8

Click here to load reader

Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Einleitung

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Einleitung

1Einleitung

Eine mathematische Arbeit ohne Formeln, eine geometrische Abhandlung ohne Abbil-dungen oder Illustrationen, ein eher zufällig zustande gekommenes Vortragsmanuskriptvon nur 16 Seiten, und doch eine Schrift, die die Mathematik ähnlich geprägt hat wienur wenige andere, sämtlich deutlich längere und wesentlich detaillierter durchgearbeiteteWerke. Zu nennen wären hier beispielsweise die „Methodus inveniendi . . . “ von LeonhardEuler, die die Variationsrechnung begründete, Carl Friedrich Gauß’ „Disquisitiones arith-meticae“, die die Mathematik endgültig als eigenständige Fachdisziplin etablierte,1 GeorgCantors Mengenlehre, die die moderne Auffassung des Unendlichen in der Mathematikeinführte, dieTheorie der Transformationsgruppen von Sophus Lie, also die systematischeUntersuchung von Symmetrien, die eine wichtige mathematische Grundlage für die Quan-tenmechanik bildet, die programmatischen Schriften vonDavidHilbert zur axiomatischenBegründung verschiedener mathematischer Teildisziplinen oder in neuerer Zeit das Werkvon Alexander Grothendieck zur systematischen Vereinigung von algebraischer Geome-trie und Arithmetik. Die Rede ist hier von Bernhard Riemanns „Über die Hypothesen,welche der Geometrie zugrunde liegen“, und diese kurze Schrift, 1854 verfasst, aber erst1868 nach Riemanns Tod veröffentlicht, geht sogar in der Breite ihrer Wirkung über diegenannten Werke hinaus, insofern als sie sich im Schnittpunkt von Mathematik, Physikund Philosophie bewegt, also nicht nur eine zentrale mathematische Disziplin begründet,sondern gleichzeitig den Weg für die Physik des 20. Jahrhunderts bereitet und eine zeitlosgültige Widerlegung bestimmter philosophischer Raumvorstellungen liefert.

Im vorliegenden Band wird dieser Schlüsseltext der Mathematik herausgegeben, in derkontroversen Diskussion seiner Zeit verortet und in seiner Wirkung auf die Entwicklungder Mathematik skizziert und mit derjenigen seiner Kontrahenten verglichen. Riemanns„Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“ hat auf eine ganz ande-re Weise als beispielsweise Euklids Elemente, die Schriften von Leibniz und Newton zur

1 in dem Sinne, dass sie sich selbst ihre Probleme völlig autonom stellt, statt diese beispielsweise ausder Physik zu beziehen

1B. Riemann, Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“,Klassische Texte der Wissenschaft, DOI 10.1007/978-3-642-35121-1_1,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Page 2: Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Einleitung

2 1 Einleitung

Begründung der Infinitesimalrechnung oder die vorstehend genannten Werke, aber nichtweniger fundamental als diese, die Entwicklung der Mathematik als Wissenschaft geprägt.Darüberhinaus ist diese Schrift grundlegend für die Allgemeine Relativitätstheorie Ein-steins geworden und liefert neuerdings das mathematische Gerüst für die Quantenfeld-theorie und ihre Weiterentwicklungen in der theoretischen Elementarteilchenphysik (Su-perstringtheorie, Quantengravitation u. ä.).

Die Wirkungsgeschichte ist jedoch nicht geradlinig. Riemanns Programmschrift „Überdie Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“ rief den seinerzeit führendendeutschen Physiker, Hermann Helmholtz (später geadelt, also von Helmholtz), auf denPlan, dessen Gegenschrift „Über die Thatsachen, die der Geometrie zugrunde liegen“ inihrer Überschrift den gegensätzlichen Standpunkt und Ansatz pointierte (wenn auch imText die Gemeinsamkeiten mit Riemann eher in den Vordergrund gestellt werden,2 undsich die Schrift eigentlich nicht gegen Riemann, sondern gegen die von den Kantianernvertretenen Raumvorstellungen richtet).3 Es wäre allerdings falsch, hierin nur den letzt-endlich von der Entwicklung der Wissenschaft überholten Widerspruch der etabliertenAutorität gegen das junge Genie, des Vertreters der Vergangenheit gegen den Protagonis-ten der wissenschaftlichen Zukunft zu sehen. Riemann war von wohl eher etwas vagennaturphilosophischen Spekulationen motiviert – und sein Werk hat dann umgekehrt we-sentliche Implikationen für die Naturphilosophie gehabt –, während Helmholtz erstensseinen Ansatzpunkt in der Sinnesphysiologie hatte – und seine Überlegungen bleiben hiervon Relevanz – und zweitens einen Einfluss auf eine ebenfalls sehr wichtige mathema-tische Richtung, nämlich die Theorie der Symmetriegruppen von Sophus Lie, ausübte.Auch wenn Lie die mathematischen Aspekte der Schrift von Helmholtz einer scharfenKritik unterzog, so griff er doch dessen konzeptionellen Ansatz auf. Die Liesche Theo-rie der Symmetriegruppen ist eine der wesentlichen Grundlagen der Quantenmechanikgeworden, und die Konzepte der Symmetrie und Invarianz verbinden die physikalischeIntuition der modernen Physik mit dem mathematischen Rahmen der Geometrie im Sin-ne Riemanns und Einsteins. In diesem Sinne hat auch Helmholtz’ Schrift, wenn auch imUnterschied zu Riemann nicht direkt, sondern erst über Lie vermittelt und wohl auch

2 Helmholtz legt dar, dass er die wesentlichen Teile seiner Überlegung schon vor Kenntnis der (mitvierzehnjähriger Verspätung veröffentlichten) Schrift Riemanns angestellt habe, allerdings sicherlichspäter als Riemann, der seine Schrift 1854 verfasst hatte.3 Es erschienenaheliegend, dieseArbeit hier der Riemannschen Schrift gegenüberzustellen.DerHer-ausgeber hat nach reiflicher Überlegung davon abgesehen, weil diese Arbeit von Helmholtz nicht dieTiefe und Eleganz derjenigen von Riemann erreicht und auch unter den verschiedenenSchriften vonHelmholtz zur Erkenntnistheorie sicherlich nicht die beste und klarste darstellt und man also durchdie Auswahl gerade dieser Arbeit dem bedeutenden Physiologen und Physiker unrecht getan hätte.Wenn man also überhaupt die Helmholtzsche Theorie durch eine seiner Schriften an dieser Stellehätte repräsentieren wollen, so hätte man eine andere seiner Schriften auswählen müssen, und zwar„Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome“ oder die Bonner Rektoratsrede„Die Tatsachen in der Wahrnehmung“, aber dann wäre der enge Bezug zu Riemanns Habilitations-schrift nicht mehr gegeben gewesen.

Page 3: Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Einleitung

Einleitung 3

deutlich anders, als Helmholtz selber sich dies vorgestellt hat, etwas Zukunftsweisendesfür die moderne Physik.

Bemerkenswert ist, dass Riemanns „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu-grunde liegen“ als einer der Schlüsseltexte der Mathematik praktisch ganz ohne mathe-matische Formeln auskommt (im ganzen Text findet sich nur eine einzige Formel, diezudem nur von marginaler Bedeutung ist). Diese Ausnahmestellung des RiemannschenTextes wird besonders deutlich beispielsweise im Vergleich mit der ausgefeilten und tiefdurchdachten Symbolik eines Leibniz oder der Formalisierung des Unendlichen bei Can-tor. Auch von seinemwichtigenVorläufer, Gauß’ „Disquisitiones generales circa superficiescurvas“, die die moderne Differentialgeometrie begründeten, die Vorstufe der Riemann-schen Geometrie, unterscheidet sich Riemanns Text in dieser Hinsicht. Zumindest in die-sem Falle kann also die Geschichte der Mathematik nicht einfach als eine der fortschrei-tenden Formalisierung gelesen werden, sondern es zeigt sich, dass sich mathematischeAbstraktion durchaus auch über Formeln erheben kann.4

Bernhard Riemann hat wie sonst allenfalls nur noch Carl Friedrich Gauß die Mathe-matik geprägt. Er hat nicht nur mit seiner hier herausgegebenen Schrift die moderne Geo-metrie begründet, die daher Riemannschen Geometrie heißt, sondern er hat eine ganzeReihe grundlegenderTheorien und Konzepte eingeführt und viele andere Gebiete der Ma-thematik nachhaltig beeinflusst. Sein Konzept der Riemannschen Fläche fasste in genialerWeise die komplexe Analysis und die Theorie der elliptischen Integrale zusammen undwar gleichzeitig der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Topologie, also der geradevon metrischen Konzepten wie in der Riemannschen Geometrie unabhängigen Untersu-chung von Formen und Gestalten, und der modernen algebraischen Geometrie und führtezudem noch neuartige analytische Werkzeuge in die Funktionentheorie ein. Letztere wie-sen, auchwenn zunächst nochwesentliche, vonWeierstraß aufgedeckte analytische Lückengeschlossen werden mussten, über Hilbert in die moderne Variationsrechnung und Exis-tenztheorie für Lösungen partieller Differentialgleichungen, die wiederum, über die nu-merische Analysis vermittelt, ein grundlegendesWerkzeug des heutigen Ingenieurs bilden.Ein neuartiger und entscheidender Gedanke war, dass Riemann eine analytische Funktionim Komplexen nicht mehr durch einen analytischen Ausdruck zu erschließen versuchte,sondern als durch ihre Singularitäten (Unendlichkeitsstellen oder Verzweigungspunkte)bestimmt betrachtete. Hierdurch konnte er einer solchen Funktion eine sog. Riemann-

4 Natürlich ist auch der Anlass von Riemanns Schrift zu berücksichtigen, dass es sich nämlich umein Kolloquium vor der Philosophischen Fakultät handelte und Riemann sicherlichRücksicht auf diefehlenden mathematischen Fachkenntnisse der meisten seiner Zuhörer nehmen wollte, unter denenneben Gauß, der übrigens nicht Professor für Mathematik, sondern für Astronomie und Direktorder Sternwarte war, die Mathematik nur noch durch die beiden Professoren Ulrich (1798–1879)und Stern (1807–1894) vertreten war. Allerdings zeigen andere derartige Vorträge und Schriften, wieKleins Erlanger Programm, mit dem er sich der Fakultät in Erlangen vorstellte, durchaus einen we-sentlich stärker formelgeprägten Charakter, und wenn die Fakultät eines der anderen von Riemannvorgeschlagenen Themen gewählt hätte, wäre die Darstellung vermutlich auch in mathematischenFormeln entwickelt worden.

Page 4: Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Einleitung

4 1 Einleitung

sche Fläche zuordnen und dann die qualitativen Eigenschaften der Funktion durch dieTopologie dieser Riemannschen Fläche bestimmen. Dies strahlte in fast alle Bereiche dermodernen Mathematik aus, beispielsweise bis hin in die Zahlentheorie, deren analytischeAusdrücke durch den Riemannschen Ansatz nun ebenfalls durch geometrische Methodeninterpretierbar und behandelbar wurden.Wegweisend bei den Riemannschen Flächen warauch, dass Riemann nicht mehr nur das einzelne mathematische Objekt betrachtete, son-dern eine Klasse von Objekten über die Variabilität von Parametern konzeptionalisierte.Dies führte auf die für die algebraische Geometrie grundlegendeTheorie derModulräume,und deswegen bilden Riemannsche Flächen auch die fundamentalen Objekte der derzeitfür die Vereinheitlichung der bekannten physikalischen Kräfte vielleicht aussichtsreichstenTheorie, der Stringtheorie. Der sogenannte Satz von Riemann-Roch (Gustav Roch (1839–1866) war ein früh verstorbener Schüler vonRiemann, der Riemanns diesbezügliche Über-legungen vervollständigte) war eines der Leitbilder der Mathematik der zweiten Hälfte des20. Jahrhunderts und führte in den Arbeiten von Hirzebruch, Atiyah-Singer und Grothen-dieck zu zentralen Resultaten der heutigen Mathematik. Die Riemannsche Vermutung inder Zahlentheorie gilt auch fast 150 Jahre nach ihrer Formulierung als das schwierigste undtiefste offene Problem der gesamten Mathematik.

Zur Biographie Riemanns Bernhard Riemann lebte von 1826 bis 1866. Er stammte auseinem niedersächsischen protestantischen Pfarrhaus, und er hing sehr an seiner Familie,die allerdings durch viele frühe Todesfälle und deswegen ungesicherte finanzielle Verhält-nisse in eine schwierige Lage kam. Er zeigte, wie die meisten Großen der Mathematikge-schichte, schon als Schüler eine außerordentliche mathematische Begabung. Nach einigemSchwanken folgte er dann dieser Begabung und studierte Mathematik statt der vom VatergewünschtenTheologie, und zwar in den damaligen wissenschaftlichenZentren Göttingenund Berlin. Seine wichtigsten akademischen Lehrer oder Vorbilder waren Carl FriedrichGauß (1777–1855)5, bei dem er 1851 promovierte, und Peter Gustav Lejeune Dirichlet

5 Gauß wurde in Braunschweig in einfachen Verhältnissen geboren. Da seine herausragendemathe-matische Begabung aber schon früh erkannt wurde, wurde er durch den Braunschweiger Herzoggroßzügig gefördert. Schon in jungen Jahren gelangen ihm bedeutende mathematische Entdeckun-gen, beispielsweise zur Frage der Konstruierbarkeit regulärer Polygone. Seine 1801 erschienenen,aber schon einige Jahre vorher verfassten Disquisitiones Arithmeticae gelten als dasjenige Werk,das die moderne Mathematik als autonome Wissenschaft begründete. Ein seinerzeit spektakulärerErfolg der von ihm entwickelten mathematischen Methoden der Fehlerrechnung war die Wieder-entdeckung des Kleinplaneten Ceres im gleichen Jahr. Dieser Kleinplanet war von Astronomenentdeckt, aber dann wieder aus den Augen verloren worden, bis die GaußschenMethoden der Bahn-berechnung es erlaubten, seine Position mit so hoher Präzision vorherzusagen, dass die Astronomenwussten, auf welche Stelle im Himmel sie ihre Fernrohre zu richten hatten, um ihn wiederzufinden.Gauß war seit 1807 Professor in Göttingen und Direktor der Sternwarte. Gauß gilt als der größteMathematiker aller Zeiten, und er hat fast alle Gebiete der modernen Mathematik entscheidend ge-prägt und viele von ihnen überhaupt erst begründet. Zusammen mit dem Physiker Wilhelm Weber(1804–1891) konstruierte er den ersten Telegrafen. Die von ihm entwickelten mathematischen Me-thoden sind auch für die Astronomie und die Geodäsie fundamental. Gauß war insbesondere im

Page 5: Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Einleitung

Einleitung 5

(1805–1859)6, bei dem er in Berlin viele Vorlesungen hörte. Dirichlet wurde dann 1855der Nachfolger von Gauß in Göttingen, und Riemann wurde dann wiederum 1859 dessenNachfolger als Göttinger ordentlicher Professor, nachdem er im Jahre 1857 zum außeror-dentlichen Professor ernannt worden war. Er war schüchtern und kränklich, beeindruckteaber die wissenschaftlicheWelt durch den Reichtum seiner mathematischen Erkenntnisseund die Kühnheit und Neuartigkeit seiner mathematischen Theorien. Engere persönlicheKontakte außerhalb seiner Familie entwickelte er nur zu dem jüngeren Mathematiker Ri-chard Dedekind (1831–1916)7. Er durchlief einen seinerzeit üblichen Karriereweg überdie Privatdozentur zur Professur in Göttingen. Das mit dieser Professur verbundene Ge-halt erleichterte dann wesentlich seine finanzielle Situation, insbesondere weil er nach dem

Alter, sicher auch bedingt durch ein wenig glückliches Familienleben, abweisend und verschlossen,und der schüchterne Riemann konnte kaum in direkten persönlichen Kontakt mit ihm gelangen.Riemann eignete sich daher die mathematischenTheorien und Entdeckungen von Gauß imWesent-lichen durch das Studium von dessen Schriften an. – Eine neuere Biographie von Gauß ist WalterKaufmann Bühler, Gauß. A biographical study, Berlin etc., Springer, 1981.6 Dirichlet wurde in Düren im Rheinland als Sohn des dortigen Posthalters geboren. Dessen Vaterwar aus dem wallonischen Gebiet im heutigen Belgien eingewandert, woher der romanische Na-me kommt. Während eines Aufenthaltes in Paris von 1822–1827, wo er zwar als Ausländer nicht anden Kursen des seinerzeit führenden französischen Mathematikers Augustin Louis Cauchy (1789–1857) an der Ecole Polytechnique teilnehmen durfte, gelang ihm die Aufnahme in die Kreise vonJean-Baptiste Louis Fourier (1768–1830), der von physikalischen Problemen der Thermodynamikausgehend die berühmten Reihendarstellungen für periodische Funktionen eingeführt hatte. Di-richlet beweist einen grundlegenden Satz über diese Reihendarstellungen. Alexander von Humboldt(1769–1859), der sich nach seinen berühmten Forschungsreisen zunächst in Paris aufhielt und dannin Berlin einflussreiche Positionen bekleidete, ist von ihm beeindruckt, unterstützt und fördert ihnund holt ihn als Professor nach Preußen, zunächst nach Breslau und 1829 nach Berlin. Dirichletund sein Freund und Kollege Carl Gustav Jacob Jacobi (1804–1851) machen die 1810 von Wilhelmvon Humboldt (1767–1835) im Zuge der durch die napoleonische Aggression motivierten Refor-men Preußens gegründete Berliner Universität zu einen Zentrum der mathematischen Forschung.Dirichlets Ehefrau Rebecca war eine Enkelin des Philosophen Moses Mendelssohn (1729–1786), ei-ne Nichte der Schriftstellerin Dorothea (von) Schlegel (1764–1839), der Gattin des Literaten undTheoretikers der Romantik Friedrich (von) Schlegel (1772–1829), und eine Schwester des Kompo-nistenFelixMendelssohnBartholdy (1809–1847), der als Leiter des LeipzigerGewandhausorchestersauch die Wiederentdeckung und Renaissance der Musik von Bach und Händel initiierte. Auf dieseWeise war das Leben Dirichlets mit denjenigen vieler anderer bedeutender Persönlichkeiten verwo-ben. Dirichlet war Riemann gegenüber freundlich und aufgeschlossen, und Riemann konnte vielvon ihm lernen. Dirichlet leistete insbesondere Bedeutendes in der Zahlentheorie, und er begrün-dete dabei die analytische Richtung der Zahlentheorie. Eine historisch orientierte Einführung findetsich in W. Scharlau, H. Opolka, Von Fermat bis Minkowski. Eine Vorlesung über Zahlentheorie undihre Entwicklung, Berlin, Heidelberg, Springer, 1980. Die von Dirichlet in der Variationsrechnungangewandten Prinzipien spielten später eine zentrale Rolle in Riemanns Untersuchungen zur Funk-tionentheorie und der nach ihm benannten Riemannschen Flächen.7 Zu Dedekind vgl. Winfried Schar lau (Hrsg.), Richard Dedekind. 1831|1981, Braun-schweig/Wiesbaden, Vieweg, 1981. Die dort abgedruckten Briefe enthalten auch biographischesMaterial zu Riemann, welches das in Dedekinds Biographie von Riemann in den gesammeltenWerken dargestellte Bild ergänzen kann.

Page 6: Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Einleitung

6 1 Einleitung

Tode seiner Eltern und seines Bruders auch die Verantwortung für drei unverheirateteSchwestern übernahm. Gesundheitliche Schwierigkeiten machten Unterbrechungen die-ser Professur durch Aufenthalte in dem ihm klimatisch zuträglicheren Italien erforderlich,wo er dann aber knapp 40jährig seinem Lungenleiden erlag und seine Frau und eine kleineTochter hinterließ.

Riemann starb also weder so jung wie Niels Hendrik Abel (1802–1829) oder EvaristeGalois (1811–1832), die in ihrem kurzen Leben nur eine wichtige mathematische Theorie(diejenige der Abelschen Integrale bzw. die Gruppentheorie) begründen konnten, nocherreichte er das hohe Alter des oft mürrisch verschlossenen Gauß. Er besaß weder diebeinahe unerschöpfliche Lebenskraft Leonhard Eulers (1707–1783) noch die tätige Ener-gie von Carl Gustav Jacob Jacobi (1804–1851) oder Felix Klein (1849–1925). Er konnteauch nicht auf einen Stab begabter Mitarbeiter zurückgreifen wie später David Hilbert(1862–1943), denn die hierfür erforderlichen institutionellenVoraussetzungenwurden erstspäter in Deutschland von Felix Klein und anderen gelegt (und dann von den Nationalso-zialisten durch die Vertreibung und Ermordung jüdischer und das Exil andersdenkenderMathematiker wieder zerstört). Riemann begründete aber zusammenmitGauß gerade denAufschwung derMathematik in Deutschland und speziell in Göttingen, der eine solche In-stitutionalisierung überhaupt erst ermöglichte.

Soweit dem Autor bekannt, gibt es von Riemann keine ausführliche für einen allge-meineren Leserkreis verfasste Biographie.8 Ansonsten sind Biographien bedeutender Ma-thematiker nicht selten und in manchen Ländern durchaus auch Ausdruck des nationalenStolzes, wie in den Biographien der norwegischen Mathematiker Niels Hendrik Abel undSophus Lie (1842–1899) durch Arild Stubhaug. In anderen Fällen, wie in den unter Mathe-matikern sehr beliebten Biographien vonDavidHilbert undRichard Courant (1888–1972)durch Constance Reid, wird auch die Verflochtenheit der Wissenschaftler in die ungünsti-

8 In den von Heinrich Weber und Richard Dedekind herausgegebenen Werken Riemanns findetsich ein etwa zwanzigseitiger, von seinem Freund und Kollegen Dedekind verfasster LebenslaufRiemanns. Hans Freudenthal hat für das Dictionary of Scientific Biography eine kurze BiographieRiemanns verfasst. Neben weiteren kürzeren biographischen Skizzen gibt es Werkbiographien Rie-manns von Michael Monastyrsky und Detlef Laugwitz, in der die Entwicklung und Wirkung deswissenschaftlichenWerkes im Kontext der Lebensumstände dargelegt werden. Die Werkbiographievon Laugwitz ist mir an verschiedenen Stellen von großem Nutzen gewesen, und sie enthält aucheine ausführliche und allgemeinverständliche Beschreibung von Riemanns Leben.Verschiedenewei-tere derartige Analysen finden sich in der von Raghavan Narasimhan durchgeführten Neuausgabevon Riemanns Werken. Die Erforschung des wissenschaftlichen Nachlasses und des vorliegendenbiographischenMaterials Riemanns durch Erwin Neuenschwander hat bisher zu keiner zusammen-fassenden Publikation geführt; s. allerdings Erwin Neuenschwander, Riemanns Einführung in dieFunktionentheorie. Eine quellenkritische Edition seiner Vorlesungen und einer Bibliographie zurWirkungsgeschichte der Riemannschen Funktionentheorie. Abhandlungen der Akademie der Wis-senschaften zu Göttingen, Math.-Phys. Klasse, Bd. 44, 1996. Verschiedene mathematikhistorischeStudien beschäftigen sich mit der Entwicklung der Geometrie vor, durch und nach Riemann, aller-dings nicht unter biographischen Gesichtspunkten.Quellenangaben finden sich in der Bibliographieam Ende dieses Buches.

Page 7: Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Einleitung

Einleitung 7

gen zeitgeschichtlichen Abläufe dargelegt. Da das Leben Riemanns im Stillen und in ruhi-gen Zeiten ablief, bietet sich bei ihm wenig Stoff für spektakuläre Lebensgeschichten. AuchderGeniekult, demRiemann eigentlich ein vorzügliches Beispiel liefern sollte, hat ihn nichtaufgegriffen, im Unterschied zu den jünger verstorbenen Mathematikern Abel und Galoisoder den ähnlich lange lebenden Künstlern Raffael, Mozart und Schiller.

Der akademische Lebensweg von Bernhard Riemann erscheint aus heutiger Sicht un-problematisch, wennman einmal von den prekären finanziellen Verhältnissen absieht, un-ter denen Privatdozenten damals leben mussten, also durch Promotion und Habilitationqualifizierte Wissenschaftler, die noch keine reguläre Professur erhalten hatten. Der Auf-stieg über die Privatdozentur zur Professur galt wohl seinerzeit schon als die übliche aka-demische Laufbahn. Es sollte dabei allerdings darauf hingewiesen werden, dass es hierzusowohl im positiven als auch im negativen Sinne in vielen Fällen Abweichungen gab. Über-haupt bestand das moderne, von Wilhelm von Humboldt begründete Universitätssystemzur Zeit Riemanns erst seit einem halben Jahrhundert, und die Verlagerung der wissen-schaftlichen Forschung von den Akademien des 18. zu den Universitäten des 19. Jahrhun-derts und die entsprechende Etablierung akademischer Laufbahnstrukturen hatten eini-ge Zeit benötigt. Insbesondere in der Anfangsphase konnte das Universitätssystem daherseinen Nachwuchs typischerweise noch nicht über universitätsinterne Karrierewege her-anbilden, sondern musste Universitätslehrer oftmals von außen, aus dem Kreis der Gym-nasialprofessoren oder demjenigen der naturwissenschaftlichen Praktiker rekrutieren, diein Sternwarten, botanischen Gärten, Apotheken oder anderen Einrichtungen tätig waren.Umgekehrt konnten daher angehendeWissenschaftler nicht unbedingt auf eine reine Uni-versitätskarriere bauen, sondernmussten häufig lange biographischeUmwege in Kauf neh-men. Neben begabten und fähigenWissenschaftlern, die zeitlebens keine Universitätsstellebekamen, gab es daher andere, denen der Einstieg in die Universitätslaufbahn aus einerAußenseiterposition gelang, oder umgekehrt auch solche, die schon in jungen Jahren vonfürstlichen Sponsoren oder Regierungen großzügig gefördert wurden. Zu letzteren gehör-ten beispielsweise Gauß, der durch seinen Braunschweigischen Landesvater unterstütztwurde, oder Dirichlet, der auf Veranlassung Alexander von Humboldts sowohl bei seinenStudien in Paris gefördert als auch danach auf eine Professur nach Berlin geholt wurde.Ein bekanntes Beispiel außerhalb der Mathematik ist der Chemiker Justus (von) Liebig(1803–1873), dem der hessische Großherzog das Studium in Paris ermöglichte und derdann schon 1824 Professor in Gießen wurde, wo er die Institution des chemischen Laborsfür Lehre und Forschung aufbaute. Zu denjenigen, die durch zähes Bemühen den Einstiegvon außen schafften und sich dann zentrale Positionen in der deutschen Wissenschaft er-arbeiteten, gehören der Mathematiker Karl Weierstraß (1815–1897), der lange Jahre alsGymnasiallehrer in Deutsch-Krone im damaligenWestpreußen und Braunsberg im frühe-ren Ostpreußen verbringenmusste, bevor er sich durch seinemathematischen Arbeiten zuelliptischen Integralen wissenschaftliche Anerkennung verschaffen konnte, oder Hermann(von) Helmholtz (1821–1894), der zunächst Militärarzt werden musste, bevor er seine ei-gentliche akademische Laufbahn beginnen konnte.WilhelmKilling (1847–1923) erbrachteseine bedeutenden Untersuchungen zu den Grundlagen der Geometrie und den infini-

Page 8: Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Einleitung

8 1 Einleitung

tesimalen Bewegungsgruppen (Liealgebren) neben einem enormen, alle Wissenschaftenumfassenden Lehrdeputat und sogar zeitweise dem Rektorat am Lyceum Hosianum inBraunsberg in Ostpreußen, wo schon sein LehrerWeierstraß tätig gewesen war, bis er 1892Professor in Münster wurde, wo ihn dann allerdings Lehr- und Verwaltungsaufgaben bishin zum Rektorat und sein in seinem Katholizismus verwurzeltes karikatives Engagementso sehr in Anspruch nahmen, dass er seine mathematischen Forschungen kaum noch fort-führen konnte. Anderen, wie demMathematiker HermannGrassmann (1809–1877), bliebdiewissenschaftlicheAnerkennung durch dieMathematiker zeitlebens versagt. Grassmannwar Gymnasiallehrer in Stettin, und er begründete die lineareAlgebra, die heute in derma-thematischen Universitätsausbildung grundlegend ist und schon vom ersten Fachsemesteran gelehrt wird. (Grassmann war auch ein bedeutender Sanskritforscher und studierteinsbesondere die RigVeda. Im Unterschied zu seinen grundlegenden mathematischen Bei-trägen fanden diese Untersuchungen allerdings durchaus die Anerkennung der Fachwelt.)Ein bekanntes Beispiel außerhalb der Mathematik ist natürlich der Augustinermönch Gre-gor Mendel (1822–1884), dessen Entdeckung der quantitativen Gesetze der Vererbung,eine der tiefsten Erkenntnisse in der gesamten Geschichte der Biologie, von den Fachleutennicht zur Kenntnis genommen wurde, bis sie nach der Jahrhundertwende von mehrerenForschern in zunächst schwächerer Form wiederentdeckt und zur Grundlage des moder-nen Genbegriffs gemacht wurden.

Im Vergleich zu diesen Karrierewegen war derjenige von Riemann also recht geradli-nig. Auch wenn heutzutage wissenschaftlicheKarrieren leichter erscheinen, hätte Riemannunter heutigen Bedingungen vielleicht aufgrund seiner persönlichen Schüchternheit Pro-bleme gehabt, denn seine Bewerbung wäre vermutlich in einer Berufskommission voneinem gremienerfahrenen Kollegen mit der Bemerkung „Den können wir doch nie zumDekanmachen“ vomTisch gewischt worden. Und umein anderes Beispiel anzuführen: DernorwegischeMathematiker Sophus Lie, der in Leipzig lehrte und die für die heutige Physikgrundlegende Theorie der Symmetriegruppen begründete, wäre dagegen wahrscheinlichunter heutigen Bedingungen wegen „seiner stets in gebrochenemDeutsch gehaltenen Vor-lesungen“ von der Fachschaftsvertreterin abgelehnt worden.

Bisherige Editionen (zu Einzelheiten vgl. die Bibliographie am Ende):

• Gesammelte Werke (verschiedene Ausgaben, neueste von Narasimhan);• Weyl, mit ausführlichem, hier wiedergegebenem mathematischem Kommentar.