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1 Johannes Fischer Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum? 1. Einleitung: Harold Arthur Prichard´s Kritik an der Moralphilosophie Es kommt wahrscheinlich für die meisten, die sich mit Moralphilosophie beschäftigen, eine Zeit, wo sie ein unbestimmtes Gefühl der Unzufriedenheit mit dem gesamten Gegenstande verspüren. Und dieses Gefühl der Unzufriedenheit nimmt gewöhnlich eher zu als ab. Dies liegt nicht so sehr daran, dass die Positionen oder gar die Argumente einzelner Denker nicht überzeugend scheinen obwohl dies sicher stimmt , sondern vielmehr daran, dass das Ziel der ganzen Sache zunehmend unklar wird. `Was´, so wird gefragt, `lernen wir denn wirklich durch die Moralphilosophie?´ `Was versuchen Bücher über Moralphilosophie wirklich zu zeigen, und wenn ihr Ziel klar ist, warum sind sie so wenig überzeugend und haben so etwas Künstliches an sich?´ Ferner: `Warum ist es so schwierig, etwas Besseres dafür vorzulegen?´ Bei mir persönlich hat die wachsende Unzufriedenheit zu der Überlegung geführt, ob der Grund nicht vielleicht darin liegt, dass die Moralphilosophie, zumindest was man gewöhnlich darunter versteht, einen Versuch darstellt, eine Scheinfrage zu beantworten. In diesem Artikel wage ich die Behauptung, dass die Existenz der gesamten Disziplin, so wie sie gewöhnlich aufgefasst wird, auf einem Irrtum beruht, der mit jenem vergleichbar ist, auf dem, wie ich glaube, die gewöhnlich `Erkenntnistheorie´ genannte Disziplin beruht.“ So beginnt ein Aufsatz mit dem Titel „Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?“ 1 , den Harold Arthur Prichard im Jahr 1912 veröffentlicht hat. Prichard unterzieht darin die Auffassung, es sei Aufgabe der Moralphilosophie, argumentative Beweisführungen für das moralisch Richtige und Gebotene zu entwickeln, einer scharfsinnigen Kritik. Danach bezieht diese Auffassung ihre vordergründige Plausibilität aus einem Zweifel, den jeder kennt, der über Moral ins Nachdenken kommt, vor allem wenn er sieht, dass moralisches Verhalten häufig auf Kosten von Interessen geht. „Wenn ihn so etwas beschäftigt, so wird er sich zwangsläufig die Frage stellen: `Gibt es wirklich einen Grund, warum ich so handeln soll, wie ich nach meiner bisherigen Überzeugung handeln sollte? Kann es nicht sein, dass ich die ganze Zeit über mit 1 Harold Arthur Prichard, Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Günther Grewendorf/ Georg Meggle (Hg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M. 1974, 61-82, 61. Der Aufsatz wurde ursprünglich unter dem Titel «Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?» in Mind, XXI, 1912, veröffentlicht.

Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

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Page 1: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

1

Johannes Fischer

Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

1. Einleitung: Harold Arthur Prichard´s Kritik an der Moralphilosophie

„Es kommt wahrscheinlich für die meisten, die sich mit Moralphilosophie beschäftigen, eine

Zeit, wo sie ein unbestimmtes Gefühl der Unzufriedenheit mit dem gesamten Gegenstande

verspüren. Und dieses Gefühl der Unzufriedenheit nimmt gewöhnlich eher zu als ab. Dies liegt

nicht so sehr daran, dass die Positionen oder gar die Argumente einzelner Denker nicht

überzeugend scheinen – obwohl dies sicher stimmt –, sondern vielmehr daran, dass das Ziel der

ganzen Sache zunehmend unklar wird. `Was´, so wird gefragt, `lernen wir denn wirklich durch

die Moralphilosophie?´ `Was versuchen Bücher über Moralphilosophie wirklich zu zeigen, und

wenn ihr Ziel klar ist, warum sind sie so wenig überzeugend und haben so etwas Künstliches

an sich?´ Ferner: `Warum ist es so schwierig, etwas Besseres dafür vorzulegen?´ Bei mir

persönlich hat die wachsende Unzufriedenheit zu der Überlegung geführt, ob der Grund nicht

vielleicht darin liegt, dass die Moralphilosophie, zumindest was man gewöhnlich darunter

versteht, einen Versuch darstellt, eine Scheinfrage zu beantworten. In diesem Artikel wage ich

die Behauptung, dass die Existenz der gesamten Disziplin, so wie sie gewöhnlich aufgefasst

wird, auf einem Irrtum beruht, der mit jenem vergleichbar ist, auf dem, wie ich glaube, die

gewöhnlich `Erkenntnistheorie´ genannte Disziplin beruht.“

So beginnt ein Aufsatz mit dem Titel „Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?“1, den

Harold Arthur Prichard im Jahr 1912 veröffentlicht hat. Prichard unterzieht darin die

Auffassung, es sei Aufgabe der Moralphilosophie, argumentative Beweisführungen für das

moralisch Richtige und Gebotene zu entwickeln, einer scharfsinnigen Kritik. Danach bezieht

diese Auffassung ihre vordergründige Plausibilität aus einem Zweifel, den jeder kennt, der über

Moral ins Nachdenken kommt, vor allem wenn er sieht, dass moralisches Verhalten häufig auf

Kosten von Interessen geht. „Wenn ihn so etwas beschäftigt, so wird er sich zwangsläufig die

Frage stellen: `Gibt es wirklich einen Grund, warum ich so handeln soll, wie ich nach meiner

bisherigen Überzeugung handeln sollte? Kann es nicht sein, dass ich die ganze Zeit über mit

1 Harold Arthur Prichard, Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Günther Grewendorf/ Georg Meggle

(Hg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M. 1974, 61-82, 61. Der Aufsatz

wurde ursprünglich unter dem Titel «Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?» in Mind, XXI, 1912,

veröffentlicht.

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dieser meiner Überzeugung einer Täuschung erlegen bin? Könnte ich nicht mit gutem Recht

darauf schauen, dass es mir gut geht?´ Doch da er wie Glaucon das Gefühl hat, dass er irgendwie

schließlich doch in dieser Weise handeln sollte, verlangt er einen Beweis dafür, dass dieses

Gefühl richtig ist. M.a.W., er fragt, `Warum sollte ich diese Dinge tun?´ und seine und unsere

Moralphilosophie ist ein Versuch, darauf eine Antwort zu geben, d.h. durch einen

Reflexionsprozess einen Beweis für die Wahrheit dessen zu liefern, was er und wir vor jeder

Reflexion unmittelbar und ohne Reflexion geglaubt haben.“2

Prichard zufolge beruht dieses Verlangen nach einem Beweis auf einem Missverständnis, das

sich vielleicht am Besten an der oben zitierten Frage verdeutlichen lässt: „Kann es nicht sein,

dass ich die ganze Zeit über mit dieser meiner Überzeugung einer Täuschung erlegen bin?“

Diese Frage lässt sich auf zweierlei Weise verstehen: Eine Täuschung kann vorliegen, wenn

die Gründe, die ich für meine Überzeugung zu haben meinte, einer Überprüfung nicht

standhalten; und sie kann vorliegen, wenn die Überzeugung mitsamt den Gründen, die ich zu

haben meinte, Täuschung ist und es also gar nichts gibt, was mich verpflichtet. Im ersten Fall

betrifft die Täuschung den Inhalt meiner Überzeugung. Hier muss ich die Gründe überprüfen,

die mich zu der Überzeugung gebracht haben, und wenn sie standhalten, ist der Zweifel

ausgeräumt. Im zweiten Fall betrifft die Täuschung den epistemischen Status meiner

Überzeugung. Ich glaubte zu wissen, dass ich in einer bestimmten Weise handeln sollte, und in

Wahrheit war es nur ein „Gefühl“, das mir dies suggerierte. Hier sieht Prichard die Parallele zu

Erkenntnistheorie, an deren Anfang die Frage stehe, „ob wir uns bisher nicht ständig geirrt

haben“3. Es ist diese Art des Zweifels, aus der Prichard zufolge das Verlangen nach Beweisen

resultiert: „Wir wollen dann bewiesen haben, dass wir so handeln sollten, d.h. wir wollen davon

überzeugt werden, und zwar durch einen Prozess, der als Argumentationsprozess von anderer

Art ist als unsere ursprüngliche und unreflektierte Erkenntnis.“4 Beweise haben es an sich, dass

sie nicht nur Wissen vermitteln in Bezug auf das, was Gegenstand des Beweises ist, sondern

dass sie auch noch das Wissen vermitteln, dass man weiß. Indem sie jeden Zweifel daran

beseitigen, dass das, wovon wir überzeugt waren, tatsächlich der Fall ist, machen sie uns

wissen, dass unsere Überzeugung nicht Täuschung, sondern Wissen ist. Eben dies ist es, worauf

das Verlangen nach Beweisen gerichtet ist.

2 AaO. 62. 3 Ebd. 4 AaO. 79.

Page 3: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

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Wie gesagt, beruht dieses Verlangen auf einem Missverständnis. Wenn jemand sich fragt, ob

er dasjenige, wovon er bisher überzeugt war, dass er es tun sollte, tatsächlich tun sollte, dann

will er nicht wissen, ob seine bisherige Überzeugung Wissen war oder Täuschung. Seine Frage

bezieht sich auf den Inhalt seiner bisherigen Überzeugung und nicht auf deren epistemischen

Status. Angemessen wird ihr Sinn durch die oben zitierte Frage wiedergegeben: „Gibt es

wirklich einen Grund, warum ich so handeln soll, wie ich nach meiner bisherigen Überzeugung

handeln sollte?“ Soll der Zweifel ausgeräumt werden, dann geht es daher um die Überprüfung

der Gründe, auf denen die bisherige Überzeugung beruhte, statt um eine argumentative

Beweisführung dafür, dass die Überzeugung Wissen ist und nicht Täuschung.

Dies ist im Kern die Kritik von Prichard am moralphilosophischen Projekt einer argumentativen

Begründung der Moral. Es zielt auf die Beantwortung einer „Scheinfrage“, die aus einem

bloßen Missverständnis resultiert. Prichard verbindet diese Kritik mit einer Analyse der beiden

Strategien, mit denen man glaubt, Moral argumentativ begründen zu können, nämlich der

konsequentialistischen und der deontologischen, um den Nachweis zu führen, dass beide gar

nicht das leisten, was man sich von ihnen verspricht. Selbst wenn das Verlangen nach Beweisen

berechtigt wäre, kann die Moralphilosophie es doch gar nicht erfüllen.

Prichard kommt zu dem Ergebnis, „dass wir nicht durch eine Argumentation …zur Erkenntnis

einer Verpflichtung gelangen“5. Vielmehr ist der „Sinn für eine Verpflichtung“ („sense of

obligation“) „zu einer bestimmten Handlung oder die Richtigkeit dieser Handlung … absolut

primär (d.h. von nichts anderem abgeleitet) bzw. unmittelbar. Die Richtigkeit einer Handlung

besteht darin, dass sie in einer Situation einer bestimmten Art ein Ergebnis einer bestimmten

Art A herbeiführt, wobei die genannte Situation in einer bestimmten Beziehung B des

Handelnden zu anderen oder zu seiner eigenen Natur besteht.“6 Statt allgemeine Kriterien für

‚richtig’ oder ‚geboten’ aufzustellen, gilt es daher, die betreffenden Situationen in den Blick zu

nehmen, gemessen an denen Handlungen richtig bzw. geboten sind. Wenn wir Zweifel haben,

dass eine Handlung richtig ist, dann lassen sich diese Zweifel nur ausräumen, indem wir

dasjenige noch einmal überprüfen, was uns zu der Überzeugung brachte, dass sie richtig ist,

und das ist die betreffende Situation bzw. die Beziehung, in der die Handlung zu der Situation

steht. Im Blick auf diese Erkenntnis spricht Prichard von „Evidenz“7. Im Unterschied zu dem

fälschlich so genannten „Wissen“, das die Moralphilosophie auf argumentativem Wege meint

5 AaO. 71. 6 AaO. 69. 7 AaO. 79f.

Page 4: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

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erzielen zu können, ist für Prichard diese auf Evidenz beruhende Erkenntnis unserer Pflichten

„definitives Wissen, und soweit – und nur soweit – der Ausdruck `Moralphilosophie´ auf dieses

Wissen und auf das Wissen von der parallelen Unmittelbarkeit, mit der das Gut-sein der

verschiedenen Tugenden und gute Dispositionen allgemein wahrgenommen werden,

beschränkt ist, soweit gibt es so etwas wie Moralphilosophie.“8 Prichard unterscheidet

dementsprechend zwischen einem moralischen Denken und einem nichtmoralischen Denken,

wobei mit Letzterem das Denken der von ihm kritisierten Moralphilosophie gemeint ist, die

Pflichten auf dem Wege argumentativer Beweisführung meint herleiten zu können.

Prichard´s Aufsatz ist breit rezipiert worden, aber er hat nicht dazu geführt, dass die darin

kritisierte Moralphilosophie verschwunden ist. Ganz im Gegenteil ist sie auf heutigen

Lehrstühlen für Moralphilosophie bzw. philosophische Ethik fest etabliert. Die Kritik, die

Prichards Überlegungen auf sich gezogen haben, betrifft teils seine Argumente gegen

Konsequenzialismus und Deontologie, teils hat man ihn auch so gelesen, als wolle er die Moral

im Gefühl statt in Gründen fundieren.9 Für manche Kritiker läuft seine Position auf eine reine

Situationsethik hinaus, die philosophisch unbefriedigend sei.

In der Tat werfen Prichard´s Überlegungen eine Reihe von Fragen auf, insbesondere was sein

eigenes Verständnis von Moral betrifft. Jedoch ist die zentrale These Prichard´s, dass Moral

nicht argumentativ begründet werden kann und dass diesbezügliche Begründungsversuche das

Wesen der Moral von Grund auf verfehlen, auch 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung des

Aufsatzes noch einer eingehenden Diskussion wert, und es ist die Absicht der folgenden

Überlegungen, diese These zu verteidigen.

8 AaO. 80. 9 «Nach Prichard hat das moralische Handeln seinen Ursprung und Grund in ‚einem Gefühl der Verpflichtung’.»

Kurt Bayertz, Einleitung: Warum moralisch sein?, in: ders. (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn/ München/

Wien/ Zürich 2002, 9-34, 18. Bayertz lässt sich hier durch die Übersetzung von Prichards Aufsatz durch Günther

Grewendorf leiten. Grewendorf übersetzt den Ausdruck `sense of obligation´ mit `Gefühl der Verpflichtung´.

Gefühle können nicht als Gründe für die Richtigkeit von Handlungen gelten, und so rückt Prichard in die Nähe

eines fragwürdigen Irrationalismus. Mit kritischer Spitze gegen Prichard macht Bayertz folgende Alternative auf:

„Entweder spielen rationale Gründe und Argumente in der moralischen Erziehung überhaupt keine Rolle; dann

handelt es sich um eine blosse Abrichtung oder Dressur. Oder Gründe und Argumente spielen eine Rolle; dann

müssen sie auch explizit gemacht und philosophisch analysiert werden können.“ (Ebd.) Natürlich ist auch Prichard

der Auffassung gewesen, dass die Orientierung in moralischen Fragen auf Gründen beruht, nämlich in Gestalt der

betreffenden Situationen, die Grund geben für ein bestimmtes Handeln. Der Ausdruck ‘sense of obligation’ meint

den Sinn für solche Gründe. Und natürlich lassen sich diese Gründe „explizit machen“ und „philosophisch

analysieren“. Die Kritik von Bayertz ist typisch für eine verbreitete Auffassung, für die es nur die Alternative

zwischen argumentativer Rationalität einerseits und Gefühlen andererseits gibt, aber nichts Drittes in Gestalt von

Gründen, die nicht den Charakter von Argumenten haben. Was nicht rational im Sinne argumentativer Rationalität

ist, das verfällt somit dem Verdikt, sich nicht auf Gründe, sondern lediglich auf Gefühle zu beziehen.

Page 5: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

5

Anders als Prichard glaube ich allerdings nicht, dass das Verlangen nach einer argumentativen

Begründung aus dem moralischen Denken selbst hervorgeht, nämlich aus der Frage, ob ich das,

was ich nach meiner bisherigen Überzeugung tun sollte, tatsächlich tun sollte. Hier gibt es bei

Prichard eine Ungereimtheit: Einerseits soll das Verlangen nach Beweisen aus dieser Frage

hervorgehen, nämlich indem diese auf den epistemischen Status meiner Überzeugung (Wissen

oder Täuschung?) bezogen wird; andererseits soll das Verlangen nach Beweisen gerade nicht

aus dieser Frage hervorgehen, insofern diese sich gar nicht auf den epistemischen Status meiner

Überzeugung bezieht, sondern auf deren Inhalt. Wer so fragt, der fragt nach guten Gründen

dafür, dass er so handeln sollte, wie dies seiner bisherigen Überzeugung entspricht. Kann er

diese Frage überhaupt in der Weise missverstehen, wie Prichard dies unterstellt? Im Gegensatz

zu Prichard werde ich im Folgenden für die These argumentieren, dass das Projekt einer

argumentativen Begründung der Moral eine philosophische Erfindung ist, die mit derjenigen

Moral, innerhalb deren wir uns in unserem Leben und Zusammenleben orientieren,

insbesondere wenn wir eine Frage wie die genannte stellen, nicht das Geringste zu tun hat.

Es ist immer misslich, von „der“ Moralphilosophie zu sprechen. Auch Prichard fühlt sich damit

offensichtlich nicht ganz wohl, was sich daran zeigt, dass er von der Moralphilosophie mit dem

Zusatz „wie man sie gewöhnlich versteht“ schreibt. Es gibt Moralphilosophen, die Wert auf

diese Selbstbezeichnung legen und die scharfe Kritiker der Art von Moralphilosophie sind, die

bei Prichard im Blick ist. Diese ist freilich bis heute die dominante Richtung auf den

akademischen Lehrstühlen für dieses Fach. Ich werde daher, wo dies zur Verdeutlichung nötig

ist, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks von der mainstream-Moralphilosophie sprechen.

2. Die Selbstreferentialität der Moralphilosophie

Ich beginne mit einer Frage, die man als die grundlegendste Frage der Moralphilosophie

betrachten kann, nämlich mit der Frage nach dem Gegenstand, mit dem sie sich befasst. Wie

sich gleich zeigen wird, werden mit der Beantwortung dieser Frage die entscheidenden

Weichen gestellt für alles Weitere.

Umso bemerkenswerter ist es, dass in moralphilosophischen Lehrbüchern und Abhandlungen

diese Frage in aller Regel nicht eigens thematisiert wird. Zu offensichtlich scheint ja die

Antwort auf diese Frage zu sein. Steckt es doch schon im Wort `Moralphilosophie´, dass dieser

Gegenstand die Moral ist. Dass es hier gleichwohl Klärungsbedarf gibt, zeigt sich, wenn man

weiterfragt, wofür in dieser Antwort das Wort `Moral´ steht. Steht es für dasjenige, worauf wir

Page 6: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

6

uns in alltäglichen Zusammenhängen mit diesem Wort beziehen, z.B. wenn wir von jemandem

sagen, dass er moralisch richtig gehandelt oder sich moralisch gut verhalten hat? Oder steht es

für dasjenige, was in moralphilosophischen Theorien und Debatten mit diesem Wort

thematisiert und erörtert wird? Ist also der Zusammenhang, von dem her dieses Wort seine

Bedeutung bezieht, die Moralphilosophie selbst, und ist mithin die Moralphilosophie ein

selbstreferentielles Unternehmen?

Vielleicht wird man einwenden, dass dies keine wirkliche Alternative ist. Erhebt nicht die

Moralphilosophie selbst den Anspruch, keine andere Moral zum Gegenstand ihres

Nachdenkens zu haben als eben die, in welcher unser Zusammenleben seine Grundlage hat und

um die es in der alltäglichen Praxis moralischen Urteilens und Wertens geht? Gründet sich nicht

hierauf ihr Anspruch auf praktische Relevanz? Die Moral ist schließlich keine

moralphilosophische Erfindung. Hat nicht bereits das Wissen, dass es überhaupt so etwas wie

Moral gibt, in dieser Praxis seinen Ursprung?

Angenommen, es ist so: Wird die Moralphilosophie dann diesem Anspruch auch gerecht?

Müsste nicht, wenn dies der Anspruch ist, in methodischer Hinsicht die erste und

grundlegendste Frage sein, auf welche Weise diese unserem Zusammenleben inhärente Moral

intersubjektiv nachvollziehbar und kontrollierbar aufgewiesen und analysiert werden kann?

Und angenommen, man hat sich auf eine solche Methode verständigt: Müssten dann nicht alle

moralphilosophischen Auffassungen und Theorien über Moral nach dieser Methode an der

tatsächlich geübten Praxis moralischen Urteilens und Wertens auf ihre Richtigkeit überprüft

werden? Das betrifft zum Beispiel die in der Moralphilosophie vorherrschende und auch von

Prichard geteilte Auffassung, dass das Sollen bzw. der deontische Wertungsmodus grundlegend

ist für die Moral. Stimmt das mit der Moral überein, die wir in unserem Zusammenleben

praktizieren?

Ist dies die methodische Vorgehensweise in der Moralphilosophie? Wird dort das Verständnis

der Moral aus der Untersuchung der in unserem Zusammenleben praktizierten Moral

entwickelt? Werden moralphilosophische Auffassungen und Theorien bezüglich der Moral an

dieser Praxis überprüft? Oder besteht die methodische Vorgehensweise nicht vielmehr darin,

das Verständnis der Moral über die kritische Auseinandersetzung mit moralphilosophischen

Positionen bezüglich des Verständnisses der Moral – Kognitivismus-Nonkognitivismus,

Realismus-Antirealismus, Rationalismus-Intuitionismus, Konsequenzialismus-Deontologie

Page 7: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

7

usw. – herauszuarbeiten, wobei das Kriterium die philosophische Plausibilität der jeweiligen

Positionen ist: Lassen sie sich konsistent denken? Nötigen sie zu absonderlichen und

fragwürdigen Annahmen über die Wirklichkeit (wie z.B. der Annahme einer objektiven

Existenz von Werten)? Wie man sich unschwer anhand von moralphilosophischen Lehr- und

Handbüchern überzeugen kann, ist in der Moralphilosophie die letztere methodische

Vorgehensweise die Regel. Das lässt kein anderes Urteil zu, als dass die Moralphilosophie,

jedenfalls in ihrem mainstream, in der Tat ein selbstreferentielles, hermetisch in sich

abgeschlossenes Unterfangen ist. Statt über die Untersuchung der tatsächlich geübten

moralischen Praxis zu erhellen, was Moral ist, führt sie sekundäre Diskurse über

moralphilosophische Theorien über Moral. Sie kann daher durch die moralische Praxis auch

nicht korrigiert werden, obgleich sie es doch ihrem Anspruch nach gerade mit ihr zu tun hat.

Infolgedessen perpetuieren sich in ihr Auffassungen wie jene, dass der deontische

Wertungsmodus grundlegend ist für die Moral, weil das nie an der tatsächlich praktizierten

Moral überprüft wird. Aufgrund ihrer Selbstreferentialität merkt sie nicht einmal, dass sie damit

jegliche Relevanz für die lebenspraktische moralische Orientierung einbüßt.

Dem Studenten der Moralphilosophie aber wird auf diese Weise suggeriert, dass

moralphilosophische Kompetenz darin besteht, sich in den Debatten auszukennen, die in der

Moralphilosophie über Moral geführt werden, und sich an diesen Debatten beteiligen, also

mitreden zu können.

3. Die Moral der Moralphilosophie

Nun ist mit dem Gesagten noch nicht die Frage beantwortet, was der Grund für diese

Selbstisolierung der mainstream-Moralphilosophie gegenüber der gelebten moralischen Praxis

ist. Wie einleitend in den Ausführungen zu Prichard schon angedeutet wurde, hat dieser Grund

mit einer bestimmten Aufgabenstellung zu tun hat, die die Moralphilosophie – sofern sie sich

nicht lediglich auf die Metaethik beschränkt – sich als normative Ethik selbst zuweist, nämlich

Moral argumentativ zu begründen, d.h. auf eine Weise, die nach Möglichkeit jeden Zweifel

darüber ausschließt, worin unsere moralischen Pflichten bestehen. Dahinter steht die

Auffassung, dass es auf dem Gebiet der Moral um Wissen geht und nicht bloß um subjektive

Überzeugungen. Dementsprechend setzt sich die Moralphilosophie zum Ziel, solches Wissen

bereitzustellen.

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Dass es auf dem Gebiet der Moral um Wissen geht, das scheint prima facie evident zu sein.

Wenn jemand weiß, dass A der Fall ist, dann hat dies die logische Implikation, dass A

tatsächlich der Fall ist. Demgegenüber kann man davon überzeugt sein, dass A der Fall ist, ohne

dass A tatsächlich der Fall ist. Um moralisch richtig handeln zu können, so die nahe liegende

Schlussfolgerung, reichen daher Überzeugungen nicht aus. Erst das Wissen um das moralisch

Richtige und Falsche befähigt zu moralisch richtigem Handeln. Wer anderes aber als die

Moralphilosophie verfügt über die Kompetenz für die Generierung solchen Wissens? In

Wahrnehmung dieser Aufgabe sucht sie Fragen wie die Folgenden zu beantworten, und zwar

in Form argumentativ-zwingender Begründungen, die darauf zielen, jeden Zweifel an den

jeweiligen Antworten auszuschließen: `Haben wir moralische Pflichten gegenüber unseren

eigenen Eltern?´ `Gibt es eine moralische Pflicht, einen Beitrag zur Bekämpfung der globalen

Armut zu leisten?´ `Gibt es eine moralische Pflicht, sich in Anbetracht des Klimawandels

politisch zu engagieren für eine radikale Änderung der Klimapolitik?´

Wie leicht zu sehen ist, impliziert diese Aufgabenstellung eine bestimmte Auffassung von

Moral, die sich von jener Moralauffassung, die wir in unserem Zusammenleben praktizieren,

fundamental unterscheidet. Danach bezieht das moralische Handeln seine Gründe aus

moralischen Urteilen wie dem Urteil `Es gibt eine moralische Pflicht, einen Beitrag zur

Bekämpfung der globalen Armut zu leisten´. Der moralisch Handelnde tut, was er tut, weil es

eine moralische Pflicht dazu gibt, weil es moralisch richtig ist, weil es moralisch geboten ist

usw. Deshalb ja macht es sich die Moralphilosophie zur Aufgabe, solche Urteile argumentativ

zu begründen, weil auf diese Weise das moralische Handeln auf eine sichere Wissensgrundlage

gestellt werden soll. Nach dieser Moralauffassung gibt es für alles moralische Handeln nur

einen einzigen Grund, und das ist seine moralische Richtigkeit (Gebotenheit,

Pflichtgeschuldetheit usw.).10 Die Ausdrücke `moralisch richtig´, `moralisch geboten´ usw.

haben dabei einen eindeutig deontischen Sinn. Das moralisch Richtige bzw. Gebotene ist das,

was getan werden soll, und man tut es, weil es getan werden soll.

Denken wir uns demgegenüber jemanden, der sich entschließt, sich der „Fridays for Future“-

Bewegung anzuschließen. Er hat Berichte gelesen über Weltgegenden, in denen die

Klimaerwärmung bereits heute bislang fruchtbares Land in unfruchtbare Steppen verwandelt

hat. Er hat sich damit auseinandergesetzt, was dies für die betroffenen Menschen bedeutet. Er

hat sich mit wissenschaftlichen Studien befasst, die für die Zukunft hochrechnen, welche

10 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2003 283.

Page 9: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

9

Auswirkungen die Klimaerwärmung auf das Leben künftiger Generationen hat und mit welchen

möglichen Szenarien diesbezüglich zu rechnen ist. All dies hat ihn zu der Überzeugung

gebracht, dass man dieser Entwicklung nicht einfach untätig zusehen darf, sondern dass man

alles im Rahmen der eigenen Möglichkeiten Stehende tun muss, um sie aufzuhalten. Dazu, so

seine Einsicht, reicht die Änderung des eigenen Lebensstils nicht aus. Mindestens so wichtig

ist es, seitens der Zivilgesellschaft politischen Druck auszuüben, um die verantwortlichen

Regierungen zu einer radikalen Änderung ihrer Klimapolitik zu nötigen. Dies ist der Grund,

warum er sich der „Fridays for Future“-Bewegung anschließt.

Bei all diesen Überlegungen hat er keinen einzigen Augenblick an Moral gedacht. Schon gar

nicht fungiert ein moralisches Urteil als Grund für seine Entscheidung und sein Handeln. Er

schließt sich der „Fridays für Future“-Bewegung nicht deshalb an, weil dies moralisch richtig

oder weil dies moralische Pflicht ist. Würde man ihn fragen, warum er dies tut, dann würde er

wohl sinngemäß antworten: „Man kann doch in Anbetracht der Klimaerwärmung und ihrer

verheerenden Auswirkungen auf das Leben der davon betroffenen Menschen nicht einfach in

der Haltung des bloßen Zuschauers verharren und die Hände in den Schoß legen! Da muss man

doch etwas tun!“ Diese Sätze artikulieren die Überzeugung, die ihn zu seiner Entscheidung und

seinem Handeln veranlasst. Es handelt sich um eine Überzeugung besonderer Art, die nicht in

Wissen überführt werden kann. Oben wurde gesagt, dass der Satz `X weiß, dass A der Fall ist´

die Implikation hat `A ist der Fall´. Hier geht es um Aussagesätze, und das moralische Wissen,

um das es der Moralphilosophie zu tun ist, hat eben diese Form von Aussagesätzen: `Es gibt

eine moralische Pflicht, sich angesichts des Klimawandels politisch zu engagieren für eine

radikale Änderung der Klimapolitik.´ Doch der Satz `Da muss man doch etwas tun!´ ist kein

Aussagesatz. Er ist übrigens auch kein präskriptiver Satz, keine Sollensvorschrift (`Man soll

etwas gegen den Klimawandel tun´), und er ist auch nicht aus präskriptiven Sätzen argumentativ

ableitbar. Er artikuliert vielmehr den nötigenden Impuls, der von der Vorstellung dessen

ausgeht, was die Klimaerwärmung für das Leben der davon betroffenen Menschen bedeutet,

und unter dessen Wirkung der Sprecher seine Entscheidung trifft. Die Überzeugung, die sich in

ihm ausdrückt, bezieht sich auf dieses `Muss´ mit Ausrufezeichen. Dieses `Muss´ kann durch

keine Argumentation dieser Welt aufgewiesen werden, da Argumentationen mit Aussagesätzen

(oder präskriptiven Sätzen) operieren. Es lässt sich einem anderen nur in der Weise vermitteln,

dass man ihm die Auswirkungen des Klimawandels vor Augen führt, so dass auch er von dem

nötigenden Handlungsimpuls erreicht wird, der hiervon ausgeht. Man hat dies freilich nicht in

der Hand, und es kann sein, dass alle diesbezüglichen Überzeugungsversuche den anderen

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10

gleichgültig lassen. Das unterscheidet diese Art des Überzeugens von einer Argumentation.

Letztere zielt darauf ab, einem anderen zu zeigen, anzudemonstrieren, dass etwas Bestimmtes

der Fall ist, so dass er dies nicht mehr bezweifeln oder bestreiten kann. Doch hier, bei dieser

Art des Überzeugens, muss sich das, was der Satz `Da muss man doch etwas tun!´ artikuliert,

dem anderen in Ansehung des Klimawandels und seiner Auswirkungen selbst zeigen. Man kann

es ihm nicht andemonstrieren. Auf den Unterschied dieser Überzeugung zum Wissen und auf

ihre Nicht-Überführbarkeit in Wissen wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein.

Geht es nach der Moralauffassung der mainstream-Moralphilosophie, dann handelt es sich bei

der Entscheidung dessen, der sich der „Fridays for Future“-Bewegung anschließt, um keine

moralische Entscheidung, da sie ihre Gründe nicht aus moralischen Urteilen über `richtig´ und

`falsch´ bezieht. Man lege jedoch die Entscheidung beliebigen Menschen zur Beurteilung vor:

Die allermeisten dürften keinen Augenblick zögern, sie als moralisch gut bzw. richtig zu

bewerten. Hieran zeigt sich ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen der Moralauffassung

der mainstream-Moralphilosophie und der Moralauffassung, auf der die gewöhnliche

moralische Praxis beruht. Erstere verlegt die Moral in ihrer sprachlich expliziten Gestalt in

Form von moralischen Urteilen und Normen in die Perspektive des Handelnden, der tut, was er

tut, weil es moralisch richtig oder gesollt ist, während für Letztere moralische Urteile und

Wertungen ihren Sitz in der Perspektive eines Verhaltensbeurteilers haben, der Verhalten und

Handeln als moralisch gut oder schlecht, richtig oder falsch bewertet. Wie das Beispiel zeigt,

muss dabei der Handelnde gar nicht an Moral gedacht haben, damit sein Handeln als moralisch

gut bzw. richtig bewertet werden kann. Ganz im Gegenteil zieht sein Verhalten gerade deshalb

die Bewertung `moralisch gut´ auf sich, weil es ihm ganz und ausschließlich um die Sache, d.h.

um den Klimawandel und seine verheerenden Auswirkungen, geht und nicht um Moral um ihrer

selbst willen, wie das bei demjenigen der Fall ist, der das moralisch Richtige einzig und allein

deshalb tut, weil es das moralisch Richtige ist. Aus der Sicht eines Verhaltensbeurteilers ist

auch die Überzeugung des Handelnden, wie sie durch den Satz `Da muss man doch etwas tun!´

artikuliert wird, eine moralische Überzeugung, da sie essentieller Bestandteil seines als

moralisch gut bewerteten Verhaltens ist (bzw. da aus ihr sein als moralisch richtig bewertetes

Handeln hervorgeht).

Der Unterschied zwischen den Gründen, die jeweils im Fokus des Nachdenkens stehen, bei der

Moral der gewöhnlichen moralischen Praxis einerseits und bei der Moral der mainstream-

Moralphilosophie andererseits, lässt sich noch in einer anderen Hinsicht charakterisieren. Im

Page 11: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

11

einen Fall geht es um praktische Gründe, d.h. um solche, die Grund geben für ein bestimmtes

Handeln. In obenstehendem Beispiel ist der Klimawandel ein solcher praktischer Grund. Im

anderen Fall, der argumentativen Begründung der Moral, geht es um theoretische Gründe, d.h.

um solche, mit denen moralische Urteile (oder Sollensvorschriften bzw. Normen) begründet

werden. Moralische Prinzipien wie das utilitaristische Prinzip sind von dieser Art. Die

selbstgestellte Aufgabe der Moralphilosophie, Moral argumentativ zu begründen, hat eine

Verlagerung des ethischen Denkens vom Praktischen ins Theoretische zur Folge. Das spiegelt

sich nicht zuletzt in den methodologischen Debatten wider, die in der mainstream-

Moralphilosophie geführt werden (Fundamentismus, Kohärentismus usw.).

Konsequent durchgeführt hat die Abkoppelung des ethischen Denkens von praktischen

Gründen und seine Reduktion auf theoretische Gründe in Form von Argumenten freilich zur

Folge, dass die Ethik insgesamt unter Sinnlosigkeitsverdacht gerät. Warum zum Beispiel

versuchen Philosophinnen und Philosophen, Argumente zu konstruieren, mit denen sich eine

moralische Hilfspflicht in Anbetracht der globalen Armut begründen lässt?11 Doch wohl

deshalb, weil sie, schon bevor sie solche Argumente gefunden haben, davon überzeugt sind,

dass das Elend der Armut nach Möglichkeit aus der Welt geschafft werden sollte. Dazu

möchten sie ihren philosophischen Beitrag leisten. Das freilich bedeutet, dass ihnen dieses

Elend praktisch Grund gibt, nach derartigen theoretischen Gründen zu suchen. Warum müssen

sie dann aber noch nach theoretischen Gründen suchen, wenn es doch schon einen praktischen

Grund in Gestalt dieses Elends gibt, um etwas gegen die Armut zu unternehmen? Weil sie

diesen praktischen Grund nicht als einen wirklichen Grund anerkennen, da er nicht die Form

des Arguments hat. Dann freilich kann dieses Elend auch nicht als ein Grund dafür gelten, nach

philosophischen Argumenten für eine Hilfspflicht zu suchen. Warum tun sie es dann? Ist es die

Freude am intellektuellen Spiel? Und für wen ist das relevant, ausser für die philosophische

Zunft selbst, und auch hier nur für diejenigen, die in diesen speziellen Diskurs involviert sind?

So mündet letztlich alles in die Frage, warum wir uns überhaupt auf die mainstream-

Moralphilosophie und ihre Moralauffassung einlassen sollen. Die Antwort müsste uns diese

selbst geben. Welche triftigen Gründe kann sie uns nennen für die Zumutung, die sie uns

abverlangt, nämlich dass wir uns in unserem moralischen Verhalten und Handeln nicht an

praktischen Gründen wie Armut oder Klimawandel orientieren sollen, sondern dass wir in jeder

Situation einzig und allein darauf bedacht sein sollen, das moralisch Richtige und Gebotene um

11 Barbara Bleisch, Peter Schaber (Hg.), Weltarmut und Ethik, Paderborn: mentis 2007.

Page 12: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

12

seiner selbst willen zu tun; und zwar das moralisch Richtige und Gebotene, wie es mit den

Mitteln argumentativer Beweisführung hergeleitet worden ist? Wie verteidigt sie sich gegen die

Kritik, dass dies nichts anderes ist als eine Art Götzendienst an der Moral (wie die mainstream-

Moralphilosophie sie versteht), bei dem alles sich nur und ausschliesslich um die Moral um

ihrer selbst willen dreht und das, was getan wird, «im Namen der Moral und in keinem anderen

Namen» getan wird, wie Dieter Birnbacher es mit einer religiöse Assoziationen hervorrufenden

Wendung formuliert hat?12 Dass diese Moralauffassung nicht als absurd erscheint, sondern

innerhalb der Moralphilosophie bis heute eine so große Akzeptanz findet, wird verständlich

nur, wenn man sich ihren historischen Hintergrund vergegenwärtigt, nämlich ihre religiösen

Wurzeln in Judentum und Christentum, aus denen sie hervorgegangen ist.13 So, wie im Rahmen

einer religiösen Gesetzesethik der Fromme die Gebote Gottes befolgt, weil sie von Gott geboten

sind, so sollen hier die Gebote der Moral befolgt werden, weil sie durch die Moral – das

«Sittengesetz» - geboten sind. Die These Elizabeth Anscombes, dass die moderne

Moralphilosophie lediglich die säkularisierte Variante einer religiösen Gesetzesethik ist, hat

vieles für sich.14 Wie bei Gottes Gebot handelt es sich auch bei der Moral der mainstream-

Moralphilosophie in Gestalt der moralischen Pflichten, die wir angeblich haben, um etwas

objektiv Gegebenes und ein für allemal Feststehendes, jedenfalls vollkommen

Ungeschichtliches, und die Moralphilosophie rechnet es sich als ihr Verdienst zu, dass sie uns

in die Lage versetzt, es zu erkennen.

Es war von der Selbstreferentialität der Moralphilosophie die Rede. Dass es auf dem Gebiet der

Moral um Wissen geht und dass das moralische Handeln seine Gründe aus moralischen Urteilen

bezieht, diese Meinung hat sich die mainstream-Moralphilosophie nicht über die Untersuchung

der tatsächlich praktizierten Moral gebildet. Was Letztere betrifft, so gibt niemand auf die

Frage, warum er seinen betagten Eltern hilft, zur Antwort: «Es gibt eine moralische Pflicht, den

eigenen Eltern zu helfen, wenn sie betagt und auf Hilfe angewiesen sind. Meine Eltern sind

betagt und auf Hilfe angewiesen. Also helfe ich ihnen.» Vielmehr besteht die Antwort darin,

dass man die Situation seiner Eltern schildert und sie als einen praktischen Grund für das eigene

Handeln vor Augen führt. Die moralphilosophische Meinung, dass es auf dem Gebiet der Moral

um Wissen geht, beruht vielmehr auf einer philosophischen Idee bzw. auf einem der Aufklärung

12 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, aaO. 283. 13 Johannes Fischer, Die Bedeutung von Emotionen für die Moral. Eine moralphilosophische Skizze. Mit einem Nachtrag zu den religiösen Wurzeln der Moral, http://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/2019/01/Moral-und-Emotionen5.pdf, S. 17ff. 14 Ebd.

Page 13: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

13

verpflichteten Projekt, nämlich die Orientierung in der Welt auf die feste Grundlage sicheren

Wissens zu stellen. Dieser Intention wird auch die Moral unterworfen, und so muss sie so

beschaffen sein, wie es für dieses Projekt erfordert ist, nämlich auf Wissen beruhen und

argumentativ begründet werden können.

Die zwangsläufige Folge ist eine radikale Entwertung der Moral, auf die unser Zusammenleben

gegründet ist, und zwar weil sie nicht argumentativ begründet ist, sondern weil hier das Handeln

„nur“ auf praktischen Gründen beruht. Typisch hierfür ist das folgende Zitat: „Entscheidender

ist die unterschiedliche Einstellung, die Fachethiker [im Vergleich zu ethischen Laien]

gegenüber ethischen Fragen haben. Von ihrer beruflichen Ausbildung her müssen sie bereit

sein, alles in Frage zu stellen. Bei Handlungstypen, deren Verwerflichkeit allen Laien

offensichtlich ist, stellen sie die Frage: ‚Was ist wirklich falsch daran?’ Was ist falsch an Folter,

Mord, Sklaverei, Diskriminierung der Frau? Dass sie hier aber allein die Frage stellen und eine

argumentative Prüfung für nötig erachten, bringt sie freilich schon in den Ruf der Amoralität.

Denn gibt es ein besseres Zeichen für das Manko der Experten, dass sie etwas hinterfragen, was

jeder als moralisches Subjekt erzogener (sic!) Person offensichtlich sein muss? Schon dies

macht sie als Personen suspekt. Philosophische Ethik muss tatsächlich mit diesem Manko leben.

Nimmt sie nicht die Intuitionen der eigenen Zeit, die doxa, für gegeben, muss sie diese rational

hinterfragen…“15

Diese Auffassung von philosophischer Ethik hat sich im Gefolge der Aufklärung tief in das

Denken der Moderne eingebrannt. Es geht hier, wie das Zitat verdeutlicht, gewissermassen um

das Berufsethos des Moralphilosophen. Im Unterschied zur bloßen doxa, dem sich

vordergründig Zeigenden, an das sich die philosophisch Ungebildeten halten, steht er für die

aletheia, die Wahrheit. Mögen jene glauben zu wissen, dass ein Mord oder eine Vergewaltigung

eine schlimme Sache und ein moralisches Übel sind, so verfügt er über wirkliches, nämlich

argumentativ begründetes Wissen. Im Unterschied zum Laien ist er bereit, alles in Frage zu

stellen, bis dahin, ob ein Mord oder eine Vergewaltigung moralisch gesehen wirklich so

schlimm ist, wie der Laie glaubt. Die Selbstisolierung der mainstream-Moralphilosophie wird

hier bis in die Unterscheidung zweier Kategorien von Menschen getrieben: Auf der einen Seite

die moralphilosophischen Experten, die das Wissen über Moral exklusiv für sich beanspruchen,

aber dabei keinerlei Kontakt zur gelebten Moral haben und haben wollen, da diese doch nur

15 Klaus Peter Rippe, Ethikkommissionen als Expertengremien?, in: ders. (Hg.), Angewandte Ethik in der

pluralistischen Gesellschaft, Freiburg 1998, 363f.

Page 14: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

14

von den irrationalen «Intuitionen der eigenen Zeit» bestimmt ist; auf der anderen Seite die

Laien, die über keine argumentative Rationalität verfügen und daher bloßen Vorurteilen

aufsitzen, wenn sie eine Vergewaltigung für moralisch verwerflich halten.

4. Methodologische Zwischenüberlegung

Es war von der Irrelevanz die Rede, in die sich die Moralphilosophie manövriert, wenn sie

jeglichen Kontakt zur lebenspraktischen moralischen Orientierung verliert, und ebenso vom

Sinnlosigkeitsverdacht, unter den sie gerät, wenn sie sich völlig von den praktischen Gründen

der lebenspraktischen moralischen Vernunft abkoppelt.

Es war weiterhin davon die Rede, dass die Moral keine moralphilosophische Erfindung ist,

sondern dass wir um Moral wissen, weil wir an moralischer Praxis teilhaben. Letzteres hat weit

reichende Konsequenzen. Bedeutet es doch, dass wir, um entscheiden zu können, ob eine Norm

eine moralische Norm ist, auf das implizite Moralverständnis unserer moralischen Praxis

rekurrieren müssen. Wir verfügen über kein anderes Kriterium. Eine Moralphilosophie, die dies

nicht tut, hängt daher mit ihrem Anspruch, Moral zu begründen, in der Luft. Eine Norm ist ja

nicht schon dadurch eine moralische Norm, dass sie argumentativ begründet worden ist. Und

eine Maxime ist nicht schon dadurch ein moralisches Gesetz, dass sie den

Verallgemeinerungstest des Kategorischen Imperativs bestanden hat. Schließlich ist auch eine

Norm, auf die man sich nach diskursethischem Modell konsensuell verständigt hat, damit noch

keine moralische Norm, ein Punkt, den Ernst Tugendhat gegen Jürgen Habermas geltend

gemacht hat. Zumindest müsste in allen diesen Fällen erklärt werden, mit welchem Recht man

hier von ̀ Moral´ spricht und damit ein Wort in Anspruch nimmt, das seine Bedeutung aus einem

ganz anderen Kontext bezieht.

Das Selbstmissverständnis der mainstream-Moralphilosophie, dass sie es mit Moral zu tun hat,

ist freilich insofern nahe liegend, als es sich bei den Handlungsweisen, die sie thematisiert –

wie z.B. Folter, Mord, Vergewaltigung, Lüge usw. –, zumeist um solche handelt, die in der

moralischen Praxis mit starken moralischen Bewertungen verknüpft sind. Dies führt zu dem

irrtümlichen Glauben, dass man, wenn man den argumentativen Nachweis dafür erbringt, dass

man Menschen nicht foltern soll, einen moralischen Sachverhalt bewiesen hat. Doch ersichtlich

ist der argumentative Nachweis dafür, dass man Menschen nicht foltern soll, etwas gänzlich

anderes als eine moralische Bewertung der Folter als moralisch schlecht, moralisch

verwerflich, moralisch verboten usw. Insofern wird hier gar kein Beweis für ein moralisches

Page 15: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

15

Urteil oder eine moralische Norm erbracht. Es wird m.a.W. gar nicht Moral argumentativ

begründet, wie dies der Anspruch ist. Es müssten schon die Prämissen, auf die sich die

Argumentation stützt, in moralischen Urteilen bzw. Normen bestehen, damit dann auch die

Konklusionen moralischen Charakter haben. Doch woher nimmt man die moralischen

Prämissen, ohne Anleihen bei der Moral der moralischen Praxis zu machen, deren Irrationalität

und Vorurteilslastigkeit man doch gerade überwinden will?

So führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass die Moralphilosophie, will sie ihren Namen

zu Recht tragen, Anschluss an die Moral der moralischen Praxis suchen muss. Das freilich hat

eine gänzlich andere Art von Moralphilosophie zur Folge, als sie bislang im Fokus dieser

Ausführungen stand, nämlich eine Moralphilosophie, die ihre Aufgabe nicht in der

argumentativen Begründung von Moral sieht, sondern vielmehr zuerst und vor allem darin,

Moral zu verstehen. An früherer Stelle wurde gesagt, dass eine Moralphilosophie, die sich mit

der Moral der moralischen Praxis befasst, zuallererst eine methodologische Frage beantworten

muss, nämlich auf welche Weise dieser ihr Gegenstand intersubjektiv nachvollziehbar und

kontrollierbar aufgewiesen und analysiert werden kann. Konstitutiv für die moralische Praxis

ist die sprachliche Tätigkeit des Bewertens und Beurteilens von menschlichem Verhalten und

Handeln. Um die Moral der moralischen Praxis intersubjektiv nachvollziehbar in den Blick zu

bekommen, empfiehlt sich daher in methodologischer Hinsicht die Untersuchung des

Gebrauchs, den wir von der Sprache der Moral machen. Denn diese Sprache ist uns gemeinsam,

und jede Beobachtung im Hinblick auf ihren Gebrauch und das, was damit zum Ausdruck

gebracht werden soll, kann intersubjektiv überprüft werden.

Zwar ist gegen die sprachanalytische Methode eingewendet worden, dass alle Wörter der

Sprache der Moral – gut, sollen, sollten, geboten, richtig usw. – auch in nichtmoralischen

Bedeutungen verwendet werden. Was Moral ist, lasse sich daher nicht an diesen Wörtern

erkennen. Vielmehr müssten wir schon ein Wissen um Moral mitbringen, um die moralische

Bedeutung dieser Wörter von ihrer nichtmoralischen Bedeutung unterscheiden zu können.16

Dieser Einwand trifft in der Tat einen großen Teil der metaethischen Debatte über die Sprache

der Moral, die auf eben diese Wörter konzentriert ist. Doch fehlt in dieser Liste ein Wort, das

exklusiv auf die Moral bezogen ist, nämlich das Wort `moralisch´. In ihm liegt, wie ich an

16 Birnbacher, aaO. 9f.

Page 16: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

16

anderer Stelle ausgeführt habe,17 der Schlüssel zum Verständnis der Moral: Was wird zum

Ausdruck gebracht, wenn von einer Handlung nicht bloß gesagt wird, dass sie richtig ist,

sondern gesagt wird, dass sie moralisch richtig ist? Oder was wird zum Ausdruck gebracht,

wenn von einem Verhalten nicht bloß gesagt wird, dass es gut ist, sondern gesagt wird, dass es

moralisch gut ist? Geht man Fragen dieser Art nach, dann ergibt sich nicht nur ein umfassendes

Bild der Moral, die wir in uns tragen, sondern auch ein umfassendes Bild der Funktion, die die

Moral im Kontext unserer Lebenswirklichkeit hat.

5. Die Moral der moralischen Praxis

Ich will im Folgenden nur die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen, zu denen man mit

dieser Art von sprachanalytischer Untersuchung gelangt, da ich, wie gesagt, die einzelnen

Schritte dieser Untersuchung an anderer Stelle dargestellt habe.18

Erstens: Die Moral der moralischen Praxis basiert auf dem evaluativen Wertungsmodus, nicht

auf dem deontischen. Bereits im Wort ̀ moralisch´ ist ein Bezug zum moralisch Guten enthalten,

was sich daran zeigt, dass wir das Tun dessen, der dem moralisch Gebotenen zuwider handelt,

nicht bloß als falsch, sondern als schlecht, nämlich in einem moralischen Sinne schlecht

beurteilen. Das moralisch Gute besteht dabei weder in Handlungen noch – wie es in der

Moralphilosophie verbreitete Meinung ist – in Motiven, Dispositionen, Tugenden oder

Charakterzügen, sondern in einem Verhalten, das beides umfasst, ein Handeln mitsamt der

dahinterstehenden „Gesinnung“ in Gestalt von Motiven, Gründen, Einstellungen usw.. Als

moralisch gut bewertet wird also nicht das Mitgefühl, sondern ein Handeln aus Mitgefühl, d.h.

ein mitfühlendes Verhalten. Der eigentlich basale Begriff der Moral ist somit der Begriff des

Verhaltens, nicht der Begriff des Handelns. Bemisst sich doch die moralische Qualität einer

Handlung an ihrer Beziehung zum moralisch Guten in Gestalt eines entsprechenden Verhaltens:

Eine Handlung ist moralisch richtig, wenn sie ihren Teil zu einem Verhalten beiträgt, das

moralisch gut ist. Handlungen können diesbezüglich immer nur einen Teil beitragen. So ist zum

Ganzen eines moralisch guten Verhaltens auch eine entsprechende Handlungsmotivation

17 Die Bedeutung von Emotionen für Moral und Ethik. Eine moralphilosophische Skizze. Mit einem Nachtrag zu den religiösen Wurzeln der Moral, http://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/2019/01/Moral-und-Emotionen5.pdf 18 Die Bedeutung von Emotionen…, siehe Anm. 17; Moralischer Konsequenzialismus. Über die gesellschaftliche Steuerungsfunktion der Moral, http://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/2019/04/Moralischer-Konsequenzialismus-05.04.2019.pdf

Page 17: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

17

erfordert. Ein egoistisches, bloß auf den eigenen Vorteil bedachtes Handeln ist, als Verhalten

betrachtet, nicht moralisch gut, mag auch die Handlung als solche moralisch richtig sein, d.h.

ihren Teil zu dem beitragen, was in der gegebenen Situation ein moralisch gutes Verhalten wäre

bzw. für ein moralisch gutes Verhalten erfordert ist.

Wird der Ausdruck ´moralisch richtig´ in dieser Weise aufgefasst, dann drückt die Feststellung

´Diese Handlung ist moralisch richtig´ keine deontische Wertung aus, sondern eine deskriptive

Tatsachenfeststellung, die die Beziehung der Handlung zum moralisch Guten konstatiert. Die

Handlung ist unter dem Gesichtspunkt der Realisierung des moralisch Guten in Gestalt eines

situationsentsprechenden Verhaltens richtig. Der Ausdruck ´moralisch geboten´ bedeutet:

Unter dem Gesichtspunkt der Realisierung des moralisch Guten geboten, was gleichbedeutend

mit einem hypothetischen Urteil ist: Wenn das moralisch Gute verwirklicht werden soll, dann

muss die Handlung vollzogen werden. Auch das ist ersichtlich keine deontische Wertung,

sondern ein Tatsachenurteil, das die Beziehung der Handlung zum moralisch Guten zum

Gegenstand hat. Damit ergibt sich insgesamt, dass es in der Moral nur eine einzige Art von

wertenden Urteilen gibt, nämlich evaluative Urteile bezüglich des moralisch Guten und

Schlechten. Bei dem, was man gemeinhin für deontische moralische Urteile hält, handelt es

sich demgegenüber um Tatsachenfeststellungen, die die Beziehung einer Handlung zum

moralisch Guten zum Gegenstand haben.

Wie an früherer Stelle deutlich wurde, resultiert die gegenteilige, in der mainstream-

Moralphilosophie vorherrschende Meinung, dass die Moral auf dem deontischen

Wertungsmodus basiert, auf der irrigen Vorstellung, dass das moralische Handeln seine Gründe

aus moralischen Urteilen bezieht: Der Handelnde tut, was er tut, weil es moralisch richtig ist.

Bei diesem Gebrauch hat der Ausdruck `moralisch richtig´ einen eindeutig deontischen Sinn:

Das moralisch Richtige ist das zu Tuende, das, was getan werden soll. Letztlich geht es um

folgende Alternative: Soll dem Notleidenden geholfen werden, weil dies moralisch geboten ist?

Oder soll ihm um des willen geholfen werden, weshalb dies moralisch geboten – nämlich im

Sinne der Realisierung des moralisch Guten geboten – ist, nämlich um seiner Not willen? Das

Erste ist die Meinung der Moralphilosophie, für die es nur einen einzigen Grund für moralisches

Handeln gibt, nämlich dessen moralische Richtigkeit bzw. Gebotenheit. Das Zweite ist die

Perspektive der moralischen Praxis, für die das moralische Handeln an praktischen Gründen

orientiert ist.

Page 18: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

18

Zweitens: Betrachtet man den Unterschied zwischen der Aussage `Sich so in einer solchen

Situation zu verhalten ist gut´ und der Aussage `Sich so in einer solchen Situation zu verhalten

ist moralisch gut´, dann wird mit der ersten Aussage das betreffende Verhalten bewertet,

während mit der zweiten Aussage ein Urteil über die Bewertung des betreffenden Verhaltens

gefällt wird, nämlich dass es allgemein als gut bewertet zu werden verdient. Mit dem Wort

´moralisch´ wird die Perspektive einer moral community eingeführt, die sich darüber

verständigt, wie Verhalten bewertet werden soll. Das ist das hervorstechendste

Charakteristikum der Moral, die wir in uns tragen und um die sich unsere öffentlichen Debatten

zu moralischen Fragen drehen. Sie beruht auf einem bestimmten kulturellen Setting in Gestalt

einer moral community, die über ihre Verständigung festlegt, welches Verhalten als gut und

welches als schlecht zu bewerten ist, welches Wertschätzung und welches Tadel verdient, und

die auf diese Weise das Verhalten ihrer Mitglieder steuert, und zwar über die Gewährung und

den Entzug von Wertschätzung und Achtung. Es war an früherer Stelle davon die Rede, dass

die Moral in ihrer explizit sprachlichen Form in Gestalt moralischer Urteile ihren Sitz nicht,

wie dies vorherrschende Auffassung in der Moralphilosophie ist, in der Perspektive des

Handelnden hat in dem Sinne, dass dieser tut, was er tut, weil es moralisch geboten ist, sondern

vielmehr in der Perspektive eines Verhaltensbeurteilers. Darin spiegelt sich sowohl der

evaluative Charakter der Moral als auch ihre gesellschaftliche Funktion als Instrument der

Selbststeuerung moderner Gesellschaften über die Gewährung oder den Entzug von

Wertschätzung und Achtung.

Drittens: Fragt man, von welcher Art dasjenige Verhalten ist, das als moralisch gut bewertet

wird und dem also allgemeine Wertschätzung geschuldet sein soll, so lassen sich zwei Arten

von Verhalten unterscheiden. Bei der ersten Art handelt es sich um Verhalten, mit dem einer

gegebenen Situation entsprochen wird: Sich so in einer solchen Situation zu verhalten ist

moralisch gut. Man denke etwa an eine Situation, in der jemand Zivilcourage bewiesen hat.

Wie ich an anderer Stelle verdeutlicht habe,19 hat diese situationsbezogene Art des moralisch

Guten Wurzeln im Liebesgebot der jüdisch-christlichen Tradition. Bei der zweiten Art handelt

es sich um Verhalten, das auf die Realisierung von etwas außermoralisch Gutem gerichtet ist.

So wird es als moralisch gut bewertet, wenn jemand sich ehrenamtlich für die Integration von

Flüchtlingen oder für den Schutz der Umwelt engagiert. Hier wird die Moral gewissermaßen in

Dienst genommen für die Verwirklichung erstrebenswerter Güter.

19 Die Bedeutung von Emotionen für Moral und Ethik…

Page 19: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

19

Im Blick auf die konsequenzialistische Moralbegründung gibt es eine Debatte darüber, ob von

den außermoralisch guten Folgen einer Handlung auf die moralische Qualität der Handlung

geschlossen werden kann. Wenn eine Handlung Glück maximiert, lässt sich dann daraus

ableiten, dass sie moralisch richtig bzw. geboten ist? Wo immer in dieser Weise gefragt wird,

da wird die Moral als etwas objektiv Gegebenes betrachtet, und man sucht dementsprechend

auch die fragliche Verknüpfung zwischen dem außermoralisch Guten und dem moralisch

Richtigen als etwas auf, das entweder gegeben oder nicht gegeben ist. Ein völlig anderes Bild

ergibt sich, wenn man sieht, dass die Moral, die wir in uns tragen, ein Instrument der

gesellschaftlichen Selbststeuerung ist, und zwar der Selbststeuerung mittels Verständigung

über moralisch gutes oder schlechtes Verhalten. Hier ist es die Gesellschaft als moral

community, die als Letztinstanz festlegt, welches Verhalten als gut und welches als schlecht zu

bewerten ist, und dabei spielt natürlich auch das Interesse an außermoralischen Gütern, die von

gesellschaftlicher Relevanz sind, eine eminente Rolle. Im Resultat ergibt sich eine Art

integrative Ethik, bei der güterethische Perspektive und moralische Perspektive miteinander

verknüpft sind und Verhalten als moralisch gut bewertet wird, weil es auf die Realisierung

bestimmter außermoralischer Güter gerichtet ist; ohne dass damit der Anspruch verbunden ist,

dass das moralische Gutsein des Verhaltens aus dem außermoralischen Gutsein der Güter

irgendwie logisch abgeleitet werden kann. Die Verknüpfung von beidem beruht vielmehr auf

reinem Interesse. Welche Güter sind so wertvoll, dass Verhalten, das auf ihre Realisierung

gerichtet ist, als moralisch gut bewertet werden sollte? Wo so gefragt wird, da können „neue

Moralen“ wie einstmals die Umweltmoral entstehen.

Viertens: Moral hat es mit Wirklichkeitspräsenz zu tun. Wenn von einem Verhalten gesagt wird:

„Sich so in einer solchen Situation zu verhalten ist moralisch gut“, dann bezieht sich der

Ausdruck `moralisch gut´ nicht auf die wertneutrale Tatsache des Verhaltens, wie sie

Gegenstand einer Beschreibung ist, sondern auf das Verhalten, wie es real oder imaginativ in

seiner erlebten Präsenz vor Augen ist und sprachlich durch ein Narrativ artikuliert wird. Dieser

Punkt ist von eminenter Bedeutung für das Verständnis der Moral. Ist doch die Erkenntnis von

Präsenz mit einer Veränderung des Ortes des Erkennenden verbunden, nämlich mit seiner

Lokalisierung im Raum der Präsenz des Erkannten. In jeder Begegnung mit einem Menschen

machen wir diese Erfahrung. Die Rede von `Präsenzräumen´ trägt diesem lokalisierenden

Charakter der Erkenntnis von Präsenz Rechnung. Dass ein Verhalten moralisch gut ist, kann

nur erkennen, wer sich real oder imaginativ in den Raum der Präsenz dieses Verhaltens begibt,

also es sich zum Beispiel vor dem inneren Auge vorstellt. Dies gilt für beide Arten des

Page 20: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?

20

moralisch Guten, also sowohl für das situationsbezogene moralisch gute Verhalten als auch für

das güterbezogene moralisch gute Verhalten. Bei Letzterem stellen wir uns zum Beispiel den

großen persönlichen Einsatz vor, mit dem jemand einem ehrenamtlichen Engagement nachgeht,

und wenn wir einem Dritten unsere Bewertung nahe bringen wollen, dann werden wir ihm

diesen Einsatz schildern, d.h. mit dem Mittel des Narrativs vor Augen führen.

In dieser Präsenzbezogenheit der Moral liegt der Grund dafür, warum sich die Bewertung von

Verhalten als `moralisch gut´ niemandem andemonstrieren lässt. Dass ein Verhalten moralisch

gut ist, das kann sich dem anderen nur selbst zeigen, indem er es sich vor Augen führt. Es geht

hier um einen epistemologischen Sachverhalt, der keineswegs für die Moral spezifisch ist,

sondern weit über sie hinaus von Bedeutung ist, nämlich um die Präsenzraumgebundenheit

allen Wahrnehmens und Erkennens.20 Was wir wahrnehmen und erkennen, hängt entscheidend

davon ab, in welchem Präsenzraum wir uns aufhalten und orientieren. Man kann sich dies an

einer einfachen Armbewegung verdeutlichen, die wir an einem anderen Menschen

wahrnehmen. Wir können in ihr eine Handlung vor uns haben, z.B. ein Winken, mit dem

jemand gegrüßt wird. Und wir können in ihr ein Körperereignis vor uns haben, das durch

Muskelkontraktionen und Impulse des zentralen Nervensystems ausgelöst worden ist. Dem

ontologischen Monismus würde es entsprechen, beides als unterschiedliche subjektive

Wahrnehmungen ein und desselben zu interpretieren. Doch was wäre dieses `etwas´, das

indifferent ist gegenüber der Unterscheidung zwischen Handlung und Ereignis? Und wie kann

etwas, das indifferent ist gegenüber dieser Unterscheidung, als Handlung wahrgenommen

werden? Oder als Ereignis? Viel plausibler ist die Annahme, dass hier nicht ein und dasselbe

auf unterschiedliche Weise, sondern dass hier zwei verschiedene Dinge wahrgenommen

werden, einerseits eine Handlung und andererseits ein Ereignis. Der Unterschied aber ist in

zwei verschiedenen Lokalisierungen des Wahrnehmenden begründet, einerseits im Raum der

Präsenz dessen, der den Arm bewegt und dessen Präsenz bis in diese Bewegung hinein

wahrgenommen wird (`Er winkt´), und andererseits in einem Raum, in dem diese Präsenz

ausgeblendet ist und nicht ein Leib, sondern ein Körper vor Augen ist. Das ist gemeint mit der

Feststellung, dass unser Wahrnehmen und Erkennen präsenzraumabhängig ist. Wie man sich

an diesem Beispiel klarmachen kann, hat dies Implikationen für die Frage, wie

Handlungsfreiheit und kausale Determination zusammenbestehen können. Die Bestreitung der

Handlungsfreiheit durch die Neurobiologie übersieht die Tatsache, dass die Wahrnehmung

einer Handlung und die Wahrnehmung neurobiologischer Kausalitäten in unterschiedlichen

20 Johannes Fischer, Präsenz und Faktizität. Über Moral und Religion, Tübingen: Mohr Siebeck, 2019.

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21

Präsenzräumen verankert sind, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Die

Neurobiologie hat es mit Ereignissen zu tun, nicht mit Handlungen, und daher kann sie auch

keine Aussagen über Handlungsfreiheit machen.21

Auch das wissenschaftliche Weltbild ist präsenzraumabhängig, nämlich von den

Präsenzräumen exklusiv menschlicher Intersubjektivität und Verständigung her entworfen,

wobei die Welt in der Form der wertneutralen Beschreibung thematisiert wird. Präsenz gibt es

in diesem Weltbild nicht. Daher ist die Wirklichkeit, auf die sich moralische Wertungen

beziehen, dem wissenschaftlichen Blick entzogen (ganz so, wie die Wirklichkeit, auf die

religiöser Glaube bezogen ist, diesem Blick entzogen ist). Diese Verlegenheit spiegelt sich in

den metaethischen Debatten über Kognitivismus/Nonkognitivismus und

Realismus/Antirealismus wider. Wenn die Wirklichkeit nur aus wertneutralen Tatsachen

besteht, dann kann das, was das Wort ̀ gut´ oder der Ausdruck `moralisch gut´ besagt, sich nicht

auf Wirkliches beziehen oder an etwas Wirklichem erkannt werden. Für einen Emotivisten wie

Ayer wird daher mit einem Satz wie `Er hat sich gut verhalten´ nichts über das betreffende

Verhalten, sondern lediglich etwas über die Einstellung des Sprechers zu diesem Verhalten

gesagt.22 Wird andererseits daran festgehalten, dass moralische Wertungen sich auf etwas in

der Wirklichkeit beziehen und eine Erkenntnis ausdrücken, dann ist man, wenn

Wirklichkeitspräsenz nicht in Betracht kommt und Wirklichkeit lediglich nach dem Modell des

wissenschaftlichen Weltbilds als Tatsachen-Wirklichkeit gedacht wird, dazu genötigt,

moralische Tatsachen anzunehmen, so wie dies moralische Realisten tun.

Präsenz ist immer Präsenz für jemanden oder etwas. Es gibt sie nicht ohne ein wahrnehmendes

Subjekt. Und so gibt es auch das Gutsein von Verhalten nicht ohne wahrnehmendes Subjekt,

sei es, dass dieses das Verhalten real erlebt oder in der Vorstellung imaginiert. Damit ist nicht

gesagt, dass es sich dabei um etwas bloß Subjektives handelt. Man kann sich intersubjektiv mit

anderen darüber verständigen, die sich ebenfalls das fragliche Verhalten in seiner Präsenz

vergegenwärtigen. Der Unterschied zum moralischen Realismus besteht darin, dass dieser

annimmt, dass moralische Tatsachen ganz unabhängig von jeglichem menschlichen

Bewusstsein existieren, ganz so, wie wir dies für Sonne und Mond annehmen.

21 Johannes Fischer, Freiheit des Handelns – Unfreiheit des Willens. Menschliches Verhalten in philosophischer

und psychologischer Perspektive, in: Brigitte Boothe, Andreas Cremonini, Georg Kohler, Psychische Regulierung,

kollektive Praxis und der Raum der Gründe. Ein Problemaufriss, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, 33-

54. 22 Alfred Jules Ayer, Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart: Reclam 1987.

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22

Fünftens: Eine letzte Bemerkung betrifft das situationsbezogene moralisch gute Verhalten. Wie

kommt es, dass Situationen moralisch signifikant sind in dem Sinne, dass sie aus sich selbst

heraus zu einem Verhalten und Handeln veranlassen, das aus der Perspektive eines

Verhaltensbeobachters moralisch gut ist? Es geht hier um die praktischen Gründe, von denen

an früherer Stelle die Rede war, im Unterschied zu den theoretischen Gründen der

Moralphilosophie.

M.E. gibt es auf diese Frage zwei Antworten. Mit ihrer Verständigung darüber, welches

Verhalten in einer gegebenen Situation moralisch gut ist, prägt die moral community Muster

moralisch guten, situationsentsprechenden Verhaltens: Sich so in einer solchen Situation zu

verhalten ist moralisch gut. Es sind Muster davon, was unter dem Gesichtspunkt der

Realisierung des moralisch Guten und der Vermeidung des moralisch Schlechten in Situationen

einer gegebenen Art geschehen muss. Diese Muster werden von den Mitgliedern einer moral

community verinnerlicht. Das bedeutet: Wenn sie mit einer konkreten Situationen konfrontiert

werden, die sie unter einem derartigen Muster wahrnehmen, wonach in einer Situation dieser

Art etwas Bestimmtes geschehen muss, dann erleben sie dieses `Muss´ als eine Art Nötigung,

die von der Situation ausgeht und die sich als emotionaler Spannungszustand äußert, der sie –

wie im Beispiel dessen, der Zivilcourage zeigt – auf ein bestimmtes Handeln hin gerichtet

macht und der sich dann in diesem Handeln gewissermaßen entlädt. Diese Nötigung findet ihre

sprachliche Artikulation in Sätzen wie: «Man kann doch einen Menschen nicht einfach so

hilflos sich selbst überlassen!» «Da muss man doch helfen!» Die situative Nötigung bezieht

sich auf das Allgemeine, das im Einzelnen aktualisiert ist, nämlich auf einen Menschen in einer

solchen Situation.

Von dieser Art Nötigung war bereits an früherer Stelle die Rede im Blick auf den, der sich der

Fridays for Future-Bewegung anschliesst. Dort wurde gesagt, dass die Überzeugung, die durch

den Satz `Da muss man doch etwas tun!´ ausgedrückt wird, nicht in Wissen überführt werden

kann. Denn der Ausrufezeichen-Satz artikuliert die empfundene Nötigung, die von der

vorgestellten Präsenz dessen ausgeht, was als Folge des Klimawandels eintreten wird, und diese

auf ein bestimmtes Handeln hin ausrichtende Nötigung ist in Sätzen, die Wissen ausdrücken,

wie `Man muss etwas tun´, `Man sollte etwas tun´ usw., nicht enthalten. Es macht daher Sinn,

hier von einer Überzeugung zu sprechen und nicht von Wissen.

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23

Die zweite Antwort auf die oben gestellte Frage betrifft die Rolle, die bestimmte Emotionen

wie Mitgefühl oder Liebe für die moralische Orientierung spielen. Emotionen sind die Weise,

wie wir uns im Hinblick auf Wirklichkeitspräsenz orientieren, und daher gibt es eine enge

Verbindung zwischen Emotionen und Moral. Auch hier spielen Muster eine Rolle, die

wesentlich durch narrative Überlieferungen geprägt sind, und insofern sind Emotionen kulturell

erlernt. Anders jedoch als bei der ersten Antwort, bei der sich die situative Nötigung auf das

Allgemeine bezog, das im Einzelnen aktualisiert ist, nämlich auf einen Menschen in einer

solchen Situation, bezieht sich die Emotion des Mitgefühls auf das Einzelne, in dem das

Allgemeine – ein leidender Mensch – wahrgenommen wird, nämlich auf diesen Menschen in

dieser Situation. Dabei macht auch die Emotion des Mitgefühls gerichtet hin auf ein bestimmtes

Handeln.

Innerhalb der mainstream-Moralphilosophie wird eine Moralauffassung, wie sie hier vertreten

wird, wonach Emotionen eine nicht bloß motivationale, sondern eine orientierende, kognitive

Bedeutung für die Moral haben, mit dem Argument kritisiert, dass Emotionen keine Gründe,

geschweige denn Argumente sind. Das hat freilich niemand behauptet. Die These ist vielmehr,

dass bestimmte Emotionen wie etwa das Mitgefühl uns gegebene Situationen so wahrnehmen

lassen, dass sie, die Situationen, zu praktischen Gründen für moralisches Handeln werden. Wie

deutlich geworden ist, geht es in dieser Frage aber eigentlich gar nicht primär um Emotionen,

sondern um etwas Grundsätzlicheres, nämlich um die Frage, von welcher Art die Wirklichkeit

ist, mit der Moral es zu tun hat. Ist sie, wie dies herrschende Meinung in der mainstream-

Moralphilosophie ist, von der Art des wissenschaftlichen Weltbilds? Oder geht es um

Wirklichkeitspräsenz? Wenn Letzteres der Fall ist, dann hat die Moral ihr Fundament in den

menschlichen Emotionen.