie ahn-ten, und seine angelsächsische Herde verehrte ihn, wie man nur einen lebhaf-ten, sachlichen Mann mit einem weiten Herzen und entschlossenem Wesen verehren kann, der zugleich Vater und Führer und sich dessen klar bewußt ist. Seine Predigten bestanden aus kalt aufgeschnittenen dogmatischen Brocken, die er beharrlich einem Predigtbuch entnahm und mit einer Soße von leichtem, gefälligem irischen Akzent Sonntag für Sonntag austrug. Die Themse hätte er nie in Brand gesteckt, auch sonst keinen andern Fluß, aber er verstand, sie mit festen Steinen zu überbrücken, und das war vielleicht noch wünschenswerter.

Maggie hatte ihn anfangs nicht leiden mögen. Sie hielt ihn für etwas derb und stumpfsinnig, aber sie hatte ihre Ansicht geändert. Er war nicht, was man feinfühlig nennt, und hatte kein Verständnis für Skrupel, „Nuancen“ und Ab-stufungen in Ton und Inhalt. Wenn man aber eine einfache Frage offen und einfach an ihn stellte, gab er eine offene einfache Antwort darauf, wenn er konnte; wenn nicht, schlug er sofort nach, und das ist immer eine Erleichte-rung in dieser verworrenen Welt. Maggie belästigte ihn daher nicht oft; sie wandte sich nur mit einfachen Fragen an ihn, folglich schätzte er sie sehr und hatte sie gern.

„Guten Morgen, mein Kind“, sagte er mit seiner laut schallenden Stimme, als er in sein unschönes kleines Empfangszimmer trat. „Ich hoffe, der Geruch des Tabakrauches macht Ihnen nichts.“

Das Zimmer war in der Tat voll davon; er hatte nach seiner regelmäßigen Gewohnheit eine Zigarre angezündet, als es zwölf Uhr schlug, und hatte sie

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eben draußen auf einem Baumstumpf niedergelegt, als ihm seine Haushälte-rin einen Besuch meldete.

„Nicht im geringsten, danke, Father… Darf ich mich setzen? Ich fürchte, es wird längere Zeit in Anspruch nehmen.“

Der Priester zog einen mit Roßhaarstoff bezogenen Armstuhl herbei, auf dem eine Schutzdecke lag.

„Setzen Sie sich, mein Kind.“ Er selbst nahm ihr gegenüber Platz und lächelte sie mit seinem roten Ge-

sicht freundlich an. Seine Beinkleider waren eng und bauschig zugleich, und seine in großen Stiefeln steckenden Füße hatte er übereinandergelegt.

„Nun denn“, sagte er. „Es ist nicht meinetwegen, Father“, begann sie in etwas hastiger Weise.

„Es handelt sich um Laurie Baxter. Darf ich vom Anfang an beginnen?“ Er nickte. Es war ihm nicht unlieb, etwas über den jungen Mann zu hö-

ren, für den er zwar gar keine Vorliebe hatte, für den er aber halb und halb wenigstens eine gewisse Verantwortung fühlte. Die Engländer waren ja schon schlimm genug, aber englische Konvertiten waren über alle Beschrei-bung unerträglich; und Laurie hatte ihm in letzter Zeit viel zu denken gege-ben, er wußte selbst kaum, weshalb.

Maggie begann nun mit dem Anfang und erzählte alles von Amys Tod an bis zu Herrn Mortons Brief. Den Blick auf sie geheftet, hörte der Prie-ster ihr mit fest aufeinandergepreßten Lippen zu und unterbrach einige-mal ihre Erzählung mit Fragen. Am Schluß streckte er die Hand nach dem Briefe aus.

„Frau Baxter weiß nicht, warum ich gekommen bin“, sagte Maggie. „Nicht wahr, Father, Sie werden ihr nichts davon sagen?“

Er nickte ihr beruhigend zu, vertiefte sich in den Brief und gab ihn dann mit einem breiten Lächeln zurück.

„Das scheint mir ein verständiger Kamerad zu sein“, sagte er. „Ach, was ich Sie fragen wollte, Father. Ich verstehe gar nichts von Spiri-

tismus. Ist es — ist es wirklich nur Unsinn? Ist gar nichts daran?“ Er lachte laut. „Ich glaube, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen“, antwortete er. „Na-

türlich wissen wir ja, daß die Seelen nicht in dieser Weise zurückkehren kön-nen. Sie sind woanders.“

„Dann ist alles nur Betrug?“

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Page 74: Benson, Robert Hugh - Die Geisterbeschwörer (German, Deutsch, Fantasy, Esoterik, Spiritismus)

„Es ist in der Tat nur Betrug“, sagte er, „aber es ist auch viel Aberglauben

dabei, und es ist von der Kirche verboten.“ Das war offen gesprochen und war wenigstens ein Fingerzeig, wie man

gegen Laurie vorzugehen habe. „Dann — dann ist also dies das Schlimme daran?“ fragte sie. „Der Sache

liegen keine wirklichen Kräfte zugrunde?“ Herr Rymer sagte so zu Frau Bax-ter, und ich dachte selbst so.

Das Gesicht Herrn Mahons nahm einen priesterlichen Ausdruck an. „Wir wollen nachsehen, was Sabetti darüber sagt“, antwortete er. „Ich

vermute —“ Er wandte sich auf seinem Stuhl um und zog ein hinter ihm stehendes

Buch hervor. „Da steht es —“ Er ließ seinen Finger über die gewichtigen Paragraphen hinuntergleiten,

wendete ein paar Blätter um und begann mit einer Übersetzung und einem längeren Kommentar: „Necromantia ex… Geisterbeschwörung, die auf An-rufung der Toten beruht… Wir wollen sehen… ja: ,Spiritismus oder das Zu-rateziehen der Geister, um verborgene Dinge zu erfahren, besonders solche, die das zukünftige Leben betreffen, ist ohne Zweifel sogenannte Wahrsagerei und ist… ist sogar noch viel gottloser als das Magnetisieren oder das Tisch-rücken. Der Grund hiervon, wie die Väter von Baltimore bestätigen, ist der, daß solches Wissen unfehlbar teuflischer Vermittlung zugeschrieben werden muß, da es auf keine andere Weise erklärt werden kann.̒ “

„Dann —“ begann Maggie. „Einen Augenblick, meine Tochter… Ja… richtig: ,Ausgesprochene Wahr-

sagerei̒… Nein, nein. Ah! hier steht es: ,Unausgesprochene Wahrsagerei… auch wenn offen beteuert wird, daß kein Verkehr mit dem Satan beabsichtigt ist, ist per se eine schwere Sünde, braucht aber nicht immer als Todsünde ge-ahndet zu werden, wenn Einfalt oder Unwissenheit oder eine gewisse Art von Unglauben zugrunde liegt.ʻ Sie sehen, mein Kind“ — er stellte das Buch an seinen Platz zurück —, „soweit es nicht Betrug ist, ist es Teufelei. Und damit ist alles gesagt.“

„Glauben Sie aber, daß also doch nicht alles Betrug ist?“ fragte das junge Mädchen, etwas erbleichend.

Wieder ließ er sein volltönendes Lachen hören, das ihr Herz erwärmte. „Ich würde mich einfach gar nicht darum bekümmern. Teilen Sie ihm mit,

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wenn Sie wollen, was Sie von mir gehört haben, daß es eine schwere Sünde sei, mit solchen Sachen zu spielen. Glauben Sie aber nur nicht, der Teufel müsse hinter allem stecken.“

Maggie war etwas in Verwirrung. „Dann meinen Sie also, der Teufel sei nicht im Spiel?“ fragte sie — „we-

nigstens nicht in diesem Fall?“ Er lächelte wieder beruhigend. „Ich möchte behaupten, es sei ein geschickter Trick“, antwortete er. „Ich

halte es durchaus nicht für wahrscheinlich, daß Herr Laurie auf diese Weise mit dem Teufel in Berührung kommt. Es gibt eine Menge bequemerer Arten.“

„Halten Sie es für richtig, daß ich an Herrn Cathcart schreibe?“ „Tun Sie, wie Sie wollen. Nicht wahr, er ist ein Konvertit? Ich meine,

seinen Namen gehört zu haben.“ „Ich glaube, ja.“ „Nun, es würde nichts schaden, aber ich glaube, auch nicht viel nützen.“ Maggie schwieg. „Sagen Sie nur Herrn Laurie, er solle keine törichten Streiche machen“,

fuhr der Priester fort. „Er hat in Herrn Morton einen guten, verständigen Freund. Das weiß ich. Und zerbrechen Sie sich nicht wieder den Kopf dar-über, meine Tochter.“

Als Maggie sich entfernt hatte, verließ er das Zimmer, um seine Zigarre

zu Ende zu rauchen, und fand zu seiner Freude, daß sie nicht ausgegangen war und nach ein paar Zügen hell weiterbrannte.

Er dachte einige Minuten lang über die Unterredung nach, während er in der hellen, scharfen Winterluft auf und ab ging. Manches wurde dadurch klar. Er hatte sich in der letzten Zeit Sorgen um den jungen Menschen gemacht. Nicht als ob Laurie seine religiösen Pflichten vernachlässigt hätte, wenn er sich in Stantons befand; er war Sonntags immer an seinem Platz in der Messe und sogar gelegentlich werktags. Und er hatte für Amy Nugent eine Messe lesen lassen. Aber schon seit Beginn des vorigen Jahres machte sich etwas in seinem Wesen bemerklich, was einigermaßen beunruhigend war.

Nun, das eben Gehörte erklärte jedenfalls ein wenig die gegenwärtige Lage. (Der Priester blieb stehen, um einige emporkeimende Blumenzwiebeln zu

betrachten, und bückte sich schweratmend hinunter, um mit seinem breiten Finger die Erde um sie her zu ebnen.)

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…Und dieser spiritistische Unsinn — die ganze Geschichte war natürlich nur ein Trick. So hatten sich die Dinge gewiß nicht zugetragen. Selbstver-ständlich konnte der Teufel außergewöhnliche Dinge tun, oder hat es früher einmal gekonnt; aber in bezug auf Herrn Laurie Baxter — der da unten im Dorf zu Hause war, der in Oxford gewesen und jetzt die Rechte studierte —der Gedanke, daß dieser ausgezeichnete junge Angelsachse jetzt in der ge-genwärtigen Zeit in direktem Verkehr mit dem Teufel stehe — ei, das be-durfte keines weiteren Kommentars als lauten Lachens.

Dennoch lag etwas sehr ungesundes und durchaus Schädliches darin. Das war das Schlimmste bei diesen Konvertiten; sie konnten sich nicht mit den nüchternen Alltagswahrheiten der katholischen Kirche zufrieden geben. Im-mer mußten sie irgend etwas Neuem nachlaufen… Und jedenfalls war es ei-ne Todsünde, wenn der Sünder die geringste Idee davon hatte. —

Eine laute Glocke, die zum Essen rief, ertönte vom hintern Eingang her, und der Priester begab sich ins Haus zu seinem Roastbeef, zu Eierkuchen, Apfelklößen und und einem einzigen Glas Portwein als Abschluß.

III. Es war eigentümlich, wie sicher und mutig sich Maggie fühlte, nun sie vor

etwas gestellt war, das einer Gefahr wenigstens glich. Solange Laurie nur un-angenehm und töricht war, war sie mißtrauisch gegen sich selbst, ersann aller-lei Verhaltungsmaßregeln und hielt sich absichtlich innerlich fern von ihm. Jetzt aber, da es sich um etwas Bestimmtes handelte, schwanden ihre Bedenken.

Was dies Bestimmte war, getraute sie sich nicht zu entscheiden. Father Mahon hatte ihr einen Anhaltspunkt gegeben — er hatte festgestellt, daß der Spiritismus als ein ernstliches Verfahren etwas Verbotenes sei. Was Wahres daran war, wenn überhaupt etwas Wahres dahintersteckte, darüber erlaubte sie sich nicht nachzudenken. Lauries Nerven waren in einem so beunruhigen-den Zustand, daß sich sein Freund und Führer veranlaßt sah, einen Brief zu schreiben; und Laurie war dadurch, daß er verbotenes Spiel trieb, in diesen Zustand geraten; das genügte.

Ihre Unterredung mit Father Mahon brachte ihren halbgefaßten Entschluß zur Reife; und nach dem Tee ging sie hinauf, um an Herrn Cathcart zu schreiben.

Dies war wohl etwas ungewöhnliches, aber sie war in einem solchen

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Grad beunruhigt, daß sie das nicht in Betracht zog, und sie schrieb einen sehr vernünftigen Brief. Zuerst erklärte sie, wer sie sei; dann beschrieb sie, ohne Namen zu nennen, den Zustand und die Erfahrungen ihres Adoptivbruders. Auf der letzten Seite stellte sie einige Fragen und bat um allgemeine Ratschläge.

Nach dem Essen zeigten sich an Frau Baxter einige Symptome, die dem

jungen Mädchen wohlbekannt waren. Sie vermied standhaft, Lauries Namen zu nennen, und trug eine komische steife, etwas gravitätische Manier und eine gewisse gönnerhafte Herablassung zur Schau. All dies legte den Wunsch der alten Frau an den Tag, daß das Thema nicht noch einmal berührt werden solle, und zeigte, daß sie sich selbst alle Mühe gab, es zu ignorieren und zu vergessen. Für Maggie war dies ein Trost, sie behielt dadurch freie Hand.

Lange lag sie wach in dieser Nacht. Ihr kleines viereckiges Zimmer lag neben der Treppe über dem Rauchka-

binett, wo sie vor ungefähr einem Monat die seltsame Szene mit Laurie erlebt hatte. Das Fenster ging auf die zum Obstgarten führende Eibenallee. Es war ein gar freundliches, braun tapeziertes Zimmerchen, überall an den Wänden mit Aquarellen behängt, und es erschien ihr bei dem Schein des Feuers be-haglich und traulich, während sie sinnend mit offenen Augen dalag.

Sie fühlte durchaus keine Angst, sondern nur, wie natürlich, einige Unru-he, und während der Stunden, die sie schlaflos verbrachte, drehte sie sich wohl sechsmal auf die andere Seite, mit dem Entschluß, die unwillkürlich vor ihr aufsteigenden Bilder zurückzudrängen und an Angenehmeres, Gesunde-res zu denken.

Aber die Bilder kamen immer wieder. Es waren nur kleine Vignetten —Laurie im Gespräch mit einem streng aussehenden großen Mann, auf dessen Zügen ein sardonisches Lächeln lag; Laurie beim Tee bei Frau Stapleton; Laurie in einem leeren Zimmer auf eine verschlossene Türe starrend…

Dies letzte Bild war es, das drei- oder viermal vor dem jungen Mädchen auftauchte, immer gerade in dem Augenblick, wenn sie im Begriff war einzu-schlafen, und es hatte dadurch die besondere Deutlichkeit, welche den Vor-stellungen eigen ist, wenn das bewußte Denken aufgehört hat. Auch fühlte sie sich seltsam beunruhigt davon, ohne sich sagen zu können, weshalb.

Nach der dritten Wiederkehr des Bildes kam ihr Humor ihr zu Hilfe; es ist zu lächerlich, dachte sie, sich von einem leeren Zimmer und Lauries Rük-ken so beunruhigen zu lassen. Wieder wandte sie sich um, vom Feuer ab und

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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beschloß, wenn das Bild wiederkehren sollte, es in seinen Einzelheiten genau zu prüfen.

Wieder verstrich einige Zeit; ein Gedanke folgte dem andern, gleich ei-nem regelmäßigen, den Geist in Schlummer wiegenden Wellenschlag; da auf einmal stand das Bild wieder klar und deutlich vor ihr.

Ja; dieses Mal wollte sie es genau betrachten. Es war ein kahles Zimmer, ringsum längs der Wände lief eine nur wenige

Zoll hohe Täfelung und darüber eine Tapete mit einem gewöhnlichen matten Muster. Mitten im Zimmer, auf dem kahlen Fußboden stand Laurie, mit dem Rücken gegen sie, und, wie es schien, mit gespannter Erwartung auf die an der gegenüberliegenden Wand befindliche, ganz gewöhnliche Türe blickend. Er war, wie sie bemerkte, in vollständigem Gesellschaftsanzug, trug Knieho-sen und Schnallenschuhe. Seine Hände hatte er geballt von sich gestreckt während er in etwas zusammengekauerter Haltung auf die Türe starrte.

Auch sie blickte nach der schlichten Holztüre mit der Messingklinke und hatte den Eindruck, als ob sowohl er wie sie auf einen Besuch warteten. Die Türe müsse sich gleich öffnen, dachte sie, und der Grund, weshalb Laurie so gespannt auf den Eingang blickte, war der, daß weder er noch sie eine Vor-stellung davon hatte, von welcher Art die zu erwartende Person sein würde. Ihr Interesse erwachte beim Hinsehen auf den einen Gegenstand — sie hatte diese Methode schon öfter angewandt, wenn sich der Schlaf nicht einstellen wollte — und in Gedanken schickte sie sich an, an Laurie vorbeizugehen und die Türe zu öffnen. Aber als sie in seine Nähe kam, wurde sie gewahr, daß er, Einhalt gebietend, die Hand erhob, als ob er sie vor einem gefährlichen Schritt bewahren wolle; sie blieb zögernd stehen, unverwandt nicht auf Lau-rie, sondern auf die Türe blickend.

Mit dem Nichtverantwortlichkeitsgefühl des in Schlummer Versinkenden stellte sie sich nun vor, was hinter der Türe lag — und mit intuitivem, hellse-hendem Blick erkannte sie den Charakter des Hauses.

Sie sah, daß das ganze Haus gleich diesem Zimmer ohne Möbel war, daß es einsam unter Bäumen stand, und daß diese sowohl als auch der verwilder-te Garten, der das Haus umgab, horchten und warteten wie sie selbst und wie die erwartungsvolle Gestalt des jungen Mannes. Noch einmal, wie um sich zu vergewissern, daß ihre halb willenlos in der Einbildung gemachte Bewe-gung eine wirkliche sei, wollte sie auf die Türe zuschreiten…

Ach! Was war das alles für ein Unsinn! Sie befand sich ja wieder voll-

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kommen wach in ihrem eigenen vertrauten Zimmer, worin der Schein des Feuers auf den Wänden spielte.

…Ja, ja, es war doch etwas Seltsames um den Schlaf und um die Einbil-dungskraft...

…Jedenfalls hatte sie doch an Herrn Cathcart geschrieben.

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Elftes Kapitel

I.

Der Gasthof zum Hahn liegt in der Fleet Street, keine zwanzig Yards von Mitre Court und kaum fünfzig von dem Durchgang, der zu dem Platze führt, wo Herr James Morton jetzt noch sein Geschäftszimmer hat.

Es war daher ein für Laurie bequem gelegenes Haus zum Frühstücken, und gewöhnlich erschien er einige Minuten vor ein Uhr, verzehrte ein kleines Rumpsteak und trank ein Krüglein Bier dazu. Manchmal kam er allein, manchmal in Gesellschaft, und dank einem sorgfältig ausgeklügelten System der Trinkgelderverteilung erreichte er es, daß man ihm wenigstens bis ein Uhr im ersten Stock in der langen Reihe stallartiger Verschläge, die der der Türe gegenüberliegenden Wand entlang liefen, einen bestimmten Platz in ei-nem bestimmten Abteil reservierte.

Am 23. Januar jedoch — es war nebenbei gesagt ein Freitag und statt Rumpsteak gab es gedämpfte Scholle — fand er zu seinem Verdruß seinen Platz schon besetzt von einem kleinen, munter aussehenden Herrn mit einem grauen Bart und einer Brille, der mit einer Zeitung vor sich damit beschäftigt war, gedämpfte Scholle zu verzehren.

Der kleine Mann blickte scharf zu ihm auf, wie ein bei seinem Mahl ge-störter Vogel, und dann wieder auf seine Zeitung. Laurie bemerkte, daß er Hut und Stock auf einen neben ihm stehenden Stuhl gelegt hatte, wie um sich denselben zu sichern. Er war einen Augenblick unschlüssig, setzte sich dann auf die andere Seite, dem Fremden gegenüber, und schlug mit seinem Messer ans Glas.

Als der Kellner kam, ein bärtiger Mann mit ehrerbietigen und doch ver-traulichen Manieren, machte Laurie mit etwas verdrossener Miene seine Be-stellung und blickte vorwurfsvoll auf den besetzten Platz. Der Kellner gab durch ein kaum merkliches entschuldigendes Achselzucken zu verstehen, daß er schuldlos sei, und entfernte sich.

Eine Minute später trat Herr Morton ein, sah sich nach allen Seiten um,

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nickte Laurie flüchtig zu und wollte gerade auf einen Platz an einem weniger besetzten Tisch zugehen, als der Fremde aufsah.

„Herr Morton, Herr Morton!“ rief er mit einer sonderbaren, beinahe in Fisteltöne übergehenden Stimme. (Er glich wirklich einem großen Vogel, dachte Laurie.)

Herr Morton wandte sich um, nickte ihm kurz, aber freundschaftlich zu und ließ sich auf den Stuhl nieder, von welchem der alte Herr mit eifriger Hast Hut und Stock entfernt hatte.

„Und was hat Sie hierhergeführt?“ fragte Herr Morton. „Ich wollte nur eine Kleinigkeit genießen wie Sie auch“, erwiderte der

Gefragte. „Heute am Freitag — um so schlimmer.“ Laurie fühlte, wie ein gewisses Interesse in ihm erwachte. Vermutlich

war also dieser Mann ein Katholik. — „Oh, beiläufig gesagt“, fing Herr Morton, zu Cathcart gewandt, an, „ha-

ben Sie — hm —“ und er deutete auf Laurie. „Nicht?… Baxter, darf ich Ih-nen Herrn Cathcart vorstellen?“

Im ersten Augenblick sagte ihm der Name nichts, dann erwachte eine Er-innerung in ihm, aber sein aufsteigender Verdacht wurde durch die nächste Bemerkung seines Freundes beschwichtigt.

„Beiläufig gesagt, Cathcart, vor acht oder vierzehn Tagen sprachen wir von Ihnen.“

„Wirklich! Ich fühle mich sehr geschmeichelt“, sagte der alte Herr über-mütig. (Ja, „übermütig“ war das rechte Wort, dachte Laurie.)

„Dieser Herr Baxter hier interessiert sich für den Spiritismus — (Rump-steak, Kellner, und eine Pinte Bittern) — und ich sagte ihm, da wären Sie der rechte Mann für ihn.“

Laurie zog innerlich seine Fühlhörner ein. „Ein — hm — ein Experimentierer?“ fragte der alte Herr mit höflichem

Interesse, einen kurzen Blick hinter seiner Brille hervor auf Laurie werfend. „Ein wenig.“ „So. Sehr gefährlich — sehr gefährlich… Und mit Erfolg, Herr Baxter?“ Lauries Mißstimmung nahm zu. „Mit bedeutendem Erfolg“, antwortete er kurz. „Ach so. — Verzeihen Sie mir, aber ich habe viel Erfahrung, und ich muß

sagen — Ich sehe, Sie sind Katholik“, unterbrach er sich. „Oder gehören Sie der Hochkirche an?“

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„Ich bin Katholik“, sagte Laurie. „Ich auch. Aber ich gab den Spiritismus auf, sowie ich einer wurde. Auch

hier sehr interessante Erfahrungen gemacht, aber — je nun, meine Seele ist mir zu viel wert, Herr Baxter.“

Herr Morton steckte ein großes Stück Kartoffel in den Mund, als ob ihn die Sache gar nichts anginge.

Laurie fand, es sei doch recht widerwärtig, in dieser Weise katechisiert zu werden; er beschloß, den Überlegenen zu spielen.

„Und Sie halten alles für Aberglauben und Unsinn?“ fragte er. „Durchaus nicht“, erwiderte der alte Herr. Laurie schob seinen Teller zur Seite und zog den Käse herbei. Jetzt wurde

die Sache etwas interessanter, er fühlte sich aber noch nicht im geringsten zu Mitteilungen aufgelegt.

„Für was halten Sie es denn?“ fragte er. „Oh, in der Tat für etwas durchaus Wirkliches“, sagte der alte Mann.

„Und gerade darin liegt die Gefahr.“ „Die Gefahr?“ „Ja, Herr Baxter. Natürlich ist viel Trug und Täuschung dabei, das wissen

wir alle. Aber gerade der Teil, der nicht auf Betrug beruht, der ist — darf ich fragen, zu welchem Medium Sie gehen?“

„Ich kenne Herrn Vincent. Und ich habe auch einige öffentliche Séances besucht.“

Der alte Herr sah ihn plötzlich mit einem gewissen Interesse an, sagte aber nichts.

„Sie halten ihn nicht für ehrlich?“ fragte Laurie mit beleidigender Kälte. „O doch, er ist durchaus ehrlich“, erwiderte der andere zögernd. „Darf

ich Sie um den Zucker bitten, Herr Morton.“ Laurie war fest entschlossen, den Gegenstand nicht mehr aufzunehmen.

Er fühlte, daß man ihn bevormunden und zurechtweisen wollte, und dies be-hagte ihm nicht. Und noch einmal stieg der Verdacht in ihm auf, daß dies ei-ne abgekartete Sache sei. Es stimmte alles so gut — gerade zwei Tage vor der Séance — Mortons Erscheinen — sein eigener Platz besetzt. Doch hatte er nicht den Mut, den einen oder den andern zur Rechenschaft zu ziehen. Er verzehrte langsam seinen Käse und hörte dem Gespräch der beiden über ganz fernliegende Gegenstände zu. Dann beschloß er, eine hochmütige Sorglosig-keit an den Tag zu legen.

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„Dürfte ich einen Blick in den ,Daily Mirrorʻ werfen, Herr Cathcart?“

sagte er. „Es besteht kein Zweifel an seiner Schuld“, fuhr der alte Herr, zu Herrn

Morton gewandt, fort, indem er Laurie die Zeitung hinreichte. (Die beiden waren in ein tiefes Gespräch über einen Rechtsfall verwickelt.) „Ich habe es Markham ein dutzendmal gesagt —“ in dieser Weise redeten sie weiter.

Aber es wurde kein Wort mehr von Spiritismus gesprochen. Laurie hatte die Zeitung vor sich, während er seinen Käse aß und dann auf den Kaffee wartete. Er las, ohne zu wissen, was und ärgerte sich im höchsten Grad über dieses plötzliche Aufnehmen und Wiederfallenlassen des Gegenstandes und über die vollständige Nichtbeachtung seiner Person. Er trank langsam seinen Kaffee und zündete eine Zigarette an, während die beiden immer wei-tersprachen.

Endlich stand er auf und nahm Hut und Stock. Der alte Herr blickte auf. „Sie wollen schon gehen, Herr Baxter?… Guten Tag… Nun also, wäh-

rend ich auf dem Gericht wartete —“ Laurie ging entrüstet hinaus und die Treppe hinunter. Das also war Herr Cathcart… Nun, nach allem konnte er sich gratulieren,

daß er nicht an ihn geschrieben hatte. Der Mann war nicht im geringsten nach seinem Geschmack.

II. Sobald Laurie die Türe hinter sich geschlossen hatte, unterbrach der alte

Herr den Strom seiner Rede und blickte dem jungen Manne nach. Dann wand-te er sich wieder an seinen Freund.

„Ich bin ein täppischer Idiot“, sagte er. Herr Morton pfiff vor sich hin. „Ich habe ihn gegen mich eingenommen — weiß der Himmel, wie; aber

geschehen istʼs, und er wird nicht auf mich hören.“ „Donnerwetter“, sagte Herr Morton, „was für komische Menschen Ihr

doch alle seid! Und war das, was Sie sagten, wirklich Ihr Ernst?“ „Jedes Wort“, erwiderte der alte Herr heiter… „Nun, unser kleines Kom-

plott ist vereitelt.“ „Warum forderten Sie ihn nicht auf, Sie zu besuchen?“

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„Erstens, weil er nicht gekommen wäre“, antwortete der alte Herr mit

derselben ungetrübten Heiterkeit. „Wir haben die Sache verpfuscht. Es wäre viel besser gewesen, wir wären offen vorgegangen. Zweitens hält er mich für einen alten Narren — Sie halten mich ja auch für einen, nur noch für einen größeren. Nein, wir müssen jetzt einen andern Weg einschlagen… Sagen Sie mir etwas von Fräulein Deronnais; ich habe Ihnen doch ihren Brief gezeigt?“

Der andere nickte und versah sich mit Käse. „Ich sagte ihr, ich stehe natürlich zu ihrer Verfügung, und seitdem habe

ich nichts mehr von ihr gehört. Ein vernünftiges Mädchen?“ „Sehr vernünftig, möchte ich behaupten.“ „Gehört sie zu der Sorte von Mädchen, die bei jeder Gelegenheit schreien

oder in Ohnmacht fallen?“ „Gerade das Gegenteil, möchte ich behaupten. Aber wissen Sie, ich habe

sie noch kaum gesehen.“ „Wohl, wohl… Und die Mutter?“ „Sie ist zu gar nichts zu gebrauchen“, antwortete Herr Morton. „Dann ist das junge Mädchen unser Rettungsanker… Verliebt in ihn?

Wissen Sie etwas darüber?“ „Himmel! Wie kann ich das wissen?“ Der alte Herr versank in Nachdenken und grübelte offenbar über die Sa-

che nach. „Er ist in einer verteufelten Klemme“, sagte er plötzlich in heiterem Tone.

„Dieser Vincent —“ „Nun?“ „Er ist der gefährlichste von der ganzen Gesellschaft. Gerade deshalb, weil

er ehrlich ist.“ „Guter Gott!“ unterbrach ihn der andere plötzlich. „Glauben denn alle

Katholiken diesen Blödsinn?“ „Natürlich nicht, lieber Freund. Nicht einer von tausend. Ich wünschte,

sie glaubten daran. Das ist es ja gerade. Aber sie lachen darüber — lachen darüber!“… (Seine Stimme ging in schrilles Falsett über.) … „Lachen über das Höllenfeuer… Am Sonntag, sagten Sie?“

„Er nannte mir den Fünfundzwanzigsten.“ „Und vermutlich bei jenem Weib in Queenʼs Gate?“ „Wahrscheinlich. Gesagt hat er es nicht. Oder ich habe es vergessen.“

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„Ich hörte, daß sie wieder ihr Wesen dort treiben“, sagte Herr Cathcart

mit nachdenklicher Heiterkeit. „Ich möchte die ganze Stinkhöhle in die Luft sprengen.“

Herr Morton kicherte hörbar. „Ein Mann, der so jung ist für sein Alter wie Sie, ist mir noch nie vorge-

kommen“, sagte er. „Kein Wunder, daß Sie all das Zeug glauben. Wann wer-den Sie erwachsen sein, Cathcart?“

Der alte Mann achtete gar nicht auf ihn. „Je nun — das Komplott ist vereitelt“, wiederholte er. „Nun zu Fräulein

Deronnais. Aber diese Zusammenkunft am Sonntag können wir nicht verhin-dern, so viel ist gewiß. Hat er Ihnen etwas davon mitgeteilt? Materialisie-rung? Automatisches —“

„Himmel, ich verstehe das Kauderwelsch nicht…“ „Mein lieber Morton, dafür, daß Sie ein Jurist sind, sind Sie der unzuver-

lässigste Zeuge, den ich je — Aber ich muß gehen. Heute ist nichts mehr zu machen.“

Herr Morton blieb noch einige Minuten mit seiner Pfeife sitzen. Es kam ihm ganz erstaunlich vor, daß ein vernünftiger Mann wie Cathcart

solches Zeug ernst nehmen könne. In jeder andern Lebenslage war er ein eminent verständiger Mann mit gesunden Ansichten und hatte zudem jene Art jugendlichen frischen Humors, der vielleicht das sicherste Zeichen eines ge-sunden Geistes ist. Jahrelang hatte er ihn bei Gericht in den verschiedensten Szenen beobachtet, und wenn man von Morton verlangt hätte, er solle einen Menschen nennen, der ganz frei von Aberglauben und jeder Art von krank-haftem Unsinn sei, würde er den Senior der Firma Cathcart & Cathcart ge-nannt haben. Und dieser vernünftige Mann nahm es mit diesem phantasti-schen Unsinn so ernst, als ob wirklich etwas daran sei. Bei einem kleinen Junggesellendiner von vier Personen in der Wohnung eines gemeinsamen Freundes hatte er ihn über das Thema zum erstenmal reden hören und beim Zuhören ein Gefühl gehabt, wie wenn er einen Kabinettsminister mit Begei-sterung eine Rede über eine Kricketpartie halten höre. Wenn Cathcart einmal im Zug war, sagte er alles mögliche — und zwar mit der sachlichen Offen-heit, die für ihn charakteristisch, aber in solchem Zusammenhang so unbe-greiflich war. Wenn er sich der liebenswürdigen Schwäche wegen entschul-digt hätte, wenn er sich geschämt und Abbitte getan, wäre das etwas anderes

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gewesen. Man würde ihm verziehen haben, wie man jede kleine Sonderbar-keit als Ausnahmefall verzeiht. Wenn er ihn aber von Materialisation wie von einem ebenso normalen (wennschon ungewöhnlichen) Vorgang wie die Ge-winnung von Radium sprechen hörte, und von einer Planchette wie von drahtloser Telegraphie — als von feststehenden, unzweifelhaften, obgleich außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung liegenden Tatsachen —, dann geriet der praktisch veranlagte Mann außer Fassung. Cathcart hatte noch anderes angedeutet — Dinge, die noch unmöglicher und noch erstaunlicher — Dinge, von denen Morton nicht gedacht hätte, daß sie im dunkelsten Mittelalter geglaubt wurden; und dies alles äußerte Cathcart mit dem scharfen Humor, der allem, was er sagte, den Anschein von Wahrheit verlieh.

Für romantische junge Dummköpfe wie Laurie Baxter waren diese Dinge nicht so unbedingt widersinnig, obwohl es unverkennbar war, daß sie ihm schadeten; sie bildeten einen Teil der schwärmerischen Leichtgläubigkeit ei-nes religiösen jungen Mannes; aber für den zweiundsechzigjährigen Cathcart, den vielbeschäftigten Anwalt mit Gattin und zwei erwachsenen Töchtern, dessen außergewöhnlicher gesunder Menschenverstand berühmt war —! Freilich durfte man nicht vergessen, daß er Katholik war!

Solchen Gedanken nachhängend, saß Herr Morton im Gasthause zum Hahn. Er bedauerte nicht die Schritte, die er getan, um dem jungen Mann das Handwerk zu legen, und es tat ihm nur leid, daß sie noch zu keinem Ziel ge-führt hatten. Einem Impuls folgend, hatte er an Fräulein Deronnais geschrie-ben, kurz nachdem er Zeuge eines ungewöhnlich heftigen Ausbruches bei dem jungen Menschen gewesen war. Und sie hatte dann, wie er später er-fahren, an Herrn Cathcart geschrieben. Die übrigen Schritte waren von die-sem eingeleitet worden. Je nun, es war nicht geglückt. Vielleicht würde es nächste Woche besser gehen.

Er bezahlte seine Rechnung, ließ zwei Pence für den Kellner liegen und ging. Er hatte an diesem Nachmittag noch einen Rechtsfall zu erledigen.

III. Als es am Nachmittag anfing zu dunkeln, verließ Laurie das Büro und

begab sich in seine Wohnung zum Tee. Er hatte die letzten Stunden sehr zerstreut zugebracht, wie jetzt so häufig der Fall war, und nur dann und wann

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hatte er eine krampfhafte Anstrengung gemacht, seine Aufmerksamkeit auf seine Bücher zu richten. Es waren ihm in letzter Zeit sogar schon öfter Zwei-fel aufgestiegen, ob allem nach das Studium der Rechte sein eigentlicher Beruf sei…

Sein Teekessel summte lustig auf dem Kaminrost, und das Teeservice glänzte im Schein des Feuers auf dem kleinen Tisch, auf den die Aufwärterin es gestellt; und erst, als er sich eine Tasse Tee einschenkte, bemerkte er auf dem weißen Tischtuch einen an ihn adressierten Brief, auf dem in der Hand-schrift eines Geschäftsmannes „eigenhändig zu bestellen“ geschrieben stand. Aber auch dann erbrach er ihn nicht gleich; es war wahrscheinlich nur eine die Angelegenheiten seines Vorgesetzten betreffende Zuschrift.

Noch eine halbe Stunde lang blieb er sitzen, rauchte, grübelte über das, was ihm jetzt immer im Sinn lag, und verweilte mit einer unbestimmten fro-hen Erwartung bei den Ereignissen, die der Sonntagabend bringen würde. Soviel er wußte, sollte Herr Vincent heute nachmittag in die Stadt zurückkeh-ren und würde sich möglicherweise auf ein paar Minuten bei ihm einfinden, im Fall er ihm noch irgendwelche endgültige Instruktionen zu geben hätte.

Während der letzten Wochen war der Einfluß des Mediums auf den jun-gen Mann ungeheuer gewachsen. Seine männliche Überlegenheit, die um so eindrucksvoller war, weil mit ruhiger, großer Sicherheit gepaart, hatte eine noch tiefere Wirkung ausgeübt, als es zuerst den Anschein gehabt. Es ist recht schwer, die Verehrung eines jungen Menschen für einen gesetzten Mann in den mittleren Jahren, der „eine Persönlichkeit“ ist, in ihre Elemente zu zerlegen, und doch ist sie ein ungeheurer, mächtiger Faktor und spielt bei den Unterströmungen der Welt mindestens eine ebenso große Rolle wie jede andere normalere menschliche Empfindung. Die Psychologen der materiali-stischen Schule würden wahrscheinlich sagen, sie sei ein Überbleibsel des Rassen- und Kriegsinstinktes. Jedenfalls ist sie vorhanden.

Dazu kamen noch die eigentümlichen Beziehungen, in welchen das Me-dium zu Laurie stand. Vincent war es, der ihm zuerst die Pforten der wunder-baren jenseitigen Welt erschlossen hatte, von welcher die Phantasie gewisser Naturen unablässig beunruhigt wird; durch ihn hatte Laurie, wie er glaubte, vermittelst sinnlicher Wahrnehmung die Dinge in Wirklichkeit erfahren, von denen er geträumt hatte — eine Wirklichkeit, zu welcher seine Religion den Zugang vermied. Nicht als ob Laurie in dieser Hinsicht unaufrichtig gewesen wäre; es hatte Augenblicke gegeben, und es gab deren zuweilen noch, da die

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Welt, wie sie der Katholizismus in Wort, Symbol und Sakrament predigt, ihm vor Augen trat; aber das stand für ihn auf einem andern Boden. Hier lockte ihn die Religion, dort der Spiritismus. Mit der ersteren hatten die Sin-ne nichts zu tun, zu letzterem waren sie der einzige Zugang. Und es liegt dem Menschen so unendlich nahe, das Zeugnis der Sinne für wesentlich wahrer zu halten als die Zeugnisse des Glaubens…

Er stand nun vor der Wahl zwischen zwei Welten — einer Welt des Gei-stes, großenteils nur vom Hörensagen bekannt, einer Welt, die nur bei selte-nen und ungewöhnlichen Gelegenheiten höchster Erregung in schattenhaften Umrissen wahrgenommen wird, einer eigentümlichen Welt, die beinahe ihren Reiz für ihn verloren hatte — und einer Welt des Geistes, die in gewöhnli-chen Zimmern und unter fast gewöhnlichen Umständen Gestalt und Form und praktische Deutlichkeit annahm, kurz einer Welt, die nicht die eines trans-zendentalen Gottes, nicht die auserwählter, zur Vollendung gelangter Geister, nicht die weitschweifiger Dogmen und Theorien war, sondern eine Welt mit heimischer Atmosphäre, auf Erfahrung beruhend, von bekannten Geistern be-völkert, die auf diese oder jene Weise sich den Sinnen offenbarten, welche, wie Laurie annahm nicht trügen konnten… Und den Kontakt bildete Amy Nugent.

Genau zu sagen, wie er seine Lage diesem Mädchen gegenüber empfand, ist eine schwierigere Sache. Das menschliche Element — jene speziell mit den Sinnen zusammenhängende Verbindung — ihr wirkliches Antlitz, ihre Hände, ihre physische Atmosphäre und was dazu gehörte — all dies war nicht mehr da, war zerstoben oder lag auf dem Boden; und trotz der ihm ge-gebenen Erklärungen hatte es ihm einen seltsamen, überraschenden Eindruck gemacht, im Salon in Queenʼs Gate das zu sehen, was, wie er glaubte, ihr Antlitz war. Aber er hatte versucht, sich in Gedanken alles dies zurechtzule-gen, und es hatte wieder Gestalt und Maß gewonnen. Kurz, er glaubte jetzt zu verstehen, daß es der Charakter ist, der den vergänglichen Eigenschaften ei-nes Menschen auf Erden die Einheit gibt, und daß, wenn diese Eigenschaften aufhören zu existieren, dies so unwesentlich ist wie der Zerfall des Zellenge-webes; wenn nun nach der Lehre der Spiritisten dieser Charakter sich aus dem Jenseits offenbart, baut er natürlich die Form wieder auf, unter welcher man ihn auf Erden kannte.

Trotzdem aber seine Empfindungen sich allmählich mit dem, was er gese-hen, vertraut gemacht, lag doch zwischen ihm und Amy der hehre Schatten, Tod genannt… Und trotz der Versicherungen, die ihm geworden, und trotz

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des Zeugnisses seiner eigenen Sinne, daß dies in der Tat dasselbe junge Mäd-chen sei, die er hier auf Erden gekannt, mischte sich jetzt seiner früheren, etwas oberflächlichen Leidenschaft ein Gefühl heiliger Scheu bei. Wenn er nachts allein in seinem Zimmer saß, gab es Augenblicke, da sich diese Scheu fast zu einem Angstgefühl steigerte, ebenso wie es wieder Augenblicke gab, da sie für eine Weile wich und sein ganzes Wesen in einem ungewöhnlichen, ekstati-schen, halbirdischen Wonnegefühl untertauchte bei dem Gedanken, daß er und Amy noch miteinander sprechen konnten… Man stelle sich vor, ein Kind sehe bei seiner Heimkehr, daß seine Mutter Königin geworden sei, und es schaue sie nun in ihrer Glorie, im Hermelin und mit einem Diadem geschmückt.

Aber die wirkliche Entscheidung — die, wie er wußte, noch kommen müsse — der Augenblick, in welchem die dissonierenden Töne harmonisch zusammenklingen würden, war auf den nächsten Sonntag festgesetzt. Er hat-te den Beweis von Amys Gegenwart gehabt, er hatte deutliche Botschaften erhalten, obgleich nur in bruchstückartiger, halb gestammelter Weise, unter dem geheimnisvollen Schleier, er hatte für einige Augenblicke ihr Antlitz ge-sehen; aber das wirklich entscheidende Moment, hoffte er, würde in zwei Ta-gen eintreten. Die öffentlichen Séances hatten ihm keinen Eindruck gemacht. Er hatte in einer gewissen, von der Baker Street abzweigenden Straße deren drei oder vier besucht und hatte sich gewundert und enttäuscht gefühlt. Was für eine Art von Menschen hatte er dort getroffen! — sentimentale Bour-geois, die weniger Unterscheidungsvermögen besaßen als ein Durchschnitts-kind, und die von einer fast unmöglichen Leichtgläubigkeit waren — das Medium — ein korpulentes Weib, das die Augen verdrehte und fette, feuchte Hände hatte. Das Choralsingen, das krächzende Harmonium, die erstaunli-chen pseudomystischen Orakelsprüche, die nichts anderes enthüllten, als was jeder frömmelnde Narr hätte erfinden können — kurz, die ganze Veranstal-tung, von den gefärbten gläsernen Lampenschirmen bis zu den geisterhaften, über den Köpfen schwebenden Tamburinen, die kindischen Tricks, die man den Fragenden vormachte, mit allem, was drum und dran hing — all dies schien mit den bei Herrn Vincent gemachten Erfahrungen so wenig überein-zustimmen wie ein Derwischtanz mit einer hohen Messe. Es war ihm gerade-zu als eine lächerliche Ungeheuerlichkeit erschienen, wenn er darüber nach-dachte, was für einen Eindruck dies alles auf Maggie machen und was für Bemerkungen es hervorrufen würde.

Aber mit der bevorstehenden Veranstaltung war es etwas ganz anderes.

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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Man wollte den Versuch machen, einen Schritt weiter zu kommen. Man

hatte ihm zwar auseinandergesetzt, daß das Experiment nur eine Probe, ein Versuch, sein solle, daß es unmöglich sei, zu sagen, wie es ausfallen würde; aber was man am Sonntagabend bezweckte, war, einen Schritt weiter zu kom-men und, wenn möglich, den Prozeß der Materialisierung so zu vervollstän-digen, daß die Gestalt berührt werden, und daß sie sprechen könne. Und dies schien für Laurie in der Tat das Entscheidende zu sein…

Unablässig grübelnd, blieb er diesen Abend lange sitzen. Noch achtund-vierzig Stunden trennten ihn von der Krisis. Ungefähr ein halbes dutzendmalkam ihm der Gedanken an Maggie; aber er zwang sich, ihn loszuwerden.

Nun nahm er den Brief zur Hand und erbrach ihn. Er enthielt vier vollge-schriebene Seiten. Laurie las die Unterschrift am Ende, und dann begann er von vorne und las den ganzen Brief.

Es war sehr stille um ihn her, als er, ruhig dasitzend, überdachte, was er gelesen. Das Geräusch der Fleet Street drang zu ihm herauf wie das be-schwichtigende Murmeln der See am Gestade; und er selbst saß regungslos da. Der Schein des Feuers fiel auf sein jugendliches Antlitz, seine Augen und sein Lockenhaar. Um ihn her standen die ihm vertrauten Möbel, im Hinter-grund schimmerte das schwarze Holz des Flügels wie eine dunkle Wasserflä-che, im Vordergrund verbreiteten die langen, zugezogenen Vorhänge ein Ge-fühl von schützender, heimatlicher Wärme.

Und doch war er vor eine entscheidendere Wahl gestellt, als er wußte. Der Brief war von dem Mann, den er heute mittag getroffen, und er besann sich, auf welche Weise er antworten solle. Das Alleinsein hatte ihn beruhigt, und seine Gereiztheit war gewichen; er betrachtete den Brief von einem jugendlich-philo-sophischen Standpunkt aus als die Tat eines Fanatikers, indem er sich seiner eigenen Mäßigung freute; er überlegte nur, ob er aus Höflichkeit dem Drängen nachgeben oder kurz und entschieden antworten solle. Es kam ihm merkwürdig vor, daß ein gereifter, erfahrener Mann einen solchen Brief schreiben könne.

Endlich stand er auf, ging an seinen Schreibtisch und setzte sich. Noch zögerte er einige Augenblicke, dann tauchte er seine Feder ein und schrieb. Als er geendigt und den Brief adressiert hatte, ging er an den Kamin zurück. Noch eine Stunde hatte er vor sich, in der er sinnen und spinnen konnte, ehe er sich umkleiden mußte. Er hatte versprochen, um halb acht Uhr bei Frau Stapleton zu speisen. Er fühlte etwas Kopfweh und hoffte, es jetzt noch ver-schlafen zu können.

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Zwölftes Kapitel

I.

Lady Laura ging über die Straße bei Knightsbridge Barraks und schlug den Heimweg durch den Park ein.

Es war einer jener gelegentlich gegen Ende Februar eintretenden Tage, die den Beschauer in eine heitere, hoffnungsvolle Stimmung versetzen und fast dran glauben lassen, daß das Frühjahr wirklich begonnen habe. Der Him-mel war von lichtem klarem Blau; vereinzelte sommerliche leichte weiße Wölkchen schwebten darüber. Noch schlaftrunken, schüttelte die Erde im Erwachen den Frost ab, der die auffallende Milde des darauffolgenden Tages besonders fühlbar machte. Im Gras sproßten die Krokusse, und eine unbe-schreibliche Färbung lag über allem, was da lebte, gleich der sanften Röte auf dem Gesicht eines erwachenden Kindes. Aber solche Tage sind zu schön, um von Dauer zu sein, und Lady Laura, die in einem Sonntagsblatt die Wetter-prognose gelesen, hatte sich vorgenommen, gleich nach der Kirche ihren Spaziergang zu machen.

Sie kam gerade aus der Allerheiligenkirche, hatte eine vortreffliche, wenn auch nicht aufregende Predigt angehört und außerordentlich schönem Gesang gelauscht. Noch ganz durchdrungen von jener Atmosphäre und von der Milde der physischen Lust, in der sie wandelte, empfand sie ihre innere Unruhe im gegenwärtigen Moment minder peinigend. Auch traf sie beständig zu viele Bekannte — oft mußte sie grüßen und freundlich lächeln —, als daß sie sich hätte gestatten dürfen, ihre Unruhe zu sehr Herr über sich werden zu lassen. Und man darf annehmen, daß nicht ein Mensch, der sie beobachtete, wie sie in äußerst kleidsamem Hut und Mantel dahinschritt, den schönen Kopf etwas seit-wärts geneigt, mit ihrem in der Sonne glänzenden goldgeränderten Pincenez, auch nur eine Ahnung hatte, daß überhaupt irgendeine Sorge sie quäle.

Und doch — sogar nach Hause zu gehen, fühlte sie eine seltsame Unlust. Die Diener hatten, während sie in der Kirche war, das Wohnzimmer aus-

räumen sollen, und der Gedanke, daß dies bei ihrem Heimkommen gesche

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hen sein würde, daß der Tempel sozusagen für das Opfer bereit stand, war ihr peinlich.

Sie konnte sich nicht genau Rechenschaft davon geben, wann der Um-schwung bei ihr begonnen, sie wußte in der Tat kaum, daß überhaupt ein sol-cher stattgefunden hatte. Nur einen Punkt hielt sie in Gedanken fest, und das war der immer lebhafter werdende Wunsch, Laurie Baxter möge unter ihrer Verantwortung keine weiteren Versuche mehr anstellen.

Bis vor wenigen Wochen war sie voll Eifer gewesen. Es hatte ihr, wie schon gesagt, geschienen, daß die sichtbaren Resultate des Spiritismus nur Gutes bewirkt hätten, daß sie in keiner Weise mit der Religion, an die sie zufällig glaubte, im Widerspruch standen —, daß sie tatsächlich dem etwas mystischen Hintergrund des Christentums Wirklichkeit verliehen, gleichwie es ein wirklicher Baum im Vordergrund eines Panoramas tut. Sie hatte diese Resultate sogar sehr „lehrreich“ genannt.

Vor ungefähr anderthalb Jahren hatte sie sich unter dem Ansturm von Frau Stapletons Begeisterung zum erstenmal mit diesen Dingen befaßt; sie hatten ihr aber nicht die Befriedigung gegeben, die sie wünschte, bis Herr Vincent erschienen war. Dann allerdings war die Sache vorwärtsgegangen; sie hatte außergewöhnliche Dinge zu sehen bekommen, deren Wirkung durch die augenscheinliche Ehrlichkeit und die starke Persönlichkeit Herrn Vin-cents eine doppelt große war. Herr Vincent war für sie das, was ein energi-scher Priester für ein schüchternes Beichtkind ist; von seiner eigenen Über-zeugung und seinem äußerst festen Willen gestützt, war sie mitgerissen wor-den, bis sie sich in der erstaunlichen neuen Welt zu Hause fühlte und den eif-rigen Wunsch empfand, Proselyten zu machen.

Dann war Laurie erschienen, und unmittelbar darauf war sie von einem Angstgefühl ergriffen worden, das sie weder verstehen noch erklären konnte. Sie hatte versucht, mit ihrer lieben Maud darüber zu reden, aber ihre liebe Maud war so wenig imstand gewesen, ihre Skrupel zu begreifen, daß sie nicht mehr davon sprach. Ihre unerklärliche Unruhe stieg jedoch auf einen solchen Grad, daß sie beschloß, mit Laurie darüber zu reden. Dies war geschehen, aber ohne Erfolg; und jetzt sollte ein weiterer Schritt vorwärts getan werden.

Worin dieser Schritt bestand, das wußte sie ganz gut. Es gab für die „kontrollierenden Geister“, glaubte sie — die Geister, die

sich mitzuteilen wünschten — eine Stufenfolge von Mitteilungsarten, durch welche sie sich kundgaben, von einfachen, unzusammenhängenden Geräu-

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schen an, wie etwa auch ein Mensch Botschaften von einem Raum zum an-dern durch Klopfen mitteilt, von Erscheinungen an, die ebenfalls unzusam-menhängend und ungreifbar waren, bis hinauf zu dem Höhepunkt, der sicht-baren, greifbaren Gestalt und der hörbaren Stimme. Dieser Entwicklungspro-zeß, dachte sie, bestehe zuerst nur in einem Konnex von Geist und Materie und gehe schließlich in eine wirkliche Materialisation über, in die Gestalt des Körpers, den der Geist einst auf Erden beseelt hatte. Fast für jedes Stadium dieses Vorganges hatte sie das Zeugnis ihrer Sinne; sie hatte Botschaften er-halten, die ihr nur erklärlich waren unter der Voraussetzung, daß sie von ver-storbenen Verwandten herrührten; sie hatte in ihrem eigenen Wohnzimmer gesehen, wie vor ihren Augen Licht und sogar Gestalten entstanden, aber sie war noch nicht imstande gewesen, obgleich die liebe Maud mehr Glück ge-habt hatte, solche Gestalten zu greifen und zu betasten und dadurch den Tast-sinn sowohl wie den Gefühlssinn von der Wirklichkeit des Phänomens zu überzeugen.

Ja, sie war befriedigt von dem, was sie gesehen; sie hegte keinerlei Zwei-fel in bezug auf die von Herrn Vincent aufgestellten Theorien; und doch schauderte sie zurück (und sie wußte kaum, warum) vor dem abschließenden Akt, der, wenn möglich, diesen Abend stattfinden sollte. Dieser Schauder galt freilich noch viel mehr der Ahnung einer Gefahr für Laurie Baxter als für ihre eigene Person.

Solche Gedanken beschäftigten sie, als sie, unter den Bäumen dahin-schreitend, ihren Heimweg verfolgte. In der angenehmen Luft und dem strah-lenden Sonnenschein waren sie etwas in den Hintergrund gedrängt und ruhi-ger geworden, immer aber doch noch im Bewußtsein haftengeblieben, und nicht nur an Laurie Baxter dachte sie, sondern auch ein wenig an sich selbst.

Denn zum erstenmal seit ihrer Einführung in die Sache empfand sie ei-nen leisen Ekel, der, so schwach er auch war, doch wie ein leichter, nur halb zum Bewußtsein kommender, süßlicher, unangenehmer Geruch aller-lei Erinnerungen in ihr weckte. In dem Leben abgeschnittener, ins Wasser gestellter Blumen kommt ein solcher Zeitpunkt, wenn der energische Trieb zum Wachsen aufgehört hat und in ihrem Duft eine neue Phase sich be-merkbar macht, deren Ende nicht zweifelhaft ist. Man braucht die Blumen noch nicht wegzuwerfen, noch strömen sie einen Reichtum von Duft aus. Doch ist dieser im Abnehmen, und der neue Geruch nimmt zu, bis er den Sieg davonträgt.

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So empfand jetzt Lady Laura. O ja; der Spiritismus war sehr „lehrreich“ und

schön; er war durchaus vereinbar mit der orthodoxen Religion; er war unleugbar wahr. Nicht im Traume ließ sie sich einfallen, ihn aufzugeben. Nur wäre es besser, wenn Laurie Baxter sich nicht damit befaßt hätte: er war zu sensitiv… Dennoch würde er diesen Abend wieder kommen… die Tatsache stand fest.

Als sie endlich die südliche Richtung einschlug und, auf ihre eigene Stra-ße zuschreitend, wieder auf die andere Seite des Weges ging, schien es ihr, als ob der Tag schon jetzt anfinge sich zu umwölken. Über die Dächer von Kensington lagerte sich ein feiner Nebel, fast unsichtbar wie ein Rauchwölk-chen; aber er war da. Sie fühlte sich auch ein wenig matt. Vielleicht war sie zu weit gegangen. Nach dem Frühstück wollte sie ein wenig ruhen, wenn die liebe Maud nichts einzuwenden hatte, denn die liebe Maud sollte bei ihr früh-stücken, wie gewöhnlich, wenn der Oberst nicht zu Hause war.

Als sie in der Stille und Ruhe des Sonntags — die Kirchenglocken waren längst verstummt — langsamer denn je auf dem prächtigen breiten Pflaster von Queen̓s Gate dahinschritt, bemerkte sie einen Herrn, der langsam auf sie zu-kam. Er trug einen kurzen Überzieher und einen etwas altmodisch aussehenden Zylinder, Gamaschen und Handschuhe. Seine Hände hatte er auf dem Rücken gefaltet, und es hatte den Anschein, als ob er auf einen aus den nächsten Häu-sern kommenden Freund warte. Sie bemerkte, daß er sie durch seine Brille be-trachtete, dachte aber nicht mehr daran, als sie die Stufe ihres eigenen Hauses betrat. Sie erschrak, als sie rasche Fußtritte und eine Stimme hinter sich hörte.

„Ich bitte um Entschuldigung, gnädige Frau…“ Sie hatte den Schlüssel in die Türe gesteckt, wandte sich um und sah den

alten Herrn mit dem Hut in der Hand vor sich stehen. „Habe ich das Vergnügen, mit Lady Laura Bethel zu sprechen?“ Seine Stimme hatte einen angenehmen, frischen Klang, welcher sie gün-

stig für ihn stimmte. „Kann ich etwas…? Wollten Sie mit mir sprechen?… Ja, ich bin Lady

Laura Bethel.“ „Man sagte mir, Sie seien in die Kirche gegangen und empfingen Sonn-

tags keine Besuche.“ „Das ist richtig… Darf ich fragen…?“ „Nur für wenige Minuten, Lady Laura, ich verspreche es Ihnen. Verzei-

hen Sie mir meine Zudringlichkeit.“ (Ja, der Herr war ein Gentleman; daran war kein Zweifel.)

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„Könnte es nicht morgen sein? Ich habe heute ziemlich viele Verpflich-

tungen.“ Er hielt seine Visitenkartentasche in der Hand, und ohne gleich zu ant-

worten, ging er die Stufen hinauf und reichte ihr eine Karte hin. Sein Name sagte ihr gar nichts. „Kann es nicht morgen sein…?“ begann sie wieder. „Morgen wäre es zu spät“, sagte der alte Herr. „Ich bitte Sie, Lady Laura.

Es ist eine äußerst wichtige Angelegenheit.“ Noch zögerte sie einen Augenblick; dann stieß sie die Türe auf und ging

hinein. „Bitte, treten Sie ein“, sagte sie. Sie war über die neue Situation so verblüfft, daß sie, vollständig verges-

send, daß das Wohnzimmer in Unordnung sein würde, den Herrn direkt hin-aufführte. Erst als sie schon darin stand, der alte Herr dicht hinter ihr, sah sie, daß außer drei oder vier Stühlen am Kamin und einem in die Nähe desselben gerückten Tisch das Zimmer ohne Möbel war.

„Das hatte ich vergessen“, sagte sie, „aber bitte, treten Sie ein… Wir… wir haben heute abend eine Zusammenkunft hier.“

Sie ging voraus an den Kamin und bemerkte zuerst nicht, daß er ihr nicht folgte. Als sie sich umwandte, sah sie, wie der alte Herr, dessen Aussehen jetzt nicht mehr den Stempel altmodischer Höflichkeit trug, dastand und sich mit einem sehr eigentümlichen Gesichtsausdruck umschaute. Zu ihrem gro-ßen Mißbehagen bemerkte sie auch, daß das Kabinett schon an seinem Platze im kleinen Vorzimmer stand, und daß seine Blicke sofort darauf haftenblie-ben. Dennoch verriet sein Gesicht kein Erstaunen, er sah vielmehr aus wie et-wa ein Mensch beim Besuch des Schauplatzes eines bekannten Verbrechens — voll Interesse, Verständnis und Abscheu.

„So, also hier —“ sagte er ganz leise. Dann ging er durch das Zimmer auf sie zu.

II.

Während eines kurzen Augenblicks schaute sein bärtiges Gesicht sie so

seltsam an, daß sie sich beinahe der Klingel zuwandte. Da lächelte er mit einer beruhigenden Gebärde.

„Nein, nein“, sagte er. „Darf ich mich einen Augenblick setzen?“

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Sie bemühte sich, ihre Verwirrung zu verbergen. „Es findet heute abend eine Zusammenkunft statt“, sagte sie. „Ich bedau-

re —“ „Ganz recht“, sagte er. „Deshalb bin ich gekommen.“ „Verzeihen Sie…“ „Bitte, setzen Sie sich, Lady Laura… Darf ich in wenigen Worten den

Grund meines Kommens angeben?“ (Es schien das ein sehr wunderlicher alter Herr zu sein.) „Nun, ja —“, antwortete sie. „Ich bin gekommen mit der Bitte, Sie möchten Herrn Baxter nicht gestatten,

dies Haus zu betreten… Nein, ich habe von niemand einen Auftrag, am aller-wenigsten von Herrn Baxter selbst. Er hat keine Ahnung davon, daß ich hier bin. Er würde es für eine nicht zu verantwortende Unverschämtheit halten.“

„Herr Cathcart… Ich — ich kann nicht —“ „Gestatten Sie mir“, sagte er mit einer zwingenden Gebärde, die sie zum

Schweigen brachte. „Ich bin von zwei Personen, welche großes Interesse an Herrn Baxter nehmen, gebeten worden, hier einzugreifen. Die eine, wenn nicht beide, hat nicht den geringsten Glauben an den Spiritismus.“

„Also wissen Sie —“ Er deutete mit der Hand nach dem Kabinett. „Natürlich“, antwortete er. „War ich doch selbst zehn Jahre lang Spiritist.

Zwar kein Medium, das heißt kein berufsmäßiges. Ich weiß vollständig Be-scheid über Herrn Vincent, über Frau Stapleton und über Sie selbst, Lady Laura. Ich verfolge noch eifrig alles, was vorgeht; ich weiß sehr wohl —“

„Und Sie haben die Sache aufgegeben?“ „Ich habe sie schon längst aufgegeben“, erwiderte er ruhig. „Und ich

komme mit der Bitte, daß Sie Herrn Baxter verbieten, heute abend hier anwe-send zu sein, aus — aus demselben Grunde, aus dem ich die Sache selbst aufgegeben habe.“

„Wirklich? Und dieser Grund —“ „Ich glaube nicht, daß wir darauf näher einzugehen brauchen“, antwortete

er. „Es genügt wohl, wenn ich sage, daß Herrn Baxters Arbeit und sein gan-zes Nervensystem bedeutend unter dieser Erregung leiden, daß eine der Per-sonen, die mich gebeten, zu tun, was in meiner Macht steht, Herrn Baxters eigener Repetent ist, und daß, wenn dieser mich auch nicht darum gebeten hätte, Herrn Baxters eigenes Aussehen —“

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„Sie kennen ihn also?“ „Eigentlich nicht. Am Freitag frühstückte ich an demselben Tische mit

ihm; aber die Symptome sind ganz unverkennbar.“ „Ich verstehe Sie nicht. Die Symptome?“ „Nun, wir wollen sagen, die Symptome einer nervösen Erregung. Sie ha-

ben ohne Zweifel bemerkt, daß er außergewöhnlich sensitiv ist. Wahrschein-lich haben Sie selbst gesehen —“

„Bitte, einen Augenblick“, sagte Lady Laura, während ihr Herz heftig klopfte. „Warum gehen Sie nicht zu Herrn Baxter selbst?“

„Ich habe es bereits getan. Ich richtete es ein, daß ich beim Frühstück mit ihm zusammentraf, doch habe ich die Sache verkehrt angefaßt. Ich habe gar keinen Takt, wie Sie wohl bemerkt haben werden! Aber Freitag abend schrieb ich an ihn, erbot mich, ihn zu besuchen, um ihm einen Wink zu ge-ben. Nun, es war nutzlos. Er weigerte sich, mich zu empfangen.“

„Ich weiß aber nicht, was ich —“ „O ja“, zwitscherte der alte Herr beinahe heiter, „es würde freilich

ganz ungewöhnlich und wenig konventionell sein. Ich bitte Sie nur, ihm einige Zeilen zu senden — ich will sie selbst mitnehmen, wenn Sie es wünschen — mit der Mitteilung, daß Sie es besser für ihn hielten, wenn er nicht käme, und daß Sie andere Anordnungen für den heutigen Abend treffen würden.“

Er blickte sie an mit derselben wunderlichen Miene eines munteren Vo-gels, die sie schon auf der Straße wahrgenommen hatte, und sie fühlte sich angenehm davon berührt, trotz der Unruhe, die sie nun zehnmal stärker als zuvor empfand. Sie sah wohl, daß sich hinter seiner Art noch etwas anderes verbarg, — das hatte sich in dem Blick verraten, mit dem er bei seinem Ein-tritt dies Zimmer betrachtete —, aber sie konnte sich in diesem Augenblick nicht klarmachen, was es war. Sie war sehr betroffen durch dieses merkwür-dige Erlebnis und die auffallende Übereinstimmung ihrer eigenen Meinung mit der dieses Mannes. Dennoch hatte sie hundert Gründe, seinen Rat nicht zu befolgen. Was würden die andern sagen? Was sollte aus all den Anord-nungen… den Erwartungen werden?

„Ich weiß nicht, wie dies jetzt möglich zu machen wäre“, begann sie. „Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen. Aber —“

„In der Tat, ich glaube, Sie haben keinen Begriff davon“, rief der alte Herr, wobei ein seltsames Falsett aus seiner Stimme klang — „gar keinen

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Begriff. Ich komme nur seiner nervösen Erregung wegen zu Ihnen; es scha-det seiner Gesundheit, Lady Laura.“

Sie sah ihn forschend an. „Aber —“ begann sie. „O, ich habe noch mehr zu sagen“, bemerkte er. „Haben Sie niemals ge-

hört, daß der — der Wahnsinn ein Begleiter von alledem ist? Nennen wir es Wahnsinn oder wie Sie wollen.“

Einen Augenblick stand ihr Herz still. Dies Wort hatte einen unheimli-chen Klang für sie, wegen eines Vorganges, dem sie einst beigewohnt hatte; und ihr kam vor, als ob irgendeine dahintersteckende Bedeutung, die ihr un-bekannt war, noch unheimlicher sei. Warum hatte er gesagt, man könne es Wahnsinn nennen?…

„Ja… Ich — ich habe einmal einen derartigen Fall erlebt“, stammelte sie. „Nun“, erklärte der alte Herr, „ist es nicht genug, wenn ich Ihnen sage,

daß ich — ich, der zehn Jahre lang Spiritist gewesen ist — niemals jemand in größerer Gefahr sah als Herrn Baxter? Ist der Preis nicht zu teuer erkauft?… Lady Laura, begreifen Sie auch vollständig die Tragweite Ihres Tuns?“

Er neigte sich ein wenig vor, und wieder fühlte sie, wie eine entsetzliche, fürchterliche Angst in ihr aufstieg. Dennoch…

Die Türe öffnete sich plötzlich, und Herr Vincent trat ein.

III. Einen Augenblick herrschte Schweigen; dann wendete sich der alte Herr

um und stand im nächsten Augenblick auf den Füßen, in ruhiger straffer Hal-tung und mit einem abweisenden Ausdruck im Gesicht.

Herr Vincent schwieg, bald Lady Laura, bald Herrn Cathcart ansehend. „Ich bitte um Verzeihung, Lady Laura“, sagte er dann höflich. „Ihr Diener

bat mich, hier zu warten, ich glaube, er wußte nicht, daß Sie hier seien.“ „Gut — eh — dieser Herr…“, begann Lady Laura. „Ei, kennen Sie denn

Herrn Vincent?“ fragte sie plötzlich, durch den Ausdruck in des alten Herrn Gesicht stutzig gemacht.

„Ich habe Herrn Vincent früher gekannt“, entgegnete er kurz. „Sie sind mir gegenüber im Vorteil“, sagte das Medium lächelnd, an das

Kaminfeuer herantretend.

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„Mein Name ist Cathcart, mein Herr.“ Der andere fuhr beinahe unmerklich zusammen. „Ah, ja!“ sagte er ruhig. „Ich erinnere mich, daß wir einige Male zusam-

mengetroffen sind.“ Lady Laura empfand eine große Erleichterung über die Unterbrechung, es

kam ihr vor, als ob sie durch die Vorsehung von einer mißlichen Entschei-dung bewahrt werde.

„Ich glaube, weiter ist nichts zu sagen, Herr Cathcart… Nein, gehen Sie nicht, Herr Vincent, unsere Unterredung ist zu Ende.“

„Lady Laura“, sagte der alte Herr mit entschlossener Miene, „ich bitte Sie, mir noch ein Gespräch von zehn Minuten unter vier Augen zu gewähren.“

Sie zögerte mit der Antwort, sah sie doch in jedem Falle Unannehmlich-keiten voraus. Dann faßte sie einen Entschluß.

„Heute ist keine Notwendigkeit dazu vorhanden“, wiederholte sie. „Wenn Sie für einen Tag in der nächsten Woche eine Verabredung zu machen wün-schen, Herr Cathcart —“

„Soll ich dies so verstehen, daß Sie sich weigern, mich ein paar Minuten länger anzuhören?“

„Ich sehe die Notwendigkeit dazu nicht ein —“ „Dann muß ich das, was ich zu sagen habe, in Gegenwart des Herrn Vin-

cent sagen —“ „Noch einen Augenblick, mein Herr“, warf das Medium mit jener etwas

überlegenen Miene ein, die Lady Laura so gut kannte. „Falls Lady Laura ein-willigt, Sie anzuhören, wird es meine Sache sein, dafür zu sorgen, daß nichts Beleidigendes gesagt wird.“ Dabei schaute er sie an, als ob er um ihre Zu-stimmung bitte.

Sie machte eine gewaltsame Anstrengung. „Wenn Sie sich nun beeilen wollen“, begann sie. „Sonst —“ Der alte Herr holte tief Atem, wie um seine Fassung zu bewahren. Es war

klar, daß er sehr aufgebracht war, und daß seine Selbstbeherrschung ihn bei-nahe verließ. Sein freundliches Wesen, seine Heiterkeit waren dahin.

„Ich will mich in wenigen Worten aussprechen“, sagte er. „Es ist dies: In Ihrer Mitte wird der junge Mann an Leib und Seele zugrunde gerichtet, und Sie sind vor seinem und Ihrem Schöpfer dafür verantwortlich. Und wenn —“

„Lady Laura“, sagte das Medium, „wünschen Sie noch mehr zu hören?“ Sie machte eine etwas unsichere, aber doch zustimmende Gebärde.

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„Und wenn Sie die Gründe wissen wollen, weshalb ich dies sage, so ha-

ben Sie nur Herrn Vincent darnach zu fragen. Er weiß ganz gut, warum ich vom Spiritismus abließ — vielleicht wagt er, es Ihnen zu sagen.“

Lady Laura schaute Herrn Vincent an. Er war ganz ruhig, und der Blick, mit dem er unter den dichten Augenbrauen hervor den alten Mann neugierig beobachtete, hatte etwas Humoristisches.

„Und ich habe erfahren“, fuhr der andere fort, „daß Sie heute abend den Versuch einer vollständigen Materialisierung machen wollen. Wohl, also nach dem heutigen Abend dürfte es zu spät sein. Ich habe versucht, mich an den jungen Mann zu wenden, doch will er mich nicht hören. Und auch Sie haben sich geweigert, alles zu hören, was ich zu sagen habe. Ich könnte Ih-nen Beweise geben, wenn Sie es wünschten. Fragen Sie diesen Herrn, wie viele Fälle er in den letzten fünf Jahren gekannt hat, bei denen völlige Zerrüttung an Seele und Körper —“

Das Medium wendete sich, wie vor Ungeduld seufzend, ein wenig dem Kaminfeuer zu, und bei diesem Ton hielt der alte Mann zitternd inne. Es war noch merklicher als zuvor, daß er nur durch eine gewaltsame Anstrengung seine Selbstbeherrschung bewahren konnte, es war, als ob die Anwesenheit des Mediums ihn ungewöhnlich errege.

Lady Laura blickte wieder von einem zum andern. „Das ist also alles?“ fragte sie. Seine Lippen bewegten sich. Dann stieß er hervor: „Ich bin des Redens

müde“, rief er, „des Redens müde! Ich habe Sie gewarnt, das ist genug. Mehr kann ich nicht tun.“

Er wandte sich um und verließ das Zimmer. Eine Minute später hörten die beiden die Vordertüre zufallen.

Lady Laura blickte Herrn Vincent an. Er drehte gemächlich einen auf dem Kaminsims stehenden kleinen Armleuchter aus Bronze in seinen kräftigen Fingern herum und sah ganz unbefangen aus, ja er schien sogar ein wenig zu lächeln.

Sie selbst fühlte sich ganz hilflos. Sie hatte ihre Wahl getroffen, beein-flußt von der Anwesenheit dieser starken Persönlichkeit, obwohl sie sich die-se Tatsache kaum eingestand, und nun bedurfte sie wieder der Beruhigung. Aber ehe sie die geeigneten Worte fand, begann Herr Vincent, immer noch in seiner heiteren Weise, zu sprechen.

„Ja, ja“, sagte er. Ich erinnere mich jetzt. Ich habe Herrn Cathcart einst gekannt. Ein sehr hitziger alter Herr.“

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„Worüber wollte er noch sprechen?“ „Über den Grund seiner Lossagung von uns. Ich erinnere mich dessen

wirklich kaum mehr. Vermutlich war es, weil er Katholik geworden ist.“ „War es nichts anderes?“ Er sah sie freundlich an. „Ei, wohl kaum. Ich kann mich tatsächlich nicht mehr erinnern, Lady

Laura. Wahrscheinlich sind seine Nerven erschüttert. Sie sehen ja selbst, welch ein Fanatiker er ist.“

Aber trotz Herrn Vincents Anwesenheit wurde Lady Laura wieder von heftiger Angst erfaßt.

„Herr Vincent, sind Sie überzeugt, daß es nicht gefährlich ist — für Herrn Baxter, meine ich?“

„Nicht gefährlich? Ei, es ist für ihn nicht mehr und nicht minder gefähr-lich wie für jemand von uns. Wir haben ja alle ein Nervensystem.“

„Aber ist er nicht besonders sensitiv?“ „Allerdings. Das ist der Grund, weshalb er heute abend nicht in Tran-

ce kommen darf. Das ist späterhin, nach einer guten Vorbereitung, eher möglich.“

Sie stand auf und kam zum Kamin heran. „Also ist wirklich keine Gefahr damit verbunden?“ Herr Vincent schaute ihr mit seinen gütigen Augen voll ins Gesicht und

lächelte. „Lady Laura“, begann er, „habe ich Ihnen jemals gesagt, daß keine Ge-

fahr damit verbunden sei? Ich glaube, kaum. Es ist immer, für jeden von uns, Gefahr damit verbunden, gerade wie für den Gelehrten in dem Laboratorium und für den Ingenieur in der Maschinenfabrik. Aber was wir tun können, ist, diese Gefahr auf ein Minimum zu verringern, so daß wir nach menschlichem Ermessen hinreichend vor Gefahr geschützt sind. Ohne Zweifel erinnern Sie sich des Falles mit jenem Mädchen? Nun, das war ein Unglücksfall, und Un-glücksfälle kommen vor, aber lassen Sie mir Gerechtigkeit widerfahren und vergessen Sie nicht, daß ich das Mädchen zum erstenmal gesehen hatte. Es war unmöglich, alles vorauszuwissen. Sie war schon einem Nervenanfall na-he, ehe sie das Zimmer betrat. Herrn Baxter aber habe ich wieder und wieder gesehen, und ich sage Ihnen, ich sehe ein, daß eine gewisse Gefahr für ihn vorhanden ist — aber eine Gefahr, die sich rechtfertigen läßt und die auf ein Minimum reduziert ist. Wenn ich nicht wüßte, daß wir alle Vorsichtsmaßre-

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geln anwenden, möchte ich ihn um alles in der Welt nicht im Zimmer ha-ben… Sind Sie zufrieden, Lady Laura?“

Jedes Wort, das er sagte, gab ihr wieder Mut. Es war alles so vernünftig und wohlerwogen. Hätte er gesagt, es sei keine Gefahr vorhanden, so wäre sie noch ängstlicher geworden, aber das gab ihr gerade eine gewisse Sicher-heit, daß er die Gefahr zugestand. Und vor allem seine Ruhe und seine Stär-ke, sie gaben ihm das Übergewicht.

Sie holte tief Atem und entschloß sich, der Sache ihren Lauf zu lassen. „Und Herr Cathcart?“ sagte sie. Herr Vincent lächelte abermals. „Sie sehen ja, wie er ist“, sagte er. „Ich würde Ihnen raten, ihn nicht mehr

zu empfangen. Es ist in keiner Hinsicht von Nutzen.“

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Dreizehntes Kapitel

I.

Die Wetterberichte waren richtig gewesen, und die wenigen, welche an diesem Abend aus der Kirche heimwärts eilten, hatten gegen einen Südwest-wind anzukämpfen, der mit heftigem Regen in den Straßen und auf den frei-en Plätzen tobte. Sogar die Lichter in den großen Straßenlaternen wurden trübe und schimmerten nur durch triefende Scheiben, welche der Nebel und der Dunst fast undurchsichtig machte.

In Queen̓s Gate deutete kaum ein erleuchtetes Fenster darauf hin, daß die Häuser bewohnt seien. So gewaltig war das Getöse und der Sturm in der brei-ten Straße, daß die Leute sich beeilten, den Blick in die Nacht hinaus zu ver-decken; die Halbmondfenster über den Haustüren, oder da und dort ein Licht-streif, wo der Luftzug die Vorhänge auseinander getrieben hatte, waren die einzigen Zeichen menschlichen Lebens. Das breite Trottoir draußen, das ganz leer war, sah aus wie die Oberfläche irgendeines schwarzen spiegelähnlichen Kanales, der jeden Lichtstrahl von den Häusern und Lampen auffing und in einen langen Streifen schimmernder Feuchtigkeit umwandelte.

Das Innere des Zimmers der Wirtschafterin im Hause zur Rechten machte durch den Kontrast gegen außen einen um so angenehmeren Eindruck. Hier war es, wo jeden Abend eine feierliche Versammlung stattfand, nachdem das mit strenger Etikette und nach altem Ritus abgehaltene Essen vorüber war. Die Fenster gingen auf den kleinen, viereckigen Hintergarten, aber die Läden waren nun fest verschlossen, die Vorhänge zugezogen, und das Zimmer war ein wahres Muster von Behaglichkeit und Wärme. Ein viereckiger Tisch, worauf ein Pudding und Früchte standen, war an das Feuer herangezogen, denn hierher begaben sich die höheren Dienstboten nach der kalten Fleisch-speise und dem Bier, das sie in der Halle der Diener verzehrt hatten, — und der Junge des Butlers wartete ihnen auf. Um diesen Tisch saßen nun vier Per-sonen in ihrer vollen Würde — die Haushälterin, der Butler, das Kammer-mädchen und die Köchin.

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Es war schon zehn Uhr vorüber, und man hatte Herrn Parker erlaubt, eine Zigarre zu rauchen. Sie hatten über das Wetter gesprochen, über die Predigt,welche Fräulein Baker am Vormittag gehört hatte, und über die Aussichten nach dem Tode, und waren wieder auf die geheimnisvollen Vorgänge zurück-gekommen, die sich im oberen Stock abspielten. Sie waren nun allmählich dar-an gewöhnt, und es war nicht mehr viel darüber zu sagen, wenn sie nicht das gleiche wiederholen wollten, wogegen sie jedoch nichts einzuwenden hatten. In ihrer Haltung zeigten sie einen toleranten Skeptizismus, der aber durch Fräu-lein Bakers Neigung, an einem gewissen Punkt immer erregt zu werden, in Schranken gehalten wurde. Herr Vincent, dies wurde allgemein zugegeben, war ein achtungswerter Mann; er hatte eine Art sich zu geben, die man nicht gut in Worten beschreiben konnte, und man war der Ansicht, es sei schade, daß er solchem Aberglauben huldige. Frau Stapleton, die freilich ihren eigenen Willen hatte, war als törichtes Weib schon längst nicht mehr in Betracht ge-kommen, und die gnädige Frau natürlich mußte man ihre eigenen Wege gehen lassen. Lange konnte die Sache ohnedies nicht mehr dauern, dachte man.

Was den jungen Herrn Baxter betraf, so war dies etwas anderes, und über ihn gab es viel zu reden. Er war ein Gentleman, das war gewiß, und er schien Verstand zu haben, aber es war ein Jammer, daß er jetzt so oft wegen dieser Geschichten hier war. Er hatte heute abend, als er seinen Überrock ablegte, nicht ein einziges Wort zu Herrn Parker gesagt. Dieser hatte den Eindruck, als ob er nicht gut aussehe.

„Er war auffallend ruhig“, sagte der Butler. Was die Einzelheiten des Vorganges oben betraf, so wurden diese in ganz

humoristischem Licht betrachtet. Man wußte, daß Tische einen Tanz auffüh-ren, und daß Tamburine von unsichtbaren Händen geschwungen wurden, und es war nicht nötig, weiter auf die Ursachen einzugehen, besonders da derglei-chen Dinge durch Maschinerien in der „Ägyptischen Halle“ vorgeführt wur-den. Aus dem Kabinett, welches Herr Parker am heutigen Morgen wieder hatteerrichten helfen, hatten auch „Gesichter“ herausgeblickt, wie man glaubte, aber diese — so erklärte man sich — wurden durch Lichtbilder „gemacht“. Und endlich, wenn die Leute durchaus die letzten Ursachen wissen wollten, so war der Hinweis auf die Elektrizität eine genügende Antwort auf alles. Von Was-serkraft sprach niemand.

Die menschlichen Beweggründe wurden nicht näher untersucht. Offenbar un-terhielt es manche Leute, sich mit solchen Sachen zu beschäftigen, wie andere

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wohl altes Porzellan sammeln oder einen Kotillon einüben. Solche Sachen kom-men nun einmal vor, dies war eine Tatsache, und mehr ließ sich nicht darüber sagen. Die alte Lady Carraden, bei der Herr Parker einst Unterbutler gewesen, hatte sich mit Kropftauben abgegeben, und Fräulein Baker hatte von einem Edel-mann gehört, welcher sich eine eigene Tischlerwerkstätte eingerichtet hatte.

Diese Dinge verhielten sich nun einmal so, und inzwischen konnte Herr Parker hier seine Zigarre rauchen und die drei Damen konnten ihren schwa-chen Tee trinken.

Es war ungefähr ein Viertel nach zehn Uhr, als man wieder auf das Wet-ter zu sprechen kam. Hier im Zimmer war alles höchst behaglich. Ein schwar-zer Teppich, dessen Rand mit roten Fransen besetzt war, lag bequem für die Füße vor dem lodernden Feuer, die schweren roten Vorhänge sperrten die Dunkelheit aus, und da, wo die mit Porzellan gefüllten Glasschränke noch Platz frei ließen, hingen große Photographien von Hochzeitsgesellschaften und Abbildungen von den Schlössern des Adels an den Wänden. Ein „King Charles“ in einem andern Glasschrank schaute wie mit einem ewigen Knurren, dem die Milde seiner braunen Augen widersprach, auf die Gesell-schaft herab. Auf der andern Seite des Kamins, als Gegenstück, wiegte sich eine zahlreiche, etwas staubige und verblaßte Familie von Kolibris beständig auf den Blütenzweigen eines mit Flechten bewachsenen Baumes mit dem Hintergrund eines leuchtenden Sonnenunterganges.

Aber draußen tobte der Wind unaufhörlich und trieb den Regen ungestüm durch die Dunkelheit des kleinen Gärtchens, und wenn er Pausen machte, hörte man schwere Tropfen rasch nacheinander platschend und klatschend vom Dach auf den gepflasterten Weg fallen. Es war eine ganz furchtbare Nacht, wie Herr Parker viermal bemerkte, und hoffentlich wollte niemand ei-nen Wagen haben. Er sei töricht genug gewesen, für heute abend selbst die Verpflichtung zu übernehmen, die Gäste hinauszugeleiten; William habe er erlaubt, zu Bett zu gehen, wann er wolle. Und diese Geschichten dauerten immer sehr lange, manchmal bis elf Uhr, ja sogar oft bis Mitternacht.

Frau Martin, die eine Bluse trug, trat etwas näher ans Kaminfeuer heran und sagte, sie müsse machen, daß sie bald zu Bett komme; Frau Mayle, in schwarze Seide gekleidet, meinte, man könne nicht wissen, wann die Gnädi-ge zu Bett gehe und wie es mit Frau Stapleton und mit den andern sein wer-de, und sie beklagte Fräulein Baker sehr. Diese seufzte ein wenig aus Mitleid mit sich selbst, und Herr Parker bemerkte zum fünften Male, daß es eine

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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furchtbare Nacht sei. Hier aber war man in einer angenehmen Atmosphäre, man verlangte von niemand, daß er seine Einbildungskraft oder seinen Geist anstrenge, es genügte, daß man sagte, was einem gerade einfiel, und man erhielt eine ruhige Antwort.

Als die kleine gelbe Marmoruhr auf dem Kaminsims elf Uhr schlug —Frau Mayles verstorbener Gatte hatte diese Uhr in einer Gartenbauausstel-lung gewonnen —, sagte Frau Martin, sie müsse gehen und einen Blick in die Spülküche werfen, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei; man könne bei diesen Mädchen heutzutage nicht wissen, was ungetan bleibe; und Frau May-le brüstete sich im stillen damit, daß ihre Obliegenheiten höherer Art seien. Herr Parker machte eine höfliche Bewegung, wie wenn er aufstehen wolle, blieb aber sitzen, als die Köchin hinausrauschte. Fräulein Baker seufzte aber-mals, als sie an das lange Gespräch dachte, das zwischen den beiden Damen oben stattfinden werde, ehe sie ihre Herrin zu Bett bringen konnte.

Wieder waltete die gleiche behagliche Ruhe in dem warmen Zimmer, die Messinglampe brannte hell und hatte einen schwachen und beruhigenden Duft von Paraffin; das Feuer sah aus wie eine funkelnde Höhle von roten Kohlen, um welche die Flammen züngelten, und Herr Parker beugte sich vor, um die Asche seiner Zigarre abzustreifen.

Dann plötzlich hielt er inne, denn vom Gang draußen drang der gefühllo-se Klang einer elektrischen Glocke herein — dann wieder und wieder und wieder, wie wenn oben jemand durch Wiederholung dieses einzigen Tones sich bemühe, die äußerste Bedrängnis zum Ausdruck zu bringen.

II. Oben in dem großen, leeren Empfangszimmer war das Getöse von Sturm

und Regen, das beinahe unaufhörliche Anschlagen der Tropfen an die Fen-sterscheiben und das lange Toben der heftigen Windstöße weit vernehmbarer gewesen als im Erdgeschoß. Die Gesellschaft dort unten war in einem natür-lichen und normalen Zustand, man hatte in einem hellerleuchteten Zimmer von diesem und jenem gesprochen, dabei nur bei Sachen verweilt, die im Be-reich der Erfahrung lagen, und war durch die Wärme, das Essen und den Zi-garrenrauch in eine Art von Selbstbeschaulichkeit versenkt worden. Aber hier oben im Düstern, beim Schein einer einzigen, beschatteten Kerze, saßen drei

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Personen in vollständigem Schweigen schon mehr als eine Stunde um einen Tisch und bemühten sich, durch eine Art von unbeschreiblicher Konzentration all das außer acht zu lassen, was durch die Sinne wahrgenommen wird, und warteten auf irgendein Zeichen aus dem Reich, das jenseits der Sinne liegt.

Lady Laura setzte sich an diesem Abend in einer Gemütsverfassung nie-der, die sie nicht zu analysieren vermochte. Nicht als ob ihre Befürchtungen vollständig eingeschläfert worden wären, aber sie hatten ein Gegengewicht erhalten; sie waren noch da, sie waren intensiv und lasteten schwer auf ihrer Seele, aber das zuversichtliche Wesen Herrn Vincents, sein Verstand und die Macht seiner Persönlichkeit sowohl als auch der Enthusiasmus ihrer Freundin und deren erstaunte Einwürfe hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Sie hatte nachgegeben, nicht weil sie zufriedengestellt war, sondern weil ihr Vertrauen größer war als ihre Besorgnis. Unter solchen Umständen hätte sie nicht han-delnd eingreifen können, aber sie konnte sich wenigstens passiv verhalten.

Laurie verhielt sich, wie Herr Parker bemerkt hatte, ganz still; hatte er tat-sächlich wenig gesprochen, so war doch in seinen glänzenden Augen unver-kennbar eine nervöse Spannung zu lesen. Auf eine der herkömmlichen Fra-gen antwortete er, er fühle sich sehr wohl. Herr Vincent sah ihn nur einen Augenblick länger an als gewöhnlich, während er ihm die Hand schüttelte, sagte aber nichts. Frau Stapleton äußerte sich in ekstatischer Weise darüber, wie sie den jungen Mann um seiner sensitiven Fähigkeiten willen beneide.

Beim Beginn der Séance wiederholte Herr Vincent, daß Laurie es vermei-den müsse, in Trance zu geraten, und fügte einige Vorsichtsmaßregeln bei. Dann begab er sich in das Kabinett. Man hatte das Feuer mit Asche bedeckt, eine einzige Kerze angezündet und sie in einer Weise in die Ecke des kleinen anstoßenden Zimmers gestellt, daß das beschattete Licht nur auf das Kabinett und die Gestalt des Mediums fiel.

Als alles still war, bemerkte Lady Laura zum erstenmal, wie es draußen

stürmte und regnete. Gerade die tiefe Stille innen und die aufs Höchste ge-steigerte Aufmerksamkeit ließen das Brausen des Sturmes noch stärker her-vortreten. Jetzt wie immer schien ihr diese Stille eine besondere Fähigkeit zu haben, die psychische von der physischen Atmosphäre loszulösen. Trotz des an die Mauern anschlagenden Regens, trotz des Ächzens der Fensterladen und trotz des Luftzuges, welcher dann und wann sogar die schweren Vorhän-ge in die Höhe hob, kam sie sich selbst so fern von alledem vor, wie sich ein

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Mann im Dunkeln unter einem Trümmerhaufen in fast unendlicher Entfer-nung von Hacke und Hammer der Befreier glaubt. Was vorging, geschah in einer andern Welt als die, in der sie sich befand.

Über eine Stunde machte niemand eine Bewegung. Sie selbst saß, das Gesicht dem Kaminfeuer zugewendet, da, Laurie zu ihrer Linken, mit dem Rücken gegen die Fenster, den Blick auf das Kabinett gerichtet, Frau Staple-ton ihr gegenüber.

Eine endlose Reihe von Gedanken zog an ihr vorüber, während sie so da-saß, doch hatten auch diese etwas Fernliegendes — sie schwebten weit über ihr, sozusagen auf der Außenseite ihres Bewußtseins. Sie näherten sich nicht dem Reich des Willens, dem eine andere Ordnung der Dinge jetzt das Gleichgewicht hielt. Dann und wann blickte sie, ohne ihren Kopf zu be-wegen, auf das Dreiviertelprofil zu ihrer Linken und auf die etwas zuluähnli-chen Umrisse ihr gegenüber; dann wieder hinab auf den polierten, kleinen runden Tisch und die sechs Hände, welche darauf lagen. Und mittlerweile drängten sich in ihrem Gehirn mehr Bilder als Gedanken, mehr Erinnerungen als Erwägungen — Vignetten sozusagen —, sie sah den alten Herrn Cathcart in seinen kurzen Gamaschen und seinem Gehrock, sie sah den blitzschnell wieder schwindenden Ausdruck aus Herrn Vincents Gesicht, als er des Frem-den Namen hörte; sie sah die geschnitzten eichenen Kirchenstühle des Cho-res vor sich, dem sie heute morgen gegenüber gestanden, sie sah den Park, die Blüten an den noch blätterlosen Bäumen, den strahlenden blauen Früh-lingshimmel…

Es mochte ihrer Ansicht nach etwas mehr als eine Stunde vorübergegan-gen sein, als die erste erwartete Bewegung sich fühlbar machte — ein anhal-tendes Beben in dem Holz unter ihren Händen, gefolgt von einer seltsamen Empfindung von Leichtheit, als ob der ganze Tisch sich ein wenig vom Bo-den hebe. Dann folgte, noch ehe die Bewegung nachgelassen hatte, ein Klop-fen, eine Menge kleiner Schläge, die so fein und so rasch und, wie es schien, so richtig berechnet waren wie das Anschlagen irgendeines winzigen elektri-schen Hammers. Dies war neu für sie, aber andern Erfahrungen nicht so un-ähnlich, daß es in irgendeiner Art befremdend oder erschreckend gewesen wäre… Wieder wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Tisch zu, an dem die Schwingungen aufhörten.

Nun folgte eine lange Stille. Es mochte ungefähr zehn Minuten später sein, als sie das nächste Phänomen gewahrte; sie war darauf aufmerksam ge-

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worden, weil die Gestalt zu ihrer Linken sich plötzlich geräuschlos erhoben hatte. Sie wandte das Gesicht dem Kabinett zu und sah hinein; dort zeigte sich deutlich eine Bewegung zwischen den Vorhängen. In diesem Augen-blick konnte sie das Medium sehr gut sehen, dessen übereinandergeschlagene Arme, welche sich durch die weißen Linien der Manschetten auf seiner Brust abhoben, das in tiefem Schlaf herabgesunkene Haupt. Im nächsten Moment flatterten die Vorhänge einige Male von innen nach außen und schlossen sich dann vollständig.

Sie blickte rasch auf den jungen Mann zu ihrer Linken. Bei dem aus dem andern Zimmer hereinscheinenden Licht konnte sie ihn deutlich sehen, seine weitoffenen, aufmerksam beobachtenden Augen, seine durch die gewaltsame Bemühung, sich selbst zu beherrschen, zusammengepreßten Lippen.

Als sie wieder auf das Kabinett blickte, sah sie, daß abermals eine Bewe-gung hinter den Vorhängen entstand, denn diese flogen hin und her und zuckten konvulsivisch, wie wenn irgendeine Person in einem zu engen Raum sich dort bewege, und sie konnte nun, als der Wind draußen sich einen Au-genblick gelegt hatte, die gleichmäßigen oder vielmehr röchelnden Atemzüge des Mediums hören. Dann sammelte der Wind draußen neue Kräfte, der Re-gen schlug an die Fensterscheiben wie eine Handvoll nasser kleiner Kiesel-steine, und die großen Vorhänge an ihrer Seite hoben sich und ächzten in der durch die Laden dringenden Zugluft.

Als es draußen wieder ruhig geworden, waren die Atemzüge des Mediums zu einem regelmäßig wiederkehrenden Stöhnen geworden, wie es ein träumen-der Hund bei jedem Atemzug ausstößt, und sie selbst atmete zitternd lang und tief, überwältigt von der Empfindung, daß es sich hier in diesem Zimmer um ein Ringen handle, wie sie es noch niemals erlebt hatte.

Es war ihr unmöglich, auch nur sich selbst darüber Rechenschaft zu ge-ben, dennoch war ihre Wahrnehmung ganz klar — so klar wie irgendeine Vorstellung der Sinne. Sie wußte in diesem Augenblick, während sie die hin und her flatternden Vorhänge des Kabinetts in dem darauf fallenden, beschat-teten Licht beobachtete, und dann und wann das leise Stöhnen hinter ihnen hörte, daß irgend etwas unter einer Art von Bedrängnis litt, die ihr in diesem Zusammenhang neu war. Eine Zeitlang vergaß sie ihre geheime Angst um den jungen Mann an ihrer Seite, und eine neugierige, bange Erregung trat an deren Stelle. Aber sogar jetzt blickte sie ihn wieder einmal an und sah sein regungsloses Profil, wie es gespannt beobachtete…

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Dann, im nächsten Augenblick, trat der Höhepunkt ein, und sie sah fol-gendes:

Die Vorhänge bewegten sich plötzlich nicht mehr und hingen in geraden

Falten von der Decke des kleinen Kabinetts bis zum Boden herab. Dann teil-ten sie sich langsam — Lady Laura sah lange Finger, von denen sie gehalten wurden —, und eine Gestalt kam heraus, stieg die eine Stufe herunter und blieb vor ihren Augen, ganz vom Kerzenlicht beschienen, keine vier Schritte von ihr entfernt stehen.

Es war die vollkommen ausgebildete Gestalt eines jungen Mädchens, in einen leichten, musselinähnlichen Stoff gehüllt, der beinahe bis zu den Füßen herabfiel und den oberen Teil des Kopfes verhüllte. Ihre Hände waren über der Brust gefaltet, ihre bloßen Füße waren sichtbar auf dem dunkeln Fußbo-den, und ihre Züge wurden klar und deutlich. Ihr Gesicht, die jugendfrischen Lippen, die offenen Augen und die dunkeln Linien der Brauen darüber zeig-ten eine gewisse Schönheit; die Gesichtsfarbe war wachsartig und so hell wie bei einer Blondine.

Aber — wie die Zuschauerin schon früher beim Anblick solcher Phäno-mene in drei oder vier Fällen bemerkt hatte — die Züge waren seltsam und maskenähnlich, wie wenn das Leben, das sich hinter ihnen barg, sie nicht vollständig durchdringe. Es war etwas vom Gesicht einer Toten ganz Ver-schiedenes, aber dennoch nicht völlig belebt, obwohl die Augen in ihren Höhlen sich hin und her bewegten und die etwas herabgezogenen jugendli-chen Lippen lächelten. Hinter ihr, ganz deutlich sichtbar zwischen den zu-rückgeschlagenen Vorhängen, befand sich die Gestalt des Mediums in tie-fem Schlaf.

So verweilte die Erscheinung einige Sekunden lang. Es kam der Zuschau-erin vor, als ob während dieser Sekunden die ganze Welt stillstehe. Hatte in Wirklichkeit der Wind nachgelassen, oder konnte die vollständig von dem Wunder in Anspruch genommene Aufmerksamkeit sonst nichts anderes wahrnehmen — jedenfalls schien es so. Sogar das Atmen des Mediums hatte aufgehört, Lady Laura hörte nur das Ticken der Uhr an ihrem Handgelenk.

Dann, als abermals ein Windstoß von Südwesten kam, bewegte sich die Gestalt vorwärts, einen Schritt näher an den Tisch heran, in der Gangart einer lebenden Person, ja sogar gleich einem lebenden Körper ein leises Zittern des Fußbodens verursachend.

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Sie war nun so nahe, daß man ihre Züge, obgleich sie mit dem Rücken ge-

gen das Licht des Vorzimmers stand, noch deutlicher sehen konnte als zuvor — die geröteten Lippen, die offenen Augen, die Schatten um Nase und Kinn, sogar die weißen, über der Brust gefalteten Hände. Das Zimmer war nicht, wie schon einmal früher, von einem leichten Nebel erfüllt; jeder Zug war so deut-lich wie in dem Gesicht einer lebenden Person, sogar das Sichheben und Sen-ken der Brust unter den Händen, die zarten abfallenden Schultern, die lange, biegsame Linie von den Hüften bis zu den Knöcheln, alles war wirklich und sichtbar. Und abermals gewahrte die darauf starrende Zuschauerin den etwas maskenähnlichen Ausdruck in dem hübschen, rührenden Gesicht.

Abermals kam die Gestalt näher, gerade auf den Tisch zu, und dann trat die Katastrophe so rasch ein, daß kein Wort, kein Eingreifen ihr Einhalt tun konnte.

Eine heftige Bewegung entstand zur Linken Lady Lauras, ein Stuhl wurde zurückgestoßen und fiel um, und mit einem fürchterlichen, herzzerreißenden Schrei warf sich der junge Mann mit dem Gesicht über den Tisch, griff nach etwas Körperlichem, das dort drüben stand, und umfaßte es einen Augenblick; und als die beiden Frauen aufsprangen (dabei ließen sie die Gestalt, welche noch einen Moment zuvor dort gestanden, einen Augenblick aus dem Gesicht), sank der junge Mann stöhnend und schluchzend nach vorn, und aus dem Kabinett vernahm man ein Krachen wie von dem Fall eines schweren Körpers.

Während einer gewissen Zeit herrschte völlige Stille. Dann kam wieder ein Windstoß von Südwesten, der Regen schlug an die Fensterscheiben, und das Haus erzitterte unter dieser Gewalt.

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Vierzehntes Kapitel

I.

Als der bestimmte Tag herannahte, fühlte Maggie, daß ihre Unruhe sich legte wie ein Feuer, das aus einer flackernden Flamme zu einer gleichmäßi-gen wird. Am Sonntag war es ihr wirklich schwer geworden, ihre Besorgnis zu verbergen, und der am Abend über Hertfordshire hereinbrechende Sturm und Regen war nicht ermutigend. In einem Punkt aber blieb ihr Wille fest, daß nämlich Frau Baxter nicht zu Rate gezogen werden dürfe. Allem nach hätte nichts Gutes, und vielleicht sogar Schlimmes daraus entstehen können. Entweder würde die alte Dame zu sehr oder zu wenig davon berührt werden, sie konnte auf Lauries Rückkehr nach Stantons bestehen, oder ihm einen auf-heiternden Brief schreiben und ihn ermuntern, Unterhaltung zu suchen, wo und wie es ihm gefiele. So verbrachte denn Maggie den Abend bald schwei-gend, bald in nichtigem Gespräch, und sie hatte Erfolg, als sie Frau Baxter anempfahl, sich frühzeitig zurückzuziehen.

Der Montagmorgen brach an, der Himmel war wolkenlos, die Luft köst-lich, die Vögel zwitscherten, und als Maggie unmittelbar nach dem Frühstück fortging, um nach den Krokus zu sehen, hatte sie beinahe ihre Ruhe wieder-gewonnen. Ihre Besorgnis war indessen noch groß genug, daß sie in den Hof hinauseilte, als sie die Schritte des Briefträgers auf seinem Weg nach der hin-teren Türe vernahm.

Er hatte einen von Herrn Cathcart adressierten Brief für sie, und sie öff-nete ihn etwas hastig, während sie in den Garten zurückkehrte.

Er war beruhigend und enthielt die Erklärung, daß der Schreiber sich Herrn Baxter, wenn auch unglücklicherweise ohne Erfolg, genähert habe — (dies war das Wort, das er gebrauchte) — und daß er beabsichtige, sich am näch-sten Tag — (der Brief war vom Samstagabend datiert) — auch Lady Laura Bethel zu nähern. Er hege die Hoffnung, schrieb er, daß seine Bemühungen, Herrn Baxters Besuch bei Lady Laura hinauszuschieben, erfolgreich sein würden; und dann würde er schreiben, was nun weiter zu tun sei. Unterdes-

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sen sei für Fräulein Deronnais nicht die geringste Ursache vorhanden, sich zu ängstigen. Was auch geschehen würde, es sei doch höchst unwahrscheinlich, daß ein Besuch mehr oder weniger bei einer Séance großen Schaden anrich-ten könne, nur wenn diese Besuche zur Gewohnheit würden, wären sie dem Nervensystem meist nachteilig. Der Schreiber unterzeichnete sich als ihr ge-horsamer Diener.

Maggies Stimmung hob sich plötzlich. Wie außerordentlich töricht war sie mit ihren schlimmen Ahnungen am vergangenen Abend gewesen, sagte sie sich. Es war mehr als wahrscheinlich, daß die Séance ohne Laurie stattge-funden hatte. Im schlimmsten Fall war er, wie Herr Cathcart sagte, wahr-scheinlich diesen Morgen nur etwas mehr erregt als gewöhnlich.

So begann sie denn darüber nachzudenken, was später geschehen könne, und als Frau Baxter an dem Eingangstor im Stil der Königin Anna sich in ihrer wohlwollenden Weise nach ihr umschaute, um zu sagen, daß das Frühstück bereit sei, erwog sie die Möglichkeit, in acht oder vierzehn Tagen unter dem Vorwand, Einkäufe zu machen, nach London zu gehen. Sie wollte noch einen kühnen Versuch wagen, Laurie wieder auf den Weg der Vernunft zu bringen.

Während ihres Besuches im Geflügelhof nach dem Frühstück begann sie diese Pläne auszuspinnen. Es war ihr jetzt wieder klar, daß die ganze Sache eine phantastische Verblendung sei und nur nachteilig wegen des Aberglau-bens und der Schädlichkeit für die Nerven. (Sie streute mit nachdenklicher Miene eine Handvoll Mais umher.) Von diesem Standpunkt aus, und von die-sem allein, wollte sie sich Laurie nähern. Vielleicht würde sie besser daran tun, ihn nicht aufzusuchen, es konnte sonst so aussehen, als ob sie der Sache zu viel Wichtigkeit beilege, ein guter, verständiger Brief konnte ebensogut seine Wirkung tun. Sie wollte wenigstens warten, bis sie noch einmal etwas von Herrn Cathcart gehört hatte. Die zweite Post würde wahrscheinlich einen Brief von ihm bringen. (Sie leerte ihre Schale.)

Draußen im Frühlingssonnenschein ging sie um die Zeit, als die zweite Post kommen mußte, mit einem Buche vor dem Hause auf und ab. Aber dies-mal sah sie durch das eiserne Tor den Briefträger, ohne sich aufzuhalten, am Hause vorübergehen. Wieder hob sich ihre Stimmung, man konnte jetzt sa-gen, auf pari, und sie trat ins Haus. Von ihrem Fenster aus konnte man nach der Vorderseite des Hauses sehen; sie rückte ihren Schreibtisch weiter vor, um soviel wie möglich von der Luft und dem Licht des strahlenden Früh-lingstages zu genießen. Sie gedachte, der Hauptsache nach niederzuschrei-

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ben, was sie Laurie sagen wollte. Wenn er es wünsche, werde sie in acht oder vierzehn Tagen kommen und ihn besuchen. Und sie wollte sich wegen ihrer Übergeschäftigkeit entschuldigen und sagen, sie schreibe nur, weil sie ver-hüten möchte, daß seine Mutter beunruhigt werde.

„Mein lieber Laurie — — —“ Sie kaute bedächtig an ihrer Feder und blickte zum Fenster hinaus, um

sich Inspiration für die besondere Fassung der Anfangsworte zu holen. Und während sie hinausblickte, erschien plötzlich ein alter Herr vor dem eisernen Tor, rüttelte behutsam daran, suchte umsonst nach einem Namen auf dem steinernen Pfosten und blieb dann unentschlossen stehen. Das Tor hatte einen altertümlichen Verschluß, eine Glocke war nicht vorhanden, und die Besu-cher mußten direkt an die Vordertüre des Hauses gehen.

Nun kam plötzlich eine Angst über sie, die sie sich nicht zu erklären ver-mochte. Sie legte ihre Feder nieder und starrte hinaus. Wer war das?

Sie ging rasch an die Glocke und klingelte. Dann blieb sie stehen und wartete mit klopfendem Herzen und plötzlich erblaßtem Gesicht.

„Susan, dort am Tor steht ein alter Herr. Gehen Sie und sehen Sie, wer es ist… Warten Sie: Wenn es jemand ist, der mich sprechen will… Wenn —wenn er den Namen Cathcart angibt, so bitten Sie ihn höflichst, ins Dorf zu-rückzukehren und dort auf mich zu warten… Susan, sagen Sie Frau Baxter nichts davon, es können möglicherweise schlimme Nachrichten sein.“

Hinter dem Vorhang hervor sah sie, wie das Mädchen auf das Tor zu-schritt, wie sie ein paar Worte mit dem Fremden wechselte und dann zurück-kehrte. Sie wartete atemlos.

„Ja, Fräulein. Es ist ein Herr Cathcart. Er sagte, er wolle dort auf Sie warten.“

Maggie nickte. „Ich will gehen“, erklärte sie. „Bitte, vergessen Sie nicht, daß Sie nie-

mand ein Wort davon sagen sollen. Es können schlimme Nachrichten sein, wie ich sagte.“

Als sie drei Minuten später durch das Dörfchen ging, wurde ihr klar, daß

es in der Tat ernste Nachrichten sein mußten, und daß sie, trotz ihrer Heiter-keit, diese Möglichkeit vorausgesehen hatte. Und so groß war ihre Sorge —obwohl noch ganz unbestimmt —, daß alle anderen Gedanken davon absor-biert zu sein schienen. Sie konnte sich keine Vorstellung davon machen, was

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dies zu bedeuten habe, sie konnte keinen Plan entwerfen, weder einen be-stimmten noch einen unbestimmten, von dem, was geschehen mußte. Sie wußte nur, daß irgend etwas vorgefallen war, und daß sie die Tatsachen in wenigen Sekunden erfahren würde.

Ungefähr noch fünfzig Yards jenseits der Straßenbiegung sah sie den al-ten Herrn warten. Er trug seinen Londoner Anzug, Zylinder und Gamaschen, und seine Erscheinung paßte wenig zu dem tiefliegenden Heckenweg, der in das Dorf hinaufführte. Zu beiden Seiten ragten die noch unbelaubten, aber schon ausschlagenden Bäume empor, und die Vögel zwitscherten unter dem lieblichen, mittägigen Frühlingshimmel.

Herr Cathcart zog den Hut, als sie ihm entgegenkam, aber sie wechselten kein Wort der Begrüßung.

„Sagen Sie mir schnell alles“, bat sie. „Ich bin Maggie Deronnais.“ Er wandte sich um, um neben ihr herzugehen, und schwieg einen Au-

genblick. „Nur die Tatsachen, oder soll ich eine Erläuterung dazu geben?“ fragte er

dann in seiner lebhaften Weise. „Vor allem möchte ich Ihnen sagen, daß ich ihn heute morgen gesprochen habe.“

„O, nur die Tatsachen“, sagte sie. „Bitte, rasch!“ „Nun denn, heute nachmittag geht er in Herrn Mortons Bureau; er sagt...“ „Was?“ „Einen Augenblick, bitte… O, er ist nicht ernstlich krank. Was man so in

der Welt krank nennt. Heute morgen fühlte er sich nur sehr müde. Ich ging hin, um ihn zu besuchen. Als ich ihn um halb elf Uhr verließ, lag er noch zu Bett. Dann kam ich geradeswegs hierher.“

Einen Augenblick dachte sie, der alte Mann sei verrückt. Sie fühlte sich dadurch so erleichtert, daß sie dunkelrot wurde und mitten auf dem Weg ste-henblieb.

„Sie kamen geradeswegs hierher“, wiederholte sie. „Aber ich dachte —“ Er blickte sie ernst an, wobei er unaufhörlich mit den Augen blinzelte. Sie

sagte sich, daß die Augen dieses alten Mannes auch an einem Totenbett blin-zeln würden. Er strich über seinen grauen Bart.

„Ja, vielleicht glaubten Sie, er sei tot. O nein; aber bei alledem, Fräulein Deronnais, ist die Sache so ernst wie nur möglich.“

Sie wußte nicht, was sie denken sollte. War dieser Mann verrückt? „Bitte, hören Sie mich an. Ich will Ihnen einfach die Tatsachen mitteilen.

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Ich war ängstlich und ging heute morgen zuerst zu Lady Laura Bethel. Zu meiner Verwunderung empfing sie mich. Ich will Ihnen jetzt nicht alles mit-teilen, was sie sagte. Sie war in einem schrecklichen Zustand, obgleich sie nicht den zehnten Teil von dem Unheil wußte, das… Nun, nachdem sie mit mir gesprochen hatte, begab ich mich geradeswegs nach Mitre Court. Der Portier wollte mich zuerst nicht hineinlassen. Nun, ich ging doch hinein und geradeswegs in Herrn Baxters Schlafzimmer und fand dort —“

Er hielt inne. „Nun?“ „Genau das, was ich befürchtet und erwartet hatte.“ „O, sagen Sie mir es schnell!“ rief sie ihm in zorniger Erregung zu. Einen Augenblick blickte er sie beinahe prüfend an. Dann fuhr er plötz-

lich fort: „Ich traf Herrn Baxter im Bett. Ich entschuldigte mich gar nicht. Ich sagte

nur, ich sei gekommen, um zu hören, wie er sich nach der Séance befinde.“ „So hat sie also stattgefunden —“ „O ja… Ich vergaß zu erwähnen, daß Lady Laura mir gestern nicht die

nötige Aufmerksamkeit schenkte… Ja, die Séance hat stattgefunden… Nun, Herr Baxter schien nicht erstaunt über meinen Besuch zu sein. Er sagte mir, er fühle sich recht müde. Er sagte, die Séance sei vollständig gelungen. Und während er sprach, beobachtete ich ihn… Dann ging ich fort und erreichte noch den Zug um zehn Uhr fünfzig.“

„Ich verstehe Sie nicht im geringsten“, sagte Maggie. „Das glaube ich“, entgegnete der andere trocken. „Ich bilde mir ein, daß Sie gar nicht an Spiritismus glauben — ich meine,

Sie denken, das Ganze beruhe auf Betrug oder Hysterie?“ „Ja“, sagte Maggie entschieden. Er nickte einige Male. „So denken die meisten verständigen Leute… Nun, Fräulein Deronnais,

ich bin gekommen, um Sie zu warnen. Ich habe nicht geschrieben, weil ich Sie erst sprechen und die Antwort auf diese Frage hören wollte. Vorher konnte ich nicht wissen, was ich zu sagen hätte… Auch wollte ich keine Zeit verlieren. Jetzt kann sich jeden Augenblick etwas ereignen… Ich wollte Ih-nen .sagen, daß ich nun vollständig zu Ihren Diensten stehe. Falls —“ er hielt inne; dann begann er wieder: „Falls Sie keine weiteren Nachrichten erhalten, darf ich fragen, wann Sie Herrn Baxter wieder erwarten?“

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„In der Osterwoche.“ „Das ist in vierzehn Tagen… Glauben Sie, daß Sie ihn überreden könn-

ten, statt dessen nächste Woche hierherzukommen? Ich möchte, daß Sie ihn selbst sprechen, wenn möglich, noch früher.“

Sie war noch vollständig verwirrt über diese offenbare Veränderung der Sachlage. Sie fragte sich im stillen, ob Herr Cathcart so verrückt sei, wie es den Anschein hatte. Als das Dorf vor ihnen lag, gingen sie den Hügel hinauf.

„Nächste Woche? Ich könnte es versuchen“, sagte sie mechanisch. „Aber ich begreife nicht —“

Er hielt seine behandschuhte Hand empor. „Warten Sie, bis Sie ihn gesehen haben“, sagte er. „Was mich anbelangt,

so werde ich es mir zur Aufgabe machen, Herrn Morton jeden Tag aufzusu-chen, um Nachricht zu bekommen… Fräulein Deronnais, ich sage Ihnen of-fen, daß Sie allein die Last von alledem zu tragen haben werden, wenn nicht Frau Baxter —“

„O, erklären Sie mir das näher“, sagte sie beinahe gereizt. Er blickte sie mit den unaufhörlich blinzelnden Augen an, und sie be-

merkte, daß sich ein sehr fester Wille darin ausdrückte. „Nun, da ich Sie gesehen habe und gehört, wie Sie denken, werde ich gar

keine Erklärung geben, außer über einen einzigen Punkt. Worauf Sie sich vorbereiten müssen, das ist die Nachricht, daß Herr Baxter plötzlich den Ver-stand verloren hat.“

Dies sagte er genau im selben Tone wie alles Frühere, und im Augenblick faßte sie nicht den vollen Sinn seiner Worte. Sie blieb stehen und sah ihn an, wobei sie bleicher und bleicher wurde.

„Nun, Sie nehmen dies sehr gut auf“, sagte er, immer noch ihren Blick fest erwidernd. „Halt — suchen Sie Ihre Fassung zu bewahren. Sie haben jetzt das Schlimmste gehört. Nun sagen Sie mir, ob Sie glauben, daß Frau Baxter benachrichtigt werden soll oder nicht.“

Ihr Herz klopfte in ungestümen Schlägen bis an den Hals. Sie schluckte mit Schwierigkeit.

„Wieso wissen Sie —“ „Haben Sie die Güte, meine Frage zu beantworten. Glauben Sie, daß Frau

Baxter —“ „O Gott, o Gott!“ schluchzte Maggie.

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

6

„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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„Standhaft bleiben! Standhaft bleiben!“ sagte der alte Mann. „Nehmen

Sie meinen Arm, Fräulein Deronnais.“ Sie schüttelte den Kopf, indem sie den Blick fest auf ihn richtete. Er lächelte in seinen grauen Bart hinein. „Gut“, sagte er, „gut. Und glauben Sie —“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Nein, nicht ein einziges Wort. Sie ist seine Mutter. Zudem — ist sie

nicht die Natur — sie würde nicht von Nutzen sein.“ „Es ist also, wie ich dachte. Gut denn, Fräulein Deronnais, Sie überneh-

men also die volle Verantwortung in diesem Falle. Sie können jeden Augen-blick an mich telegraphieren. Meine Adresse haben Sie ja?“

Sie nickte. „Dann habe ich noch einzelnes hinzuzufügen. Was auch geschehen mag,

verlieren Sie den Mut keinen Augenblick. Ich habe diese Fälle wieder und wieder mit angesehen… Was auch geschehen mag, hören Sie nicht auf den Rat eines Arztes, ehe ich selbst Herrn Baxter gesehen habe. Es kann sich plötzlich oder allmählich zeigen. Und sobald Sie überzeugt sind, daß es eintritt, telegraphieren Sie mir. Zwei Stunden später werde ich hier sein… Verstehen Sie mich?“

Zwanzig Yards von der Biegung des Weges entfernt, welcher in das Dörfchen führte, blieben sie stehen. Er schaute sie wieder mit seinen freund-lichen humoristischen Augen an.

Sie nickte langsam und bedächtig, seine Anweisungen im Geiste wieder-holend. Und gleich einem Wasserstrudel regte sich in ihrem tiefsten Innern eine Flut von unbestimmten Gedanken, die Antwort heischten. Aber ihre Selbstbeherrschung kam mehr und mehr zurück.

„Sie verstehen mich, Fräulein Deronnais?“ fragte er wieder. „Ich verstehe Sie. Wollen Sie mir schreiben?“ „Ich werde Ihnen noch heute abend schreiben… Noch einmal also,

machen Sie, daß er nächste Woche hierherkommt. Beobachten Sie ihn genau, wenn er da ist. Beraten Sie keinen Arzt, ehe Sie mir telegraphiert haben und ich ihn gesehen habe.“

Sie holte tief Atem, beinahe mechanisch mit dem Kopfe nickend. „Leben Sie wohl, Fräulein Deronnais. Lassen Sie mich Ihnen sagen, daß

Sie es großartig aufnehmen. Fürchten Sie nichts, beten Sie häufig.“ Er nahm einen Augenblick ihre Hand. Dann zog er den Hut und verließ

sie, die immer noch an demselben Platze stand.

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II.

Frau Baxter war gerade eben vollständig von einem Erbauungsbuch in

Anspruch genommen, das ein Geistlicher geschrieben hatte. Ein hübsch ge-bundenes Exemplar, ausdrücklich von ihr bestellt, war an diesem Morgen mit der Paketpost angekommen, und seitdem saß sie im Empfangszimmer, blät-terte darin und machte mit einem kleinen silbernen Bleistift Anmerkungen.

Religion war für diese Frau das, was Gartenbau für Maggie war, nur mit dem Unterschied natürlich, daß Religion in der Tat etwas Wichtiges war, der Gartenbau aber nicht. Sie wunderte sich oft, daß Maggie dies nicht zu begrei-fen schien; selbstverständlich ging sie jeden Morgen zur Messe, das liebe Mädchen, aber Religion war doch gewiß noch viel mehr; man mußte imstan-de sein, drei oder vier Stunden lang am Kamin im Empfangszimmer mit ei-nem silbernen Bleistift über einem Buche zu sitzen.

So plapperte sie denn bis zu Ende des Frühstücks unaufhörlich von dem Buch und hielt dann Maggie noch für weniger empfänglich als sonst. Sie er-schien der alten Dame etwas müde und abgespannt, und sie sprach auch kaum ein Wort.

Die Fahrt am Nachmittag war ebenso unerquicklich. Frau Baxter nahm das Buch und den Bleistift mit, um da und dort einige Stellen vorzulesen, und sie fand abermals Maggie etwas gedankenlos und schweigsam.

„Liebes Kind, ich glaube, du bist nicht ganz wohl“, sagte sie endlich. Maggie raffte sich plötzlich auf. „Wie, Tante?“ „Ich glaube, du bist nicht ganz wohl. Hast du nicht gut geschlafen?“ „O, ich schlief ganz gut“, antwortete Maggie ausweichend. Aber nach dem Tee fühlte sich Frau Baxter selbst nicht ganz wohl. Sie

sagte, sie müsse sich ein wenig erkältet haben. Maggie sah sie mit Augen an, die nichts wahrnahmen.

„Das tut mir leid“, sagte sie mechanisch. „Meine Liebe, du scheinst nicht sehr bedrückt davon zu sein. Ich glaube,

ich werde im Bett speisen. Gib mir mein Buch, Kind… Ja, und dazu auch den Bleistift.“

Frau Baxters Zimmer war so behaglich und das geistliche Buch so faszi-nierend, daß sie beschloß, ihrem Vorsatz treu zu bleiben und zu Bett zu ge-

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hen. Sie fühlte etwas Fieber, war aber dabei nur sehr schläfrig und empfand ein gewisses Behagen. Sie zog die Glocke und erließ ihre Befehle.

„Ein Stückchen Volaille“, sagte sie, „und vorher einen Löffel voll Sup-pe… Nein, kein Fleisch, aber Eiercreme oder Ähnliches und ein wenig Obst. O ja, Charlotte, und sagen Sie Fräulein Maggie, sie möge nach dem Essen nicht zu mir hereinkommen.“

Es schien, daß diese Botschaft endlich auf das liebe Mädchen Eindruck gemacht hatte, denn Maggie erschien zehn Minuten später in ganz anderer Stimmung. Ihr Gesicht war wirklich jetzt erregt.

„Liebe Tante, es ist mir so leid um dich… Ja, geh zu Bett und frühstücke auch morgen im Bett. Beiläufig gesagt, ich bin gerade im Begriff, an Laurie zu schreiben.“

Frau Baxter in ihrem tiefen Stuhl nickte schläfrig. „Er kommt ja in der Osterwoche hierher, nicht wahr?“ „So sagte er, meine Liebe.“ „Könnte er statt dessen nicht schon nächste Woche kommen. Tantchen,

und Ostern mit uns verbringen? Dies wäre dir doch angenehm?“ „Es wäre in der Tat sehr nett, liebes Kind, aber quäle den Jungen nicht.“ „Und glaubst du nicht, daß es Influenza ist?“ warf Maggie rasch ein, ihre

kühle Hand auf die der alten Frau legend. Diese behauptete, das sei nicht der Fall. Es sei nur eine leichte Erkältung,

wie sie im vergangenen Jahr um dieselbe Zeit sie gehabt habe, und sie wolle sich ein wenig aufraffen, um die Symptome aufzuzählen. Nachdem sie dies getan, hielt Maggies Aufmerksamkeit wieder nicht stand. Noch niemals war sie der alten Dame so wenig teilnehmend erschienen, und diese sprach es mit sanftem Vorwurf aus.

Maggie küßte sie schnell. „Es tut mir leid. Tantchen“, sagte sie. „Ich habe gerade über etwas nach-

gedacht. Schlafe wohl und stehe morgen früh nicht auf.“ Dann überließ sie sie dem Löffel voll Suppe, dem Stückchen Volaille, der

Eiercreme, dem Obst, dem geistlichen Buch und ihrer Zufriedenheit. Sie speiste allein in dem grün tapezierten Eßzimmer, und sie erwog zum

zwanzigsten Mal alles, was sie seit dem Mittag unaufhörlich beschäftigt hatte, und es zog kaleidoskopisch immer wieder an ihr vorüber, beständig Gestalt, Beziehung und Bedeutung wechselnd. Schließlich kam sie zu zwei Hauptresultaten. Entweder war Herr Cathcart ein harmloser Fanatiker, oder

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er war ungewöhnlich scharfsinnig. Aber an diese Annahme knüpfte sich wie-der eine Reihe von weiteren Erörterungen, denn im Augenblick hatte sie kei-ne Idee davon, was ihm wirklich im Sinn lag und was seine Andeutungen heißen sollten. Entweder hatte dieser seltsame alte Mann mit den klugen, hu-moristischen Augen unrecht und Laurie litt nur an nervöser Überreizung, die kein ernstliches Hindernis für sein Studium in Herrn Mortons Büro war, und dann war dies der ganze Inhalt von Herrn Cathcarts Geheimnissen, oder Herr Cathcart hatte recht und Laurie war dem Wahnsinn nahe, einer Gefahr, wel-che Herr Cathcart in einer sonderbaren, ihr unerklärlichen Weise deutete.Und außerdem machten sich noch andere Fragen geltend. Was war der Spiri-tismus in Wirklichkeit? Was er zu sein behauptete, oder nur abergläubischer Unsinn oder etwas anderes?

Sie wunderte sich jetzt, daß sie an diesem Morgen nicht auf größere Deut-lichkeit gedrungen hatte, aber alles war so erschreckend gewesen, hatte sie zuerst so beeinflußt und dann doch nur so Unwesentliches gebracht, daß ihr gesunder Menschenverstand sie verlassen hatte. Der alte Herr war wie ein Phantom gekommen und gegangen, hatte ein paar nichts entscheidende Äu-ßerungen getan und versprochen, ihr zu schreiben, schien in einem Moment enttäuscht über sie zu sein, und im nächsten voll Enthusiasmus. Offenbar gingen ihre Pläne weder parallel noch in entgegengesetzter Richtung; an ver-schiedenen Punkten schnitten sich deren Linien unerwartet, und Maggie hatte keine Ahnung davon, was er mit seinen Plänen bezweckte. Nur das eine wuß-te sie, daß er von einem andern Gesichtspunkt ausging als sie.

So überlegte sie denn, prüfte die Sachlage, zog ihre Schlüsse und war von Zweifeln erfüllt. Eines nur war ihr klar — das Katarrhfieber der alten Dame bot ihr den erwünschten Anlaß, vollkommen wahrheitsgetreu an Laurie zu schreiben, daß seine Mutter das Bett hüte, und daß sie hoffe, er werde schon in der nächsten Woche statt in der darauffolgenden kommen.

Nach dem Essen setzte sie sich und schrieb, hielt aber dabei oft inne, um eine Redewendung zu überlegen.

Dann las sie ein wenig, und kurz nach zehn Uhr begab sie sich zur Ruhe.

III.

An demselben Tag, kurz vor Sonnenuntergang schlug Herr James Morton den Weg zum Themsekai ein, um von dort an die Westminster Untergrund-

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bahn zu gehen und nach Hause zu fahren. Er leistete Hervorragendes in Kör-perübungen, und er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, nicht in der Nähe seines Büros zu wohnen. Als er durch die kleine Passage kam, traf er seinen Freund, der auf ihn wartete, und zusammen wandten sie sich der Richtung zu, wo in der Ferne die Westminstertürme sich hoch und düster vom Abend-himmel abhoben.

„Nun?“ fragte der alte Mann. Herr Morton warf einen humoristischen Blick auf ihn. „Sie sind ein hoffnungsloser Fall“, sagte er. „Bitte, teilen Sie mir mit, was Sie bemerkt haben.“ „Mein Lieber“, antwortete Herr Morton, „es läßt sich gar nichts darüber

sagen. Ich tat genau, was Sie mir angaben. Ich sprach kaum etwas mit ihm und beobachtete ihn in der Tat sehr aufmerksam. Aber für mich kann das wirklichnicht immer so weitergehen. Ich habe meine Arbeit, die getan werden muß. Es ist ja das leerste Geschwätz, das ich je —“

„Sagen Sie mir, was Sie Sonderbares wahrnahmen.“ „Es war durchaus nichts Sonderbares, außer daß der junge Mann ermüdet

aussah, wie Sie heute morgen selbst bemerkten.“ „Benahm er sich genau wie sonst?“ „Genau so, nur war er schweigsamer. Aber seine Finger zuckten zuweilen

nervös.“ „Nun?“ „Dabei schien er fleißig bei der Arbeit zu sein. Ein- oder zweimal guckte

er mich an.“ „Wirklich? Wie schaute er Sie an?“ „Er guckte mich nur an — das war alles. Guter Gott, was wollen Sie denn

eigentlich —?“ „Und sonst war nichts — durchaus nichts zu bemerken?“ „Durchaus nichts.“ „Hatte er nicht… über irgend etwas zu klagen?“ „Guter Gott!… Ja, er sagte etwas von Kopfschmerzen.“ „Ah!“ Der alte Mann beugte sich vor. „Kopfschmerzen? Was für eine Art

von Kopfschmerzen?“ „Am Hinterkopfe.“ Der alte Mann lehnte sich zurück und warf die Lippen auf. „Sprach er gestern abend davon?“ fuhr er plötzlich wieder fort.

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„Kein Wort.“ „Ah!“ Herr Morton brach in ein unbändiges Gelächter aus. „Auf mein Wort!“ sagte er. „Ich glaube, Cathcart, Sie sind der wunder-

lichste —“ Der andere hielt seine behandschuhte Hand bittend empor, schien aber

durchaus nicht erregt zu sein. „Ja, ja, all das wollen wir als gesagt annehmen… Ich bin daran gewöhnt,

mein Lieber. Nun, ich sprach Fräulein Deronnais. Ich teilte Ihnen ja in mei-nem Billett meinen Vorsatz mit… Sie haben ganz recht in dem, was Sie von ihr sagten.“

„Freut mich zu hören“, sagte Herr Morton feierlich. „Sie ist eine unter Tausenden. Wissen Sie, ich sagte ihr offen heraus, daß

ich Wahnsinn befürchte.“ „O, das taten Sie? Wie taktvoll! Wie nahm sie es auf —?“ „Sie nahm es bewunderungswürdig auf.“ „Und teilten Sie ihr Ihre entzückenden Theorien mit?“ „Nein. Sie wird ja selbst ihre Erfahrungen machen, denke ich. Unterdes-

sen —“ „O, Sie erzählten mir nichts von Ihrer Unterredung mit Lady Laura.“ Das alte Gesicht wurde etwas grimmig. „Ach! Die ist noch nicht zu Ende“, sagte er. „Ich bin eben auf dem Weg

zu ihr. Ich glaube nicht, daß sie in der nächsten Zeit wieder mit solchen Din-gen spielen wird.“

„Und die andere — das Medium —?“ „Die sollen machen, was sie wollen. Es ist ganz nutzlos, zu ihnen zu gehen.“ „Die sind geradeso schlimm wie ich, vermute ich.“ Der alte Mann wandte ihm sein Gesicht zu. Es trug einen strengen Ausdruck. „O, Sie wissen ja überhaupt nichts davon“, sagte er. „Sie zählen nicht mit.

Aber jene andern wissen ganz genug.“ In der Untergrundbahn sprachen die beiden nicht mehr miteinander, aber

Herr Morton, welcher tat, als ob er seine Zeitung lese, blickte ein- oder zwei-mal empor und auf das kluge, alte Gesicht ihm gegenüber, das so unverwandt aus dem Fenster in die dröhnende Dunkelheit hinausschaute. Und wieder dachte er darüber nach, wie merkwürdig es sei, daß irgend jemand in der jet-zigen Zeit — irgend jemand wenigstens mit gesundem Menschenverstand —

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und gesunder Menschenverstand war auf diesem bärtigen alten Gesicht deut-lich geschrieben — den phantastischen Unsinn glauben konnte, von dem so-eben die Rede war: nicht nur die besondern Umstände, die Laurie Baxter an-gingen und all diese absurden, aber doch beunruhigenden Anspielungen auf Wahnsinn und Selbstmord und dergleichen veranlaßt hatten, sondern auch das, was nach des alten Cathcart Ansicht zugrunde lag, und worüber er offen-bar Fräulein Deronnais nichts gesagt hatte. Man lebte im zwanzigsten Jahr-hundert, befand sich in einer elektrischen Bahn mit gepolsterten Sitzen und las die Pall Mall… Bedurfte es noch eines weiteren Kommentares?

Bei Gloucester Road fuhr der Zug langsamer, und der alte Cathcart suchte seinen Regenschirm und seine Handschuhe zusammen.

„Also morgen“, sagte er, „um dieselbe Zeit?“ Herr Morton machte eine resignierte Gebärde. „Aber weshalb gehen Sie nicht selbst hin und sprechen sich gründlich mit

ihm aus?“ fragte er. „Er würde mich nicht anhören — jetzt noch weniger als früher. Gute Nacht.“ Der Zug glitt weiter in die Dunkelheit hinein, und der Sachwalter saß ei-

nen Augenblick mit aufgeworfenen Lippen da. Ja, der junge Mann war natür-lich überreizt. Jedermann hätte dies bemerken können. Er stotterte ein wenig — das war immer ein sicheres Zeichen. Aber weshalb so viel Wesens davon machen? Acht Tage auf dem Lande würden ihn in Ordnung bringen.

Entschlossen nahm Herr Morton wieder die Pall Mall zur Hand.

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Fünfzehntes Kapitel

I.

Herr und Frau Nugent genossen ihre Feiertage in vollen Zügen. Am Kar-freitag waren sie mit einiger Beschwerlichkeit in einem Gesellschaftswagen nach Royston gefahren, wo sie gemeinsam mit andern Granden ihres Dorfes die Höhle des Eremiten besucht und ein herrliches Picknick auf den Dünen ab-gehalten hatten. Etwas erhitzt vom Grogtrinken in den verschiedenen Wirts-häusern auf ihrem Heimweg, waren die Herren zurückgekehrt, die Damen mit ernsten Gesichtern und mit Brunnenkresse auf dem Schoße. Frau Nugent hatte es am Samstag vorgezogen, zu Hause zu bleiben und ihren Mann zu der ersten Kricketpartie der Saison an den einige Meilen entfernten Platz zu schicken.

Um fünf Uhr machte sie sich eine Tasse Tee, schlief ein und erwachte erst, als der Abend anbrach. Plötzlich fuhr sie auf; denn es fiel ihr ein, daß sie sich das Fremdenzimmer, wo ihre Tochter gewohnt, hatte ansehen wollen, um viel-leicht mit den Möbeln eine Änderung vorzunehmen. Ein Kleiderschrank aus Mahagoni und ähnliches stand darin.

Sie hatte dies Zimmer seit dem Tod ihrer Tochter nur selten betreten. Es war für sie allmählich eine Art von melancholischem Heiligtum geworden, die Erinnerung an eine Glanzzeit, die hätte kommen können; denn sie und ihr Mann waren erfüllt gewesen von dem Anbruch einer herrlichen Zeit, als Lau-rie etwas zurückhaltend, aber dennoch voll Feuer in vollem Staat bei ihnen vorgesprochen hatte, um seine Absichten zu enthüllen. Nun, es war nur eine trügerische Morgendämmerung gewesen, aber wenigstens hätte jene Zeit an-brechen können, und sie wurde immer noch in traurigem und bedeutungs-vollem Flüsterton besprochen.

Das Zimmer schien von einem geheimnisvollen Glanz erfüllt zu sein, als sie an diesem Abend mit dem Licht in der Hand an die Schwelle trat und hin-einsah. Für das äußere Auge hatte es nichts Überraschendes. Ein bedecktes Bett stand mit der Schmalseite an der Wand gegenüber, mit dem von des jun-gen Mädchens eigener Hand in Rosa und Gold kolorierten Spruch darüber:

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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„Der Herr behüte dich vor allem Übel.“ Ein Ölfarbendruck der Königin Vik-toria im Krönungsstaat hing auf der einen Seite, und die übermalte Photogra-phie eines nonkonformistischen Geistlichen mit Backenbart und Halsbinde, eine Bibel in der Hand, auf der andern. Am Fußende des Bettes stand ein kleiner, mit Tuch überzogener Tisch, rings um den Rand wie mit einer Per-lenschnur mit einer fast ununterbrochenen Reihe von Messingnägeln geziert, darauf eine Gipsfigur, eine junge weibliche Gestalt, die ein Kreuz umfaßt hielt. Ein Gesangbuch und eine Bibel lagen daneben, und eine kleine Vase mit verwelkten Blumen stand davor. An der Wand gegenüber, zwischen einer betrübt aussehenden Hochzeitsgesellschaft auf der einen, und einer Bibelstel-le auf der andern Seite, stand der große Mahagonikleiderschrank, an dessen Wegräumung man dachte.

Frau Nugent betrachtete all dies mit einer Art von ernster Zärtlichkeit, den Kopf langsam bald nach der einen, bald nach der andern Seite wendend, wobei sie den zinnernen Leuchter etwas schief hielt. (Sie war eine wohlbeleibte Frau, trug etwas zu enge Kleider und keuchte ein wenig nach dem Treppensteigen.) Wieder erschien es ihr als ein seltsames und unbegreiflich verkehrtes Walten der Vorsehung, der sie immer ihre Ehrfurcht bezeugt hatte, daß eine so kaum auszurechnende Erhebung auf der sozialen Stufenleiter ihr versagt worden war.

Dann trat sie einen Schritt vor, indem ihre Augen von dem bedeckten Bett zu dem Kleiderschrank und wieder zurückschweiften. Dann stellte sie den Leuchter auf den Tisch und wandte sich um.

Es muß hier vorausgeschickt werden, daß Frau Nugent auch nicht im ge-ringsten abergläubisch war, denn die Bedeutung dessen, was nun folgt, hängt von dieser Tatsache ab. Sie hätte nicht gern in einem Zimmer geschlafen, worin kurz vorher jemand gestorben war, aber auf Grund gewisser unklarer physischer Theorien, die sie in die Worte zusammengefaßt haben würde, es sei in der Ordnung, gute Luft hereinzulassen. Ihre Ansichten über die mensch-liche Natur und deren Haupteigenschaften waren praktischer Art und zeugten von gesundem Menschenverstand. Kurz und derb ausgedrückt: Amys Körper lag ihrer Vorstellung nach auf dem Kirchhof, und Amys Seele, bekränzt und im Lichtgewand, war im Himmel. Weiter gab sie sich keine Rechenschaft. Sie wußte nichts von modernen Theorien, nichts von der Wiedererweckung alter Glaubenslehren; sie würde mit gütigem Mitleid das Zurückschaudern gewisser Menschen vor Sterbeszenen bemerkt und praktische Anmerkungen dazu gemacht haben.

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Sie drehte sich um und betrachtete den Kleiderschrank, der immer noch

mit Amys Sachen angefüllt war, wobei sie dem Bett, worin Amy gestorben war, den Rücken zukehrte, ohne die geringste Vorempfindung von dem un-vernünftigen Schrecken, der sie jetzt ergreifen sollte. Das trug sich ungefähr folgendermaßen zu.

Sie kniete nieder, und nach einem prüfenden Blick auf die polierte Fläche des Mahagoniholzes zog sie eine bis an den Rand mit verschiedenartiger Wä-sche angefüllte Schublade heraus und griff mit sorgsamen, hausmütterlichen Händen hinein, um deren Zahl festzustellen. Wie sie sich später erinnerte, er-tönte gleichzeitig von der Richtung der Station her, den Hügel herab, der Aufschlag eines Pferdes im Trab.

Sie hielt inne, um zu lauschen, ganz erfüllt von Mutmaßungen, wie sie so rasch in schwatzlustigen Dorfbewohnern erwachen, während ihre Hände ei-nen Moment regungslos zwischen dem Weißzeug liegenblieben. Es konnte der Doktor oder Herr Paton oder Herr Grove sein. Diese Namen fielen ihr plötzlich ein, traten aber einen Augenblick später wieder in den Hintergrund unter dem Eindruck einer Furcht, von der sie sich später keine Rechenschaft geben konnte.

Es war ihr zumute, wie sie später sagte, als ob irgend etwas auf sie zu-komme, was sie erbeben machte, und als einen Augenblick darauf der schar-fe Trab des Hufschlags näher kam, sank sie, hilflos und gelähmt durch einen furchtbaren Schrecken, in sitzender Stellung zu Boden. Es schien ihr, soweit sie es sich später erklären konnte, als ob ein doppelter Vorgang stattfinde. Es war nicht nur die furchtbare Angst, die zugleich mit den sich harmlos drau-ßen nähernden Rädern auf sie einstürmte, sondern auch der Umstand, daß das Zimmer, worin sie zusammengekauert saß, sich so rasch, wie eine geöffnete Schleuse mit Wasser, mit einer Atmosphäre anfüllte, die sie regungslos, blind und sprachlos vor Entsetzen machte, unfähig, sich zu bewegen, unfähig so-gar, die Hand zu erheben oder den Kopf zu drehen. Und diese Atmosphäre nahm im gleichen Maße zu, wie das Geräusch sich näherte.

Wieder ließen sich die Hufschläge und das Rollen von Rädern verneh-men, näher jetzt und drohend. Wieder wurde es stille, als das Gefährt um die Straßenecke bog. Dann, als das Geräusch abermals klar und deutlich, keine zwanzig Yards entfernt von dem ins Dorf führenden Weg, laut wurde, sank Frau Nugent, unfähig, sich noch länger in dieser schwierigen, angstvollen Lage aufrecht zu halten, langsam zurück und zu Boden.

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II. Herr Nugent war erstaunt und sogar ein wenig verdrießlich, als er bei sei-

nem Heimkommen nach Anbruch der Dunkelheit die Lampe im Wohnzim-mer qualmend und seine Frau abwesend fand.

Er fragte nach ihr; sie sei vor kaum zehn Minuten in den oberen Stock ge-gangen, hieß es. Er rief vom Fuß der Treppe aus nach ihr, erhielt aber keine Antwort. Nachdem er seine Stiefel ausgezogen hatte und sein Verlangen nach einem Abendessen immer stärker geworden war, begab er sich selbst hinauf, um zu sehen, was vorging…

Nachdem die ohnmächtige Frau in den unteren Stock getragen worden war, vergingen mehrere Minuten, ehe sie irgendein Lebenszeichen von sich gab, und sogar diese Lebenszeichen waren nur seltsame Ausbrüche von Angst —rollende Augen und hervorgestoßene Worte. Es verging noch eine Viertelstun-de, ehe irgend etwas Zusammenhängendes aus ihr herausgebracht werden konn-te. Nur das eine war klar, daß Frau Nugent nicht selbst vorschlug, die verges-sene, noch brennende Kerze von dem mit Tuch überzogenen Tisch zu holen, daß diese aber unverzüglich geholt, die Türe von außen verschlossen und der Schlüssel vor Frau Nugent auf das Tischtuch gelegt werden mußte. Dies hatte zunächst zu geschehen, bevor man auf die näheren Umstände eingehen konnte.

Nur eine einzige Person war dazu imstande, denn das kleine Dienstmäd-chen riß Mund und Augen auf bei den schwerwiegenden Reden, die von ihrer Herrin Lippen gefallen waren, und so ging denn Herr Nugent, noch in der Kleidung, wie er von seinem Ausflug gekommen war, hinauf.

An der Türe blieb er stehen und sah hinein. Alles war ganz wie sonst. Trotz der wider seinen Willen und ungeachtet

seiner Frömmigkeit in ihm durch die Worte seiner Frau und ihr schreckliches Kopfnicken erweckten unangenehmen Erwartung, rief das Zimmer keinen Widerhall oder irgendwelche nachwirkende Spur von Entsetzen in ihm wach. Hier stand das kleine, weiße und unschuldige Bett im Licht der Kerze; die Schublade war noch geöffnet und ließ den rührenden Inhalt sehen, die Mö-bel, Bilder, Bibeltexte und alles übrige war an seinem Platze und machte den-selben harmlosen und makellosen Eindruck wie zur Zeit, da Amy alles ge-ordnet hatte.

Er blickte vorsichtig umher, ehe er eintrat, dann machte er einige Schritte vorwärts, nahm das Licht, schob die Schublade, nicht ohne Schwierigkeit, zu,

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schaute nochmals umher und verließ das Zimmer, die Türe hinter sich ab-schließend.

„Welch ein Unsinn!“ sagte er, als er den Schlüssel vor seine Frau auf den Tisch hinwarf.

Die theologische Diskussion zwischen den beiden dauerte lange an die-sem Abend, und um zehn Uhr verurteilte Frau Nugent, unter dem Einfluß ei-nes ausgezeichneten Nachtessens und eines anregenden Getränks, selbst ihre Angstgefühle, oder vielmehr sie protestierte nicht mehr, wenn ihr Gatte an ihrer Stelle ein Urteil darüber fällte. Eine Menge Erklärungen für den beunru-higenden Vorfall wurden ins Feld geführt, und sie verneinte keine derselben unbedingt. Es war ihre gebückte Haltung, welche Veranlassung dazu gege-ben; alles Blut war ihr aus dem Herzen gewichen und in den Kopf gestiegen und hatte das Gefühl einer nahenden Ohnmacht in ihr hervorgerufen. Es war die am vorhergehenden Nachmittag im Übermaß genossene Brunnenkresse. Es war der Umstand, daß sie einen müßigen Vormittag verbracht hatte, weil der Laden geschlossen blieb. Es war eine von diesen Ursachen oder es waren alle zusammen oder irgend etwas anderes Ähnliches. Sogar das kleine Dienstmädchen wurde, als sie kam, um den Tisch nach dem Abendessen ab-zuräumen, durch die heitere Unterhaltung des Ehepaares wieder beruhigt, ob-wohl sie insgeheim sich verschwor, um nichts in der Welt das Schlafzimmer rechts oben an der Treppe zu betreten.

Um halb zehn Uhr sagte Frau Nugent, sie wolle hinauf und zu Bett gehen, und machte sich, begleitet von ihrem Gatten, auf den Weg. Er hatte die Ab-sicht, später auf eine Stunde zu dem Wirt in das Gasthaus zur Weizengarbe zu gehen, nachdem die Schenke geschlossen war.

Oben an der Türe zur Rechten zauderte er einen Augenblick, aber seine Frau ging mit ernster Miene weiter, und als sie ihr Schlafzimmer betraten, fiel ihm eine Neuigkeit ein.

„Das war Herr Laurie, den du gehört hast, Mary“, sagte er. „Jim erzählte mir, er habe ihn gerade nach Anbruch der Dunkelheit vorüberkommen se-hen… gut, ich werde den Hausschlüssel mitnehmen.“

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Sechzehntes Kapitel

I.

„Wann kommt er an?“ fragte Frau Baxter etwas verdrießlich, während sie aufrecht in ihrem Stuhl vor dem Kaminfeuer in ihrem Schlafzimmer saß.

„Er wird gegen sechs Uhr hier sein. Bist du gewiß, daß du bis dahin fer-tig bist?“

Die alte Dame wandte sich mit einer abweisenden Kopfbewegung von dem Reispudding ab. Sie war in der zänkischen Periode ihrer Influenza, und Maggie hatte eine schwere Zeit mit ihr durchlebt.

Während der letzten zehn Tage hatte sich nichts Besonderes zugetragen. Frau Baxters Erkältungsfieber hatte zugenommen, und sie ging gerade jetzt aus dem Stadium des Nachtkleides und der Flanelljacke zu dem des Unter-rockes und Morgenkleides über. Das war alles sehr gewöhnlich und wenig tragisch, und Maggie hatte kaum Zeit gehabt, über die Ereignisse nachzuden-ken, bei denen ihr Unterbewußtsein noch immer verweilte. Herr Cathcart hat-te ihr keine eingehenderen Nachrichten geben können. Wie es schien, arbei-tete Laurie ruhig mit seinem Repetenten und verhielt sich dabei sehr schweig-sam. Dennoch nahm der alte Herr nicht ein Wort von dem zurück, was er ge-sagt hatte. Vor zwei Tagen hatte er als Antwort auf eine Reihe von bestimm-ten Fragen des jungen Mädchens erwidert, sie möge zuwarten und selbst mit Laurie sprechen, indem er sie zu gleicher Zeit warnte, dem jungen Mann ge-genüber irgendwelche Beunruhigung an den Tag zu legen.

Und nun war die Zeit gekommen — es war der Vorabend von Ostern —und sie würde ihn wiedersehen, ehe die Nacht anbrach. Auf ihren ersten Brief hatte sie keine Antwort von ihm erhalten. An diesem Morgen aber war ein Telegramm gekommen, worin er ankündigte, mit welchem Zug er eintref-fen werde.

Es war Nachmittag, und sie war sehr gespannt auf das, was nun kommen würde. Bald fühlte sie Schrecken, bald Verachtung. Was man ihr mitgeteilt hatte, war so wenig klar. Wenn Laurie Gefahr lief, wahnsinnig zu werden,

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wieso kam es dann, daß Herr Cathcart ihr riet, ihn in ein Haus zu bringen, worin sich nur zwei Frauen und einige Dienstmädchen befanden? Außer dem alten Herrn träumte es keinem Menschen von einer solchen Gefahr.Und wenn diese Gefahr so außer Zweifel schien, daß sie selbst die Verän-derung wahrnehmen mußte, woher kam es dann, daß nicht auch andere —Herr Morton zum Beispiel — sie wahrgenommen hatten? Mehr als je ge-wann die Ansicht die Oberhand in ihr, daß der alte Herr die Sache stark übertrieben habe, und daß Laurie nur an einer gewissen nervösen Abspan-nung leide.

Dennoch fühlte sie am späten Nachmittag, daß ihre Nervosität zunahm. Sie ging ein wenig im Garten spazieren, während die alte Dame ihr Schläf-chen machte, und kam dann herein, um ihr wieder aus dem kleinen Buch im Pergamentband vorzulesen, als das Tageslicht allmählich zu schwinden be-gann. Nach dem Tee ging sie, wie man ihr anempfohlen, in Lauries Zimmer, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei.

Als sie eintrat, überkam sie eine eigentümliche Empfindung von Fremd-heit, sie wußte kaum, warum, und sie suchte den Grund in dem, was sie kürz-lich über ihn gehört hatte.

Alles im Zimmer war in Ordnung. Auf dem Tisch und dem Kaminsims standen Frühlingsblumen, und ein behagliches Feuer brannte im Kamin. Nachdem sie einige Minuten hier verweilt hatte, fühlte sie eine gewisse Be-ruhigung.

Dann ging sie, um einen Blick in das Rauchzimmer zu werfen, wo sie sich mit ihm aufgehalten und an jenem Abend, als Tauwetter eingetreten war, das merkwürdige Krachen im Holz gehört hatte, wobei sich der junge Mann so töricht benommen.

Auch hier hatte man ein Feuer angezündet, ein Lehnstuhl stand, mit der Rücklehne der Türe zugewendet, auf der einen Seite des Kamines, ein breites mit Leder überzogenes Ruhebett auf der andern.

Eine Schachtel mit Lauries Zigaretten stand auf dem Tische — Kerzen, Zündhölzer, Blumen, illustrierte Zeitungen — ja, alles war bereit. Sie blieb stehen und betrachtete alles einen Augenblick mit einer eigentümlichen Ge-mütsbewegung. Es war so vertraut, so anheimelnd — und dennoch so selt-sam. Etwas Erwartungsvolles sprach sich in allem aus… Dann plötzlich ver-wandelte sich ihre Erregung in Zärtlichkeit…

Ach! armer Laurie!

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„Es ist alles in Ordnung“, sagte sie zu der alten Dame. „Sind Zigaretten bereit?“ „Ja, sie fielen mir sofort in die Augen.“ „Und Blumen?“ „Ja, auch Blumen.“ „Wieviel Uhr ist es, meine Liebe? Ich kann es nicht sehen.“ Maggie sah nach der Uhr. „Sechs Uhr ist gerade vorüber, Tantchen. Soll man die Kerzen anzünden?“ Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Nein, meine Liebe, meine Augen können das Licht nicht ertragen. War-

um ist der Junge noch nicht gekommen?“ „Ei, es ist kaum noch an der Zeit. Soll ich ihn sofort heraufbringen?“ „Nur für zwei Minuten“, seufzte die alte Dame. „Ich habe wieder Kopf-

schmerzen.“ „Du armes liebes Tantchen!“ sagte Maggie. „Setze dich noch einige Minuten zu mir, meine Liebe. Du kannst das

Rollen der Räder auch von hier aus hören… Nein, sprich nicht und lies nicht.“ So saßen denn die beiden Damen wartend da. Draußen senkte sich die Dämmerung tiefer und tiefer über den Frühlings-

garten in großer Stille herab. Der kalte Wind vom Nachmittag hatte nachge-lassen, und von dem sich wieder erneuernden Leben rings um das Haus ver-nahm man kaum einen Laut. Doch lag über allem, für das Gemüt eines Ka-tholiken wenigstens, ein Schatten des Todes, im Zusammenhang mit dem ei-gentümlichen Jahresfest, das eben Stunde um Stunde verrann.

Von dem, was Maggie während dieser kurzen Wartezeit dachte, hätte sie später keine zusammenhängende Schilderung geben können. Alles war zu kompliziert, um völlige Klarheit darüber zu gewinnen; sie war so wenig dar-über im reinen, und es gab so viele Hypothesen. Dennoch war ein Gefühl vorallen andern in ihr vorherrschend — eine mit Furcht vermischte Erwartung. Hier saß sie in diesem friedlichen Zimmer, das überall die Zeichen wieder-kehrender Genesung trug — das einladend aufgedeckte Bett und ein paar Bü-cher daneben, eine Lampe auf dem kleinen Tisch an der Seite, ein schwacher Geruch von Sandelholz. Und dort am Feuer träumte die alte Dame ruhig vor sich hin, erfüllt von der frohen Erwartung, ihren Sohn zu sehen, ohne Ah-nung von den unbestimmten Gefahren, die ihn bedrohten, ja die, welcher Art

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sie auch sein mochten, schon über ihn hereingebrochen waren… Und dieser Sohn kam ihnen von der Landstraße aus jeden Augenblick näher…

Maggie erhob sich und ging auf den Fußspitzen ans Fenster. Die Vorhän-ge waren noch nicht zugezogen, und sie konnte in dem schwindenden Licht das kunstvolle Eisengitter des hohen Tores sehen und die Landstraße draußen mit ihren schimmernden Wassertümpeln, worin sich die mattgrüne Farbe des verblassenden westlichen Abendhimmels spiegelte. Vor dem Hause, auf dem Rasenplatz leuchteten kleine weiße Flecken, wo der Krokus wuchs.

Während sie hier am Fenster stand, vernahm man das Rollen von Rädern, und ein Wagen kam in Sicht. Er hielt am Tor, dessen Flügel geöffnet wurden.

II. „Er ist da“, sagte Maggie leise, als sie die hohe, in einen Mantel gehüllte

Gestalt aussteigen sah. Sie erhielt keine Antwort, und als sie sich auf den Fußspitzen dem Kaminfeuer näherte, sah sie, daß die alte Dame eingeschla-fen war. Sie verließ geräuschlos das Zimmer und blieb einen Augenblick ste-hen. All ihre Pulse flogen vor schrecklicher Erregung, während sie auf die Schritte und Stimmen in der Halle lauschte. Dann holte sie zitternd tief Atem, stählte sich durch eine gewaltsame Willensanstrengung und ging hinunter.

„Herr Laurie ist in das Rauchzimmer gegangen, Fräulein“, sagte der Die-ner, sie seltsam anblickend.

Laurie stand am Tisch, als sie eintrat, so viel konnte sie sehen, aber die Kerzen waren noch nicht angezündet, und nur die Umrisse seiner Gestalt wa-ren an dem immer dunkler werdenden Fenster sichtbar.

„Nun, Laurie?“ sagte sie. „Nun, Maggie“, antwortete seine Stimme. Und ihre Hände fanden sich. Dann, im nächsten Augenblick wußte sie, daß irgend etwas nicht so war,

wie es sein sollte. Doch war ihr im Moment nicht klar, wieso sie das erkann-te. Es war ja doch Lauries Stimme.

„Du bist ganz im Dunkeln“, sagte sie. Keine Bewegung, keine Antwort folgte. Sie streckte ihre Hand nach den Zündhölzern aus, die sie kurz zuvor auf

dem Kaminsims gesehen hatte, aber diese Hand zitterte so sehr, daß ein klei-nes Schmuckstück aus Metall klirrend zu Boden fiel, als sie dort umhertaste-

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te, und sie tat einen langen, beinahe hörbaren Atemzug, von einer plötzlichen nervösen Angst ergriffen. Und noch immer keine Bewegung, keine Antwort. Die hohe Gestalt stand da und schien sie zu beobachten — sein Gesicht sah aus wie ein blasser heller Fleck.

Dann fand sie die Streichhölzer, nahm eines, und ihren Kopf herabbeu-gend, zündete sie mit heftig zitternden Händen die beiden Kerzen auf dem kleinen Tisch neben dem Kamin an.

Sie mußte so natürlich wie gewöhnlich sein, sagte sie sich unaufhörlich. Dann nach einer zweiten gewaltigen Willensanstrengung begann sie zu

sprechen, ihre Augen dabei zu seinem Gesicht erhebend. „Tantchen ist gerade…“ (die Stimme versagte ihr plötzlich, als sie sah, daß

er sie anschaute) — dann fügte sie hinzu — „gerade eingeschlafen. Willst du… sogleich hinaufgehen… Laurie?“

Jedes Wort kostete sie eine Anstrengung, während sie unverwandt in die Augen blickte, die so unverwandt in die ihren blickten.

(Es war Laurie — ja — aber, guter Gott!…) „Du solltest ihr nur einen Kuß geben und dann wieder gehen“, sagte sie,

die Worte immer mühsamer herausstoßend. „Sie hat heute abend heftige Kopfschmerzen… Laurie — heftige Kopf-

schmerzen.“ Mit einem plötzlichen Ruck wandte sie sich von diesen Augen ab. „Komm, Laurie“, sagte sie. Und seine Schritte folgten ihr. So gingen sie durch die innere Halle und die Treppe hinauf. Sie wandte

sich nicht um, hielt sich nur durch das Bewußtsein aufrecht, daß eine entsetz-liche Katastrophe drohe, wenn sie dies nicht über sich vermöge, und öffnete nun die in das Zimmer der alten Dame führende Türe.

„Hier ist er“, sagte sie. „Nun, Laurie, gib ihr nur einen Kuß und geh wieder.“ „Mein Lieber!“ ließ sich nun die Stimme der alten Dame aus dem Dunkel

vernehmen, und zwei Arme breiteten sich aus. Als die hohe Gestalt gehorsam vortrat, beobachtete Maggie sie mit unbe-

schreiblichem Entsetzen. Es war, wie wenn man einen Menschen in einer Ti-gerhöhle beobachtet… Aber die Gestalt beugte sich gehorsam herab und küß-te die alte Dame.

Maggie trat rasch vor. „Kein Wort“, sagte sie. „Tantchen hat Kopfschmerzen. Ja, Tantchen, er

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ist ganz wohl. Du kannst ihn morgen vormittag sprechen. Bitte, geh sogleich, Laurie.“

Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Zimmer, und als sie die Türe hinter ihm schloß, bemerkte sie, daß er unschlüssig am Treppenabsatz stehenblieb.

„Mein liebes Kind“, ließ sich die verdrießliche Stimme der alten Dame vernehmen, „du hättest wohl gestatten können, daß mein eigener Sohn —“

„Nein, nein, Tantchen, es geht wirklich nicht. Ich weiß ja, wie heftig die-ne Kopfschmerzen sind… Ja, ja, er ist sehr wohl. Du kannst ihn morgen vor-mittag sprechen.“

Und während dieser ganzen Zeit war sie sich der Gegenwart der am Trep-penabsatz wartenden Gestalt bewußt, der sie jetzt wieder gegenübertreten mußte.

„Soll ich nachsehen, ob in seinem Zimmer alles in Ordnung ist?“ fragte sie. „Vielleicht hat man vergessen —“

„Ja, mein liebes Kind, sieh nach. Und schicke Charlotte zu mir.“ Die Stimme der alten Dame klang wieder schlaftrunken. Das junge Mädchen verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu äußern. Dort

stand er und wartete. Man hatte vergessen, die Treppenlampe anzuzünden. Maggie schlug den Weg in sein Zimmer ein.

„Komm, Laurie“, sagte sie. „Ich will nur sehen, ob alles in Ordnung ist.“ Sie fand die Streichhölzer, zündete die Kerzen an und stellte sie auf sei-

nen Tisch, ohne einen Blick auf das Gesicht zu werfen, das sich immer ab-wandte, wenn sie in seine Nähe kam.

„Wir müssen allein speisen“, sagte sie, indem sie sich bemühte, natürlich zu sprechen, als sie an der Türe angelangt war.

Dann erhob sie die Augen wieder zu den seinigen und blickte ihm, der am Kamin stand, mutig ins Gesicht.

„Halte es mit dem Ankleiden, wie es dir bequem ist“, sagte sie. „Du wirst müde sein.“

Sie konnte dies nicht länger ertragen. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Zimmer, ging mit festen Schritten über den Gang in ihr eigenes Zimmer, verschloß die Türe und sank auf die Knie nieder.

III.

Durch ein Klopfen an der Türe wurde sie aufgeschreckt — wieviel Zeit verstrichen war, wußte sie nicht. Aber ihre furchtbare Erregung — der Wi-

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regalemit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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derwillen und das Grausen vor dem, was sie gesehen hatte — war für den Moment vorüber. Vielleicht darum, weil sie noch nicht die volle Wahrheit be-griffen hatte. Wenigstens behielt ihr Wille die Oberhand; sie glich einem Men-schen, der innerlich gegen seine Furcht angekämpft hat und nun bleich und zitternd, aber vollkommen Herr seiner selbst, an den Operationstisch geht.

Sie öffnete die Türe; Susan stand dort mit einer brennenden Kerze in der einen Hand und einem Blatt Papier in der andern.

„Für Sie, Fräulein“, sagte das Mädchen. Maggie nahm das Blatt, ohne ein Wort zu sagen, und las die Unterschrift

und die mit Bleistift geschriebene Botschaft zweimal. „Zünden Sie die Lampe hieraußen an“, sagte sie. „Oh… und damit ich̓s

nicht vergesse, schicken Sie Charlotte sofort zu Frau Baxter.“ „Ja, Fräulein…“ Das Mädchen blieb noch stehen und schaute Maggie in einer Weise an, als

ob sie etwas sagen wolle. Auch in ihren Augen drückte sich Schrecken aus. „Herr Laurie fühlt sich nicht ganz wohl“, bemerkte Maggie. „Bitte, ach-

ten Sie nicht darauf. Und… und, Susan, ich glaube, ich werde heute abend al-lein speisen. Es genügt, wenn Sie mir etwas heraufbringen. Wenn Herr Lau-rie eine Bemerkung macht, so sagen Sie ihm, daß ich mich nach Frau Baxter umsehe. Und… Susan —“

„Ja, Fräulein.“ „Bitte, sorgen Sie dafür, daß Frau Baxter nicht erfährt, daß ich nicht un-

ten speise.“ „Ja, Fräulein.“ Maggie blieb noch einen Augenblick zögernd stehen. Dann kam ihr ein

neuer Gedanke. „Noch einen Augenblick“, sagte sie. Sie ging durch das Zimmer an ihren Schreibtisch, winkte Susan, herein-

zukommen und die Türe zu schließen, dann schrieb sie rasch einige Zeilen, steckte das Billett in einen Umschlag, adressierte es und übergab es dem Mädchen.

„Schicken Sie sofort jemand mit diesem Billett zu Father Mahon — auf einem Fahrrad.“

Als das Mädchen sich entfernt hatte, blieb Maggie einen Augenblick ste-hen und blickte auf den dunkeln Treppenabsatz hinaus, in der Erwartung, ei-nen Ton oder eine Bewegung zu hören. Aber alles blieb still. Nur ein Licht-

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streifen unter der Türe zeigte, wo der junge Mann, den man Laurie Baxter nannte, stand oder saß. Wenigstens ging er nicht auf und ab. Hier in der Dun-kelheit bestand Maggie die Probe, einem Schrecken gegenüber die Fassung zu bewahren. Fassungslosigkeit wäre das Verhängnisvollste gewesen, so viel begriff sie. Sogar wenn diese verschwiegene Türe geöffnet worden wäre, hät-te sie noch ihre Ruhe bewahrt.

Sie kehrte ins Zimmer zurück, nahm ein Umschlagetuch von einem Stuh-le, auf den sie es geworfen, als sie am Nachmittag vom Garten hereingekom-men war, schlang es um Kopf und Schultern, ging die Treppe hinunter und durch den Garten wieder hinaus in den dunkeln Frühlingsabend.

In dem kleinen Dörfchen war alles still, als sie auf der Landstraße dahin-schritt. Ein Lichtschein kam aus dem Fenster der Schenkstube, wo die Familien-väter miteinander plauderten. Durch die Eingangstüre von Herrn Nugents ge-schlossenem Laden konnte sie den Gewürzkrämer selbst in Hemdärmeln sehen, wie er auf dem Ladentisch etwas umräumte. So groß war die Spannung, in die sie hineingeraten war, daß sie diese Leute nicht einmal um ihre einfache, herkömm-liche Lebensweise beneidete; sie schienen in einer andern, ihr nicht erreichba-ren Welt zu leben. Jene waren mit häuslichen Angelegenheiten beschäftigt, mit Bier, Käse oder Klatschereien. Ihre, Maggies, Aufgabe war anderer Art, so viel wußte sie. Worin diese Aufgabe bestand, das sollte sie jetzt erfahren.

Als sie um die Ecke bog, gewahrte sie die Gestalt des sie Erwartenden, und in dem Zwielicht konnte sie sehen, daß er den Hut vor ihr zog. Sie ging gerade auf ihn zu.

„Ja“, sagte sie, „ich habe es nun selbst gesehen. Sie haben insoweit recht. Nun sagen Sie mir, was zu tun ist.“

Es war keine Zeit für Förmlichkeiten. Maggie fragte nicht, warum Herr Cathcart gekommen sei. Er war da, dies genügte.

„Gehen Sie ein Stück Weges mit mir“, begann er. „Nun sagen Sie mir, was Sie bemerkt haben.“

„Ich habe eine Veränderung bemerkt, die ich durchaus nicht beschreiben kann. Er ist geradezu ein anderer Mensch — nicht Laurie. Ich begreife es gar nicht. Aber ich möchte wissen, was zu tun ist. Ich habe Father Mahon ge-schrieben, er solle kommen.“

Herr Cathcart schwieg, während sie einige Schritte weiter gingen. „Ich kann Ihnen nicht sagen, was zu tun ist. Ich muß Ihnen das selbst

überlassen. Ich kann Ihnen nur sagen, was Sie nicht tun sollen.“

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„Gut.“ „Fräulein Deronnais, Sie sind großartig!… So, jetzt ist̓ s heraus. Sie dür-

fen sich nicht erregt oder ängstlich zeigen, was auch geschehen mag. Ich glaube nicht, daß Ihnen irgendeine Gefahr droht — ich meine im gewöhnli-chen Sinn des Wortes. Aber wenn Sie mich brauchen, finden Sie mich im Gasthof. Ich habe mir dort Zimmer genommen für eine Nacht oder für län-ger. Sie dürfen ihm nicht nachgeben. Ich möchte wissen, ob Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich glaube, ich werde es bald verstehen lernen. Vorderhand verstehe ich noch nichts. Ich habe ihm sagen lassen, ich könne nicht mit ihm speisen.“

„Aber —“ „Ich kann nicht… vor den Dienern. Einem von ihnen wenigstens ist etwas

aufgefallen. Aber ich will ihm nachher Gesellschaft leisten, wenn Sie dies für richtig halten.“

„Sehr gut. Sie müssen mit ihm zusammen sein, sooft Sie können. Verges-sen Sie nicht, noch ist das Schlimmste nicht da. Um das Schlimmste zu ver-hüten, müssen Sie Ihre ganze Kraft aufbieten.“

„Soll ich offen mit ihm reden? Und was soll ich Father Mahon sagen?“ „Darüber müssen Sie selbst urteilen. Ihre Sache ist es, auf seiner Seite

zu kämpfen — vergessen Sie dies nicht — gegen das Ding anzukämpfen, wovon er besessen ist. Fräulein Deronnais, ich muß Sie noch vor etwas an-derem warnen.“

Sie verneigte sich. Sie wünschte jedes überflüssige Wort zu vermeiden. Sie war in einer fürchterlichen Spannung.

„Es ist dies: Was Sie auch sehen mögen — kleine Kunstgriffe in Rede oder Bewegung —, Sie dürfen keinen Augenblick dem Gedanken Raum geben, daß das Wesen, von dem er besessen ist, so beschaffen sei, wie er meint. Vergessen Sie nicht, dies Wesen ist ein durchaus böses, ein durchaus böses, aber es wird vielleicht sein möglichstes tun, dies zu verbergen und Laurie in seiner Illusion zu erhalten. Es ist intelligent, aber nicht in glänzender Weise; es hat nur die In-telligenz eines im Schlamm lebenden, giftigen Tieres. Oder vielleicht versucht es, Sie zu erschrecken. Sie dürfen sich nicht erschrecken lassen.“

(Maggie verstand die Winke, die ihr der alte Mann gab, genügend, um darnach zu handeln.)

„Und Sie müssen sich Ihre Sympathie für Laurie im vollsten Maße be-wahren. Sie müssen daran denken, daß er sozusagen in Ketten liegt, und daß

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auch er, wahrscheinlich, zu kämpfen hat und Ihrer bedarf. Vollständig beses-sen ist er noch nicht, er ist sich noch teilweise bewußt... Kannte er Sie?“

„Ja, er kannte mich. Er war in Verlegenheit, glaube ich.“ „Hat er noch jemand gesehen, den er kennt?“ „Ja… seine Mutter. Auch sie hat er erkannt. Er sprach aber nicht mit ihr.

Ich ließ es nicht dazu kommen.“ „Fräulein Deronnais, Sie haben bewunderungswürdig gehandelt… Was

tut er jetzt?“ „Ich weiß es nicht. Ich verließ ihn in seinem Zimmer. Er war ganz ruhig.“ „Sie müssen sogleich zurückkehren… Wollen wir zurückgehen? Ich glau-

be nicht, daß vorderhand noch viel zu sagen ist.“ Nun erst fiel ihr auf, daß er nichts über den Priester gesagt hatte. „Und wie ist̓ s mit Father Mahon?“ fragte sie. Der alte Mann schwieg einen Augenblick. „Nun?“ fragte sie abermals. „Fräulein Deronnais, ich würde mich nicht auf Father Mahon verlassen.

Ich habe fast noch nie einen Priester gefunden, welcher diese Dinge ernst nimmt. In der Theorie — ja, natürlich aber nicht in konkreten Fällen. Doch kann Father Mahon eine Ausnahme sein. Und das Schlimmste dabei ist, daß die Geistlichkeit ungeheure Macht hätte, wenn sie es nur wüßte!“

Die Glocke eines Radfahrers erscholl auf dem Wege hinter ihnen. Maggie drehte sich sofort um und sah das Gesicht des Mannes, den sie erwartet hatte.

„Sie sind es?“ sagte sie, als der Radfahrer herankam. Er sprang ab, legte die Hand an die Mütze und übergab ihr ein Billett.

Sie riß es auf und las es beim Lampenlicht des Fahrrades. Dann ballte sie es zusammen und warf es mit einer raschen, ungeduldigen Bewegung in den Graben.

„Schön“, sagte sie, „gute Nacht.“ Der Gärtner bestieg wieder sein Rad und fuhr davon. „Nun?“ sagte der alte Mann. „Father Mahon ist plötzlich abgerufen worden. Das Billett ist von seiner

Haushälterin. Er wird erst morgen zur ersten Messe zurück sein.“ Herr Cathcart nickte drei- oder viermal verständnisvoll. „Was halten Sie davon?“ fragte das junge Mädchen plötzlich. „Es ist genau das, was ich erwartet habe.“ „Wie? Father Mahon sollte — Glauben Sie… es sei verabredet?“

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„Ich weiß nichts Bestimmtes. Es mag ein Zufall sein. Sprechen Sie nicht weiter davon. Sie müssen über die vorhandenen Tatsachen nachdenken.“

Schweigend gingen sie in der stillen Frühlingsnacht zurück. Vom Dörf-chen her vernahm man das Zuschlagen einer Türe, laute Stimmen, die sich gute Nacht wünschten, und den Schall von Fußtritten. Diese kamen am Ende des Heckenweges vorbei und verhallten dann wieder. Über den Bäumen zur Rechten war das hohe gewundene Kamin des alten Hauses sichtbar, worin der Schrecken wohnte.

„Vergessen Sie nicht die beiden Hauptpunkte“, ließ sich Cathcarts Stimme in der Dunkelheit vernehmen — „Mut und Liebe. Wollen Sie daran denken?“

Maggie neigte wieder das Haupt als Antwort. „Ich werde kommen und fragen, ob ich Sie sprechen kann, sobald die

Leute im Hause auf sind. Wenn Sie mich nicht sprechen können, werde ich annehmen, daß alles in Ordnung ist — oder Sie können mir ein Billett her-ausschicken. Was Frau Baxter anbelangt —“

„Ich werde kein Wort zu ihr sagen, bis es unbedingt nötig ist. Und wenn —“

„Wenn es nötig ist, werde ich telegraphisch einen Arzt aus der Stadt her-beirufen. Ich will alle vorläufigen Anordnungen übernehmen, wenn Sie da-mit einverstanden sind.“

Zehn Schritte vor der Biegung des Weges blieben sie stehen. „Gott segne Sie, Fräulein Deronnais. Vergessen Sie nicht, ich bin im

Gasthof, wenn Sie mich brauchen.“

IV. Frau Baxter speiste etwa gegen halb acht Uhr ruhig im Bett, aber nach

Beendigung ihrer Mahlzeit war sie schläfriger als zuvor. Sie war unvorsichtig genug gewesen, ein wenig Rotwein mit Wasser zu trinken.

„Er steigt mir immer gleich in den Kopf, Charlotte“, sagte sie. „Nun lege das Buch — nein, nicht dieses — das in weißes Pergament gebundene… ja, gerade so, hierher, und drehe die Lampe so, daß ich lesen kann, wenn ich Lust habe… O, sage Fräulein Maggie, sie möge ganz leise an meine Türe klopfen, wenn sie vom Essen kommt. Ist sie schon hinuntergegangen?“

„Ich glaube, ich habe soeben ihre Schritte gehört, gnädige Frau.“

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„Gut, dann können Sie Susan sagen, sie solle es Fräulein Maggie wissen

lassen. Wie sah Herr Laurie aus, Charlotte?“ „Ich habe ihn nicht gesehen, gnädige Frau.“ „Gut. Das ist alles, Charlotte. Sie können nach Fräulein Maggie herein-

kommen und alles für die Nacht herrichten.“ Die Türe schloß sich, und Frau Baxter schlummerte sofort ein. Sie gehörte zu den Leuten, vor deren geistigem Auge, besonders bei leich-

ten Fieberanfällen, zwischen Schlafen und Wachen allerlei lebendige Bilder aufsteigen, und sie sah, wie gewöhnlich, eine ganze Menge, die sich aus klei-nen Ereignissen des vergangenen Tages zusammensetzten, und aus andern, nicht im geringsten in Verbindung damit stehenden. Sie sah z. B. kleine Sze-nen, in denen sich Maggie und Charlotte und Arzneiflaschen und Gesichter von Chinesen und die Druckseiten eines Buches in völliger Zusammenhangslo-sigkeit durcheinanderbewegten, und schon war sie nahe daran, fest einzuschla-fen, und hatte ihren festen Vorsatz, noch ein paar Seiten in dem neben ihr lie-genden Buch zu lesen, vergessen, als ein schwacher Laut zu ihr drang und sie die Augen öffnete.

Ihre Lampe warf einen Lichtkreis über ihr Bett, und der übrige Teil des Zimmers war nur von dem im Kamin flackernden Feuer erhellt. Doch war es in diesem Augenblick hell genug, daß sie ganz deutlich, wennschon mit dar-über hinhuschenden Schatten, ihres Sohnes Gesicht zu sehen glaubte, wie es zur Türe hereinschaute. Es kam ihr vor, als ob sie etwas sage, aber sie war dessen nachher nicht ganz sicher. Jedenfalls war das Gesicht unbeweglich, und ihr kam vor, als ob es den Ausdruck einer so ungewöhnlichen Bosheit trage, daß sie es kaum als das ihres Sohnes erkannt hätte. In plötzlichem Schrecken richtete sie sich im Bett auf und starrte hin, und während die Schatten kamen und gingen, und während sie hinstarrte, war das Gesicht wieder verschwunden. Frau Baxter holte tief Atem, aber es war nichts mehr zu sehen. Doch hätte sie darauf schwören können, daß sie das leise Knarren der sich schließenden Türe gehört habe.

Sie streckte die Hand aus und legte sie auf die an ihrem Bett herabhängende Klingelschnur. Dann zögerte sie wieder. Sie sagte sich, es sei zu gefährlich. Zudem war Charlotte wahrscheinlich schon in ihr Zimmer gegangen.

Aber die Angst wich nicht sogleich von ihr, obwohl sie sich wieder und wieder sagte, es sei nur eine von jenen Visionen in halbwachem Zustand, die sie so wohl kannte.

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Sie legte sich sinnend in die Kissen zurück… Nun, sie würden jetzt

wohl beim Fisch sein. Nein, sie wollte es Maggie sagen, wenn sie heraufkam. Wie Laurie morgen darüber lachen würde! Dann, allmählich schlief sie wieder ein.

Das Nächste, dessen sie sich bewußt wurde, war, daß Maggie sich über

sie beugte. „Schläfst du, liebe Tante?“ fragte das junge Mädchen leise. Die alte Dame murmelte etwas. Dann richtete sie sich plötzlich auf. „Nein, meine Liebe. Habt ihr fertig gespeist?“ „Ja, Tantchen.“ „Wo ist Laurie? Ich möchte ihn gern einen Augenblick sprechen.“ „Heute abend nicht mehr, Tante, du bist zu müde, überdies glaube ich,

daß er ins Rauchzimmer gegangen ist.“ Sie fügte sich ruhig. „Gut, liebes Kind… O Maggie, soeben — während ihr beim Essen wart,

ist etwas so Wunderliches geschehen.“ „Nun?“ „Ich glaubte, Laurie sehe einen kurzen Augenblick zur Türe herein. Aber

er sah furchtbar aus. Es war wohl nur eine von meinen Visionen, von denen ich dir gesagt habe.“

Das junge Mädchen schwieg, aber die alte Dame sah, wie sie sich plötz-lich aufrichtete.

„Frage ihn doch, ob er wirklich hereinsah. Es kann auch nur der Schatten auf seinem Gesicht gewesen sein.“

„Um welche Zeit war es?“ „Ungefähr zehn Minuten nach acht Uhr, liebes Kind. Du kannst ihn fra-

gen, willst du?“ „Ja, Tante… Es wird besser sein, wenn ich deine Türe beim Hinausgehen

verschließe. Du wirst dir dann nicht mehr solche Sachen einbilden, nicht wahr?“ „Gut, liebes Kind. Tue, was du für das Beste hältst.“ Die Stimme der alten Frau klang wieder schläfrig, und Maggie blieb noch

einige Augenblicke beobachtend stehen. „Schicke mir Charlotte, liebes Kind… Gute Nacht, mein Liebling… Ich

bin wieder sehr schläfrig. Grüße Laurie von mir.“ „Ja, Tantchen.“

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Die alte Frau fühlte die warmen Lippen des jungen Mädchens auf ihrer

Stirne. Sie schienen ein wenig darauf zu verweilen. Dann versank sie wieder in Schlaf.

V.

Die Schenkstube des Gasthofes zur Weizengarbe war an diesem Abend

der Schauplatz einer lebhaften Diskussion. Einige glaubten, der alte Herr, welcher an demselben Tage von London

gekommen, sei eine neue Art von Geschäftsreisenden und habe Absichten auf die Ländereien des Adels; andere meinten, er gehöre zu der Klasse der gelehrten Sammler, wieder andere, er sei ein Privatdetektiv; und da kein Zeugnis für oder gegen eine dieser Behauptungen beigebracht wurde, konnte eine richtige Debatte darüber entstehen.

Ein Stillschweigen trat ein, als man ihn die Treppe hinunter- und auf die Straße hinausgehen hörte, und wieder eine halbe Stunde später, als er zurück-kehrte. Dann begann die Diskussion abermals.

Um zehn Uhr, als der Wirt, auf die Uhr sehend, die Gläser wegzuräumen begann, begaben sich die meisten Männer hinaus in die helle Mondnacht, um sich nach verschiedenen Richtungen hin zu zerstreuen. Das erleuchtete Fen-ster mit dem herabgelassenen Rouleau oben zeigte, wo der geheimnisvolle Fremde noch wachte, und über dem Weg, jenseits der noch unbelaubten Bäu-me, ragten die gewundenen Kamine von Frau Baxters Haus empor. Kein Wort war gesprochen worden, das sich darauf bezog, dennoch blickte der ei-ne oder andere der Männer in unbestimmten Mutmaßungen hinüber.

Beinahe zwei Stunden später kam der Wirt selbst an die Türe, um dem vielgeltenden Herrn Nugent, mit dem er im Stammzimmer geblieben war, noch einmal gute Nacht zu sagen, und auch er bemerkte, daß das Schlafzim-merfenster noch erleuchtet war. Er wies mit dem Finger darauf hin.

„Der geht spät zu Bett“, sagte er mit leiser Stimme. Herr Nugent nickte; er war noch etwas erhitzt vom Whisky und von sei-

nen Auseinandersetzungen über das, was geschehen, wenn seine arme Toch-ter am Leben geblieben wäre und den jungen Squire geheiratet hätte, über sein rasches soziales Emporkommen und dessen schon sichtbare Anzeichen, und über seine Brüderschaft mit dem Landadel. Er sah nachdenklich hinüber auf die Umrisse des stattlichen, im Vollmondlicht silbergrau erscheinenden

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Hauses. Der Wirt folgte der Richtung seines Blickes, und aus einer ihnen selbst unbewußten Ursache standen sie während einer halben Minute schwei-gend da. Dennoch war nichts Außergewöhnliches zu sehen.

Unmittelbar vor ihnen, über dem Weg drüben, erhob sich das hohe Staket aus Eichenholz, welches den Rasenplatz auf dieser Seite umzäunte, und hoch-gewachsene Linden, ungestützt und unbeschnitten, zeichneten sich wie feine Filigranarbeit am pfauenblauen Firmament ab. Hinter ihnen, über der düsteren, rötlichen Backsteinfront und der Balustrade waren die Kamine sichtbar. Der Mond stand noch nicht voll über dem Hause, und die Fenster schimmerten da und dort, wo sie das Licht zurückwarfen, wie Streifen und Flecken.

Schweigend blickten die beiden darauf hin. Sie hatten diesen Anblick wohl schon fünfzigmal vorher gehabt, denn der Wirt und Herr Nugent ver-brachten wenigstens zweimal in der Woche einen Abend zusammen und trennten sich gewöhnlich an der Türe. Aber an diesem Abend verweilten sie länger hier und blickten hinüber.

Es war so still, wie eine Frühlingsnacht nur sein kann. Ungesehen und un-gehört strömte das Leben der Erde aufwärts in Zweig und Halm und Blatt —emporschießend wie die Wunder des Propheten Jonas —, um sich dann vier-zehn Tage später durch einen Reichtum an Farbe und Duft und Klang zu of-fenbaren. Der Wind hatte nachgelassen, die letzten Türen schlossen sich, und die beiden Gestalten, welche hier standen, verhielten sich so still wie alles ringsumher. Keinem von beiden kam nur der leiseste Schatten einer Ahnung über die Ursache, die sie hier festhielt — diesen einfachen Männern, die schweigend ein altes Haus anstarrten — kein Gedanken an ein Leben jenseits des materiellen Lebens, nach welchem die meisten Menschen das Dasein ein-schätzen. Für sie war dies nur eine jener Nächte, die sie ein halbes Jahrhun-dert lang gekannt hatten. Es war Mondschein. Eine helle Nacht. Hier war Frau Baxters Haus, dies war die Dorfstraße — damit war die ganze Situation erschöpft…

Herr Nugent machte sich mit munterer Miene davon, nachdem er seinem Freund gute Nacht gewünscht hatte, und der Wirt warf noch einen zweiten Blick hinüber und trat dann ins Haus. Das Geräusch von Riegeln und Stan-gen ließ sich vernehmen, das Licht im Fenster des Stammzimmers neben der Schenkstube ging plötzlich aus, knarrende Fußtritte wurden auf der Treppe laut, eine Türe wurde geschlossen, und alles war still.

Eine halbe Stunde später glitt ein Schatten über die Jalousie oben, ein Arm

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erschien, streckte sich aus, das Rouleau wurde hinaufgezogen, das Fenster geöffnet — und ein bärtiges Gesicht schaute hinaus in die Mondnacht. Der Tisch im Zimmer war mit Papieren bedeckt, denn Herr Cathcart, welcher trotz seiner Besorgnis fleißig war, hatte sich für den Sonntag eine Menge Ge-schäftssachen mitgebracht, die erledigt werden mußten, und hatte hier, nach der Unterredung auf dem Heckenweg vor fast fünf Stunden, geduldig Auf-zeichnungen und Korrekturen gemacht.

Sogar jetzt sah sein Gesicht heiter aus, er schaute gemächlich bald hier-hin, bald dorthin, die Straße hinauf und hinunter, dann setzte er sich wieder und starrte über den Weg hinüber auf das silbergraue Gebäude hinter den Bäumen. Auch er sah nichts anderes, als der Wirt gesehen hatte. Dort stand es, aber kein Licht war sichtbar, kein Fußtritt, kein Laut ließ sich hören. Es bewahrte sein Geheimnis gut, sogar vor dem, der wußte, was es barg.

Für den Spähenden war diese Stätte so düster wie ein Gefängnis. Hinter den ernsten Mauern und den im Mondlicht schimmernden Fenstern, hinter der Stille und Ruhe barg sich ein Leben, schrecklicher als der Tod, eine dra-matische Verwicklung, deren Ausgang nicht vorauszusehen war. Hier spielte sich ein Konflikt ab, verschwiegener als das Schweigen selbst. Zwei Seelen kämpften um eine gegen einen Feind von unbekannter Stärke und gegen un-vorhergesehene Möglichkeiten. Die Dienerschaft schlief abseits, auch die alte Dame; und in einem der Zimmer (in welchem, wußte er nicht) wurde ein Kampf gekämpft, dessen Ausgang bedeutsamer war als der nach dem Ringen mit einer Krankheit. Dennoch konnte er nichts tun, um zu helfen, außer dem, was er eben tat; er ließ am Fenster die Perlen eines Rosenkranzes durch seine Finger gleiten. Solch ein Kampf wie dieser mußte durch auserlesene Kämpen ausgefochten werden, und da die Geistlichkeit in diesem Falle nicht helfen konnte, mußten der Mut und die Liebe eines jungen Mädchens an deren Stel-le treten.

Von dem Dorfe oberhalb des Hügels drang der Schlag einer einzigen Glocke her, ein Vogel in dem Gartenweg drüben über dem Staket lockte zwitschernd sein Weibchen, dann herrschte wieder Stille in der mondhellen Straße mit ihren Schattenstrichen, dem großen Hause, den Bäumen und dem bärtigen Gesicht des Spähenden am Fenster.

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Siebzehntes Kapitel

I.

Die kleine innere Halle sah sehr still und traulich aus, als Maggie De-ronnais auf dem Treppenabsatz stand, während sie einen letzten inneren Kampf auskämpfte, ehe es zum Zusammenstoß kam. Die Treppe mit demalten Teppich, auf dem sie wohl tausendmal hinauf- und hinuntergegangen war, und auf dem jeder kleine Flecken, jeder kleine Streifen an den etwas abgenutzten Ecken in dem von oben herabfallenden Lampenlicht sichtbar war, führte gerade hinunter, und hoch aufgerichtet, in ein weißes, ausge-schnittenes Gewand mit kurzen Ärmeln gekleidet, das Haar einfach um den Kopf geschlungen, starrte sie daraufhin. Unten lag die kleine Halle mit den rot tapezierten Wänden, dem Tigerfell und verschiedenen andern Dingen. — Ein alter Mantel von ihr, den sie an regnerischen Tagen im Garten zu tragen pflegte, ein Strohhut Lauries und eine Mütze hingen an dem Klei-derrechen. Ihr gegenüber befand sich die Türe zur äußeren Halle, links die zum Rauchzimmer. Im Hause herrschte vollkommene Ruhe. Das Essen war schon durch das in die Küchenräume gehende Schiebtürchen weggeräumt worden, die Zimmer der Dienstboten lagen auf der andern Seite des Hau-ses. Kein Laut kam aus dem Rauchzimmer, auch nicht einmal ein schwa-cher Geruch von Tabaksrauch, der gewöhnlich herausdrang, wenn Laurie stark rauchte.

Sie war mitten auf der Treppe stehengeblieben, ohne zu wissen, warum. Sie hatte in ihrem Zimmer gespeist, wie sie sich vorgenommen, und war

seitdem still darin geblieben, meist vor ihrem Prie-Dieu, ohne daß ihre Ge-danken einen bewußten Zusammenhang hatten, dann und wann auf den Schritt einer Dienerin in der Halle unten lauschend, die im Eßzimmer ab und zu ging. Sie hatte sich bemüht, der bevorstehenden Prüfung kühn entgegen-zutreten — der Prüfung, deren Art sie auch jetzt nur halb erriet, und sie hatte noch nichts ausgeführt, hatte noch keinen Plan gemacht, keine Eventualität in Betracht gezogen. Ihre Erfahrung in solchen Dingen war so gering, daß sie

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nicht wußte, wie sie sich zu verhalten habe. Nur zwei Worte kamen ihr im-mer und wieder zum Bewußtsein — Mut und Liebe.

Sie blickte wieder nach der Türe. Dort war Laurie! Dann fragte sie sich: War dies wirklich Laurie?… „Er ist dort unten“, flüsterte sie ganz leise, „er wartet auf mich, damit ich

ihm helfe.“ Sie erinnerte sich, daß sie zu diesem Freundschaftsbeweis ver-pflichtet sei. War es Laurie, der in das Zimmer seiner Mutter hineingesehen hatte?… Nun, die Türe war jetzt verschlossen. Aber dieser heimliche Besuch kam ihr entsetzlich vor.

Was sollte sie glauben? Sie hatte sich diese Frage schon dutzendmal gestellt und keine Antwort

gefunden. Des alten Mannes Erklärung war ganz klar: Er glaubte, daß aus je-nem unendlichen, geheimnisvollen Raum, der jenseits der verschleiernden Sinnenwelt liegt, eine mächtige, feindselige Persönlichkeit aufgetaucht sei, verdorben und Verderben bringend, die in der Gestalt eines toten Mädchens sich der Seele dieses jungen Mannes zu bemächtigen suchte. Wie phanta-stisch dies klang! Konnte sie es denn glauben? Sie wußte es selbst nicht. Dann gab es noch die Erklärung, daß es sich um eine nervöse Überreizung handle, die sich bis zum Wahnsinn steigere. Es war die des Sachwalters, des Durchschnittsmenschen. Glaubte sie daran? Genügte das, um den Ausdruck in des jungen Mannes Augen zu deuten? Sie wußte es nicht.

Sie begriff sehr wohl, wie der Umstand, daß sie selbst unter materiellen Bedingungen lebte, ihr die zweite Erklärung zur natürlichen machte, aber das befriedigte sie nicht. Denn ihre Religion lehrte sie ausdrücklich, daß immate-rielle Persönlichkeiten existieren, welche die menschlichen Seelen zu verder-ben suchen, und ihre Religion verbot den Spiritismus aus ebendiesem Grun-de. Dennoch kannte sie kaum einen Katholiken, der in der gegenwärtigen Zeit die Möglichkeit des Spiritismus für mehr als eine Theorie gehalten hätte. So war sie denn unschlüssig und hielt mit ihrem Urteil noch zurück. Nur das eine war ihr klar, daß sie handeln müsse, als ob sie an die erste Erklärung glaube, sie mußte den jungen Mann wie einen Besessenen behandeln, ob er es nun war oder nicht. Es gab kein anderes Mittel, um ihre ganze Kraft auf den Kern der Sache zu konzentrieren. Wenn kein böser Geist bei dieser Sa-che im Spiel war, so mußte man einen annehmen.

Und noch immer blieb sie zögernd stehen. Eine Erinnerung aus der Kindheit kam ihr jetzt.

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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Einst, als Kind von zehn Jahren, mußte sie sich einer kleinen Operation

unterziehen. Eine der Nonnen hatte sie in das Haus des Arztes gebracht. Als sie erfahren hatte, daß sie in das anstoßende Zimmer gehen und die Opera-tion vornehmen lassen müsse, war sie plötzlich stehengeblieben. Die Nonne hatte ihr Mut zugesprochen.

„Bitte, lassen Sie mich nur für eine Minute ganz allein, Mutter. Bitte, sa-gen Sie nichts. In einer Minute gehe ich hinein.“

Eine Minute später, als sie sich nach ihr umschauten, war sie hineinge-gangen, hatte sich in den Stuhl gesetzt und sich ganz tadellos verhalten. Ja, sie begriff das nun. Man mußte nur Kräfte sammeln, sich mit aller Energie konzentrieren, die Einbildungskraft im Zaum halten, dann konnte man fast alles ertragen.

So stand sie jetzt hier, ohne auch nur einen Gedanken an Flucht, ohne zu argumentieren, ohne an Selbstberuhigung zu denken, aber Kräfte sammelnd, um mit festem Willen den Dingen die Stirne zu bieten.

Es gab noch eine psychologische Tatsache, die sie in Erstaunen setzte, obwohl sie sich ihrer nur in zweiter Linie bewußt war: die Stärke ihres Ge-fühls für Laurie. Es kam ihr merkwürdig vor, daß das entsetzliche Geschick des jungen Mannes dessen beste Seiten wie ein heller Hintergrund hervor-hob, was sonst nur der Tod tut. In ihrer Erinnerung war er durchaus gut und liebenswürdig, die Schattenseiten seines Charakters schienen getilgt zu sein durch die Verfinsterung, die seinen Geist umnachtete, und sie empfand ihm gegenüber ein Gefühl schützender Liebe und dabei eine Tatkraft, die sie selbst in Erstaunen setzte. Sie sehnte sich mit aller Kraft darnach, Einfluß auf ihn zu gewinnen und ihn zu retten.

Sie holte lang und tief Atem, streckte ihre kräftige weiße Hand aus, um zu sehen, ob ihre Finger zitterten, ging die Treppe hinunter, öffnete, ohne zu klopfen, die Türe des Rauchzimmers und trat ein, diese wieder hinter sich schließend. Es war da eine spanische Wand, um die sie herumgehen mußte.

Sie tat es. Und da saß er auf dem Ruhebett und blickte sie an.

II.

Im ersten Augenblick blieb sie regungslos stehen; es war wie eine Kriegs-erklärung. In einer oder zwei der kleinen Vorproben, die sie oben abgehalten,

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hatte sie geglaubt, sie würde zuerst etwas Konventionelles sagen. Aber die Wirklichkeit machte alles Konventionelle unmöglich. Daß sie schwieg und daß eine Pause eintrat, war so bedeutungsvoll wie das Zusammenkauern ei-nes Jagdhundes, und sie bemerkte, daß dies von Laurie auch so aufgefaßt wurde. Er zeigte jene stille Wachsamkeit, die sie erwartet hatte und die zu-gleich herausfordernd und zaghaft war wie die eines wilden Tieres, das einen Schlag erwartet.

Dann trat sie einen Schritt näher, nahm einen Stuhl, der zur Seite stand, setzte sich mit einer raschen, beinahe drohenden Bewegung und schaute ihn immer noch an.

Was sie sah, war dies: Da war der ihr so vertraute Hintergrund, die dunkle, getäfelte Wand, der

Kupferstich und das bequem erreichbare Bücherregal, das Kaminfeuer zu ih-rer Rechten und das Ruhebett gegenüber. Auf dem Ruhebett der junge Mann, den sie so gut kannte.

Er trug noch seinen Reiseanzug, er hatte nicht einmal die Schuhe gewech-selt, denn sie waren noch ein wenig mit Londoner Kot bespritzt. All dies be-merkte sie in den nun folgenden Minuten, obwohl sie die Augen auf sein Ge-sicht gerichtet hielt.

Über dies Gesicht selbst konnte sie unmöglich klarwerden. Es war das Lauries, Zug für Zug, aber der Ausdruck war nicht der Lauries. Jemand, der ihm verwandt war, schaute aus den Fenstern der Seele sie an — und prüfte sie vorsichtig, fragend und argwöhnisch. Es war das Gesicht eines Feindes, der abwartet. Und sie saß da und schaute es an.

Eine volle Minute mußte vergangen sein, ehe sie zu reden begann. Nach dem ersten langen Blick senkten sich die Augen in jenem Gesicht in einer Art Erschlaffung und starrten regungslos, mit einer gewissen Traurigkeit in das Feuer. Dennoch, das sah sie klar, war noch die nämliche wachsame Feindseligkeit vorhanden, und als sie sprach, erhoben sich diese Augen mit einer raschen, verstohlenen Aufmerksamkeit. Das halbvernünftige Tier war besänftigt, aber noch nicht beruhigt.

„Laurie?“ sagte sie. Seine Lippen bewegten sich ein wenig, wie zu einer Antwort, dann wie-

der blickte sein Gesicht seitwärts auf das Feuer, und die Hände hingen bau-melnd, beinahe hilflos zwischen seinen Knien herab.

In seiner ganzen Haltung zeigte sich eine Schwäche, die sie in Erstaunen

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setzte und ermutigte, es hatte den Anschein, als ob noch nichts völlig ent-schieden sei. Dennoch hatte sie eine Empfindung von Ekel bei diesem An-blick…

„Laurie?“ sagte sie plötzlich noch einmal. Wieder bewegten sich seine Lippen wie bei hastigem Sprechen, und seine

Augen blickten schnell und argwöhnisch zu ihr auf. „Nun?“ sprach sein Mund, und die Hände hingen noch baumelnd herab. „Laurie“, begann sie in festem Tone, soviel Nachdruck wie möglich in

diese Worte legend, „du bist sehr unwohl, verstehst du das?“ Wieder die lautlose Bewegung der Lippen, und wieder ein kurzer, kon-

ventioneller Ausspruch: „Mir fehlt nichts.“ Seine Stimme klang unnatürlich — ein wenig heiser und ganz tonlos. Wie

eine Stimme, die hinter einer Maske hervorkommt. „Doch“, sagte Maggie bekümmert, „es fehlt dir etwas. Höre, Laurie, du

bist gar nicht wohl, und ich bin gekommen, um dir zu helfen, so gut ich kann. Willst du dein möglichstes dazu tun? Ich spreche zu dir, Laurie… zu dir —“

Jedesmal, wenn er antwortete, bewegten sich seine Lippen zuerst wie in lebhaftem Gespräch — wie bei einem Mann, den man durch ein Fenster spre-chen sieht, aber als er diesmal sprach, stammelte er ein wenig bei den Vokalen.

„I — i — ich bin ganz wohl.“ Maggie beugte sich vor, die Hände fest zusammengepreßt, die Augen un-

verwandt auf dies verblüffende Gesicht gerichtet. „Laurie, ich spreche mit — d i r… Hörst du mich? Verstehst du?“ Wieder erhoben sich seine Augen rasch und mit argwöhnischem Aus-

druck, und Maggie preßte die Hände noch fester zusammen, während sie den aufsteigenden Ekel bekämpfte. Sie holte zuerst tief Atem, dann hielt sie eine kleine Rede, die sie zum Teil oben vorbereitet hatte. Während sie sprach, blickte er sie wieder an.

„Laurie“, sagte sie, „ich möchte, daß du mir sehr aufmerksam zuhörst und mir vertraust. Ich weiß, was dir fehlt, und ich glaube, du weißt es auch. Du kannst nicht kämpfen — bekämpfe ihn doch in dir selbst… Halte nur, so fest du kannst, zu mir — im Geist, meine ich. Verstehst du?“

Einen Augenblick dachte sie, daß er etwas von dem erfaßt hätte, was sie meinte, er blickte sie so ernsthaft mit seinen seltsam fragenden Augen an. Dann zuckte er kaum bemerkbar zusammen, wie wenn er plötzlich durch eine Schnur in Bewegung gesetzt worden sei, und blickte wieder in das Feuer…

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„Ich… ich… ich bin ganz wohl“, sagte er. Es war entsetzlich, diesen regungslosen Körper anzusehen. Er saß noch

da, wie er sich wahrscheinlich beim Eintritt in das Zimmer hingesetzt hatte. Seine Augen gingen hin und her, aber sein Kopf bewegte sich kaum, und sei-ne Hände hingen kraftlos herab.

„Laurie… höre…“, begann sie wieder. Dann brach sie ab. „Hast du dein Gebet verrichtet, Laurie?… Begreifst du, was dir zugestoßen

ist? Du bist nicht krank… wenigstens hast du keine richtige Krankheit, aber —“ Wieder hoben sich diese Augen, blickten sie an und senkten sich wieder. Es war Mitleid erregend. Für den Augenblick verschwand der Ekel in ihr,

zurückgedrängt durch die tiefe Gemütsbewegung. Er war doch hier — Lau-rie… der liebe Laurie…

Einem raschen, ungestümen Antrieb folgend, hatte sie sich auf die Knie geworfen und seine herabhängenden Hände erfaßt.

„Laurie! Laurie!“ rief sie. „Du hast nicht gebetet… Du hast dich einem Spiel hingegeben, und die Maschine hat dich erfaßt. Aber es ist noch nicht zu spät! O Gott! Es ist noch nicht zu spät. Bete mit mir! Sage das Vaterunser…“

Wieder ließ er die Augen langsam umherschweifen. Er war kaum merk-lich aufgefahren, als sie niedersank und seine Hände ergriff, und nun fühlte sie, wie diese Hände sich matt in den ihrigen bewegten, wie die eines schla-fenden Kindes, das sich aus seiner Mutter Armen losmachen will.

„Ich… ich… bin ganz —“ Sie faßte seine Hände noch fester, in diese seltsamen, mitleiderregenden

Augen emporschauend, die so wenig enthüllten außer eine unbestimmte Auf-regung und Unruhe.

„Sage das Vaterunser mit mir. Vater unser —“ Dann rissen sich seine Hände los mit einer ebenso ungestümen Bewegung

wie die ihrige, und seine Augen flammten in einem unnatürlichen Licht. Sie hielt immer noch seine Handgelenke umklammert, und emporschauend, fühl-te sie sich von einer lähmenden Angst über diese Veränderung ergriffen und über die wilde Feindseligkeit, welche in seinem Gesichte aufflammte. Die Lippen verzerrten sich halb murrend, halb grinsend.

„Weg! Weg!“ zischte er. „Was bist du —“ „Das Vaterunser, Laurie… das Vater —“ Er machte eine heftige Bewegung nach rückwärts, sie mit dem Knie unter

das Kinn stoßend. Das Ruhebett schob sich einen Fuß weit zurück gegen die

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Wand, und er stand plötzlich aufrecht da. Heftig ergriffen und voll Entsetzen, blieb sie liegen und schaute zu dem dunkelgeröteten Gesicht auf, das sie an-stierte.

„Laurie! Laurie!… Verstehst du mich nicht? Sprich ein Gebet —“ „Wie kannst du es wagen“, flüsterte er, „wie kannst du es wagen —“ Mit gewaltsamer Selbstbeherrschung erhob sie sich plötzlich. Ihr Atem

ging rasch und keuchend, und sie schwieg, bis sie wieder ruhig geworden. Und während dieser ganzen Zeit stand er da und schaute sie an mit Augen, in denen sich eine außerordentliche Feindseligkeit ausdrückte.

„Nun, willst du dich ruhig hinsetzen und mich anhören? Willst du?“ Er starrte sie immer noch an, mit geschlossenen Lippen durch die Nase

atmend. Mit einer plötzlichen Bewegung wandte sie sich um, ging zu ihrem Stuhl, setzte sich nieder und wartete.

Er beobachtete sie immer noch, und, mit fest auf sie gerichteten Augen und der Bewegung eines Menschen, der sich verteidigen will, rollte er das Sofa an den früheren Platz zurück und setzte sich nieder. Sie wartete, bis die Spannung in seiner Haltung nachzulassen schien, bis er keine raschen Blicke mehr unter den gesenkten Augenlidern hervor auf sie warf und abermals mit herabhängenden Händen dasaß, um ins Feuer zu sehen. Dann begann sie ruhig und entschieden von neuem.

„Deine Mutter ist nicht ganz wohl“, sagte sie. „Nein… höre mich nur ruhig an. Was soll nun morgen werden? Ich spreche mit dir, Laurie… mit d i r . Verstehst du?“

„Mir fehlt nichts“, sagte er dumpf. Sie beachtete es nicht. „Ich möchte dir helfen, Laurie. Du weißt das — nicht?… Ich bin Maggie

Deronnais. Du erinnerst dich doch?“ „Ja — Maggie Deronnais“, sagte der junge Mann, ins Feuer starrend. „Ja, ich bin Maggie. Du vertraust mir doch, Laurie? Du kannst doch glau-

ben, was ich sage? Nun, ich möchte, daß auch du kämpfest. Daß du und ich zusammen kämpfen. Willst du mich tun lassen, was ich kann?“

Wieder erhob er die Augen mit jenem seltsam fragenden Blick. Es kam Maggie vor, als nehme sie noch etwas anderes darin wahr. Während eines Augenblicks sammelte sie schweigend ihre Kräfte. Ihr Herz pochte dabei so heftig wie das Triebwerk einer Maschine. Dann sprang sie auf.

„Höre denn — im Namen Jesu von Nazareth —“

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Er wich mit einer so wilden Bewegung zurück, daß die Worte ihr auf den

Lippen erstarben. Einen Moment dachte sie, er sei im Begriff, auf sie loszu-stürzen. Wieder stand er murrend da. Während eines endlosen Augenblickes herrschte Stille, dann ergoß sich ein Strom von flammenden, grimmigen Worten über sie, er knurrte sie an wie ein wütender Hund — dann folgte eine Reihe von Lästerungen und Unflätigkeiten.

So kam es ihr vor. Unfähig, ein Wort zu sprechen, behauptete sie den-noch ihren Platz. Sie war sich nur des Redestromes bewußt, der sich aus dem mit Blut unterlaufenen Gesicht über sie ergoß, verstand aber nicht den zehn-ten Teil von dem, was sie hörte.

„…Im Namen…“ Sofort hörte der Wortschwall auf, aber die Tücke und Bosheit, die in sei-

nem nun folgenden Schweigen lag, war so bedrückend, daß sie wieder ver-stummte. Es wurde ihr klar, daß das Beste, was sie tun konnte, war, ihren Standpunkt fest zu behaupten. So standen sich die beiden gegenüber. Wenn es entsetzlich war, jene Worte anzuhören, so war das Schweigen noch tau-sendmal entsetzlicher; es war wie der Anblick eines sich plötzlich öffnenden Schmelzofens, der seine weiße Glut zeigt.

Laurie nahm zuerst wieder das Wort. „Du tätest besser daran, dich in acht zu nehmen“, sagte er.

III. Sie wußte selbst kaum, wie es kam, daß sie wieder jener Gestalt gegen-

über auf ihrem Stuhle saß. Ein direkter Angriff schien nutzlos zu sein. Und sie war auch nicht mehr fähig, ihn zu unternehmen. Der Ekel war

wieder da, und eine Empfindung von Schwäche damit verbunden. Ihre Knie versagten noch den Dienst, und ihre auf der Seitenlehne des Stuhles liegende Hand zitterte heftig. Dabei hatte sie ein eigentümliches Gefühl von Nichtver-antwortlichkeit. Das Entsetzen herrschte nicht mehr in ihr vor, sondern nur eine niederdrückende Schwäche durch den Rückschlag.

Schweigend lehnte sie sich einige Minuten zurück, bald auch in das Feu-er, bald auf Lauries Gestalt ihr gegenüber blickend, wobei sie bemerkte, daß seine Hilflosigkeit vorüber zu sein schien. Er ließ die Hände nicht mehr her-

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abhängen, sondern hatte sie übereinandergelegt und saß aufrecht, aber mit ei-nem sonderbar starren und unnatürlichen Ausdruck da.

Noch einmal versuchte sie, mit Überlegung ihre Kräfte zu sammeln, aber ihr Wille hatte, wie es schien, den direkten Zusammenhang mit ihren geisti-gen Fähigkeiten verloren. Er vermochte nicht mehr so rasch einzugreifen und zu gebieten wie im Anfang. Passiv zu bleiben, schien jetzt für sie wichtiger zu sein, als zu handeln…

Dann plötzlich, und wie es schien, aus innerer Notwendigkeit, ohne Be-wegung oder Laut, schloß sie die Augen und begann innerlich zu beten, un-bekümmert und furchtlos. Es war ihre letzte Hoffnung. Und zugleich mit die-ser festen Willensregung — die sich wenigstens im Gebet betätigen konnte — drängten sich ihrem Intellekt tausend Bilder und Gedanken auf. Sie be-merkte die Stille des Hauses und die der atemlosen Frühlingsnacht draußen, sie sah Herrn Cathcart in dem Wirtshause über dem Weg drüben und Frau Baxter oben in ihrem Zimmer. Sie dachte über die Zukunft nach, wie sie sich am nächsten Tag — war es nicht Ostern? — gestalten würde, über die Ver-gangenheit und fast gar nicht über die Gegenwart. Sie entsagte allen Plänen, al-len Vorsätzen und Hoffnungen, sie verließ sich einfach auf eine höhere Macht wie ein müdes Kind und gab sich einem inneren Schauen von Bildern hin.

Wenn sie später an all das zurückdachte, rief sie sich auch ins Gedächtnis

zurück, daß diese Art zu beten ungewöhnlich beruhigend war, und daß sie dabei eine Empfindung von Erholung und Frieden hatte wie ein Wanderer, der aus einer stürmischen Nacht in ein erleuchtetes Haus tritt. Die Gegenwart Lauries war nicht einmal mehr störend, die nervösen Kraftäußerungen, wel-che er soeben an den Tag gelegt hatte, schienen harmlos und ohne weitere Wirkung zu sein.

Während einiger Zeit wenigstens war es so. Aber ein Moment kam, in dem es den Anschein hatte, als ob die fast mechanische und rhythmische Be-wegung, welche ihre innere Erregung begleitete, etwas zu ergreifen scheine. Es war, wie wenn eine Maschine, die frei gelaufen ist, sich wieder in ein Rad oder einen Zahn einhakt.

Als sie dies bemerkte, öffnete sie die Augen und sah, daß der andere sie aufmerksam und forschend anblickte. Und in diesem Moment erkannte sie zum erstenmal, daß es sich nicht, wie sie gedacht, um einen äußeren Kon-flikt, sondern um einen innern handle, innerhalb einer Sphäre, die ihr völlig

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unbekannt war. Nicht durch Worte oder Handlungen, sondern mittelst etwas anderem, das ihr nicht ganz klar war, mußte sie kämpfen.

Sie schloß wieder die Augen mit einem ganz neuen Vorsatz. Nicht Selbst-beherrschung war es, die ihr not tat, sondern eine feste innere Konzentrierung ihrer Kräfte.

Lautlos und in entschlossener Weise ließ sie wieder alle Willenskräfte spielen — indem sie mit wachsender Anstrengung alle intellektuellen Bilder abwies — jene Willenskräfte, welche allem Anschein nach auf den jungen Mann ihr gegenüber in ganz neuer Art eingewirkt hatten. Sie hatte keine Ah-nung von der Art der Krisis und wie sie eintreten würde. Sie sah nur, daß sie auf einem neuen Weg war, der irgendwohin führen mußte. Sie mußte ihn weiterverfolgen.

Ein schwacher Laut schreckte sie auf; sie öffnete die Augen und schaute empor. Laurie hatte seine Stellung verändert, und einen Moment klopfte ihr Herz in freudiger Hoffnung. Er saß nun vorgebeugt da, die Ellbogen auf den Knien und das Haupt in die Hände gestützt, und in dem gedämpften Licht der Lampe sah es aus, als ob er zittere.

Auch sie machte eine Bewegung, und das Rauschen ihres Gewandes er-regte seine Aufmerksamkeit. Er schaute auf, und ehe er den Kopf wieder senkte, konnte sie sein Gesicht deutlich sehen. Er lachte still und wie über-wältigt vor sich hin, ohne einen Laut von sich zu geben…

Während eines kurzen Augenblicks wurde sie von einem so heftigen Ekel erfaßt, daß sie nach Atem rang und sich an den Hals griff. Sie starrte auf das gesenkte Haupt und die bebenden Schultern mit einem Entsetzen, wie sie es zuvor noch nicht empfunden. Dies Lachen war schlimmer als alles andere, und es währte eine kleine Weile, ehe sie bemerkte, daß es kein natürliches war. Es war wie das Lachen einer Maschine. Und die Lautlosigkeit gab ihm noch einen besonderen Charakter.

Sie kämpfte mit sich selbst, um sich nicht der Verzweiflung hinzugeben. Mut und Liebe!

Wieder lehnte sie sich zurück, ohne etwas zu sagen, indem sie die Augen schloß, um das Schreckliche nicht zu sehen, und begann verzweiflungsvoll und entschlossen, wieder ihren ganzen Willen auf ihre Aufgabe zu richten.

Ein schwacher Laut störte sie von neuem. Er hatte abermals seine Stellung verändert und schaute sie mit einer selt-

samen Miene von zerstreutem Interesse an. Sein Gesicht hatte einen beinahe

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natürlichen Ausdruck, obwohl es noch durch das gezwungene Gelächter ge-rötet war; aber die unnatürliche Heiterkeit war vorüber. Dann sprach er schroffe, bittere Worte, in dem Tone eines Mannes, der zu einem ermüdeten Kinde spricht; und nun folgte eine kurze Unterredung, und sie nahm daran teil, wie in einem unnatürlichen Traum befangen.

„Es wäre besser, du würdest auf deiner Hut sein“, sagte er. „Ich fürchte mich nicht.“ „Nun — ich habe dich gewarnt. Es geschieht auf deine eigene Gefahr hin.

Was tust du?“ „Ich bete.“ „Das dachte ich mir… Nun, es wäre besser, du würdest dich in acht neh-

men.“ Sie nickte ihm zu, schloß ihre Augen mit neuer Zuversicht und fuhr in ih-

rem Gebet fort. Dann folgte eine Reihe von kleinen Szenen, von denen sie ein paar Tage

später nur einen unzusammenhängenden Bericht hätte geben können. Sie hatte schon vor längerer Zeit die Vordertüre zuschließen hören und

sie wußte, daß die Dienstboten zu Bett gegangen waren. Da hatte sie sich klargemacht, wie der Kampf lange dauern würde. Aber was jetzt zunächst geschah, prägte sich ihrem Gedächtnis dadurch ein, daß sie die große Uhr in der stillen Halle draußen schlagen hörte. Unmittelbar darauf begann er wie-der zu reden.

„Ich habe es nun lange genug ausgehalten“, sagte er in derselben schrof-fen Weise.

Sie öffnete die Augen. „Betest du immer noch?“ fragte er. Sie nickte. Er stand auf, ohne ein Wort zu sagen, und kam zu ihr herüber, indem er

sich, die Hände auf die Knie gestützt, vorbeugte, um in ihr Gesicht zu sehen. Wieder zu ihrer Verwunderung erschrak sie nicht. Sie verhielt sich zu-

wartend und schaute aufmerksam auf das sonderbare Wesen, welches durch Lauries Augen blickte und aus seinem Mund sprach. All das war so unwirk-lich wie ein phantastischer Traum. Es glich einem ungeheuerlichen Spiel oder Drama, das zu Ende geführt werden mußte.

„Und du willst in deinem Gebet fortfahren?“ „Ja.“

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„Meinst du, es habe auch nur den geringsten Nutzen?“ „Ja.“ Er lächelte in unnatürlicher Weise, wie wenn die Muskeln seines Mundes

ihm nicht ganz gehorchten. „Nun, ich habe dich gewarnt“, sagte er. Er drehte sich um, kehrte zu seinem Ruhebett zurück und streckte sich dies-

mal darauf aus wie zum Schlafen, und von ihr abgewandt. Er legte sich zurecht wie ein Hund. Einen Augenblick schaute sie nach ihm hin, dann schloß sie die Augen und begann von neuem zu beten.

Fünf Minuten später verstand sie alles. Das erste Symptom, dessen sie sich bewußt wurde, war die Unfähigkeit, ihr

Gebet in eine bestimmte Form zu bringen. Bis jetzt hatte sie sich, wie schon ge-sagt, auf eine gewaltige Macht gestützt, die außerhalb ihres eigenen Wesens war und dennoch durch ihr Inneres sich ihr näherte. Nun bedurfte es einer Willens-anstrengung, um an dieser Macht festzuhalten. Räumlich ausgedrückt, hatte sie wie ein Kind im Dunkeln von Zeit zu Zeit auf etwas Höherem geruht, das sie stützte; nun bemerkte sie, daß sie nicht mehr gestützt wurde, sondern daß es einer starken ununterbrochenen Anstrengung bedurfte, um es überhaupt noch zu erfas-sen. Um sie her war noch Dunkelheit, aber sie war von ganz anderer Art — so könnte dies ausgedrückt werden: Es war wie die Dunkelheit eines unbekannten Abgrundes im Vergleich mit der Dunkelheit eines vertrauten Zimmers. Es war von solcher Natur, daß Raum und Gestalt bedeutungslos erschienen…

Das nächste Symptom war ein Gefühl des Schreckens, dem gleich, welches sie hatte unterdrücken können, als sie vor vier oder fünf Stunden auf der Trep-pe stand. Jenes war etwas von außen Kommendes, auf das sie einging. Jetzt war es in sie eingedrungen und lag schwer und hemmend auf den eigentlich-sten Quellen ihres inneren Lebens. Es war der Schrecken über etwas, das im Anzug war. Das, was er ankündigte, war noch nicht da, aber es kam näher.

Das dritte Symptom war dieses Herannahen selbst — das rasch und still dem Herannahen eines Bären glich; so rasch war es, daß es in der Dunkelheit über sie kam, ehe sie sich rühren oder handeln konnte. Es kam zuletzt über sie wie ein Blitz, und sie begriff das ganze Geheimnis.

Man kann dies nur schildern, wie sie es später selbst schilderte. Die Kraftlosigkeit und der Schrecken waren nichts weiter als die Fernwirkung je-nes Herannahens, das Wesen selbst war der Mittelpunkt.

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Von jenem Reich, aus dem es kam, hatte sie vorher keinen Begriff gehabt, sie hatte das Böse nur in seinen Wirkungen gekannt — in ihren eigenen Sün-den und in den Sünden anderer —, es gekannt wie jemand, der bei einem Gang durch ein Krankenhaus gerötete oder bleiche Gesichter oder verbundene Wun-den sieht. Nun hatte sie einen Blick in dessen Wesen getan, in die Atmosphäre dieses bärenartigen Dinges, das über sie gekommen war. Was Schmerzen und Leiden im Verhältnis zum Tod sind, das waren Sünden im Verhältnis zu die-sem Wesen — Symptome, Warnungen, Ursachen, aber nicht es selbst. Und sie bemerkte, daß das Ding aus einer geistigen Ferne kam, die so undenkbar und unermeßlich war, daß sogar das Wort Entfernung wenig besagen wollte.

Nur in Metaphern konnte sie die Art dieser Persönlichkeit schildern. Aber diejenigen, mit welchen sie darüber sprach, mußten verstehen können, daß es nicht diese oder jene Eigenschaft ihres Wesens war, die sozusagen mit jener Persönlichkeit zusammenstieß, sondern daß ihr ganzes Wesen so vollständig von jener ausgefüllt wurde, daß es ihr kaum noch möglich war, ihr eigenes In-neres davon zu unterscheiden. Ihre Verstandeskräfte waren untätig, ihr Gefühl widersetzte sich nicht länger, ihr Gedächtnis hatte einfach aufgehört. Dennoch blieb während des Schlimmsten noch ein winziger, unendlich kleiner Funken von Identität übrig, welcher darauf bestand: „Ich bin ich, und ich bin nicht je-nes.“ Eine Analyse oder Betrachtung fand in ihr nicht statt; kaum kam es zu ei-ner Empfindung von Widerwillen. Ja es gab eine kurze Zeit, da es diesem win-zigen Rest von Identität als eine unberechenbare Erleichterung erschien, den Kampf aufzugeben und sich von jener erstaunlich starken und zwingenden Per-sönlichkeit, die schon alles andere beherrschte, auch überwältigen zu lassen. Erleichterung? Gewiß. Denn obgleich ihre Empfindung, wie die meisten Men-schen sie kennen, unterdrückt war — jene von Menschenliebe oder Menschen-haß erregte Empfindung —, blieb doch ein Instinkt zurück, der sich gegen jene Überwältigung sträubte und sich durch eine lange, ununterbrochene Anstren-gung in seinem Wesen behauptete.

Denn die Bösartigkeit des Dinges war überwältigend. Nicht nur ein Zwang ging von ihm aus, es hatte einen eigenen Charakter, für den Maggie später kei-ne Worte fand. Sie konnte nur sagen, daß es, weit entfernt, nur eine Negation oder Leere oder ein Nichtsein zu sein, eine Miene hatte, heiß wie eine Flamme, schwarz wie Pech und hart wie Eisen.

So war eine Zeitlang die Situation, über welche sie später nur Vermutungen anstellen konnte. Da gab es weder Entwicklung noch Bewegung noch meß-

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bare Umstände. Da war nur ein Zustand, der im Gleichgewicht blieb, tief un-terhalb all jener verhältnismäßig oberflächlichen Fähigkeiten, womit die Men-schen im allgemeinen ihre Angelegenheiten betreiben, — jener Zustand, in welchem zwei Persönlichkeiten einander gegenüberstehen, durch einen festen Griff so zusammengeschweißt, daß die völlige Verschmelzung das Nächste sein müßte…

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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Achtzehntes Kapitel

Die Hähne krähten in den Höfen hinter dem Dorf in hellen, schrillen Tö-nen, und wie ein Echo ertönte vom Hügel her eine Antwort, und in den Ei-benbäumen war es lebendig geworden von dem morgendlichen Zwitschern der Sperlinge, als Maggie die Augen öffnete.

Sie lag ganz ruhig da, unter müden Augenlidern durch die Fenster, die man nicht mit Laden verschlossen hatte, den glühenden Schein betrachtend, hinter den ineinanderverschlungenen Baumstämmen und hinter dem schlan-ken, hellen Birkenwald zur Seite des Gartens. Unmittelbar vor dem Fenster lag der Eibenpfad mit seinen dichten Nadeln, weiterhin war der Erdefeu sicht-bar und der tauige Rasen, der in dem seltsamen mystischen Licht des Morgens schimmerte.

Sie hatte nicht erst nötig, sich irgend etwas ins Gedächtnis zurückzurufen oder Betrachtungen anzustellen. Sie erinnerte sich noch jeder Einzelheit und der ganzen Entwicklung der Ereignisse in der vergangenen Nacht. Das war Laurie, der ihr gegenüber in tiefem Schlafe lag, den Kopf auf dem Arm ruhend und tief und regelmäßig atmend, und dies war das kleine Rauchzimmer, wo sie die Zigaretten für ihn am vergangenen Abend hatte bereit liegen sehen.

Noch lag ein glimmendes Holzscheit im Kamin, wie sie bemerkte. Sie er-hob sich mit steif gewordenen Gliedern leise von ihrem Stuhl, denn sie fühlte sich in unerträglicher Weise müde und abgespannt. Aber man durfte den Jun-gen nicht stören. Darum kniete sie nieder, hob mit einer ungeheuern Kraftan-strengung einige Kohlen von der Schutzplatte auf und warf sie geschickt in die Mitte der roten Glut. Nun fiel ein Holzstück, das sich loslöste, mit lautem Geräusch herab, und sie wußte, ohne auch nur den Kopf zu wenden, daß der Junge aufgewacht war. Ein schwaches, unartikuliertes Murmeln wurde hör-bar, ein Geräusch und ein tiefer Seufzer.

Dann wandte sie sich um. Laurie lag auf dem Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und

schaute sie mit einer ruhigen, nachdenklichen Miene an. Er schien ebensowe-nig erstaunt oder bestürzt zu sein wie sie selbst. Er sah in der Morgendämme-

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rung etwas blaß und ermüdet aus, aber seine Augen waren hell und hatten ei-nen steten Blick.

Sie erhob sich von ihren Knien, immer noch schweigend, und blieb, aufihn niederschauend, stehen, und er schaute sie wieder an. Worte waren hierüberflüssig. Es war einer jener Momente, in welchen man es nicht einmal ausspricht, daß Worte von Überfluß sind. Man schaut auf alles wie auf ei-nen offenen Strich Landes. Man bedarf des Schauens, nicht der Erläute-rung dazu.

Ihre Augen wandten sich mit der gleichen Ruhe ab und auf den leuchten-den Garten draußen, und in ihrem langsam erwachenden, sich neu entfalten-den Geist stieg ein Bruchstück einer Stelle im Evangelium auf, das nach Er-gänzung verlangte.

„Als es noch frühe war… kamen sie zum Grabe.“ — Wie heißt es weiter? „Maria…“, dann sagte sie:

„Es ist Ostern heute, Laurie.“ Der junge Mann nickte sanft, und sie sah, daß sich seine Augen langsam

wieder schlossen. Er war noch nicht einmal halb erwacht. Auf den Fußspit-zen ging sie an ihm vorüber zum Fenster, drehte den Griff und öffnete die hohen weißen Flügel. Ein Luftstrom, süß wie Wein, erfüllt von dem Duft des Taues, der Frühlingsblumen und der feuchten Wiesen, stahl sich herein. Eine Amsel im Gartengebüsch stimmte ihr Lied an, unterbrach sich dann, zwit-scherte melodisch, flog heraus und verschwand, einen großen Bogen um-schreibend, hinter den Eibenbäumen. Die Welt der Vierfüßer und Vögel war erst halb erwacht, und von dem Dörfchen außerhalb der Umzäunung, jenseits der Bäume, stieg noch keine Spur von Rauch auf, und kein Schall von Fuß-tritten war auf dem Pflaster zu hören.

In diesem Moment trat ihr kein Bild der Zukunft vor Augen. Die Minu-ten, die vorübergingen, genügten ihr. Sie gedachte wohl des alten Mannes, der im Wirtshaus schlief, und der alten Dame oben, aber sie wiederholte sich nichts von dem, was ihnen nach und nach gesagt werden sollte. Sie dachte nicht einmal daran, wieviel es an der Zeit sei, oder ob sie jetzt noch für eine Weile zu Bett gehen könne. Sie zog keine Schlußfolgerungen, sie warf kaum einen Blick auf das Vergangene; sie war ganz von der Gegenwart erfüllt, und sogar nur ein Teil der Gegenwart nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Der feuchte Rasen, der aufleuchtende Osthimmel, die kühle Luft — diese und die Freude, die der Morgen gebracht hatte, genügten.

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Wieder ertönte ein tiefer Seufzer hinter ihr und einen Augenblick später ein Schritt auf dem Fußboden, und Laurie stand neben ihr. Sie sah ihn von der Sei-te an, sich einen Augenblick fragend, ob seine Stimmung der ihren gliche, und sein ernstes ermüdetes Jünglingsgesicht war eine genügende Antwort. Sein Blick begegnete dem ihren, dann schweiften seine Augen wieder hinaus über den Garten.

Er war der erste, der sprach. „Maggie, ich glaube, es ist am besten, wenn wir niemals mehr davon mit-

einander reden.“ Sie nickte, aber er fuhr fort: „Ich verstehe sehr wenig davon. Ich möchte auch nicht mehr verstehen.

Ich werde keine Fragen stellen, und es braucht niemand etwas gesagt zu wer-den. Bist du einverstanden?“

„Ich bin vollkommen einverstanden“, sagte sie. „Und natürlich kein Wort zu meiner Mutter.“ „Natürlich nicht.“ Beide schwiegen wieder. Und nun machte sich die Wirklichkeit — oder vielmehr die Fähigkeit, sich

zu erinnern und Betrachtungen anzustellen, mittelst welcher wir die Wirklich-keit erfassen — wieder bei dem jungen Mädchen geltend und beschäftigte ihr Gemüt. Langsam und ohne jede innere Unruhe begann sie sich das Vergangene zurückzurufen, die langsame Steigerung während der letzten Monate, das wachsende Grollen des geistigen Sturmes, der in der letzten Nacht zum Aus-bruch gekommen war — das Brausen und Tollen dieses Sturmes selbst und den furchtbaren instinktiven Kampf um das bewußte Leben und die eigene Identität, den sie durchgekämpft hatte. Und es schien ihr, als ob jener Sturm, wie die Stürme in der materiellen Welt, die Atmosphäre gereinigt habe und ei-nen Druck entladen, dessen sie sich nur halb bewußt gewesen war. Nicht nur sie selbst war es, die in diesem „klaren Schein nach dem Regen“ neu auflebte, der junge Mann neben ihr schien ihre Freude zu teilen. Sie standen jetzt mitei-nander in einem geistigen Garten, von welchem dieser liebliche Morgen nur die plumpe Übersetzung in eine andere Sprache war. Eine Luft regte sich um sie, die wie Wein für die Seele, eine Kühle und Klarheit, die über alle Vorstel-lung hinausging, inmitten eines strahlenden Glanzes, der alles, was sich in ihm badete, durch und durch beleuchtete, wie Sonnenschein, der in das Wasser dringt. Sie begriff jetzt, daß diese Erfahrung zu einer Weihe für sie beide ge-

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worden war, daß sie hier standen, eines bei dem andern, jedes durchsichtig für das andere, oder wenigstens er durchsichtig für sie; und sie fragte sich —nicht, ob er dies wahrnehmen würde, wie sie es wahrnahm — denn darauf vertraute sie —, sondern wann. Während dieses Schweigens schaute sie ihn durch und durch und begriff, daß Schauen alles ist. Sie sah die Mängel an ihm so klar wie an sich selbst, die Flecken in dem Kristall; aber sie kamen nicht in Betracht, denn Kristall ist Kristall.

So wartete sie vertrauensvoll, bis er das auch verstehen würde. „Aber dies ist nur ein Teil dessen, was mir im Sinn liegt —“ Er brach ab. Nun zum erstenmal, seitdem sie die Augen wieder geöffnet hatte, begann

ihr das Herz zu klopfen. Das, was so lang verborgen geblieben — das, was sie niedergehalten unter Stein und Siegel mit dem Gebot stillzuliegen — und was sie dennoch während der Nacht, die nun vergangen war, so standhaft gemacht hatte, ohne daß sie es selbst wußte, — das machte sich wieder geltend und wartete auf Befreiung.

„Aber wie darf ich —“ begann Laurie. Wieder blickte sie ihn an und erschrak dann darüber, daß ihre Augen und

Lippen allzu deutlich aussprechen könnten, was sie im Herzen trug, und sie sah, wie er noch in den Garten schaute und doch nichts anderes sah als seinen eigenen Gedanken, der dort auf dem Leuchten des Himmels, der Blätter und des Grases geschrieben stand. Von Osten her fiel ein Glanz auf sein Gesicht, und sie sah darin die Linien, die immer von den Qualen erzählen würden, welche er durchgemacht; und wieder erhob ein Schrecken in ihrem Herzen sein Haupt, trotz ihres Vertrauens, und machte sie fürchten, daß ihn irgendein Irrtum, eine konventionelle Scham veranlassen könne, nicht mehr zu sagen.

Dann wandte er seine unruhevollen Augen und schaute ihr ins Gesicht,und während er sie anschaute, klärte sich sein Blick auf.

„Nun, Maggie!“ sagte er.

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Epilog

„Und das Schlimmste dabei ist“, sagte Maggie vier Monate später zu ei-ner sehr geduldig zuhörenden Freundin, einer Verehrerin von ihr und die ge-rade ihre Confidente war — „ja, das Schimmste dabei ist, daß ich jetzt nicht einmal weiß, was ich eigentlich glaube.“

„Erzähle mir alles, meine Liebe“, erwiderte die Freundin. Die beiden saßen an einem entzückenden Ruheplätzchen am untern Ende

der doppelten Heckenreihe. Über ihnen und neben ihnen prangte das üppige Grün des Hochsommers, Hasel- und Buchenlaub so dicht wie das Dach und die Wände eines Sommerhauses; der langgestreckte Pfad zog sich durch eine grüne Dämmerung bis zu den alten Backsteinstufen unter den Eiben. Vor den beiden Mädchen stand das hübsche Teegeräte — Silber, Porzellan, Damast — um so anmutender wegen des starken Kontrastes mit der Umgebung.

Maggie sah wunderbar gut aus, wenn man die Nervenüberreizung in Be-tracht zog, unter der sie um die Osterzeit gelitten. In der Osterwoche selbst hatte es den Anschein gehabt, als ob sie vollständig zusammenbräche, und sie war dann zu ihrer Erholung bis vor acht Tagen in ihrem geliebten franzö-sischen Kloster gewesen. Die Nonnen hatten ihr durchaus verboten, von ih-ren Erfahrungen zu sprechen, sobald sie den Sachverhalt einigermaßen hatten kennenlernen. Frau Baxter hatte sich unterdessen die Zeit mit einer ziemlich melancholischen Reise auf dem Kontinent vertrieben und wurde heute abend zurückerwartet.

„Es kommt mir jetzt gerade wie ein böser Traum vor“, sagte Maggie nachdenklich, indem sie mit einer kleinen silbernen Schaufel den Tee in die Kanne maß. „O Mabel, darf ich dir ausführlich sagen, was ich denke, und dann gar nicht mehr davon sprechen?“

„O gewiß“, antwortete das junge Mädchen, indem sie sich behaglich zu-rechtrückte.

Nachdem der Tee eingeschenkt und die Teller bereitgestellt waren, be-gann Maggie.

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„Es ist ganz schrecklich, daß ich nach allem, was vorgegangen, überhaupt

noch zweifle, aber — aber, du weißt nicht, wie seltsam mir alles vorkommt. Da ist etwas wie eine dichte Hecke“ — sie wies zur Illustration auf die Ha-selhecke hin — „etwas wie eine dichte Hecke, das zwischen mir und Ostern liegt, — es ist wohl die Krankheit, sagten mir die Nonnen. Es ist nämlich so: Ich sehe jenseits der Hecke mich selbst und Laurie und Herrn Cathcart und alle die andern, die sich wie Figuren bewegen, und alle scheinen sich wie Verrückte zu gebärden, als ob sie etwas erblickten, was ich nicht sehen kann… Ach, es ist ganz unmöglich…

Die erste Theorie, die ich mir darüber aufstellte, ist die, daß diese kleinen Gestalten, worunter auch ich, wirklich etwas sehen, was ich jetzt nicht sehen kann, daß wirklich etwas oder jemand da war, der sie so herumtanzen mach-te. (Ja, ich weiß, das ist nicht sprachgemäß ausgedrückt, aber du verstehst mich, nicht?) Nun, ich werde gleich darauf zurückkommen.

Und meine zweite Theorie ist die… ist die —“ (Maggie schlürfte nach-denklich ihren Tee) — „meine zweite Theorie ist die, daß die ganze Ge-schichte einfach in der Einbildung bestand, oder vielmehr, daß die Einbil-dung einige geringfügige Tatsachen und Zwischenfälle aufgriff, und daß viel-leicht auch etwas Betrug dabei war. Du weißt doch, wenn man eifersüchtig oder reizbar ist, wie alles zusammenzutreffen scheint, wie jede einzelne Äu-ßerung von Personen, gegen die wir Mißtrauen hegen, sich in unser System einfügt und unsern Verdacht bestätigt. Es ist nicht bloße Einbildung, es lie-gen gewissermaßen wirkliche Tatsachen vor, aber die Sache ist die, daß man sie so und nicht anders auffaßt. Man sucht sie aus und legt sie sich zurecht, bis sie etwas Überzeugendes haben. Und doch, weißt du, beruht alles in neun Fällen von zehn auf einer Lüge!… O, ich kann mir ja nicht alles erklären, das ist sicher. Ich kann mir zum Beispiel die Geschichte mit dem Bleistift nicht erklären — vor Lauries Augen richtete er sich auf; das heißt, wenn er sich überhaupt aufgerichtet hat. Er sagt selbst, die ganze Geschichte komme ihm jetzt etwas unklar vor, wie wenn er sie in einem sehr lebhaften Traum gese-hen hätte. (Nimmst du nichts von diesen Süßigkeiten?)

Nun kommen noch die Erscheinungen dazu, die Laurie gesehen hat, und der außerordentlich große Eindruck, den sie zuletzt auf ihn machten. O ja, zu jener Zeit, ich meine den Vorabend des Ostersamstags, war ich ganz über-zeugt, daß all dies Wirklichkeit, daß er in der Tat besessen sei, daß das Ding — jene Persönlichkeit meine ich — in mich eindrang, und daß ich auf ir-

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gendeine Weise den Sieg errungen habe. Herr Cathcart meint, ich habe darin recht. — Nun, ich werde gleich darauf zurückkommen. Wenn es sich aber nicht so verhält, kann ich durchaus nicht erklären, was es war. Freilich gibt es vieles, was man nicht erklären kann, und man zieht doch nicht gleich den Schluß daraus, daß der Teufel dabei im Spiel sein müsse. Man sagt, daß wir in der Tat sehr wenig von dem wissen, was in unserm Innern vorgeht. Da sprechen wir zum Beispiel vom Instinkt. Wir wissen nichts weiter davon, als daß er da ist. ,Ererbte Erfahrungʻ ist doch nur ein ungeschickter Ausdruck da-für — gleichsam ein mit Gummi bestrichenes Papier, mit dem man einen Riß in der Wand zuklebt.

Und nun komme ich zu meiner dritten Theorie. (Maggie schenkte sich noch eine Tasse Tee ein.) Über meine dritte Theorie bin ich sehr im unklaren. Und doch sehe ich

sehr wohl ein, daß es möglicherweise die richtige ist. (Bitte, unterbrich mich nicht, bis ich ganz fertig bin.)

Wir haben gewisse Kräfte in uns, die wir gar nicht begreifen, zum Bei-spiel die Gedankenübertragung. Daran kann nicht im geringsten gezweifeltwerden. Ich sitze hier und kann dir ohne Worte übermitteln, was ich denke — o, natürlich in unbestimmter Weise. Es zeigt sich hier in anderer Form, was wir sonst Sympathie und Intuition nennen. Siehst du nun, manche Leute erklären damit die Spukgeschichten. Während ein Mord begangen wird, sind der Mörder und die ermordete Person wahrscheinlich schrecklich erregt —vor Zorn, Furcht und so weiter. Das bedeutet, daß ihr ganzes Wesen bis auf den Grund aufgewühlt ist, und daß ihre geheimen Kräfte in erschreckender Tätigkeit sind. Nun nimmt man an, daß diese geheimen Kräfte fast wie Säuren oder Gase sind — (Hudson spricht ja ausführlich darüber) — und daß diese sich in einem so hohen Grad dem Raum mitteilen können, daß, wenn nach Jahren eine empfängliche Persönlichkeit hineintritt, sie vielleicht den ganzen Vorgang genau so vor sich sieht, wie er sich zutrug. Die Atmosphäre wirkt zuerst auf deren Geist und dann auf die Sinne — gerade in der um-gekehrten Ordnung, in der wir sonst die Dinge wahrnehmen.

Nun — das ist nur eine Illustration. Meine Idee davon ist die: Wie können wir wissen, ob all die Vorgänge von dem Bleistift, dem Klopfen und der au-tomatischen Schrift an bis hinauf zu den Erscheinungen, die Laurie sah, nicht einfach das Resultat der Wirksamkeit jener inneren Kräfte sind!… Sieh ein-mal. Wenn ein Mensch einen Gedanken auf einen andern überträgt, so wird

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ein sehr abgeblaßtes Bild des Gedachten auf jenen übergehen. Wenn ich ans Herzas denke, sieht der andere ein weißes Rechteck mit einem roten Flecken in der Mitte. Verstehst du? Nimm das in hundertfachem Maßstab, und dann kann man gerade begreifen, wie es möglich ist, daß der Gedanke von… von Herrn Vincent und der Gedanke von Laurie zusammen eine Art von unwirk-lichem Phantom hervorbringen, das vielleicht sogar betastet werden könn-te… O, ich weiß nicht.“

Maggie machte eine Pause. Das junge Mädchen an ihrer Seite murmelte einige aufmunternde Worte.

„Nun — das ist ungefähr alles“, sagte Maggie langsam. „Du hast aber nicht —“ „Ach ja, wie dumm! Ja, meine erste Theorie… Nun, daran sieht man, wie

wenig Wert sie jetzt noch für mich hat. Ich hatte sie vergessen. Nun denn, meine erste Theorie, geliebte Brüder, zerfällt in zwei Ab-

schnitte — erstens in die Theorie der Spiritisten, zweitens in die des Herrn Cathcart. (Er ist ein lieber Mensch, Mabel, wenn ich auch nicht ein Wort von dem, was er sagt, glaube.)

Also, die spiritistische Theorie kommt mir einfach vor wie B. L. E. C. H. = Blech. Herr Vincent, Frau Stapleton und die übrigen meinen, daß die See-len der Verstorbenen wirklich zurückkommen und solche Dinge tun können, daß es wirklich und wahrhaftig die arme liebe Amy Nugent war, die Laurie in so schreckliche Drangsal brachte. Ich bin ganz, ganz fest überzeugt, daß dies nicht wahr ist, was auch sonst wahr sein mag… Ja, ich werde gleich auf das Drum und Dran eingehen. Aber wie wäre es denn nur möglich, daß Amy zurückkommt und solche Dinge tut und Laurie in so schreckliche Drangsal bringt? Wenn sie auch wollte, sie könnte es nicht einmal. Um ganz offen zu sein, meine Liebe, sie war ein recht gewöhnliches kleines Ding, und zudem würde sie ihm nicht ein Haar gekrümmt haben.“

„Nun, und Herr Cathcart?“ Eine lange Pause trat ein. Eine kleine Katze kam plötzlich aus den Hasel-

sträuchern hervor und blinzelte die jungen Mädchen an. Dann, als Maggies Auge auf sie fiel, verzog sie pathetisch ihren Mund, als ob sie eine Bitte aus-drücken wollte.

„Du liebes Ding“, rief Maggie plötzlich, nahm eine Untertasse, goß Milch hinein und stellte sie auf die Erde. Das Kätzchen kam zierlich herbei und machte sich darüber her.

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Page 121: Benson, Robert Hugh - Die Geisterbeschwörer (German, Deutsch, Fantasy, Esoterik, Spiritismus)

„Nun?“ forderte Mabel zum Weitersprechen auf. „O ja, Herr Cathcart… Ei, da muß ich sagen, daß seine Theorie mit dem

übereinstimmt, was Father Mahon sagt. Aber weißt du, die Theologie be-hauptet nicht, daß hinter dieser oder jener bestimmten Sache der Teufel stek-ke, oder daß sie wirklich geschehe — nur, wenn sie wirklich geschähe, dann stecke der Teufel dahinter. Dies ist die Ansicht des Herrn Cathcart. Es ist ei-ne lange Geschichte, wenn es dir nichts verschlägt, zuzuhören.

Erstens glaubt er an den Teufel in einer Weise, die etwas ganz Unge-wöhnliches an sich hat… Ach ja, ich weiß, wir glauben ja auch an ihn. Aber er sieht ihn körperlich vor sich. Er glaubt, daß die Luft ganz voll von Teufeln ist, und daß sie sich alle aufs äußerste bemühen, Menschen einzufangen. Ja, ich weiß, wir glauben das auch; aber ich nehme an, daß wir allzu skeptisch sind, da eine Menge von Dingen — wie auch die bösen Träume —, die wir bisher für Teufelswerk gehalten haben, jetzt nur auf Magenstörungen zurück-geführt werden. Herr Cathcart nun glaubt sowohl an Magenstörungen, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, als auch an den Teufel. Er glaubt, daß uns die bösen Geister immer nachstellen und zu jeder Ritze, die sie finden, einzu-dringen versuchen —, daß sie bei dem einen Wahnsinn, bei dem andern nur eine Nervenzerrüttung oder etwas Ähnliches verursachen (— ich muß sagen, es ist auch recht seltsam, daß die Wahnsinnigen so schreckliche Gottesläste-rungen und Ähnliches ausstoßen); diese bösen Geister verstehen es, aus je-dem schwachen Punkt, wo er auch sei, Vorteil zu ziehen.

Und dies gelingt ihnen am leichtesten durch den Spiritismus. Der Spiritis-mus ist im Unrecht — das wissen wir ganz gut; er ist im Unrecht, weil er ver-sucht, das Leben so zu führen, daß er Dinge ausfindig macht, die jetzt noch unser Verständnis übersteigen. Er ist im Unrecht, weil er, um es mild auszu-drücken, ein Schimpf für unsere menschliche Natur ist. (Ja, Mabel, so drück-te Herr Cathcart sich aus.) Eine gute Absicht dabei zu haben, gewährt nicht den geringsten Schutz. In einer guten Absicht in Séances zu gehen, ist gerade wie… wie… wenn man zugunsten eines Waisenhauses ein Konzert in einem Pulvermagazin abhalten würde. Es hilft auch gar nichts — ich sage dies allen Ernstes, meine Liebe — es hilft gar nichts, das Konzert mit Gebet anzufan-gen. Wir haben an einem solchen Ort nichts zu schaffen und deshalb werden wir in die Luft gesprengt.

Die Gefahr?… Die Gefahr, wie Herr Cathcart sagt, liegt darin: In den Sé-ances, wenn es richtige sind, mit automatischer Schrift und all den Zutaten,

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tritt man mit Überlegung in freundliche Beziehungen zu jenen Mächten, und durch den Zustand der Passivität, in den man sich versetzen muß, öffnet man ihnen Tür und Tor. Manchmal vermögen sie nicht einzudringen, und dann fühlt man sich nur beunruhigt. Aber manchmal gelingt es ihnen, und dann ist es um uns geschehen. Es ist ganz besonders schwer, sie wieder loszuwerden.

Natürlich würde es niemand bei gesunden Sinnen einfallen, dies alles mitzumachen, am wenigsten anständigen Leuten —, wenn sie wüßten, was es zu bedeuten hat. Jene Wesen, wer sie auch immer sein mögen, geben vor, je-mand anders zu sein. Sie sind sehr klug; sie stellen allerlei Zufälligkeiten und geringfügige Tatsachen zusammen, üben kleine Tricks aus, und mit Hilfe derselben stellen sie eine Person dar, die dem Fragenden sehr teuer ist. Um ihn immer weiter zu treiben, äußern sie sich zuerst nur in frommer, harmloser Weise. So machen sie eine Zeitlang fort und lassen dabei die Religion als Wahrheit gelten. (Nebenbei gesagt, es ist zu merkwürdig, daß die katholische Kirche die einzige zu sein scheint, die sie nicht leiden mögen! Man kann fast alles andre sein und Spiritist, nur nicht Katholik.) Gewöhnlich wird einem zwar gesagt, man solle beten und Choräle singen. (Als ich neulich Father Mahon vorschlug, den Choralgesang in der Kirche einzuführen, sagte er, die Ketzer pflegten den Choralgesang!) Und so geht man weiter. Dann geben sie nach und nach zu verstehen, daß die Religion nicht viel Wert habe, und dann greifen sie die Moral an. Herr Cathcart wollte mir nicht Weiteres darüber mitteilen, meinte aber, es könne zum Schlimmsten führen, wenn man nicht auf seiner Hut sei.“

Wieder machte Maggie eine Pause und sah sehr ernst aus. Sie hatte mit etwas erhobener Stimme gesprochen, und ihr Gesicht hatte mehr Farbe be-kommen. Jetzt bückte sie sich nieder und hob die Untertasse vom Boden auf.

„Liebste, wäre es nicht besser —“ „Ja, ja, ich bin beinahe zu Ende“, antwortete Maggie lebhaft. „Es bleibt

kaum noch etwas zu sagen übrig. Ihr Gedankengang ist der: Sie wollen menschlicher Wesen habhaft werden und Einfluß auf sie gewinnen. Darumgehen sie auf diese Weise vor.

Und so ist es nach Herrn Cathcarts Aussage mit Laurie gegangen. Einer von diesen bestialischen Geistern kam und übernahm die Rolle der armen Amy. Der Geist hatte sich einige ihrer Eigentümlichkeiten angeeignet, ihr Äußeres, ihre Art zu stammeln und mit den Fingern zu spielen, er wußte von dem Grab und ähnlichem und trat schließlich in ihrer Gestalt auf.“

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Das junge Mädchen, welches, die Hände im Schoße, aufrecht dasaß, re-präsentierte einen ganz andern Typus — jenen Typus, von dem man unmög-lich etwas anderes sagen kann, als daß er sich in jeder Gesellschaft zur Gel-tung bringt. Jeder Astrolog von einigem Ansehen würde es nicht schwierig gefunden haben, ihre Geburt im Zeichen des Skorpions nachzuweisen. Ihre äußere Erscheinung war nicht auffallend, aber ungemein einnehmend, und sie gewann noch bei näherer Bekanntschaft. Ihre Schönheit hatte eine sichere Grundlage: regelmäßige Gesichtszüge, ein rundes Kinn mit einem Grübchen, eine Fülle dunkler, gewundener Haarflechten und große, klare, braune Augen mit ruhigem Blick. Ihre Hände waren nicht klein, aber schön geformt, ihre Gestalt war schlank, wohlgebildet und sah in jeder Stellung ungezwungen aus. Ihr ganzes Wesen drückte Ruhe, Kraft, Tüchtigkeit und Vielseitigkeit aus, und Frau Baxter gegenübergestellt, glich sie einem Schäferhund von gu-ter Rasse, der eine Angorakatze beobachtet.

Sie sprachen gerade über Laurie Baxter. „Der gute Laurie ist so ungestüm und so sensitiv“, murmelte seine Mut-

ter, ihre Nadel gemächlich durch die Seide ziehend und dann den Stoff glät-tend, „und alles ist so furchtbar traurig.“

Das war nicht zu leugnen, und Maggie sagte nichts, obwohl ihre Lippen sich öffneten, als ob sie sprechen wolle. Sie schloß sie aber wieder und be-obachtete das Funkeln der brennenden Holzscheiter im Kamin. Nun begann Frau Baxter wieder zu erzählen.

„Als ich zuerst vom Tode des armen Mädchens hörte“, sagte sie, „erschien mir dies wie eine Fügung der Vorsehung. Es wäre zu schrecklich gewesen, wenn er sie geheiratet hätte. Am Donnerstag, als es sich zutrug, war er abwesend, wie du weißt; aber am Freitag kehrte er zurück, und von der Zeit an hat er sich wie — wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich tat, was ich konnte, aber —“

„Wäre sie ganz unmöglich gewesen?“ fragte Maggie in ihrer bedächtigen Redeweise. „Wie du weißt, habe ich sie ja niemals gesehen.“

Frau Baxter legte ihre Stickerei nieder. „Ja, meine Liebe. Nun, ich will natürlich kein Wort gegen ihren Charakter

sagen. Sie war so gut, wie man nur sein kann, glaube ich. Aber weißt du, ihr Heim, ihr Vater — nun, was kannst du von einem Gewürzkrämer erwarten — und von einem Baptisten“, fügte sie mit einem Anflug von Feindseligkeit hinzu.

„Wie sah sie aus?“ fragte das junge Mädchen, immer noch mit derselben nachdenklichen Miene.

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„Meine Liebe, sie sah aus wie ein Bild auf einer Schokoladenschachtel.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie war klein, hatte helles Haar und eine sehr hübsche Gesichtsfarbe und trug immer ein Band im Haar. Laurie brachte sie in den Garten, um mich kennenzulernen, weißt du. — Ich hatte die Empfin-dung, als ob ich es nicht ertragen könne, sie schon jetzt im Hause zu haben, obwohl es natürlich doch einmal hätte dazu kommen müssen. Sie sprach sehr vorsichtig, aber mit einem unverkennbaren Akzent. Einmal ließ sie ein H aus und dann sagte sie dasselbe Wort noch einmal ganz richtig.“

Maggie nickte unmerklich mit einer gewissen mitleidigen Miene, und Frau Baxter fuhr ermutigt fort.

„Sie stammelte ein wenig, was — was Laurie sehr hübsch fand, und sie hatte eine ruhelose Art, mit den Fingern wie auf einem Klavier zu spielen. O meine Liebe, es wäre zu schrecklich gewesen; und mein armer Junge —“

Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen des Mitleids, und sie legte ihre Stickerei nieder, um ein kleines, mit Spitzen besetztes Taschentuch hervorzuziehen.

Maggie lehnte sich mit einer gemächlichen Bewegung in ihren niederen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopfe haltend, aber sie sprach immer noch nichts. Frau Baxter beendigte die kleine Zeremonie, ihre Tränen zu trocknen, beugte sich dann über ihre Handarbeit, immer noch ein wenig mit den Augen zuckend, und fuhr in ihrer Erklärung fort.

„Versuche ihm zu helfen, meine Liebe. Das ist der Grund, weshalb ich dich aufforderte, gestern zu kommen. Ich wünschte, daß du bei dem Lei-chenbegängnis im Hause seist; du weißt ja, dadurch, daß Laurie in Oxford katholisch geworden ist, seid ihr beide euch nähergekommen. Es hilft nichts, wenn ich mit ihm über die religiöse Seite der Sache rede, er meint, ich wisse gar nichts von der künftigen Welt, obgleich ich überzeugt bin —“

„Sage mir“, begann das junge Mädchen, ohne seine Stellung zu verän-dern, plötzlich, „hat er seine Religion auch in seiner Lebensführung gezeigt? Du weißt, ich habe ihn in diesem Jahre nicht oft gesehen und —“

„Ich fürchte, nicht ganz auf die richtige Art“, war die tolerante Antwort der alten Dame. „Zuerst dachte er daran, Priester zu werden, wie du dich er-innern wirst, und ich hätte gewiß keine Einwendungen gemacht; und dann, im Frühling, schien er der Sache ein wenig müde zu werden. Ich glaube nicht, daß er mit Father Mahon sehr gut auskommt. Auch glaube ich nicht, daß Father Mahon ihn ganz versteht. Er war es, weißt du, der ihm davon

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Alle Rechte vorbehalten

Erstes Kapitel

I. „Ich bin sehr betrübt über all das“, murmelte Frau Baxter. Sie war eine kleine, zart aussehende alte Dame, der echte Typus der

frommen Witwe mit dem Silberhaar, das ein geschmackvolles Spitzenhäub-chen krönte. Sie trug ein Kleid von dünnem schwarzen Stoff, hatte eine Ge-sichtsfarbe wie kostbares Porzellan, freundliche, kurzsichtige blaue Augen und weiße, blaugeäderte Hände, die nun mit einer weiblichen Näharbeit be-schäftigt waren. Sie verbreitete immer eine Atmosphäre ergebener, liebevol-ler und aufrichtiger Frömmigkeit um sich, die ihr so beständig anhaftete wie das Sandelholzaroma, das ihrem Kleid entströmte. In ihren Ansichten über die Welt war sie unerschütterlich und unnahbar, wie dem jungen Mädchen, das sie eben betrachtete, allmählich klar wurde. Begebenheiten, welche mit diesen Ansichten in Konflikt kamen, waren für sie entweder nicht vorhanden oder zu außergewöhnlich, um berücksichtigt werden zu können. Wenn man ihr hart zusetzte, legte sie eine würdevolle Empfindlichkeit an den Tag, die jedes weitere Argument unmöglich machte.

Das Zimmer, worin sie saß, war ein vollkommenes Abbild ihrer Persön-lichkeit. Trotz der aus der ersten Regierungszeit Viktorias stammenden Mö-bel verriet sich in deren Anordnung und Auswahl ein so ausgezeichneter Ge-schmack, daß keine Spur von Philistertum darin zu bemerken war. Merkwür-digerweise stand der Tisch aus Rosenholz, auf dem der heitere Glanz der Septembermorgensonne lag, in keinem Kontrast zu der spätgotischen Wand-täfelung, wie man hätte annehmen sollen. Ein Wandschirm aus gewirktem Stoff verbarg die Türe in die Halle, und weiche Vorhänge von zarter Gold-farbe hingen auf beiden Seiten der hohen, modernen, in den Garten gehenden Fenster. Die übrige Einrichtung hübsch und passend – niedrige Stühle, ein gepolstertes Ruhebett, eine große Anzahl kleiner Bücher in Ledereinband auf jedem Tische, auf beiden Seiten der Türe zwei niedrige geschnitzte Regale mit Gedichtsammlungen und Andachtsbüchern. –

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„Das verstehe ich nicht“, murmelte Mabel. „Ach, meine Liebe, ich kann mich jetzt nicht dabei aufhalten. Es wird

sehr viel von Astralsubstanz oder Derartigem geredet. Das ist ja auch nur die Erklärung Herrn Cathcarts. Wie ich dir schon sagte, ich weiß selbst nicht, ob ich nur ein Wort davon glaube. Aber seine Ansicht ist es.“

Maggie hielt wieder plötzlich inne, lehnte sich zurück und starrte hinauf in das leuchtende Grün der Haselstauden. In halber Höhe des Laubganges wiegte sich sprungbereit die kleine Katze, während sich über ihr ein ängstli-ches Zwitschern vernehmen ließ. Mabel ergriff einen Kieselstein und warf ihn mit so gutem Erfolg, daß die Bewegung aufhörte und ein vorwurfsvolles Katzengesicht sie anstarrte.

„So!“ sagte Mabel zufrieden, „nun sage mir, was denkst du eigentlich über die Sache?“

Maggie lächelte nachdenklich. „Das ist gerade, was ich selbst nicht im geringsten weiß. Wie ich sagte, es

kommt mir alles mehr wie ein Traum vor, und zwar wie ein recht böser. Es ist… es ist wirklich das Widerwärtigste, was ich je erlebt habe“, setzte sie in gereiztem Ton hinzu, „ich möchte, solang ich lebe, kein Wort mehr darüber hören.“

„Aber —“ „Ach, meine Liebe, warum können wir nicht alle vernünftig und normal

sein? Ich beschäftige mich so gern mit dem Alltäglichen — mit dem Garten, den Hühnern, Katzen, Hunden und mit den Auseinandersetzungen mit dem Metzger. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum andere etwas anderes wol-len. Ja, bis zu einem gewissen Grad glaube ich Herrn Cathcart. Seine Erklä-rung scheint mir bei weitem die vernünftigste, wenn man eine Geisterwelt überhaupt einmal annimmt — was bei mir natürlich der Fall ist. Sie scheint mir vom intellektuellen Standpunkt aus die weitherzigste von allen zu sein, denn sie zieht wirklich alle Tatsachen in Betracht — wenn man von Tatsa-chen reden kann — und gibt eine vernünftige Erklärung dafür. Dagegen die Theorie vom subjektiven Ich — o die ist schrecklich gescheit und geistreich, aber sie zieht gar zuviel in ihren Bereich. Das kommt mir fast so vor, wie wenn man alles durch die Elektrizität erklären will — Elektrizität! Und die Theorie, daß alles Einbildung ist — nun, das ist diejenige, die gegenwärtig meinem Gefühl am meisten zusagt, weil ich gerade in der Stimmung bin, mich mit Hühnern, Metzgern und dergleichen gerne zu beschäftigen, aber

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überzeugen kann sie mich nicht im mindesten. Ja, ich sollte wohl an Herrn Cathcarts Theorie glauben und glaube auch gewissermaßen daran; aber das verhindert durchaus nicht, daß sie mir recht unwirklich und unmöglich er-scheint. Jedenfalls kommt nicht viel darauf an.“

Vor sich hinlächelnd, lehnte sie sich wieder behaglich zurück, und einelange Stille trat ein.

Es war ein himmlisch-schöner Augustabend. Das Ruheplätzchen, wo sie saßen, gewährte nur einen Ausblick auf den sich lang hinziehenden, von Ha-selbüschen überwölbten Pfad, aus denen die Katze jetzt verschwunden war. Wo der Pfad endete, befanden sich drei breite, niedrige, mit Flechten und Moos bewachsene Backsteinstufen, die zur Eibenallee hinaufführten, und auf denen Blumentöpfe standen. Die Luft war ganz erfüllt von sommerlichem Leben und Klängen und Düften, die schwer und durchdringend dem alten, mit Buchs eingefaßten Gemüsegarten rechts von der Hecke und dem Obst-garten links davon entströmten. Es herrschte die Atmosphäre, in der wir Mut-ter Natur in ihrer besten Verfassung sehen, vollsaftig, normal, vollständig die ihr zukommenden Berufspflichten erfüllend; durchaus nicht mystisch, außer für eine sehr subtile Auslegung. Sie gibt nichts weiter zu denken, weil sie al-les sagt, was zu sagen ist, und weil sie jedes Prinzip, durch das ihr Leben be-dingt ist, bis auf den letzten Inhalt völlig erschöpft. Sie ist das Bild abgerun-deter Vollständigkeit und Zufriedenheit, wie es ein gänzlich materieller, voll-befriedigter Mensch darbietet. Es gibt keine dunkeln Winkel in ihr, keine an-dern Ausblicke als auf vollständig normale Rasenplätze oder angelegte Gär-ten, kein Geheimnis, keine neue Theorie, keinen Hinweis auf eine andere als diejenige, die sie selbst verkündet.

Etwas von dieser Stimmung lag nun auch in Maggies zufriedenem Aus-druck, in ihrem weichen, glücklichen Lächeln, während sie ihr Haupt auf ih-ren am Hinterkopf verschränkten Armen ruhen ließ. Wie bezaubernd sie aus-sieht, dachte Mabel und legte sanft ihre Hand auf ihrer Freundin Knie, als ob sie an deren Zufriedenheit teilnehmen — als ob sie durch ihre Teilnahme die-sen Zustand gleichsam bestätigen wolle.

„Die Geschichte scheint dir nicht sehr geschadet zu haben“, sagte sie. „Nein; ich fühle mich sehr wohl und glücklich. Ich habe einmal einen

Blick durch die Türe getan, ohne im geringsten den Wunsch dazu gehabt zu haben, und wünsche durchaus nicht, es noch einmal zu tun. Es ist kein schö-ner Anblick.“

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„Aber — aber wie steht es mit der Religion dabei?“ fragte die Jüngere et-was ungeschickt.

„Oh! Mit der Religion ist alles in Ordnung“, antwortete Maggie. „Die Kirche gibt mir von allem gerade so viel, wie es gut für mich ist, und rät mir im übrigen, ruhig zu sein und mich nicht zu quälen — hauptsächlich nicht neugierig zu forschen und nachzuspüren — der Horcher hört nichts Gutes über sich selbst, und ich glaube, das läßt sich auch auf die andern Sinne als den Gehörsinn anwenden. Jedenfalls will ich mich bemühen, mich nur um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern.“

„Liegt aber darin nicht ein gewisser Mangel an Wagemut?“ „Sicherlich, aber das ist mir gerade recht. O Mabel, ich möchte, solange

ich lebe, ein durchaus alltäglicher, gewöhnlicher Mensch sein. Weißt du, das ist etwas ganz Seltenes und Originelles. Hat nicht einmal jemand gesagt, es gebe nichts so Ungewöhnliches wie gewöhnlichen gesunden Menschenver-stand? Nun und darnach strebe ich. Ein Genie! Verstehst du? — Die Art von Menschen, die das unbegrenzte Talent besitzen, sich abzumühen, nicht die andere Art.“

„Was ist das für eine andere Art?“ „Ei, ei, die das unbegrenzte Talent besitzt, sich nicht abzumühen. Wie

Wagner, weißt du. Nun, ich wünsche zur Bach-Sorte zu gehören — die das leistet, was jedermann können sollte — aber nicht kann.“

Mabel lächelte mit zweifelvoller Miene. „Lady Laura sagte —“ begann sie nach einer kleinen Pause. Maggies Gesicht nahm plötzlich einen strengen Ausdruck an. „Ich will kein Wort davon hören.“ „Aber sie hat ja die Sache aufgegeben“, rief das junge Mädchen. „Sie hat

ja die ganze Sache aufgegeben.“ „Das freut mich zu hören“, sagte Maggie einsichtsvoll. „Und ich hoffe nur, daß sie den Rest ihres Lebens in Sack und Asche —

mit einer Geißel verbringt“, fügte sie hinzu. „O, habe ich dir von Frau Nu-gent erzählt?“

„Von dem Abend, an dem Laurie heimkam? Ja.“ „Nun, dann ist es gut. Die arme alte Seele quälte sich mit allerlei Gedan-

ken, als die Sache ruchbar ward. Aber ich sprach ihr zu, und wir gingen mit-einander an das Grab und legten Blumen darauf nieder, und ich versprach ihr, ich würde eine Messe für Amy lesen lassen, obwohl ich sicher bin, daß sie es

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nicht nötig hat. Das arme liebe Mädchen! Aber… aber… (bitte, halte mich nicht für roh) es war doch ein Glück, daß sie starb. Denke doch nur —!“

„Nicht wahr, Frau Baxter kommt um sechs Uhr zehn an?“ Maggie nickte. „Ja. Du weißt, daß du ihr kein Wort von alledem sagen sollst. Sie will tat-

sächlich auch gar nichts davon hören. Sie ist vollständig überzeugt, daß sich Laurie überarbeitet hat — Laurie überarbeitet! —, und daß ihm fast nichts gefehlt hat. Meine Tante ist, was man eine vernünftige Frau nennt, weißt du, und ich muß sagen, das ist recht wohltuend. Ich möchte es auch sein; aber das liegt noch in weiter Ferne, fürchte ich, obgleich ich dem Ziel näher bin, als ich war.“

„Sie meint, es habe sich gar nichts Seltsames zugetragen, willst du sa-gen?“

„So ist es. Gar nichts Seltsames. Alles ganz natürlich. O, nebenbei gesagt, Laurie schwört, er habe seine Nase an jenem Abend nicht in ihr Zimmer ge-steckt, ich bin aber ganz sicher, er hat es doch getan, ohne es zu wissen.“

„Wo ist Herr Lawrence?“ „Tantchen hat ihn auf Reisen geschickt.“ „Und wann kommt er zurück?“ Es entstand eine merkliche Pause. „Herr Lawrence kommt am Samstagabend zurück“, sagte Maggie bedächtig.

Ende.

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